Читать книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 3

Die Verhandlung

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Ich kann immer noch nicht begreifen, wie stark eine Liebe werden kann. Wie durchdringend und alles bestimmend. Für mich ist die Zuneigung, die Erik mir zu schenken bereit ist, das Größte, was ich bisher erfahren durfte. Sie erfüllt mein Innerstes und gibt mir das Gefühl von Bedeutung.

Aber auch für Erik scheint meine Liebe zu ihm das Bedeutungsvollste zu sein. Vor allem seit ich Tim meine Liebe zu Erik gestand, obwohl ich eigentlich nach dem alten Vermächtnis unseres Vorfahren unabänderlich zu Tim gehöre. Bei dem Treffen, das wir in unserer kleinen Stammkneipe arrangiert hatten, sagte ich ihm endlich, dass mein Herz nur noch für Erik schlägt und machte ihm unmissverständlich klar, dass wir niemals zusammen eine Zukunft haben werden.

Tim hatte daraufhin wutentbrannt unseren Treffpunkt verlassen und ich weiß, dass er für mich damit zu einer Gefahr wird, die ich noch nicht einschätzen kann.

Aber in Erik hatte mein Geständnis alle tiefen Abgründe einstürzen lassen, die sich immer wieder in ihm auftaten und gab ihm endlich das Gefühl der Beständigkeit, dass er so sehr braucht.

Doch angesichts meines Zerwürfnisses mit Tim ist uns allen klar, dass mir eine schlimme Zeit bevorsteht. Tim ist so aufgebracht und wütend über meine Entscheidung, dass ich davon ausgehe, dass er unseren Bruder Julian mit einer neuen Aussage eine Gefängnisstrafe ersparen wird. Und dann? Wird Julian mich wieder töten wollen, um an den Teil des Alchemisten Kurt Gräbler zu gelangen, der in mir schlummert? Oder glaubt Tim, Julian wird mich dazu bringen können, mit ihm die für uns vorgesehene Bindung einzugehen?

Seit dem Streit mit Tim plagen mich wieder die Albträume. Ich sehe ihn mit Julian zusammen alles zerstören, was ich mir aufgebaut habe und mehr als einmal träumte ich sogar davon, dass sie Erik, Ellen oder Daniel etwas antun, wenn ich nicht nach ihren Regeln spiele. Wie real meine Träume werden können, zeigte mir die Vergangenheit.

Erik weicht seit dem Tag nicht mehr von meiner Seite. Er hat Angst, mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, und seine Schwester Ellen teilte kurzerhand ihren Eltern mit, dass Erik jetzt mit mir zusammen ist und sie ihn gehen lassen müssen … Bewährungsauflage hin oder her.

Er hat noch achtzehn Monate eine Bewährungsstrafe wegen Drogenbesitz und Drogenhandel zu überstehen und ihm sind in allem die Hände gebunden. Ständig muss ich befürchten, dass sie ihn holen und einsperren, denn er steckt noch tief im Drogenmilieu fest.

In dem großen Bett, in Eriks Armen liegend, versuche ich wieder einzuschlafen. Es ist Sonntag und wir können ausschlafen. Dennoch schaffe ich es nicht, mich erneut in die Tiefe des Schlafes fallen zu lassen.

Es ist der letzte Sonntag, der mir noch ein wenig eine heile Welt vorgaukeln kann. Morgen bricht die Woche an, die wahrscheinlich mein Leben verändern wird. Ich hoffe, dass Julian dem alten Vermächtnis des Alchemisten und dem Fluch über uns für immer abgeschworen hat, und wieder ein mich als Schwester liebender Bruder sein wird. In meinen Tagträumen, die ich beeinflussen kann, bauen wir uns ein Verhältnis auf, wie es Erik und Ellen auch geschafft haben.

Nachdem sie ihre ganze Kindheit und Jugend damit verbrachten, sich zu verachten, zu hassen und zu ignorieren, sind sie nun zu einem Geschwisterpaar zusammengeschmolzen, das sich hilft und für den anderen einsteht.

Das ist nicht nur mein Verdienst! Auch Daniel, Ellens große Liebe und Eriks bester Freund, hat einen nicht geringen Anteil daran. Und auch mir wird er immer mehr zu einem Freund, seid ihm klar ist, dass ich Erik wirklich liebe und zu ihm halte, was auch immer geschieht. Auch Daniel weiß, dass Erik nichts anderes verdient hat.

Da ich nicht wieder einschlafen kann, streiche ich vorsichtig die über die Augen reichenden, blonden Haare aus Eriks Gesicht, die sich dort in ihren lockigen Ursprung verwirren. Den Rest der Haare trägt er immer noch so kurz, dass nur ansatzweise Locken zu erkennen sind und ich weiß, wenn er die Augen aufschlägt, sehe ich das wunderschöne Braun darin.

Es ist wieder eine Zeitspanne, die er überbrücken konnte, ohne Drogen zu nehmen. Erik kämpft darum, diese Zeitspannen immer weiter zu verlängern und ich unterstütze ihn, wo ich kann. Ich bin ihm aber auch nicht böse, wenn er wieder etwas nimmt, um die Qual nicht noch schlimmer werden zu lassen. Sein Wille, für ein Leben ohne Drogen zu kämpfen, macht mich schon glücklich.

Aber trotz seiner Größe und seines starken, durchtrainierten Körpers ist er in seinem Inneren schwach und von dem Schrecken aus seiner Kindheit, als er entführt und schwer verletzt wurde, in seinen Grundfesten so erschüttert, dass ihm nur die Flucht in Gewalt und Drogen geblieben war. Doch aus dem Sumpf wieder herauszufinden ist so schwer für ihn, dass ich mir oft nicht sicher bin, ob er es jemals schaffen wird. Und seit er den Kampf aufgenommen hat, bin ich seine Droge, die ihm den Halt im Leben geben muss und seine Albträume beschwichtigen und seine Ängste ausradieren muss.

Aber auch ich habe täglich mit meinen eigenen Ängsten und Schrecken zu kämpfen und mein Albtraum aus der Vergangenheit ist noch längst nicht vorbei. Manchmal glaube ich, er beginnt jetzt erst, mit dieser Woche, die vor uns liegt.

„Hey, mein Schatz“, höre ich Erik leise sagen.

Diese sanfte Stimmlage hat er sich bei mir zu Eigen gemacht, neu erfunden und mir damit seine Liebe mit jedem Wort verdeutlichend. Wenn er mit mir spricht und diesen Ton anschlägt, sehe ich immer automatisch zu Ellen und Daniel, die gar nicht fassen können, dass Erik überhaupt zu so einer Stimmlage fähig ist und ich muss jedes Mal über ihren Gesichtsausdruck lächeln. Und das Wort „Schatz“ hat Erik eine neue Dimension an Zuneigung eröffnet, die sein Leben mittlerweile bestimmt.

Er dreht sich zu mir um und seine Hand gleitet unter mein Haar in meinen Nacken. „Hast du wieder schlafen können?“ Er klingt sorgenvoll und das ist kein Wunder, nach dieser Nacht, die mich wieder von einem Albtraum in den nächsten irren ließ.

„Ja, habe ich. Es geht mir gut.“ Wie immer möchte ich nicht, dass er sich um mich sorgt.

Seine Lippen legen sich auf meine und sein warmer Körper schiebt sich an meinen. Das ist seine Art, die Schrecken der Nacht zu verscheuchen. Er nimmt mich in seine Arme und hält mich fest umschlungen. Ich genieße es, wenn er mir unsere Zusammengehörigkeit immer wieder vor Augen führt und lege meine Wange auf seine breite Schulter.

Er war zu dieser Art von Zuneigungsbekundungen lange nicht fähig gewesen und es war ein harter Kampf der Gefühle, bis er bereit war, sich auf eine Beziehung einzulassen. Nun ist er für mich mein Halt und Rettungsseil. Aber die Feuchtigkeit, die seinen Körper überzieht, sagt mir, dass es mehr nicht geben wird als die Umarmung. Dazu geht es ihm zu schlecht.

„Wollen wir aufstehen und frühstücken?“, frage ich verunsichert.

Mir einen Kuss auf die Stirn hauchend, nickt Erik. Mit belegter Stimme raunt er: „Ich springe unter die Dusche und gehe dann Brötchen holen.“

Diesmal bin ich diejenige, die nur nickt und ich weiß, dass er nicht nur Brötchen holen will. Aber es ist in Ordnung. Er soll nicht zu viel leiden.

Als er mich aus seinen Armen entlässt, werfe ich einen tiefen Blick in seine schönen, braunen Augen, die, wenn er vom Brötchen holen wiederkommt, von dem tiefen Schwarz der Pupillen dominiert werden.

Erik steht auf und ich bleibe noch liegen. Er soll erst duschen und gehen. Dann erst werde ich aufstehen und mich dem Tag stellen. Nach dem Frühstück werde ich ihn um einen Gefallen bitten müssen, der ihn wieder erschüttern und wütend machen wird. Darum ist es gut, wenn er nicht auch noch mit seinem Entzug zu kämpfen hat.

Erik kommt ins Schlafzimmer zurück, nur ein Handtuch locker um die Hüfte geschlungen.

Ich bewundere seinen schönen Körper, den nur die zwei langen Narben über der Brust entstellen. Aber ich liebe diesen Makel an ihm, weil er seine Schönheit etwas relativiert und meine Unvollkommenheit damit nicht ganz so hervorstechen lässt.

Er kommt zu mir und setzt sich auf die Bettkante, seine Haare über mir ausschüttelnd wie ein nasser Hund. Ich ziehe lachend und quickend die Decke über mich und er lässt seine Hände unter die Decke gleiten und hält mich fest. „Warte, bis ich wieder da bin“, raunt er mit dunkler Stimme und streicht mir durch mein langes Haar.

Meine Arme um seinen Nacken schlingend würde ich das, was seine Worte versprechen, gerne sofort einlösen. Aber ich weiß, das würde ihn überfordern. Und ich möchte ihm seinen Erfolg nicht mindern, dass er seit Freitagabend keine Drogen mehr genommen hat.

„Ich werde dich an deine Worte erinnern“, antworte ich und streiche ihm eine Locke aus seinem blassen Gesicht. „Und jetzt ziehe dich an und hole uns ein paar Brötchen, und wenn sie noch haben Croissants.“

Erik steht schwerfällig auf und geht zu dem großen, weißen Schrank, um sich seine Jeans und ein T-Shirt herauszusuchen.

Ich sehe ihm erneut zu und spüre eine leichte Traurigkeit, die mich immer wieder überkommt, wenn ich sehe, wie seine Haltung mit dem Kampf in seinem Inneren an Kraft verliert. Erik ist selbst erschrocken und wütend darüber, dass er nicht bemerkte, wie tief er sich schon in den Drogensumpf ziehen ließ. Es ist kein körperlicher Schmerz, der ihm zu schaffen macht, sondern eine innere Angst, Unruhe und das klare Gefühl, es ohne Drogen einfach nicht schaffen zu können. Er glaubt, er ist dem Leben in keiner Weise mehr gewachsen, wenn er es ohne seine Helferlein meistern muss.

