Читать книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 4

Drogendealer und Zuhälter

Оглавление

In der Nacht schlief ich gut. Wahrscheinlich war das noch die Wirkung der Beruhigungsspritze von Dr. Bremer. Als ich um halb sieben wach werde und mich nach Erik umschaue, liegt er wach neben mir und starrt an die Decke.

Das Licht, das durch das Fenster in unser kleines Reich scheint, beleuchtet sein Gesicht und er wendet den Kopf, als er neben sich eine Regung ausmacht.

„Guten Morgen!“, sage ich und lächele ihn an.

„Guten Morgen!“, antwortet er mit belegter Stimme und ich sehe an dem Braun seiner Augen und seinem blassen Gesicht, dass es für ihn nicht so ein guter Morgen ist.

Ich fahre mit meiner Hand über seine Brust, die feucht und kalt ist. „Wie geht es dir?“, frage ich ihn dabei und er sieht mich verdutzt an. „Wie geht es dir?“, fragt er zurück und klingt etwas ungehalten.

„Gut! Ich habe gut geschlafen. Und du?“

Seine Augenränder geben mir schon eine Antwort.

„Geht so.“ Erik sieht wieder zur Zimmerdecke.

Sein Anblick tut mir weh. Ich muss aufstehen … etwas tun. Dass er so leidet, verursacht in mir ein beklemmendes Gefühl, das mich wieder runterzieht. Ich will das nicht sehen.

Schnell schiebe ich die Decke weg und stehe auf. „Ich gehe duschen“, sage ich und verlasse das Schlafzimmer.

Er sagt etwas, aber ich laufe schon durch das Wohnzimmer in den Flur. Zurückgehen und Nachfragen möchte ich nicht. Ich weiß, Erik wird gleich aufstehen und sich irgendwo das weiße Pulver in die Nase ziehen oder eine Pille einwerfen und mir ist klar, ich darf das nicht zu sehr an mich heranlassen, wenn ich nicht wieder zusammenbrechen will. Ich muss stark sein für das, was mich erwartet und für ihn mit.

Als das heiße Wasser über meinen Körper läuft, spüre ich, wie in mir die Lebensgeister wiedererwachen, die mich seit Sonntag verlassen zu haben scheinen.

„Warum duschst du so früh am Morgen?“, höre ich Erik von der Tür her fragen.

Ich drehe mich zu ihm um, ihn durch das langsam beschlagene Glas der Duschwand ansehend. „Ich glaube, ich bringe heute mal die Wohnung auf Vordermann, gehe einkaufen und am Nachmittag zu Alessia“, antworte ich ihm mit übertrieben guter Laune.

„Bestimmt nicht“, knurrt er mit übertrieben schlechter Laune.

Ich dusche mich weiter und wasche mir meine Haare. Als ich aus der Duschkabine steige, steht er davor und hält mir ein Handtuch hin. Ich lasse mich von ihm einwickeln und er zieht mich in seine Arme. „Das war ein Scherz, hoffe ich! Du bist noch krankgeschrieben.“

Ich lächele ihn nur an.

„Gut“, sagt er beruhigt, davon ausgehend, dass ich nur scherzte. „Ich muss nämlich heute wieder los. Wir haben wichtige Vorlesungen und ich kann nicht immer fehlen.“

„Stimmt, das geht gar nicht. Ich mache dir einen Kaffee und mir einen Tee. Passt das?“, frage ich und möchte ihm zeigen, dass es mir wieder gut geht.

Er nickt und mir wird klar, er will noch ein wenig hinauszögern, was schon längst als wilde Sehnsucht durch seine Adern rauscht und in seinem Kopf ein Verlangen auslöst, das nicht mal ich befriedigen kann.

Ich ziehe mich an, koche ihm seinen Kaffee und mir einen Tee, während er duscht. Wir haben kein Brot da, also gibt es später etwas vom Bäcker.

Erik setzt sich rasiert und unglaublich gut nach seinem Aftershave duftend an den Tisch.