„Bis gleich“, sagt er, wirft mir einen Luftkuss zu und geht.

Langsam stehe ich auf, als ich die Wohnungstür ins Schloss fallen höre. Ich dusche mich, föhne mir meine Haare trocken, die mittlerweile weit über die Schultern reichen und werfe einen Blick in mein blasses Gesicht, aus dem mich blaugrüne Augen besorgt mustern. Meine blasse Haut lässt die Sommersprossen alles dominieren. Von meiner Sommerbräune scheint nichts mehr vorhanden zu sein.

Ich schüttele missmutig den Kopf, gehe ins Wohnzimmer und schaue aus dem Fenster in einen verregneten Tag.

Meinen Laptop hochfahrend, mache ich Musik an und beginne das Frühstück vorzubereiten. Eigentlich habe ich keinen Appetit. Aber ich werde etwas essen, um mir die sorgenvolle Miene von Erik zu ersparen. Er muss gut gelaunt sein, um das zu ertragen, um was ich ihn nach dem Frühstück bitten will.

Der Kaffee läuft in die Kaffeekanne und verströmt einen angenehmen Geruch. Die Eier stehen in ihren Eierbechern neben den Tellern, und Käse sowie Schinken und zwei verschiedene Marmeladen warten schon, als Erik wiederkommt.

Er küsst mich und legt die Brötchentüte auf den Tisch. Ein Blick in seine Augen sagt mir, dass ein neuer Anlauf auf eine neue Zeitspanne begonnen hat, die hoffentlich erneut länger sein wird als die vorherige. Aber ich weiß auch, dass dieser Wunsch von mir sich diesmal ins Gegenteil kehren kann, bei dem, was ich vorhabe.

Ich habe es vor, aber während des Frühstücks kann ich Erik nicht auf das Ansprechen, was ich auf dem Herzen habe.

Er erzählt mir von seinen Studienkollegen und den Dozenten an seiner Uni und kommt von dem Thema auf ein anderes, das er bisher unberührt gelassen hat. Er beginnt mir von seinem Vater zu erzählen, der unbedingt möchte, dass er irgendwann die Sportgeschäfte weiterführt, die seine Eltern in mehreren Städten Deutschlands betreiben. Bis dahin sollen noch weitere gegründet werden. Es ist das erste Mal, dass er über die Geschäftswelt seiner Familie spricht, die für mich bisher nur als entferntes Gedankengut ohne Einfluss auf unser Leben bestand hatte.

Ich spüre sein Unbehagen und dass es nicht das ist, was er tun möchte. Aber Erik hat auch keine Idee, was er stattdessen tun will. Er ist irgendwo in seiner Endlosjugendschleife hängengeblieben, in der er bisher das große Geld nur als Dealer und Gangster verdienen wollte. Aber die Zeit im Jugendgefängnis, wo er sechs Monate einsaß, weil er jemanden krankenhausreif schlug, ist ihm als eine der Schlimmsten in seinem Leben in Erinnerung geblieben.

Für mich passt das alles nicht zusammen. Schließlich war er bisher auf gutem Wege, genau da wieder hinzukommen. Vor kaum achtzehn Monaten bekam er für drei Jahre eine Bewährungsstrafe wegen Drogenbesitz und Drogenhandel, die nur durch einen sehr guten Anwalt und weil seine Eltern ein anständiges, ihn weiter unterstützendes Elternhaus präsentiert hatten, nicht zu einer Gefängnisstrafe wurde. Sein Leben in Freiheit hängt beständig am seidenen Faden, denn er wollte dem Drogenmilieu bisher nicht den Rücken kehren und lässt bestimmt als Geldeintreiber nicht immer die Fäuste in der Tasche.

Natürlich weiß ich von all dem nichts. Zumindest tue ich so. Aber auch ich habe in den Wochen mit Erik gelernt, Dinge zu hören und zu sehen, die mir eigentlich verborgen bleiben sollen.

Als wir den Frühstückstisch abräumen, fragt er: „Wozu hast du heute Lust? Was möchtest du machen?“ Er stellt den Aufschnitt in den Kühlschrank und ich überlege, wie ich ihm am besten mein Anliegen vortragen kann. Jetzt ist die Gelegenheit!

„Ich möchte nicht, aber ich muss heute etwas tun, was dir nicht gefallen wird“, antworte ich ihm und lehne mich an die Küchentür.

Langsam dreht er sich zu mir um. „Und was soll das sein?“, fragt er lauernd. Er mag nicht, wenn ich andeute, dass ich etwas allein tun muss und schon gar nicht, wenn mir schon vorher klar ist, dass es ihm nicht gefallen wird.

Ich strecke ihm meine Hand entgegen, die er nehmen soll und er kommt langsam zu mir, mich beunruhigt musternd.

„Komm!“, bitte ich ihn und als er nah genug ist, nehme ich seine Hand und ziehe ihn mit zum Sofa.

„Was ist los?“, fragt Erik, jetzt schon seine Wut hochfahrend und er macht sich sichtlich auf etwas gefasst.

Er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass etwas Unangenehmes folgen wird. Doch wie unangenehm das für ihn sein wird, das weiß nur ich in diesem Moment.

Ich schlucke und sehe ihm in die Augen. „Bitte, rege dich nicht gleich auf. Hör mir erst mal zu“, beginne ich und Erik verschränkt seine Arme vor der Brust und setzt sich auf die Sofakante, als müsse er zum Sprung bereit sein.

Ich kenne ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, was dieser Blick von ihm zu bedeuten hat und lege ihm beruhigend eine Hand auf seine verschränkten Arme.

„Erik, ich muss wegen der Verhandlung mit Marcel sprechen“, werfe ich mein Anliegen in den Raum und halte den Atem an.

Seine Augen verengen sich augenblicklich und er brummt: „Das musst du nicht!“

„Doch! Ich bin beunruhigt, weil er sich nicht mehr gemeldet hat und ich muss wissen, ob Tim mit ihm gesprochen hat.“

„Warum ist das denn wichtig? Selbst wenn Tim ihm von uns erzählt hat, muss dich das nicht mehr interessieren“, wirft er wütend ein.

Ich hatte damit gerechnet, dass das nicht leicht werden wird.

„Schatz, es geht nicht darum! Ich möchte wissen, ob Tim Marcel von dem ominösen Bildüberbringer berichtet hat und was er von ihm verlangt. Vielleicht hat Marcel eine Idee, wer dahinterstecken kann und auch, welche Organisation Julian einen Anwalt stellt, der ihn kostenlos vertritt und auf alle Fälle aus dem Gefängnis herausholen will. Seit ich das weiß, bin ich deswegen wirklich beunruhigt.“

Natürlich sage ich Erik nicht, was die volle Botschaft auf der Rückseite des Bildes war, das mich und Erik in eindeutig verliebter Pose zeigt und das Tim zugespielt wurde, um ihm Eriks Bedeutung in meinem Leben vor Augen zu führen. Aber mich beschäftigen die Worte tagaus und tagein: Hilf deinem Bruder und er wird seiner Schwester klarmachen, bei wem ihr Platz ist.

Jemand versprach darauf Tim, wenn er unserem Bruder Julian aus der Untersuchungshaft hilft, bekommt er mich dafür.

Julian ist mein Bruder, verbunden durch unsere Mutter Sophie, und auch Tims Bruder, verbunden durch ihren gemeinsamen Vater Marcus. Wir unterliegen alle drei dem Vermächtnis unseres Vorfahren Kurt Gräbler, der sich sein Leben lang der Alchemie und Lebensverlängerung verschrieben hatte. Doch er schaffte es nicht, sein Leben zu erhalten. Zumindest nicht in dem Sinne, wie er es sich bestimmt gewünscht hatte.

Aber wir drei träumen von ihm, und wurden bisher immer wieder seltsam manipuliert. Und lange Zeit gab es ein tiefes Band zwischen mir und Tim, das uns miteinander verband - wie all die anderen Nachfahren von diesem Alchemisten, die seit seinem Ableben Kinder mit Blutsverwandten zeugten, weil sie sich in einer krankhaften Liebe zueinander hingezogen fühlten. Wie Tim und ich anfangs auch.

„Bitte, Marcel kann mir bestimmt helfen!“

Erik springt auf und sieht mich von oben herab an. „Ich kann dir auch helfen! Du brauchst den dafür nicht. Du kannst mit allem zu mir kommen und wir finden einen Weg.“

Ich stehe auch langsam auf und stelle mich dicht an ihn heran, meine Arme um seine Hüfte schlingend. Ich weiß, er ist gekränkt, weil ich ihn das Recht abspreche, zu wissen, was für mich gut und richtig ist. Dabei ist er sechs Jahre älter als ich und glaubt alles besser zu wissen.

„Natürlich! Du hilfst mir ja auch. Aber Marcel hat Möglichkeiten, etwas in Erfahrung zu bringen, die wir nicht haben. Sein Großonkel ist der Professor, der sich sein ganzes Leben lang mit der Geschichte unserer Familie und der des Alchemisten beschäftigt hat. Vielleicht kann Marcel ihn fragen, was er von Tims Geschichte und von dieser Organisation hält, die Julian unbedingt helfen will, und mir sagen, was ich vielleicht besser vorher weiß, bevor Julian Donnerstag wieder auf freien Fuß kommt“, versuche ich ihm klarzumachen.

Dass jemand Julian einen neuen Anwalt stellte, der den meiner Eltern absägte, ist noch ein Punkt, den ich schwer einschätzen kann. Wem liegt noch daran, dass Julian wieder auf freien Fuß kommt? Sind das die gleichen, die auch das Bild von mir und Erik an Tim weitergaben?

Eriks Blick sagt mir, dass er den Gedanken nicht ertragen kann, dass Marcel und ich noch irgendetwas miteinander zu tun haben. Er kann nicht mal ein Telefongespräch ertragen.

„Also, ist es in Ordnung, wenn ich Marcel anrufe?“, frage ich noch einmal nach.

Erik legt seine Hände auf meine Schulter und sieht mich mürrisch an. „Nein! Ist es nicht!“ Ich höre in seiner Stimme dennoch die Unsicherheit darüber mitklingen, dass seine Ansicht eigentlich eine übertriebene Reaktion ist und er das weiß.

„Erik, ich frage dich, weil ich nichts tun möchte, ohne dass du Bescheid weißt. Aber ich lasse mir auch nichts verbieten“, brumme ich und lasse ihn los.

„Dann mach doch was du willst“, zischt er und lässt mich auch los. Er geht ans Wohnzimmerfenster, reißt es auf, wobei er es fast aus den Angeln bricht und atmet tief durch.

Ich nehme vom Wohnzimmertisch die Zigarettenschachtel und gehe zu ihm. Ihm die Schachtel hinhaltend, lächele ich entschuldigend.

Er nimmt sich eine und sieht mich wütend an.

„Schatz, bitte! Ich mache es auch kurz. Ich muss nur mit ihm über einige Dinge reden. Sei nicht wütend. Du weißt doch, dass ich dich liebe und zu dir gehöre.“

„Ja, dann mach doch!“, knurrt er und zieht an seiner Zigarette, sich wieder dem Fenster zuwendend.

Ich werfe die Zigarettenschachtel auf den Wohnzimmertisch zurück und hole mein Handy aus meiner Schultasche. Ich habe mein altes Handy und meine alte Karte wieder, die einige Zeit in Eriks Besitz war, um mich zu überwachen, und rufe darüber Marcel an. Es klingelt und klingelt und ich lege auf. Aber ich versuche es ein zweites Mal und nach einigem Klingeln nimmt Marcel ab. Er klingt verschlafen. „Ja! Carolin?“

„Hallo Marcel!“

„Hallo!“, kommt es zurückhaltend. „Ich dachte, du meldest dich in der vergangenen Woche mal?“ Er klingt vorwurfsvoll.

„Sorry! Ich hatte viel zu tun. Aber weswegen ich anrufe - hast du etwas von Tim gehört?“ Ich will es kurz machen und spüre Eriks Anwesenheit fast wie eine Bedrohung. Er hasst es, wenn ich noch mit meinen Exfreunden zu tun habe.

Kurze Zeit ist es still in der Leitung, dann antwortet Marcel: „Ne, warum?“

Ich atme tief ein und werfe einen Blick zu Erik hin, der immer noch am Fenster steht und sich nicht rührt. „Er war Dienstag hier. Es gibt ein Problem wegen der Verhandlung. Ich muss davon ausgehen, dass er seine Aussage zu Gunsten von Julian ändern wird“, erkläre ich Marcel.

„Waaas?“, höre ich den laut ins Handy brüllen. Er scheint mit einem Mal hell wach zu sein. „Warum glaubst du das?“

Ich schlucke erneut den Kloß herunter, der sich in meinem Hals bilden will. Wie soll ich Marcel klarmachen, worum es geht? Und vor allem, wie soll ich Marcel von der Botschaft auf dem Bild berichten, ohne dass Erik das wirkliche Ausmaß der Mitteilung mitbekommt?

„Können wir uns irgendwo treffen?“, frage ich resigniert und weiß, dass das Erik zum Kochen bringen wird. Aber er darf einfach nicht erfahren, was Tim erhalten soll, wenn er seine Aussage ändert. Das wäre viel schlimmer.

Wieder ist es einige Momente still und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Erik sich zu mir umdreht. Ich sehe ihn lieber nicht an.

„Ja klar! Ich kann in einer Stunde an dem Parkplatz sein, auf dem wir uns letztes Mal getroffen haben“, sagt Marcel.

„Gut, wir kommen da hin. Also …“, ich sehe auf die Uhr, „in einer Stunde. In Ordnung?“ Mir wird heiß bei dem Gedanken, was mir gleich blühen wird.

„Okay, bis dann!“, antwortet Marcel und fragt gar nicht, wer „wir“ ist. Ich bin froh darüber und hoffe, dass das nun folgende Donnerwetter nicht ganz so hurrikanmäßig ausfällt, weil ich klar damit aussagte, dass Erik mitkommen soll.

„Bis dann!“ Ich drücke das Gespräch aus und sehe Erik an, der wieder diesen Blick draufhat, der mich am Anfang, als ich ihn kennenlernte, immer verängstigt hatte.

„So, du willst dich mit ihm jetzt auch noch treffen?“, knurrt der aufgebracht und schüttelt ungläubig den Kopf.

Wir werden ihn treffen. Du kommst mit. Zumindest bleibst du in der Nähe. Bitte! So weiß ich, dass du weißt, dass zwischen mir und Marcel nichts mehr ist und wir wirklich nur reden.“

Erik sieht mich verdattert an. Dass er mitgehen soll, damit hat er nicht gerechnet.

„Bitte Erik! Du musst mitkommen! Ich will nicht mit Marcel allein sein … aber ich muss mit ihm reden. Er ist auch vollkommen entsetzt, dass Tim das jetzt abzieht. Aber er muss auch wissen, warum.“

„Du willst ihm von uns erzählen?“, fragt Erik verblüfft.

Bisher hatte ich meine Beziehung mit Erik vor Marcel geheim halten wollen, weil er vor meiner Mutter immer noch mein Alibi ist. Sie weiß nicht, dass wir getrennt sind und auch nicht, dass ich nicht mehr bei Marcel wohne. Und Marcel hält darüber stillschweigen, weil er immer noch hofft, dass ich zu ihm zurückkehre. Diese Hoffnung würde, wenn er wüsste, dass ich mit Erik zusammen bin und mit ihm zusammenlebe, wie ein Schiff im tosenden Meer untergehen.

„Ja, das werde ich tun. Schließlich geht es auch nicht anders. Es geht nun mal um uns und dem Bild, weswegen Tim wütend ist. Und Marcel wird auch wütend sein. Schließlich denkt er, du wirst aus mir ein drogenabhängiges Strichmädchen machen.“ Ich grinse Erik an und füge schnell hinzu: „Aber das ist egal. Ich muss wissen, was er über die Sache mit der Botschaft auf dem Bild denkt.“

„Was soll er darüber denken? Da stand doch nur, dass Tim euren Bruder mit einer Falschaussage helfen soll aus der Untersuchungshaft zu kommen. Und da du und Marcel ja damals schon falsche Angaben gemacht habt, könnt ihr ihm nicht mal verübeln, wenn er auch umschwenkt.“

Erik ist immer noch viel zu aufgebracht, als dass er auch nur für einen Augenblick meine tiefsitzende Angst registriert, und dass dieses Gespräch mir wirklich wichtig ist, um diese Angst unter Kontrolle zu bekommen.

„Kommst du jetzt mit oder muss ich alleine gehen?“, frage ich ungeduldig und gehe in die Küche, um mir schnell noch etwas zu trinken zu nehmen, bevor ich aufbreche. Ich bekomme keine Antwort und höre stattdessen Erik telefonieren.

Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, nickt er wütend. „Ich gehe natürlich mit! Ich lasse dich bestimmt nicht mit dem allein. Wer weiß, was er tut, wenn du ihm von uns erzählst? Ich möchte nicht, dass er dich wieder ins Auto zerrt und mit dir abhaut.“

Ich sehe ihn verwirrt an. Dann fällt mir ein, dass Ellen Erik und Daniel im betrunkenen Zustand einmal erzählt hat, wie Marcel mich nach unserer ersten Trennung an der Schule abfing und ins Auto verfrachtet hatte, um mich zu einem Gespräch zu zwingen.

„Das wird er nicht. Damals war alles anders!“, raune ich nur und hoffe, dass das stimmt. Marcel heute sagen zu müssen, dass ich mit Erik zusammen bin, verursacht mir Magenschmerzen und Erik so aufgebracht zu sehen, tut mir weh. Er hat so eine Angst! Aber wovor? Ich will doch nur ihn!

„Okay. Dann lass uns gehen. Marcel kommt zu dem Parkplatz, auf dem ihr sein Auto schon beim letzten Mal belagert habt.“ Ich halte Erik meine Hand hin und er ergreift sie widerwillig. Mich an sich ziehend, nimmt er mein Kinn zwischen seinen Daumen und Zeigefinger und zwingt mich, ihn anzusehen. „Lass mich das heute ja nicht bereuen“, knurrt er aufgebracht und ich schüttele nur den Kopf. „Erik, bitte! Es wird nichts passieren!“

Wir verlassen die Wohnung und als wir die Treppe hinunter an Daniels Wohnung vorbeigehen, klopft Erik im Vorbeigehen an dessen Tür.

Sofort fliegt die auf und Daniel kommt mit Ellen ins Treppenhaus gestürmt. „Okay! Gehen wir!“, ruft er, ohne einen Gruß oder ein nettes, beruhigendes Lächeln.

Ellen zwinkert mir wenigstens zu, als Zeichen, dass ich beruhigt sein kann. Mir ist klar, dass Erik sein kleines Aufgebot als Unterstützung braucht, und dass Ellen dabei ist, beruhigt mich ungemein. Sie hält mir notfalls die Männer etwas in Schacht.

Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass mich drei Leute begleiten, wenn ich meinen Exfreund kurz sprechen möchte, gehe ich weiter. Aber in meinem Inneren zieht sich alles zusammen. Ich schlucke meinen Ärger darüber einfach hinunter. Mit Erik lebe ich jetzt in einer Welt, die diesbezüglich anderen Regeln folgt.

Der Himmel ist immer noch verhangen, aber es regnet nicht mehr. Wir gehen durch die Altstadt zum Dom, neben dem der Parkplatz ist, auf dem ich mich mit Marcel treffen will. Da das Wetter heute schlecht ist, wird er dort auch einen freien Platz bekommen.

Zu meiner Überraschung lässt Erik meine Hand los und gibt Daniel ein Zeichen, ihm zu folgen. Nur wenige Parkplätze sind leer und Erik platziert sich mit Daniel und Ellen so, dass er mich immer im Blickfeld hat. Er wendet sich an seine Schwester, die Daniel unsicher ansieht und dann langsam zu mir zurückkommt.

Ich stehe unschlüssig an der Parkplatzauffahrt und warte darauf, dass ein roter Golf an mir vorbeizieht.

„Ich soll bei dir bleiben“, sagt Ellen und sieht mich verunsichert an, als sie neben mir auftaucht.

„Das ist in Ordnung. Aber ich muss dich bitten, etwas auf Abstand zu bleiben und mich allein mit Marcel sprechen zu lassen“, raune ich und bin mir sicher, dass das kein Problem darstellt.

Ellen wirft einen Blick zu Erik hinüber und schüttelt den Kopf. „Erik will, dass ich wie eine Klette an deiner Seite klebe.“

Verdutzt sehe ich sie an und mir wird klar, dass Erik kein bisschen Vertrauen in mich setzt.

„Verdammt!“, fluche ich leise und Ellen sieht mich unschlüssig an. „Ist das irgendwie ein Problem?“, fragt sie barsch.

Seit sie und Erik ihr geschwisterliches Verhältnis in eine Richtung lenkten, in der sie wirklich auch wie nette Geschwister miteinander umgehen, wird sie schnell wütend, wenn sie das Gefühl hat, Erik könnte hintergangen werden. Aber dass sie bei mir nun so tut, als würde ich ihn irgendwie betrügen wollen, macht mich wütend.