Ich küsse ihn auf die Wange, um den Geruch einmal tief einatmen zu können.

„Und was machst du heute?“, fragt er und seine Augen blitzen kurz auf, als er meinen Blick sieht.

„Ich sagte doch … Hausputz, einkaufen, Alessia.“

Erik sieht mich mit diesem arroganten Blick an, den er mir manchmal noch präsentiert und ich weiß, er glaubt mir nicht.

Meinen Tee trinkend, lächele ich nur vor mich hin.

Er lächelt auch und raunt: „Du willst mich heute Morgen fuchsen!“

Ich schüttele den Kopf. „Mir geht es gut und ich muss etwas tun. Du gehst zur Uni und ich mache mein Ding.“

Ich klaube mein Handy von der Fensterbank, das gestern irgendwie seinen Weg dorthin gefunden hat. Wahrscheinlich, als mein Vater anrief und Erik das Gespräch entgegennahm. Ich drücke eine SMS rein und Erik wird misstrauisch.

„Wem schreibst du?“

„Alessia, dass ich heute zum Arbeiten komme.“

Das ist der Augenblick, in dem sich Eriks Blick verfinstert, weil ihm klar wird, dass ich es ernst meine. „Das tust du nicht!“

Die ewigen Kämpfe, die ich mit ihm ausfechten muss, kosten mich Kraft.

„Erik, ich kann hier nicht sitzen und warten, bis du wiederkommst. Ich muss raus, mein Leben in den Griff bekommen. Genauso wie du deins!“

Er weiß, was ich meine und raunt betroffen: „Ich habe seit Montagabend nichts mehr genommen.“

Ich sehe ihn sprachlos an. „Drei Tage?“

Er nickt und ich kann nicht anders. Ich falle ihm um den Hals. „Das ist ja unglaublich! Und ich habe das nicht mal mitbekommen.“

„Dr. Bremer hätte das sofort gemerkt. Sonntag konnte ich mich noch rausreden, dass es von einer Party am Samstag war. Aber alles andere hätte ihn stutzig gemacht.“

„Wir laden Dr. Bremer jetzt jede Woche zu uns ein“, freue ich mich. Doch Erik brummt nur: „Das wird aber teuer.“

Ich werde ernst. „Kostet der Einsatz für mich dich etwas?“

„Hundertprozentig!“

„Ich gebe dir das Geld wieder“, raune ich betroffen.

Diesmal kann Erik nur lachen. „Das brauchst du nicht. Das geht auf meine Eltern. Und du wirst es nicht glauben, aber sie würden dir Dr. Bremer kaufen, wenn du einfach nur bei mir bleibst und mich weiter auf den rechten Weg bringst.“

Ich sehe ihn verunsichert an. Seine Worte sprudelten so böse über seine Lippen, dass ich nur traurig auf meine Teetasse starre. Er scheint wütend auf mich zu sein, weil ich so geschwächelt habe und er deshalb gezwungen war auf seine Drogen zu verzichten.

Erneut wird mir klar, dass ich in seinem Leben nur zweitrangig bin.

„Wenn du deine Drogensucht so sehr liebst, dass du sie gerne behalten willst, dann tu dir keinen Zwang an“, murmele ich und stehe auf.

Ich bin nicht dazu aufgelegt, mich heute mit ihm wegen seinem Scheiß zu streiten. Ich habe meine eigenen Probleme und wenn er meint, dass „mein rechter Weg“ nicht seiner ist, dann muss er es bleiben lassen. Ich kann heute nicht für zwei kämpfen und ich muss arbeiten gehen, sonst werde ich hier noch verrückt. Die letzten Tage waren so emotional und aufreibend und haben mich an die Grenze des Ertragbaren gebracht. Ich will hier nicht zu Hause sitzen und grübeln müssen. Alles andere erscheint mir besser.

Im Badezimmer föhne ich mir die Haare und Erik erscheint in der Tür. „Wenn du heute schon arbeiten gehst und wieder einen Zusammenbruch hast, dann bist du selbst schuld.“, knurrt er bissig, greift nach seiner Jacke und geht.