„Ja, ist es! Ich schwöre dir, wenn du Erik nur einen Ton von dem erzählst, was du gleich zu hören bekommst, ist es aus mit unserer Freundschaft“, knurre ich aufgebracht.

Ellen sieht mich verdattert an. Dass ich sie so anfahre, hatte sie nicht erwartet und auch nicht, dass es wirklich zwischen mir und Marcel zu einem Gespräch kommen wird, von dem Erik nichts wissen darf. Sie will gerade wütend etwas erwidern, als Marcels Auto an uns vorbeirauscht und in die nächste Parklücke setzt.

Er springt behände aus dem roten Golf und sieht einfach nur gut aus. Dass ich das immer wieder feststelle, bringt mich kurz aus der Fassung.

Er kommt auf mich zu und umarmt mich kurz, mit Blick auf Ellen. „Hi!“, grüßt er sie kurz und lässt mich los, weil er merkt, wie ich mich in seinem Arm erschrocken versteife.

„Ellen! Marcel!“, stelle ich die beiden einander vor.

Sie hatten bisher nur telefonisch miteinander zu tun gehabt, als Ellen Marcel anrief, um mich von ihm, nach meiner Drogeneskapade mit Erik, wegholen zu lassen. Sie wollte damals nicht, dass Erik mir zu nahekam. Doch bald schon bereute sie diesen Schritt, denn er beendete Marcels und meine Trennung.

„Hallo!“, sagt Ellen und reicht ihm die Hand.

Und Marcel nimmt sie bereitwillig. „So begegnen wir uns auch mal“, raunt er und sieht sich um.

Da er Daniel und Erik nicht kennt, fallen ihm die beiden nicht weiter auf.

„Wollen wir irgendwohin gehen?“, fragt er und sieht mich wieder aus seinen grauen Augen an. Sein Blick versetzt mir einen kleinen Stich und ich schaue zu Erik hinüber, der neben Daniel an einem der Bäume lehnt und eine Zigarette raucht, jede unserer Bewegungen genau verfolgend. Sein Anblick relativiert meine Gefühle sofort wieder und ich atme einmal tief durch und sehe Marcel wieder an. „Ich habe nicht viel Zeit und ich denke, du wirst nach dem Gespräch nicht mehr lange bleiben wollen“, prophezeie ich ihm.

Marcels Gesichtsausdruck wird bei meinen Worten zusehends mürrischer. „Okay, verstehe! Aber ich bin von dir einiges gewöhnt. Also bitte! Du wolltest, dass ich komme. Sagst du mir jetzt, was Tim seit Dienstag veranlasst, sich nun bei Julians Verhandlung auf dessen Seite zu stellen? Ich denke, es hängt mal wieder mit dir zusammen.“ Der barsche Unterton in seiner Stimme sagt mir, dass er sich sicher ist, dass ich an allem schuld bin.

Ich nicke nur niedergeschlagen. Was habe ich auch zu erwarten? Es ist schließlich auch meine Schuld.

Ich beginne ihm erst mal von dem zu erzählen, was mein Vater mir am Sonntag bei Marcels Fußballspiel erzählt hatte. „Am Sonntag hat mein Vater mir mitgeteilt, dass eine seltsame Organisation Julian einen neuen Anwalt zur Verfügung stellt, der ihn auf alle Fälle da rausholen will. Angeblich ist das eine Organisation, die Jugendlichen hilft, den rechten Weg zu finden … oder so. Der Anwalt soll irgendwas Ausländisches sein und macht das kostenlos.“

Marcel holt eine Zigarettenschachtel aus seiner Jacke, völlig unerschrocken von dem, was ich ihm da erzähle. Uns eine anbietend, bedienen wir uns und er gibt uns Feuer. Sich an sein Auto lehnend, sieht er mich unschlüssig an. „Und wie heißt diese Organisation?“

Ich kann nur die Schultern unwissend hochziehen. „Mein Vater wusste den Namen nicht mehr. Aber ich kann ihm eben schreiben und er soll mir den Simsen, wenn du willst. Er selbst konnte über die im Internet nichts herausfinden.“

Marcel lässt den Rauch ausströmen und raunt: „Das ist allerdings schon komisch. Aber vielleicht hat er auch nur nicht richtig nachgeschaut! Ich frage ihn selber.“

Irritiert darüber raune ich: „Wie, du fragst ihn selber?“

„Ich muss später noch bei deinen Eltern vorbeifahren und ihm eine DVD von einem Zusammenschnitt von den letzten Bundesligaspielen vorbeibringen. Das habe ich ihm versprochen.“

Ich werfe Ellen einen schnellen Blick zu, die den genauso verdattert erwidert.

„Ich sagte doch, ich verstehe mich mit deinem Vater jetzt richtig gut! Nächsten Sonntag ist wieder ein Spiel. Er will auf alle Fälle dabei sein. Kommst du dann auch wieder mit?“, fragt er, das Thema wechselnd und ich bin platt. Dass das Verhältnis von Marcel und meinem Vater so innig zu werden droht, gefällt mir nicht. Aber ich will das jetzt nicht mit ihm ausdiskutieren, weil dieses Gespräch schon genug an meinen Nerven zerrt.

„Nein, das geht nicht, Marcel. Bitte, lass uns jetzt mal beim Thema bleiben. Julian hat also diesen neuen Anwalt von dieser seltsamen Organisation und Tim kam Dienstag, um mit mir zu reden, weil jemand in seinem Hotel etwas für ihn abgegeben hat.“

Marcel sieht mich nur an, noch völlig unbeeindruckt.

Ich weiß, jetzt kommt der schwierige Teil und in meiner Brust wird es seltsam eng.

„Marcel! Es ist nicht einfach als Außenstehender zu wissen, in welchem Hotel Tim gerade absteigt und Tim fand, dass das viel Auswand für den war, der sich die Mühe machte, das Kuvert für ihn abzugeben.“

Ich rede und rede, um nicht das sagen zu müssen, was mir am schwersten fällt. Aber nun muss es raus und Marcel sieht mich immer noch so an, als könne er nicht fassen, dass ich ihn dafür herbestellt habe.

„Was war das für ein Kuvert und was war da drinnen?“, fragt er, als ich immer noch zögere.

„Ein Bild.“ Ich sehe Ellen hilfesuchend an, die sich nur neben Marcel an das Auto lehnt und mir keine Hilfe sein wird.

„Ein Bild? Was für ein Bild?“, drängt Marcel ungeduldig.

Ich atme zittrig einmal durch, bevor ich antworte: „Das Bild ist gar nicht so wichtig, eher das Geschriebene dazu.“

Erneut kann ich mich nicht überwinden, ihm zu sagen, was gesagt werden muss.

Ellen brummt etwas und ich sehe sie unglücklich an. „Mach schon!“, sollte das wohl heißen.

„Okay! Marcel, bitte rege dich jetzt nicht auf! Das Bild, und was es bedeutet, ist weniger wichtig. Wichtiger ist, wie gesagt, was hinten draufstand“, winde ich mich.

Seine Zigarette austretend, stößt Marcel sich von seinem Auto ab und packt mich an den Oberarmen. „Was … ist … auf … dem … Bild?“, brummt er, sich sicher, dass es doch wichtig sein muss, wenn ich so drumherum rede.

„Bitte, lass mich los!“, raune ich entsetzt und mir sicher, dass Erik schon auf dem Sprung ist.

Marcel lässt die Hände sinken, aber seine Augen funkeln mich ungeduldig an. „Was ist auf dem Bild?“, fragt er noch mal.

„Ich bin da drauf … und … Erik.“

„Erik?“, fragt Marcel und sieht Ellen an, die nur nickt. „Und was heißt das?“

„Ich bin mit ihm zusammen“, presse ich hervor.

Marcel schließt kurz die Augen und als er sie öffnet, ist dort die pure Verzweiflung zu sehen. „Also doch!“, stammelt er.

„Marcel, es geht nicht um mich und Erik! Bitte hör zu!“, sage ich resigniert und sehe, dass Ellen mich plötzlich irritiert mustert. Sie war von nichts anderem ausgegangen und froh, dass ich endlich auch Marcel davon in Kenntnis gesetzt habe, dass ich mit ihrem Bruder zusammen bin.

„Auf dem Bild stand etwas geschrieben, das mich beunruhigt. Bitte Marcel, hör … mir … zu!“ Ich lege meine Hände nun auf seine Arme und sehe ihn flehend an.

Er nickt nur.

„Auf dem Bild für Tim stand: Hilf deinem Bruder und er wird seiner Schwester klarmachen, bei wem ihr Platz ist.“

Ich ignoriere Ellen, die die Luft zwischen den Zähnen einzieht und mich verdattert anstarrt. Aber ich habe nur Augen für Marcel, der mich verunsichert ansieht. „Bist du dir sicher?“

„Ich habe es selbst gelesen. Tim wollte in letzter Zeit nichts anderes als mich für sich, wenn er von seiner Tour wiederkommt. Dafür hat er mir seine Wohnung überlassen. Und dann macht ihn jemand ausfindig, um ihm ein Bild von mir und Erik zu geben, mit diesem Spruch. Du kannst dir denken, was das für ihn bedeutet. Und er kam, um sich die Bestätigung zu holen, ob das auf dem Bild stimmt.“

„Verdammt! Du hast ihm hoffentlich gesagt, dass du nicht mit diesem Typ zusammen bist!“

Ellen brummt: „Vorsicht!“ und sieht Marcel herausfordernd an. Es ist schon süß, wie sie sofort für ihren Bruder auf die Barrikaden geht, wo sie noch vor ein paar Monaten nicht mal die gleiche Luft wie er atmen wollte.

„Dass es stimmt, sah er selbst, weil Erik auch bei dem Treffen war. Er hatte ihn selbst dahin bestellt, wohl um ihn zu fragen, falls ich ihm das auf dem Bild nicht erklärt hätte.“

Marcel scheint einen Moment nachzudenken. Dann raunt er leise: „Du weißt, was der Spruch bedeutet?“

„Natürlich!“, antworte ich genauso leise.

„Ich aber nicht!“, schaltet Ellen sich ein und Marcel erklärt ihr: „Es geht um das Vermächtnis von Kurt Gräbler. Scheinbar soll Julian Tim helfen, Carolin endlich zu bekommen. Da ist, nach dem Fluch des Alchemisten, ihr Platz, um weitere Generationen in seinem Sinne zu zeugen.“

Ellen fällt die Kinnlade runter und ich sehe ihr an, dass ihr in diesem Moment klar wird, warum Erik nichts von diesem Gespräch wissen soll.

„Oh!“, haucht sie kleinlaut.

„Was willst du tun?“, fragt Marcel mich.

Ich kann nur resigniert die Schultern heben. „Ich dachte, vielleicht weiß dein Großonkel, wer Tim das Bild zugesteckt haben könnte und welche Organisation Interesse daran hat, dass Julian nicht eingesperrt wird.“

Hatte ich gedacht, dass Marcel mir nun einen Vogel zeigt und mir sagt, ich soll meinen Scheiß doch selbst ausbaden, so habe ich mich geirrt.

„Oh Mann! Ich muss unbedingt mit ihm reden. Ich hole mir nachher von deinem Vater den Namen von dieser Organisation und fahre noch heute bei meinem Großonkel vorbei. Vielleicht kennt er die und weiß, was die vorhaben. Und vielleicht sollte ich selbst mit Tim noch mal reden. Sorry, dass ich das sage … aber ich habe ein echt ungutes Gefühl. Weiß Tim, wo du jetzt wohnst oder Erik und Ellen?“

Ich schüttele den Kopf.

„Das ist vielleicht erst mal dein Glück.“

Mir wird übel und ich lege eine Hand an das Autodach, um mich festzuhalten.

„Aber Julian hasst Tim! Vielleicht kommt er raus und will mit dem ganzen Alchemistenmist gar nichts mehr zu tun haben! Vielleicht wartet er nur ab, bis Tim seine Aussage geändert hat und hilft ihm dann einen Scheiß!“, sage ich verbissen.

„Durchaus möglich. Das werden wir aber erst wissen, wenn es soweit ist“, antwortet Marcel.

Dass „wir“ schallt in meinen Ohren wieder. „Wirst du mir helfen?“, raune ich mit zurückhaltender Hoffnung.

„Das muss ich wohl. Mein Großonkel würde mir nie verzeihen, wenn ich jetzt kneife“, raunt er und legt wieder seine Hände auf meine Oberarme. „Und wenn du meinst, dass dieser Junkie besser für dich ist als ich, dann kann ich das nicht ändern. Vielleicht sollte alles so kommen, damit du schlechter zu finden bist und vielleicht kann er dich besser beschützen als ich, weil nicht viele vom ihm etwas wissen. Tim und ich werden als erstes in die Schusslinie geraten, wenn Julian freikommt“, dramatisiert er, grinst kurz und wird dann wieder ernst. „Aber wenn du mich brauchst, bin ich für dich da!“

Ich bin gerührt. Marcel ist wie immer unglaublich lieb und hilfsbereit und mir kommen die Tränen. „Danke, Marcel!“, murmele ich und versuche sie zu unterdrücken. Aber das Ganze nimmt mich einfach unglaublich mit.

Marcel zieht mich an sich und legt seine Arme um mich. „Wenn doch endlich mal dieser ganze Scheiß vorbei wäre. Was muss noch alles passieren? Ich hoffe, ich kann Tim klarmachen, dass er dich genauso gehen lassen muss wie ich.“

Seine Worte treffen mich und meine Tränen lassen sich nicht mehr aufhalten. Ich schluchze auf und lasse mich an seine Brust fallen.

Ellen legt eine Hand auf meinen Arm und ich fühle mich plötzlich schwach und schwindelig. Irgendwas zieht sich in meiner Brust zusammen und mir bleibt die Luft weg.

Marcel schiebt mich von sich weg, um mich anzusehen und ich registriere kurz seine grauen Augen und spüre noch, wie sich alles um mich herum zu drehen beginnt und meine Beine weich werden. Ellens aufgebrachter Ruf nach Erik ist das Letzte, was ich höre, bevor meine Welt dunkel wird.

„Carolin!“, höre ich Marcel entsetzt stammeln und spüre zwei starke Arme, die mich von ihm wegziehen.

„Carolin! Was ist passiert?“, höre ich Erik erschrocken fragen.

Ich öffne die Augen und sehe in sein Gesicht, das mich verunsichert mustert.

„Sie muss kurz ohnmächtig geworden sein“, höre ich Marcel antworten.

Ich schließe betroffen die Augen und denke nur: Marcel und Erik! Oh, bitte nicht!

„Kannst du uns fahren? Wir müssen sie nach Hause bringen“, höre ich Erik fragen.

„Pumpst du sie mit Drogen voll oder was? Die ist ja völlig fertig!“, höre ich Marcel zischen.

„Bestimmt nicht! Sie nimmt nichts von dem Zeug“, brummt Erik zurück. „Das muss der Stress sein. Fährst du uns jetzt oder muss ich ein Taxi rufen?“

Ich spüre, wie ich hochgehoben werde und höre eine Autotür, die geöffnet wird. Marcel höre ich noch böse Fluchen: „Das hoffe ich für dich, sonst bist du sowas von tot.“

Ich werde ins Auto gesetzt und spüre die starken Arme, die mich an sich drücken.

„Erik?“

„Ja, Schatz, ich bin da“, murmelt er leise an meinem Ohr und hält mich fest umschlungen.

Ellen höre ich auch neben uns, und Daniel, der sich wohl vorne neben Marcel setzt und ein aufgebrachtes: „Was ist das für eine Scheiße?“, murrt.

„Was für ein Aufgebot. Ich hoffe, ihr seid auch alle da, wenn andere Carolin dumm kommen. Sie wird das in nächster Zeit gebrauchen können“, höre ich Marcels schneidende Stimme wie durch einen Schleier zischen.

Es ist Daniel, der antwortet: „Da kannst du dich drauf verlassen.“

Das Auto setzt zurück und ich fühle, wie ich wieder ganz tief falle. Ich bin bei Erik und kann mich fallen lassen.

Von Daniels Worten werde ich wieder langsam an die Oberfläche gespült.

„Lass Erik mal machen. Das ist kein Problem.“ Ich spüre, wie ich hochgehoben und getragen werde. Ellen ist neben uns und fragt beunruhigt: „Soll ich Dr. Bremer anrufen? Er soll vorbeikommen.“

„Ja, bitte mach das“, höre ich Erik antworten und lasse mich wieder fallen. Ich bin so erschöpft und müde und irgendetwas lässt mich einfach nicht genug Kraft aufbringen, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Dennoch spüre ich, wie ich auf die weiche Matratze gelegt werde und meine Schuhe von den Füßen gezogen werden. Aber erneut kann ich nicht genug Kraft aufbieten, um mich der Welt zu stellen. Etwas scheint mich zu umklammern und festzuhalten.

Als ich dann doch etwas aus den Tiefen emporsteige, umschließt ein unangenehmer Druck meinen Oberarm und eine fremde, tiefe Stimme sagt etwas, was ich nicht verstehen kann. Beunruhigt kämpfe ich mich weiter aus der Tiefe, die mich immer noch seltsam gefangen hält. Ich schaffe es nicht, die Augen zu öffnen, um zu sehen, was passiert. Etwas in mir will einfach nicht gehorchen. Aber die Stimmen werden deutlicher und mich erreichen verständliche Wortfetzen.

„Ah, deine Freundin. Das freut mich für dich. Dann bekommt dein Leben mal etwas Normalität.“

Etwas streicht über meine Armbeuge.

„Du wohnst jetzt hier in Clemens Wohnung? Ach, sie wohnt hier. Naja, dann steht das wenigstens nicht mehr länger leer.“

Mir wird etwas in die Armbeuge geklebt.

„Das sieht mir nach einem kleinen Nervenzusammenbruch aus. Hat sie viel Stress oder belastet sie etwas extrem? Dass sie ohnmächtig wurde ist eine Schutzmaßnahme des Körpers. Sie braucht absolute Ruhe und keine Aufregung. Kannst du dafür sorgen? Sonst lasse ich sie ins Krankenhaus überweisen. Mit dem Beruhigungsmittel wird sie erst mal schlafen.“

Lauter Sätze, die aus dem Nichts an mich herangetragen werden. Ich spüre etwas Warmes meine Hand ergreifen und festhalten. Auch meine andere Hand wird genommen und ich höre Marcel leise raunen: „Das musste ja mal so kommen. Was in dem letzten halben Jahr alles passiert ist!“

Marcel? Oh nein! Was macht er hier? Erik wird ausflippen!

Ich will nicht schlafen. Ich darf nicht schlafen. Ich muss aufwachen, aufstehen, Erik zeigen, dass alles in Ordnung ist und Marcel hier nichts zu suchen hat. Eriks Stimme hatte ich immer nur wie ein verunsichertes Hintergrundrauschen gehört. Diese ganze Situation und Marcel … das muss ihn völlig überfordern.

Aber ich kann nicht. Mein Körper streikt. Etwas zieht ihn immer mehr in eine dunkle Tiefe. Meine Hände werden losgelassen. Ich werde etwas hochgezogen und ein Arm schiebt sich unter meinen Nacken. Ein warmer Körper drängt sich an mich und ein Arm hält mich an diese Wärme gepresst. Ich atme Eriks Geruch ein und will mich ganz zu ihm umwenden, aber mein Körper will nicht gehorchen. Doch die innerliche Unruhe wird langsam weniger und ich spüre die Panik abflauen, eigentlich funktionieren zu müssen, und das mit Marcel und Erik zu regeln. Ich kann nichts regeln. Ich kann gar nichts mehr.

„Passt du vernünftig auf sie auf?“, höre ich Marcel fragen und das holt mich wieder aus meiner Versenkung, in die ich immer mehr abzudriften drohe. „Vielleicht kann dein Arzt etwas tun, damit sie nicht zur Verhandlung muss. Sie wird das da nicht durchstehen. Sieh sie dir doch an! Sie ist nur noch ein Schatten!“ Marcels dunkle Stimme klingt aufgebracht und wütend.

„Ich werde sehen, was sich machen lässt. Morgen früh kommt Dr. Bremer noch einmal vorbei und wird entscheiden, was passieren soll. Dann werde ich mit ihm noch einmal über alles reden und sehen, was er dazu meint. Soll ich ihre Eltern verständigen?“ Ich spüre an meiner Wange das leichte Zittern in Eriks Brust, der versucht mit der Situation klarzukommen.

Marcel antwortet ihm: „Das übernehme ich. Ich fahre da gleich sowieso vorbei und werde denen wohl sagen müssen, was wirklich los ist. Aber mir ist lieber, sie ist bei jemandem, der nach ihr sieht - und wer sich einen privaten Hausarzt leisten kann …“

„Danke! Du kannst dich darauf verlassen, dass ich bei ihr bleibe und auf sie aufpasse. Ich melde mich dann morgen bei dir und sage dir Bescheid, was Dr. Bremer entschieden hat“, höre ich Erik raunen.

„Ich lasse dir die Nummer von mir da.“

„Das brauchst du nicht. Ich habe sie.“

Während mein Innerstes immer dumpfer wird, verfolge ich das Gespräch der beiden Männer. Ich mache allen so viel Stress! Aber mein Innerstes will das nicht mehr wirklich registrieren und schaltet immer mehr ab. Ich höre Ellens Stimme, verstehe aber nicht mehr, was sie sagt. Irgendwie registriere ich noch, dass Marcel sich verabschiedet und sie ihn nach draußen begleitet und dann versinke ich in einen traumlosen Schlaf.