Einen Moment bleibt mir die Luft weg, weil er so wütend ist. Und er ist es diesmal wegen mir und nur, weil er seinen Willen nicht durchsetzen kann und auf Entzug ist.

Mich auf den Toilettendeckel setzend spüre ich, dass ich es nicht ertrage, wenn ich mich mit ihm streite. Und wir haben schon fast eine Woche nicht mehr miteinander geschlafen und ich habe plötzlich Angst, dass mir seine Liebe entgleitet.

Es klingelt einige Zeit später an der Wohnungstür. Ich gehe durch den Flur, um sie zu öffnen und frage mich, ob das Erik ist.

Aber es ist Ellen, die mich entrüstet ansieht. „Du willst heute einkaufen und arbeiten gehen? Bist du dir sicher?“

Ich seufze auf. „Ich muss hier raus, sonst werde ich verrückt!“

Ellen nickt. „Das habe ich mir gedacht. Und Erik ist auch nicht mit der Zange anzufassen. Er ist unten bei Daniel aufgekreuzt und hat rumgetobt, bevor die beiden zur Uni gefahren sind.“

„Nah, dann hat er sich ja wenigstens noch schnell seine heiß geliebte Dröhnung abholen können“, brumme ich leise und mehr zu mir selbst.

Aber Ellen hat es doch gehört und grinst. „Er hat abgelehnt! Daniel war auch davon ausgegangen, dass er etwas braucht. Irgendwie hat er wohl zwei oder drei Tage ausgehalten, weil er unserem Doktor etwas vormachen wollte. Aber ich habe gehört, wie er zu Daniel sagte, dass er es noch länger schafft.“

Ich starre Ellen mit großen Augen an. Erik ist nicht losgezogen, um sich seine Dröhnung zu verpassen? Ich schwöre mir, wenn er heute Nachmittag immer noch nichts genommen hat, werde ich alles tun was er sagt.

Tatsächlich schaffe ich nur die Wohnung sauber zu machen. Das Einkaufen ist mir schon zu viel und ich hatte Alessia schließlich geschrieben, dass ich heute noch arbeiten komme. Also muss ich das auch tun.

Ellen will mich unbedingt zum Cafe bringen und kommt gerade aus Daniels Wohnungstür, als ich die Treppe hinuntergehe. Als ich aus dem Haus trete, fährt der Mustang auf den Hof und Erik steigt aus.

„Du gehst nicht wirklich?“, knurrt er und sieht mich wütend an.

Ich gehe zu ihm, um mir die Bestätigung zu holen, dass er wirklich noch clean ist. Seine braunen Augen funkeln mich so zornig an, dass ich zurückschrecke. Aber dann schiebe ich ihm meine Hand in den Nacken und gebe ihm einen Kuss. „Lass es mich versuchen. Ich verspreche dir, wenn ich irgendwie das Gefühl habe, es geht mir schlecht, komme ich nach Hause. Bitte, sei mir nicht böse.“

Ein Blick zu Daniel, wieder ein stummes Zwiegespräch und er sieht mich wieder an. „Gut! Wenn du meinst!“ Sein Blick wandert zu Ellen: „Du schaust nach ihr!“

„Natürlich! Willst du einen Bericht, wenn ich sie abgeliefert habe?“ Ellen grinst frech.

„Wenigstens!“, antwortet Erik und seine Augen blitzen kurz auf, aber sein Gesichtsausdruck bleibt ernst.

Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange und raune leise. „Und viel Erfolg weiterhin, mein Schatz!“

Er sieht mich verständnislos an. Doch dann scheint ihm ein Licht aufzugehen und er lächelt kurz. „Danke! Und lass du dich nicht von dummen Brüdern ansprechen.“

Jetzt geht auch mir ein Licht auf. Erik geht es nicht nur um meinen Gesundheitszustand. Er hat Angst, dass Julian oder Tim mich ausfindig machen.

„Keine Sorge! Ich passe auf mich auf.“

Er nickt leicht und raunt leise: „Es wird heute Abend später! Wir müssen nach der Uni noch etwas erledigen.“

Ellen küsst ihren Daniel, der wieder in den Mustang steigt. Ich werfe den beiden einen unschlüssigen Blick zu. Dass Erik immer noch dubiosen Geschäften nachgeht, beunruhigt mich.

„Okay, ich werde auf dich warten“, antworte ich und streiche ihm über die Wange.

„Ich komme auf alle Fälle! Bitte pass auf dich auf!“, bittet er mich noch einmal eindringlich und an seinem Blick sehe ich, dass er sich die größten Sorgen macht.

Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und küsse ihn. Als ich ihn wieder ansehe, wird seine Sorge von Liebe überdeckt. „Natürlich!“, antworte ich leise, als Ellen neben mir auftaucht und mich am Arm mitzieht. „Rumknutschen könnt ihr heute Abend noch“, sagt sie lachend und winkt Daniel noch mal zu.

Ich lasse mich von ihr mitziehen.

Der Mustang fährt wenig später an uns vorbei. Die beiden müssen zur Uni zurück und ich freue mich auf meine Arbeit. An diesem Nachmittag auch noch allein zu Hause zu sitzen und Zeit zum Grübeln zu haben hätte ich nicht ausgehalten.

Vor dem Sofa kniend, küsst Erik mich aus dem Schlaf.

Ich öffne die Augen und sehe mich verwirrt um. Draußen vor dem Fenster hat die Nacht schon den Tag eingeholt.

Ich war nach der Arbeit todmüde auf das Sofa gefallen und sofort eingeschlafen. Nun brauche ich einen Augenblick, um wieder ins Hier und Jetzt zu finden und spüre noch das warme Gefühl in meinem Bauch, das von meinem Traum herrühren muss. In ihm war ich nicht allein in meiner Wohnung gewesen. Alle waren da! Tim, Julian, Marcel, Ellen, Daniel, meine Eltern … sogar Alessia und Professor Knecht. Und ich ging von einem zum anderen, glücklich, weil alle sich so gut verstanden …

„Es tut mir leid“, flüstert Erik und schaut auf seine Hände, die meine halten.

Beunruhigt setze ich mich auf. „Was tut dir leid?“, frage ich besorgt.

Als Erik mich ansieht, weiß ich Bescheid.

„Ich komme mit der Angst um dich sonst nicht klar“, murmelt er und ich schiebe mich auf die vorderste Kante des Sofas, nehme sein Gesicht in beide Hände und ziehe ihn in meine Arme.

„Erik, du hast schon so lange ausgehalten. Ich bin wirklich total stolz auf dich. Komm her!“ Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern und ich lege meine Lippen sanft auf seine und küsse ihn, von dem warmen Gefühl aus meinem Traum getragen.

Er schlingt seine Arme um meine Taille und erwidert meinen Kuss so atemlos, dass mir schwindelig wird. Ich streiche mit beiden Händen seine Haare zurück und spüre das Verlangen, ihn endlich wieder zu spüren.

Aber Erik entzieht sich mir und sieht mich verunsichert an. „Schatz, geht es dir denn gut?“, fragt er und seine dunklen Augen mit dem kleinen braunen Ring sehen mich so verheißungsvoll an, dass ich nur stammeln kann: „Mir geht es nur gut. Aber es würde mir noch bessergehen, wenn ich dich endlich wieder fühlen dürfte.“

Das Lächeln, das sich über sein Gesicht schiebt, lässt mein Herz höherschlagen.

„Nah, dann komm! Daran soll deine Genesung nicht scheitern.“ Er steht auf, zieht mich vom Sofa und nimmt mich mit ins Schlafzimmer. Schöne Musik läuft und ich fühle mich an den Tag erinnert, als Erik mich zu unserem Date im Darkroom mitnahm.

Vor dem Bett zieht er mich aus und ich ihn. Wir lassen uns Zeit und küssen uns zwischendurch immer wieder lange und lassen die feurige Leidenschaft wachsen, bis es fast unerträglich ist. Erik setzt sich auf das Bett und zieht mich zwischen seine Beine, meinen Bauch und meine Brustwarzen liebkosend.