Als ich wieder wach werde, ist es um mich herum dunkel. Ich spüre den warmen Körper an meinem und höre dessen ruhigen Atem. Aber als ich versuche, mich zu bewegen, schreckt der Körper neben mir auf. Die kleine Nachttischlampe erhellt plötzlich den Raum. „Carolin! Wie geht es dir?“, höre ich die besorgte Stimme von Erik fragen.

„Gut!“, sage ich aus einem Reflex heraus und weiß nicht, was los ist. Warum ist er so besorgt und reagiert so schnell auf mein Wachwerden? Hatte ich schlimm geträumt? Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.

Die Decke wegschiebend, will ich aus dem Bett steigen, um mir etwas zum Trinken zu holen. Aber mir ist schwindelig und es fällt mir schwer, meinen Körper Befehle ausführen zu lassen.

„Halt! Was machst du? Wo willst du hin?“, höre ich Erik rufen und spüre ihn neben mir aufspringen, während ich mich seufzend ins Kissen zurücksinken lasse.

„Ich wollte mir etwas zu trinken holen“, raune ich mit belegter Stimme.

„Ich gehe! Du bleibst im Bett. Verstanden?“ Erik deckt mich wieder zu und ich höre ihn das Zimmer verlassen. Als er wieder an das Bett kommt, öffne ich erneut die Augen und sehe seinen beunruhigten Blick. Langsam setze ich mich auf und wundere mich, warum ich mich so elend fühle.

„Wie geht es dir denn jetzt? Du hast uns alle echt erschreckt! Jetzt ist erst mal Schluss mit allem. Und wenn ich dich hier einsperren muss“, brummt Erik aufgebracht und reicht mir ein Glas Orangensaft.

„Was?“, hauche ich, während sich in meinem Kopf die Erinnerungen hochschieben.

Marcel … der Parkplatz und Ellens Schrei nach Erik.

„Oh Mann! Tut mir leid“, kann ich nur stammeln und weiß, das muss für Erik, und auch für alle anderen, schlimm gewesen sein.

Ich trinke mit zittrigen Händen das Glas leer und Erik nimmt es mir ab, bevor es mir wegfallen kann.

Schnell lege ich mich wieder zurück, weil mein ganzer Körper zittrig und unruhig wirkt. Ein schreckliches Gefühl.

Eriks Hand streicht mir die Haare aus dem Gesicht. „Dr. Bremer hat gesagt, das war ein Nervenzusammenbruch und du musst dich jetzt schonen und darfst dich nicht mehr aufregen. Ich werde dafür sorgen. Und wenn ich dich dafür ans Bett binden muss“, brummt er und ich sehe in seinen Augen die unbeschreibliche Angst und Verwirrung, die seine harten Worte Lügen strafen. Mein armer Erik. So groß und stark und so schnell überfordert.

„Es geht mir wieder gut“, sage ich und lasse mich von ihm in die Arme ziehen.

„Das glaube ich erst, wenn Dr. Bremer das auch sagt. Und jetzt schlaf wieder. Es ist schon spät. Morgen früh sehen wir weiter.“ Seine Lippen legen sich kurz auf meine und ich lasse mich wieder in den Schlaf sinken, die aufkeimenden Gedanken ignorierend, die sich in mir aufbauen wollen. Nur der eine Satz will sich nicht ignorieren lassen: Hilf deinem Bruder und er wird seiner Schwester klarmachen, bei wem ihr Platz ist.

Als ich das nächste Mal wach werde, liege ich allein im Bett und aus dem Wohnzimmer höre ich Stimmen.

Ich sehe auf den Wecker. Es ist viertel nach Acht am Morgen.

Gut, dass ich nicht zur Schule muss.

Langsam stehe ich auf und halte mich kurz am Bett fest, weil mir schwindelig wird. Aber dann hört das Zimmer auf, sich zu drehen und ich sehe an mir herunter. Ich trage meinen Rüschenpyjama und frage mich, ob ich ihn mir selbst angezogen hatte. Erinnern kann ich mich daran nicht.

Im Wohnzimmer ist niemand und ich gehe weiter zur Küche, aus der mir Kaffeegeruch entgegenweht und aus der ich die Stimmen höre. Als ich im Türrahmen erscheine, sehe ich Erik aufspringen. „Schatz, du sollst doch nicht aufstehen!“

Am Tisch sitzt ein älterer Mann mit grauen Haaren und einer Brille mit Goldrand, die seine blauen Augen, in dem schon etwas faltigen Gesicht, vergrößert.

„Ah, unsere Patientin!“, sagt er lächelnd und stellt seine Kaffeetasse auf den Tisch zurück, um mir die Hand zu geben. „Ich bin Dr. Bremer. Ich bin der Hausarzt der Zeiss-Clarkson und kenne Erik und Ellen schon seit klein auf. Wie geht es Ihnen? Erik war so nett, mir ein wenig von den Umständen zu berichten, die gestern wohl ihren Tribut forderten. Fräulein Maddisheim, setzen Sie sich zu uns. Ich denke, wir müssen uns mal unterhalten.“

Erik zieht mich am Arm zu einem der Stühle und ich setze mich. Ich bin über den Umstand verwirrt, dass ein Arzt in meiner Küche sitzt und mich behandeln will. Mein Blick läuft beunruhigt in Eriks Gesicht. Doch der nickt nur mit ernstem Gesicht und bleibt neben mir stehen, eine Hand schwer auf meiner Schulter gestützt, als müsse er mich fixieren.

„Soll ich rausgehen?“, fragt er den Arzt, der fragend auf mich verweist. Ich schüttele den Kopf und Erik lässt mich los und setzt sich.

„Möchtest du einen Tee?“, fragt er und ich schüttele erneut den Kopf. Ich will das hier schnell hinter mich bringen.

„Darf ich Carolin zu Ihnen sagen?“, fragt Dr. Bremer und lächelt freundlich.

„Sicher!“, raune ich leise.

„Ich weiß nicht, wie weit Sie sich an gestern erinnern. Sie hatten so etwas wie einen Nervenzusammenbruch. Erik sagt, Sie waren sogar kurz ohnmächtig, was schon einiges heißen soll. Ihr Körper ist akut in den Streik getreten. Ich habe Ihnen eine Beruhigungsspritze gegeben, um Sie etwas zur Ruhe kommen zu lassen.

Der menschliche Körper reagiert mit so einem Nervenzusammenbruch auf Stress und psychische Belastung, mit der er nicht mehr fertig wird. Er kann sich sogar komplett ausschalten. Mehr oder weniger war das gestern der Fall. Ich möchte, dass Sie in den nächsten Tagen noch zu einem EKG zu mir kommen und wir noch einige Tests machen. Bis dahin verordne ich Ihnen Ruhe und keinerlei Stress.“ Der Doktor sieht Erik an, als müsse er ihm das extra noch mal einbläuen.

„Okay, wir haben Ferien“, sage ich nachdenklich und frage zögernd: „Aber was ist mit meinem Job?“

„Sie sollten diese Woche gar nichts machen. Ich werde Ihnen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen. Aber mit Ihrem Gerichtstermin ist das etwas anderes. Sie sind als Opfer und Zeuge vorgeladen und Ihr Bruder ist der Angeklagte. Dass dies auch ein Aspekt ist, der Sie dahin brachte, wo Sie gesundheitlich jetzt sind, sollte jedem einleuchten. Aber ich denke, um ihre Aussage kommen Sie nicht herum.“

Erik braust auf: „Das geht nicht! Das steht sie in ihrem Zustand gar nicht durch!“

„Leider ist das Gericht schwer zu überzeugen, dass jemand nicht vernehmungsfähig ist. Aber ich werde sehen, was sich machen lässt. Wollen Sie denn gegen ihren Bruder aussagen oder werden Sie ihr Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch nehmen?“

Das ist das, worüber Marcel mich mal aufgeklärt hatte und ich weiß, dass ich gegen Tim, und Julian mit seinem neuen Anwalt, keine Chance habe. Ich nicke nur unsicher und bei dem bloßen Gedanken an die Verhandlung bricht mir schon der Schweiß aus.

„Wissen Sie, ich werde mir Ihren Fall einmal anschauen. Ich kenne ein paar Leute bei Gericht und als ihr Arzt wird man mir auch Auskunft geben. Auf alle Fälle sollten Sie nicht der ganzen Gerichtsverhandlung beiwohnen und auch nicht stundenlang auf Ihre Aussage warten müssen. Haben Sie die Vorladung hier?“

Erik steht auf und drückt seine Hand auf meine Schulter, damit ich ja nicht auf den Gedanken komme aufzustehen. „Wo liegt sie? Ich hole sie dir. Unser Dr. Bremer ist gewöhnt sich in allen Belangen um uns zu kümmern“, erklärt er etwas widerstrebend.

„Meine Papiere liegen alle in der untersten Schublade im Sideboard. Da müsste das auch bei sein.“

Erik geht und ich sehe den Doktor unsicher an. Dann beuge ich mich dicht zu ihm herüber und frage leise, aber eindringlich: „Was muss ich tun, damit es schnell wieder besser wird?“

Er lächelt wieder. „Sich vor allem keinen Stress machen. Treten sie mal ein wenig kürzer. Besteht denn Hoffnung, dass Sie nach der Verhandlung wieder ein normales Verhältnis zu ihrer Familie aufbauen können? Sie sind zu jung, um sich allein durchs Leben zu schlagen.“

„Das braucht sie auch nicht! Sie ist nicht allein. Sie hat Ellen und mich!“, höre ich Erik energisch ausrufen, als er mit einem Zettel in der Hand wieder in die Küche kommt. Er gibt ihn an den Doktor weiter, der einen Blick darauf wirft.

„Alles klar. Ich dachte mir das schon. Das Gericht hier in Osnabrück ist zuständig und ich kenne da den einen oder anderen.“

Er stellt eine Bescheinigung für Alessia aus, obwohl ich ihm sage, dass er das nicht machen muss und belehrt mich nochmals, mich zu schonen. Sich erhebend, raunt er zu Erik: „Erik, es ist schön, dass du dich hier so einbringst. Aber du solltest sie nicht überfordern! Deine Probleme können auch schnell zu ihren werden.“

Ich weiß nicht, was Dr. Bremer genau meint. Aber Erik nickt nur und raunt leise: „Ist mir bewusst. Ich werde das jetzt ernsthaft in den Griff bekommen. Alles!“

Der Doktor nickt und legt Erik die Hand freundschaftlich auf die Schulter. „Das hoffe ich für euch beide!“

Er gibt mir die Hand und erneut den Auftrag, mich in den nächsten Tagen noch für ein EKG in seiner Praxis anzumelden und ermahnt mich noch einmal, mich zu schonen.