Ich kann nur ergeben die Augen schließen und mich dem Gefühl hingeben, das er in mir auslöst. Als es fast unerträglich wird, nehme ich sein Gesicht in beide Hände und küsse ihn. Langsam schiebe ich mich auf seinen Schoß und schlinge meine Beine um seine Hüfte. Unsere Küsse werden immer drängender und ich spüre Eriks Finger mich streicheln und liebkosen. Als sie in meine feuchte Hitze vordringen, nimmt mir das den Atem und ich stoße mit geschlossenen Augen einen Seufzer aus, der ihn noch mehr zu erregen scheint. Er zieht seinen Finger zurück und schiebt mich ungeduldig auf seinen bereitstehenden Freund. Eine alles durchdringende Empfindung lässt uns zusammen aufstöhnen, von dem Gefühl getragen, das uns durchströmt wie warmer, süßer Honig.

„Endlich!“, hauche ich ihm in sein Ohr.

„Ja, endlich!“, flüstert er zurück, umfasst meine Hüfte und gibt den Rhythmus vor, den Rausch auskostend, der doch besser sein muss, als jede Droge … denke ich zumindest.

Völlig müde und erschöpft liege ich neben Erik, von seinem Arm an seinen Körper gepresst. Seine Hand streichelt meinen Arm, der über seiner Brust liegt. In der Ferne höre ich mein Telefon klingeln.

„Geh nicht!“, murmelt er und küsst mich.

Das Klingeln hört auf, setzt aber im nächsten Moment wieder ein.

„Das scheint wichtig zu sein“, flüstere ich und stemme mich aus seiner Umarmung. Aber ich laufe nur ins Wohnzimmer, hole das Handy vom Wohnzimmertisch und flitze wieder ins Schlafzimmer zurück. Vor dem Bett stutze ich. Was ist das für eine Nummer?

Das Klingeln hört auf und Erik fragt neugierig: „Was ist los? Warum bist du nicht rangegangen?“

Bevor ich antworten kann, klingelt es erneut. Aber es ist ein anderer Klingelton, der eine SMS anzeigt. „Bitte nimm ab“, steht da nur und ich bin verunsichert. Ist das Tim mit einer neuen Nummer? Oder Marcel?

Es klingelt erneut und Erik setzt sich beunruhigt auf.

Ich nehme den Anruf an und hauche ein verunsichertes: „Ja!“

„Carolin?“

Meine Welt bleibt stehen und mein Herz setzt aus.

„Ja!“, flüstere ich, meine verschreckte Stimme wiedersuchend.

„Hallo! Ich bin wieder zu Hause.“

„Ich weiß, Julian“, antworte ich und schlucke. Mein hilfesuchender Blick gleitet zu Erik.

Der zieht mich auf das Bett und legt beide Arme um mich, als müsse er mir Halt geben.

Es entsteht eine Pause, die nur zu deutlich zeigt, dass weder Julian noch ich wissen, was wir zueinander sagen sollen.

Endlich raunt er: „Mama sagt, du bist krank. Ist es schlimm? Du warst bei der Verhandlung so schnell wieder weg und ich habe gehört, dass der Richter dem Protokollschreiber etwas von krank und unter ärztlicher Aufsicht anwesend sagte. Das hat mich beunruhigt.“

Was soll ich dazu sagen? Dass Julian sich Sorgen um meinen Gesundheitszustand macht ist schon etwas lachhaft. Vor zwei Monaten wollte er mich noch umbringen.

„Es geht schon wieder“, antworte ich nur und meine Stimme läuft nur langsam zu alter Stärke auf.

Dafür scheint Julians zu kippen. „Carolin, es tut mir alles so leid! Ich war wie von Sinnen … von dem Scheiß. Fast hätte ich dich schlimm verletzt. Bitte verzeih mir. Ich werde dir niemals mehr etwas zu leide tun“, stammelt er.

Ich schlucke. Fast hätte er mich schlimm verletzt? Er hat mich fast getötet.

Antworten kann ich ihm nicht und die Stille scheint eine Wand aus findlinggroßen Steinen hochzuziehen und ist unerträglich.

„Carolin?“, murmelt Julian verunsichert und beginnt einfach zu erzählen: „Ich hatte mich vor den Ferien für ein Chemie- und Biologiestudium eingeschrieben. Die haben mich jetzt auch angenommen, trotz, dass ich heute erst anfangen konnte. Das Wintersemester begann schon am ersten Oktober. Ich fahre mit Mamas Auto zur Universität. Vielleicht kann ich mir auf die Dauer auch eine Wohnung in Osnabrück suchen. Aber so lange bleibe ich erst mal zu Hause wohnen.“

Ich bin so froh, dass Erik mich im Arm hat. Er gibt mir so viel Kraft.

„Du kannst mein Zimmer auch haben. Ich komme nicht mehr zurück“, raune ich und aus irgendeinem Grund fühle ich mich, als wäre ich die ältere Schwester, die ihr Leben schon so viel weitreichender im Griff hat.

Wieder ist es still in der Leitung. Zu meinem Entsetzen höre ich ein Schniefen und schließe die Augen. „Julian, ich muss jetzt Schluss machen“, sage ich mit belegter Stimme.

„Kann ich dich wieder anrufen? Carolin bitte! Es tut mir alles schrecklich leid!“

„Kannst du!“, antworte ich nur. „Bis dann!“ Schnell lege ich auf und lasse das Handy ins Bett fallen, als wäre es aus heißem Eisen.

„Dein Bruder“, stellt Erik nüchtern fest und lässt den Griff, mit dem er mich umschlungen hält, etwas lockerer, um mich zu sich umzudrehen. Sein Blick ist unergründlich.

„Ja, er wollte sich wohl entschuldigen.“ Mir liegt auf der Zunge, Erik zu sagen, dass Julian wahrscheinlich bei ihm auf die Universität geht. Aber ich verkneife mir das. Ich will nicht, dass Erik und Daniel sich mit ihm anlegen.

Ich lasse mich ins Bett zurückfallen und ziehe Erik mit. Der legt seine Hände um mein Gesicht und küsst mich, als möchte er das Gespräch mit seiner Liebe aus meinem Kopf tilgen.

Ich schiebe ihn ungeduldig auf mich, von etwas Undefinierbarem getrieben und schlinge meine Beine um seine Hüfte.

Erneut fühle ich mich, als wäre ich schon so viel weiter in meinem Leben als Julian und erwidere Eriks Küsse mit einer mich überkommenden Leidenschaft, die Erik ergeben aufstöhnen lässt. Meine Beine fester um seine Hüfte schlingend, dränge ich ihn in mich und Erik ist mehr als bereit dazu.

Julian hat nichts, gar nichts. Ich habe alles!

Wir haben den Alchemisten besiegt! Und das schwächste Glied in der Kette ist scheinbar nun das Stärkste.

„Hey, deine Mama!“, höre ich Erik sagen und schlage die Augen auf. Ich muss wieder eingeschlafen sein und Erik grinst mich süffisant an und hält mir mein Handy hin, das immer noch klingelt.

„Ja, Mama!“, raune ich benommen, das Gespräch annehmend. Dabei frage ich mich, wie spät es wohl ist, dass sie mich noch anruft.

„Carolin! Ich wollte fragen, wie es dir geht. Papa konnte gestern nur mit diesem Erik sprechen.“

Diesem Erik …!

„Es ist alles in Ordnung. Ich war heute schon in der Arbeit.“ Ich sehe Erik an und verdrehe genervt die Augen.