Erik drückt er ein Rezept mit irgendwelchen Baldriantropfen und Tabletten für mich in die Hand. Dann gehen die beiden zur Tür und ich sitze nur da, völlig verstört. Also kann ich nicht mal arbeiten gehen! Und das alles wegen gestern. Dabei weiß ich gar nicht mal genau, was eigentlich passiert ist. Mir scheinen einige Stunden in meinem Leben zu fehlen.

Erik kommt in die Küche. Er setzt sich an den Tisch und sieht mich beunruhigt an. „Wie geht es dir heute Morgen? Du hast mir gestern einen riesen Schreck eingejagt, und den anderen auch.“

„Was ist denn passiert?“, frage ich mit zittriger Stimme, die Erik schon wieder aufhorchen lässt.

Er steht auf und hält mir seine Hand hin. „Komm, ich bringe dich ins Bett zurück und erzähle dir, was gestern los war.“

Mich im Bett fest an sich drückend, berichtet er mir von Ellen, mir und Marcel und wie ich mit Marcel gesprochen hatte, er mitansehen musste, wie ich vor Marcel in die Knie ging und Ellen ihn panisch rief. Ich höre an Eriks Stimme, wie entsetzt er selbst jetzt noch darüber ist, dass ich einfach zusammengebrochen bin.

„Marcel hat uns hierhergebracht und Ellen hat Dr. Bremer angerufen, der sofort kam. Er meint, dass dies eine Reaktion deines Körpers war, weil er mit dem ganzen Scheiß nicht mehr klarkam.“

Ich sehe in Eriks Gesicht. Seine Stimme lässt mich schon seinen aufgebrachten Blick erahnen.

„Und Marcel ist fast ausgeflippt, weil er dachte, das liegt an Drogen und so. Aber wir konnten ihm versichern, dass du nichts genommen hast. Er war noch so lange da, bis Dr. Bremer gegangen ist und gestern Abend hat er bei Ellen auf dem Handy angerufen und ich habe noch einmal mit ihm gesprochen. Er hat mit deinen Eltern geredet und du sollst sie unbedingt heute noch anrufen, wenn es dir bessergeht.“ Erik lehnt seinen Kopf an die Rückenlehne des Bettes und murmelt: „Ich hatte nicht erwartet, dass er das mit uns so wegsteckt. Er meint, ich bin ein besserer Schutz für dich und er schrotet meinen Mustang mit seinem Golf, wenn ich dir doch noch Drogen unterjuble oder dir sonst etwas antue.“ Er lacht leise auf und ich bin verwirrt. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass Marcel klargeworden sein muss, dass Erik das mit dem Mustang war, den er in Bramsche immer gesehen hatte.

„Hat er sonst noch etwas wegen deinem Auto gesagt?“, frage ich verunsichert.

Erik scheint genau zu wissen, was ich meine. „Ja, dass ich ihm für alles eine Probefahrt schulde.“

Das entlockt mir ein Lächeln. Das ist mein Marcel! Er ist nicht sauer auf uns, möchte aber einmal Eriks Auto fahren.

„Ich sagte doch, er tauscht mich gegen dein Auto sofort ein“, witzele ich.

Erik lässt mich von seiner Brust auf das Kissen sinken und lehnt sich über mich, um mich ansehen zu können: „Ganz so ist es nicht. Er liebt seinen Golf und er steht auf meinen Mustang. Aber für dich würde er beide zu Schrott fahren.“

Er sieht mich ernst an und ich streiche ihm mit der Hand über die Wange mit den Bartstoppeln. „Er hat mich gefragt, ob wir schon etwas miteinander gehabt haben, als ihr noch zusammen wart“, sagt er leise und sein ernster Gesichtsausdruck verunsichert mich. „Ich habe nein gesagt. Ich konnte ihm das nicht antun. Er scheint ein ganz umgänglicher Kerl zu sein.“

Es fehlt nur noch, dass Erik sagt: „Wenn ich eine Frau wäre, würde ich mich auch in den verlieben.“ Das hatte Tim zumindest mal gesagt.

„Das ist lieb von dir. Das hat Marcel auch nicht verdient“, sage ich mitgenommen.

„Ich weiß. Und weißt du, was mir gestern klar wurde?“ Erik sieht mich unschlüssig und etwas verunsichert an.

Ich schüttele den Kopf.

„Du hast diesen eigentlich ganz annehmbaren Kerl wegen mir verlassen. Und auch Tim mit seinem dicken Mercedes, dem vielen Geld und dem Leben auf einem roten Teppich. Ich weiß nicht, ob ich das verdiene?“

„Tust du! Du verdienst alles Gute auf dieser Welt und hast auch ein dickes Auto, Geld und einen roten Teppich können wir uns noch kaufen, wenn du unbedingt einen haben willst“, raune ich und streiche ihm wieder über die Wange.

„Ach Carolin! Du bist wie ein Stehaufmännchen. Gestern noch völlig am Ende und heute baust du mich schon wieder auf und machst Witze.“ Er küsst mich und ich fühle mich von seinen Worten getragen.

Ich muss stark sein! So etwas wie gestern darf mir nicht noch mal passieren.

Am Nachmittag rufe ich meine Mutter an und muss einiges über mich ergehen lassen. Sie ist entsetzt, dass ich nicht mehr mit Marcel zusammen bin und eine Wohnung in Osnabrück habe, von der sie die ganze Zeit nichts wusste. Und dass ich krank bin, beunruhigt sie. Marcel hatte ihr aber wohl nicht gesagt, dass es ein Nervenzusammenbruch war.

„Willst du nicht besser zu uns kommen? Papa holt dich heute Abend ab.“

„Mama! Ich werde hier versorgt“, raune ich nur und sie keift: „Marcel sagte, dass du einen Neuen hast! Wann wolltest du uns von dem erzählen? Und das alles, wo doch Julian auch noch seine Verhandlung diese Woche hat. Kannst du denn dorthin überhaupt mit?“

„Das muss ich! Aber ich werde keine Aussage machen. Ich werde mein Zeugnisverweigerungsrecht vorschieben. Als seine Schwester kann ich das und werde das auch tun. Ich hoffe, das beruhigt dich.“

Das weitere Gespräch ist für mich nur noch eine Qual. Meine Mutter will nur eins und das um jeden Preis - Julian aus der Untersuchungshaft haben.

Nach dem Gespräch mit ihr lasse ich mich aufs Sofa zurücksinken. Erik ist zur Apotheke gegangen, um meine Medikamente zu holen und ich kann mich nur zusammenrollen und tief durchatmen, um die aufsteigende Unruhe und Angst zu bekämpfen, die mir schon wieder die Luft abschnüren will. Ich will auch, dass Julian aus dem Gefängnis kommt und endlich alles ein Ende hat. Ein Ende, dessen Ausgang mir in diesem Moment echt egal ist. Hauptsache es ist endlich vorbei.

Am Abend ruft Marcel mich an. Seinem Großonkel geht es nicht gut und er hatte ihn nur kurz besuchen dürfen. „Ich habe ihn zwar über diese Organisation ausgefragt, aber er konnte mir nichts darüber sagen.“

„Wie heißt diese Organisation?“, frage ich etwas enttäuscht.

„Die Al Kimiyaischen Freidenker oder so. Al Kimiya heißt so viel wie Chemie auf Arabisch. Es gab nicht viel, was ich darüber herausfinden konnte und was dann auch noch einigermaßen verständlich ist. Ich weiß auch nicht, wo die herkommen oder wo die ihren Sitz haben.“

„Okay! Ist auch erst mal egal. Und was ist mit deinem Großonkel? Warum geht es ihm so schlecht?“, frage ich, um wenigstens ein wenig Anteilnahme zu zeigen. Erik ist noch in der Dusche und ich bin froh darüber, dass er von dem Gespräch nichts mitbekommt.

„Nah, das Alter“, antwortet Marcel nur und er tut mir leid. Er liebt seinen Großonkel und für ihn wäre es schlimm, wenn er nicht mehr da wäre.

„Ich hoffe, es geht ihm bald wieder besser“, sage ich ehrlich mitfühlend.

Einen Augenblick herrscht Stille in der Leitung. Dann räuspert sich Marcel. „Und, wie geht es dir?“, fragt er und seine Stimme wird so weich, dass mir mein Herz schwer wird.

„Alles wieder okay. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin so schnell nicht kleinzukriegen. Das weißt du doch.“

„Ich weiß nur, dass du zwar viel aushältst, aber nicht auf ewig und nicht in diesem Maße. Wir haben es doch gestern gesehen! Aber Erik ist wenigstens körperlich allem gewachsen, was dir etwas antun könnte. Ich hoffe nur, er hat auch genug Herz und Köpfchen“, murrt er und ich weiß, er ist verletzt, weil ich mit jemand anderen zusammen bin und dem ganz offensichtlich all das entgegenbringe, was ich ihm nicht mehr entgegenbringen will.

„Das hat er“, antworte ich nur. „Er wird auf mich achtgeben und wenn er mal nicht kann, dann habe ich ja noch meinen Freund, der auch immer für mich da ist und der mir einer der liebsten Menschen auf der Welt ist“, sage ich, weil ich das Gefühl habe, ihn aufbauen zu müssen.

„Ach echt! So einen dummen Volltrottel gibt es in deinem Leben auch noch, der trotz allem immer noch für dich da ist?“, raunt Marcel und lacht leise auf.

„Das hoffe ich zumindest!“

Es ist erneut still in der Leitung und ich warte auf seine Antwort, die letztendlich ergeben an mein Ohr dringt: „Ja, den hast du wohl“, raunt er leise und ernst. „Und dieser Volltrottel muss jetzt Schluss machen. Die Jungs warten. Wir wollen noch Fußball schauen.“

„Okay, Marcel! Und Danke!“

„Für dich doch immer.“

Dr. Bremer kann mir ein Erscheinen vor Gericht nicht ersparen. Aber Erik begleitet mich bis vor das Gebäude. Dort nimmt mich Marcel in Empfang, mit klarer Order von Erik, ihn anzurufen, wenn ich es irgendwie nicht schaffe. Er bleibt auf Abruf in der Nähe, soll aber möglichst nicht in Erscheinung treten, damit keiner weiß, wo und bei wem ich hinterher untertauche.

Da ich immer noch nicht in Osnabrück gemeldet bin, sondern bei meinen Eltern, wird es nicht leicht sein mich ausfindig zu machen.

Meine Mutter ist vollkommen außer sich, als sie von unseren Vorsichtsmaßnahmen erfährt. Sie wollte unbedingt den Neuen an meiner Seite kennenlernen und kann nicht verstehen, warum wir ihren Julian so verteufeln.

Zu meinem Erstaunen erscheint Dr. Bremer vor dem Gerichtssaal. Erik hatte ihn wohl gebeten, mich im Auge zu behalten.

In dem großen Saal sehe ich Julian dann das erste Mal wieder. Seine Haare sind ungeschnitten und glänzen in weichen Wellen in dem Licht der Neonröhren, und seine braunen Augen leuchten auf, als er mich sieht. Ich kann keine Wut oder Bösartigkeit in ihnen ausmachen. Er wirkt eher traurig und betroffen.

Als ich die Fragen zu meinem Namen und meiner Anschrift beantworte, kann ich fast nur flüstern. Der Richter ist nachsichtig mit mir, weil er von Dr. Bremer, der mit ihm auch Golf spielt, wie ich kurz vorher erfuhr, über meinen Zustand unterrichtet wurde. Als ich gefragt werde, ob ich mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert bin, murmele ich zu Julian sehend: „Er ist mein Bruder.“

Julian schließt einen Moment die Augen, als würde ich ihn schlagen.

„Möchten Sie hier vor Gericht eine Aussage zum Tathergang machen?“

„Nein, ich möchte das Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch nehmen“, antworte ich und spüre schon wieder diesen Kloß in meinem Hals, der mir die Luft abschnürt.

Mein Blick fällt auf den Anwalt, der neben Julian sitzt und unverschämt grinst. Er ist ein dunkler Typ, mit schwarzen Haaren und dunklen Augen und einem unglaublich arroganten Gesichtsausdruck. Ihm würde ich die Worte auf Eriks und meinem Bild zutrauen.

Ich werde entlassen und Dr. Bremer, der mich von der Tür des Gerichtssaals aus nicht aus den Augen ließ, legt seinen Arm um mich und begleitet mich hinaus. Alle anderen Zeugen können nach ihrer Aussage auch im Gerichtssaal Platz nehmen.

Marcel ist der nächste, der aufgerufen wird und mich daher nur schnell in den Arm nehmen kann.

„Bitte ändere deine Aussage nicht. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert“, flüstere ich ihm ins Ohr, als ich diesen kurzen Moment noch einmal meine Arme um seine Taille schlingen kann und ihn festhalten darf. „Wir haben den Kampf sowieso verloren.“

Er nickt und geht, von dem Gerichtsdiener begleitet. Hinter mir taucht Tim auf und ich sehe ihn verunsichert an.

Aber er dreht sich weg und wirft sich auf einen der Stühle.

Ich will zu ihm gehen, aber Dr. Bremer nimmt mich an den Schultern und schiebt mich aus dem Wartebereich.

Tim sieht mir hinterher und seine dunklen Augen drücken eine seltsame Ruhe aus, die ich bei ihm schon mal gesehen habe. Da war er sich sicher, dass nichts uns wirklich je trennen kann.

Ich fühle wieder meine Kräfte schwinden und der Griff von Dr. Bremer wird fester, als wir oben auf der Treppe an die frische Luft treten. Ich bin froh, dem riesigen Gebäude den Rücken kehren zu können und Erik ist mit ein paar Schritten bei mir und nimmt mich mit sorgenvollem Blick in sein Gewahrsam.

„Sie hat das gut gemacht! Ganz tapfer, deine Kleine!“, sagt der Doktor und Erik bedankt sich bei ihm. Aber sie machen aus, dass er mich nach Hause bringt und Dr. Bremer mir dort noch einmal eine Beruhigungsspritze gibt, weil ich schon wieder zu zittern beginne.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich Julian vor mir und seinen Blick aus seinen braunen Augen. Er ist immer noch mein Bruder. Aber der Gedanke an ihn macht mich unruhig und schnürt mir die Luft ab. Meine Liebeskummerpython regt sich in meinen Eingeweiden und ich versuche sie niederzukämpfen. Scheinbar erwacht sie neuerdings auch bei psychischem Stress zum Leben.

Erik bringt mich zu Daniels BMW, den er am Gericht parkte, obwohl wir nicht weit zu laufen gehabt hätten. Er wollte auf keinen Fall, dass wir zu Fuß wieder zurückgehen müssen und er wollte nicht mit seinem auffälligen Auto vorfahren.

Manchmal hat er einen Weitblick, der mir wirklich vor Augen führt, dass er sechs Jahre älter ist als ich.

Bei uns zu Hause erwarten uns Ellen und Daniel. Sie kommen uns schon an der Haustür entgegen und Ellen umarmt mich mit sorgenvollem Blick. „Komm! Endlich hast du es überstanden“, raunt sie und Erik und Daniel halten wieder ihr stummes Zwiegespräch. Wir haben noch nicht mal in meiner Wohnung die Tür hinter uns geschlossen, als es an der Tür klingelt und Dr. Bremer zu uns stößt.

„So, Carolin! Ich möchte Ihnen noch einmal eine Beruhigungsspritze geben, damit Sie das Ganze besser verkraften. Erik wird dafür sorgen, dass Sie gleich ins Bett gehen. Morgen sieht die Welt dann wieder besser aus. Heute müssen Sie sich noch schonen.“

Ich setze mich aufs Sofa, weil ich nicht weiß, ob ich schon beim Anblick der Spritze umkippe. Ich sehe nicht hin, als die Nadel sich in meine Haut bohrt.

Dr. Bremer wünscht mir alles Gute. Da mein EKG gestern in Ordnung war, denkt er, dass ich mich nur genug schonen und alle weitere Aufregung vermeiden muss, um mich wieder in den Griff zu bekommen.

Er lächelt über Erik, Ellen und Daniel, die sich um mich scharen, wie Glucken um ihr Küken und ich sehe, wie er Erik mit einem Blick zunickt, der mehr als nur dem eines netten Doktors entspricht. Aber wenn er Erik schon ewig kennt, wird ihm vielleicht nicht entgangen sein, wie er mich behütet. Und wer Erik kennt, weiß, dass das kein Wesenszug ist, der ihm schon immer lag.

Ich fühle das Mittel wirken und versuche mich dagegen zu wehren. Ich möchte nicht schlafen. Noch weiß ich nicht, wie die Verhandlung ausgegangen ist und sofort packt mich die Unruhe, die das Mittel nur schwer niederdrücken kann. Aber es dauert nicht lange und auch der Gedanke an die Verhandlung ist nur noch ein Nebelschwaden in meinem Kopf. Ich lehne mich an Ellen, die neben mir sitzt und einfach nur meine Hand hält, während Erik und Daniel sich leise unterhaltend ans Küchenfenster stellen und eine Zigarette rauchen. Ich wüsste gerne, was die beiden besprechen. Aber mein Kopf würde es gar nicht mehr wahrnehmen, wenn sie es mir sagen würden.

Ellen legt den Arm um mich und ich falle an ihre Schulter und drifte in einen dunklen Schlaf, der sogar meine Gedanken frisst. Tröstlich.

Ich wache in meinem Bett auf und höre von irgendwoher Musik und Stimmen, die sich unterhalten. Langsam schiebe ich mich aus dem Bett, noch völlig benommen. Aber der Drang zur Toilette ist stärker als die Müdigkeit.

Durch das Wohnzimmer strebe ich dem Badezimmer entgegen und da die Stimmen nicht aufhören zu raunen, wähne ich mich unentdeckt.

Als ich das Badezimmer verlasse, gehe ich in die Küche und sehe Ellen mit Erik und Daniel am Tisch sitzen und Bier trinken. Es sind ihre Blicke, die mich sofort wieder beunruhigen.

„Carolin!“ Erik springt auf und bringt mich zu einem Stuhl, als wäre ich eine achtzigjährige Oma.

Ellen springt auch auf. „Ich mache dir deinen Tee!“

Nur Daniel bleibt wie immer gelassen. Ich sehe ihn an und bin froh über diese kleine, ruhige Insel in dem immer sturmgepeitschten Zeiss-Clarkson Ozean.

„Wie fühlst du dich?“, fragt er nur und ich antworte: „Geht schon. Habt ihr was von Marcel oder meinen Eltern gehört?“

„Dein Vater hat angerufen. Er wollte wissen, wie es dir geht. Und Marcel war nach der Verhandlung hier“, sagt Ellen überdreht. Sie sagt aber nicht, was ich eigentlich wissen will.

Erik stellt sich hinter mich, legt seine Arme über meine Schultern und verschränkt seine Hände vor meiner Brust, als müsse er mich festhalten. „Julian ist auf Bewährung rausgelassen worden“, raunt er und ich kann nur nicken. Irgendwie wusste ich das schon.

„Tim hat ausgesagt, dass er nur meinte, dass Julian euch umbringen wollte und er wäre ausversehen vor das Auto von Julian gelaufen und dieser hätte ihn ins Auto gebracht, um ihn zu einem Arzt zu fahren. Aber er wollte zu dir und ist freiwillig mit in das Labor gegangen. Dass Julian dich in den Hals geschnitten hat, auch wenn das angeblich versehentlich geschah, wie Tim diesmal auch bestätigte, lag angeblich daran, weil du ihn getreten hast. Fast wollten sie Tim sogar eine Nebenklage wegen Falschaussage anhängen und er hätte das echt in Kauf genommen, hat Marcel gesagt. Der neue Anwalt hatte leichtes Spiel und fegte alles vom Tisch und da die Untersuchungshaft schon mit anzurechnen ist, reicht wohl eine Bewährungsstrafe für das Maß der Anschuldigungen aus“, höre ich Erik leise sagen und in seiner Stimme schwingt Wut mit.

Ellen schaltet sich ein. „Marcel war ziemlich aufgebracht. Dieser Anwalt konnte alle überzeugen, dass Julian nur durch ein gescheitertes Experiment und durch die Dämpfe, die dadurch entstanden sind, einen Aussetzer hatte. Und sein Ausraster kam nur, weil er nicht wollte, dass seine Schwester und sein Bruder etwas miteinander anfangen. Dass Tim vorher ausgesagt hatte, dass er ihm in das Labor gefolgt war, weil er zu dir wollte, besiegelte alles. Wer will schon, dass der Bruder mit der Schwester …“ Sie schüttelt den Kopf. „Diese verlogenen Arschlöcher!“

Ich sehe sie an und weiß, was sie meint. Sie ist die Einzige, die weiß, was der Preis für Tims Verrat ist. Sie kennt die Zeilen von der Bildrückseite.

Den Tee vor mich hinstellend, streicht sie mir über die Wange.

„Du hast uns. Wir sind deine Kampfbrigade. Erik war nicht umsonst jahrelang in seiner Muckibude. Das war Vorsehung! Es sollte so laufen! Auch mit euch beiden.“ Sie grinst Erik an, der mich loslässt und sich wieder auf den Stuhl neben mir wirft.

„Das denke ich auch“, raunt er leise und ich sehe ihm an, dass er immer noch schrecklich bedrückt ist. Er hat Angst um mich und kann genauso wenig wie ich die neue Situation einschätzen.

„Ich hoffe, das reicht auch“, flüstert er und sieht Daniel an, als könne der ihm eine Antwort darauf geben.

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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