Meine Mutter antwortet nicht und ich bin fast schon überzeugt, dass die Leitung unterbrochen wurde, als ich sie seufzen höre. „Weißt du, Julian ist wieder zu Hause. Er war heute auch schon los. Er beginnt ein Studium an der Universität in Osnabrück. Ich wusste gar nicht, dass er sich da einschreiben lassen hat.“ Sie klingt verunsichert und etwas traurig, weil sie wieder einmal nichts über ihr eigenes Kind weiß. „Aber er hat nach dir gefragt und ich möchte eigentlich, dass du wieder zu uns zurückkommst und wir wieder eine Familie sein können.“

Ich schaue das Handy an, als würden ihm Hörner wachsen. Dann besinne ich mich darauf, dass ich wohl antworten muss. „Ich weiß, dass Julian wieder zu Hause ist. Wir haben eben telefoniert. Er kann mein Zimmer haben. Ich komme nämlich auf keinen Fall zurück!“, brumme ich barsch.

„Aber Schatz! Du musst nicht bei diesem Erik wohnen. Julian könnte dich von hier aus immer mit nach Osnabrück nehmen und du hättest wegen dem Fahren gar keine Unannehmlichkeiten mehr.“

Ich sehe Erik an und schüttele ungläubig den Kopf. „Mama, ich wohne nicht bei ihm. Das ist meine Wohnung und er kommt zu mir und ich werde hier wohnen bleiben, bis meine Schule fertig ist. Und ob ich mit Julian überhaupt jemals wieder irgendwohin fahre, weiß ich noch nicht. Vielleicht ist dir das ja entfallen! Aber er saß nicht umsonst in Untersuchungshaft.“

Erik sieht mich ernst an. Er weiß, dass ich wütend bin, wenn meine Stimme so umschlägt und legt mir beruhigend die Hand auf den Arm.

„Dass du immer so aufbraust! Da muss man sich nicht wundern …“, weiter kommt meine Mutter nicht.

„Mama! Lasst mich einfach in Ruhe. Macht euren Familienscheiß allein und vergesst, dass es mich überhaupt gibt. Tschüss.“ Ich lege auf und mache das Handy ganz aus. Eine Träne rollt über meine Wange und ich putze sie wütend weg.

„Weine doch nicht“, raunt Erik betroffen und schiebt sich, seinen Arm um mich legend, dicht an mich heran. „Du brauchst die nicht.“

„Ich weiß! Aber ich hasse es, wenn meine Mutter immer so tut, als wäre ich die Schlimme in der Familie, die selber daran schuld ist, wenn da einer ausrastet und mir ein Messer in den Hals rammt.“ Die Tränen lassen sich nicht mehr aufhalten und ich bin einfach nur froh, dass ich diese Familie nicht mehr ertragen muss.

„Ich weiß, wie sich das anfühlt“, flüstert Erik traurig und ich lege haltsuchend meine Arme um ihn. Er zieht mich noch dichter an sich heran. „Aber wir brauchen die alle nicht“, raunt er leise in mein Ohr.

In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Erst Julian und dann meine Mutter am Handy gehabt zu haben, wühlt mich dermaßen auf, dass ich die Gedanken daran gar nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Selbst Eriks Liebe und Fürsorge konnte das nicht überdecken. Aber ich bin unendlich froh, ihn bei mir zu haben. Keiner kann mich so verstehen wie er. Vielleicht hat Ellen recht und wir mussten aufeinandertreffen, weil wir uns ergänzen und dasselbe fühlen. Vielleicht sind wir wirklich füreinander bestimmt. Seelenverwandte!

Auch am Morgen bin ich früh wach und beobachte durch das Schlafzimmerfenster die weißen Wolken am aufgehenden blauen Himmel. Es ist Samstag und wir können noch weiterschlafen. Gerade als ich wieder wegdämmere, rückt Erik dicht an mich heran. „Hey, mein kleiner Morgenstern. Du bist ja schon wach!“

Morgenstern?

Ich drehe mich zu ihm um und sehe ihn lächelnd an. „Ja, mein großer Wirbelsturm.“

Etwas Dümmeres fällt mir als Erwiderung nicht ein.

„So, Wirbelsturm? Ich komme gleich über dich wie ein Hurrikan.“ Erik lacht leise und ich grinse anrüchig. „Au ja! Mach das!“

Aber wir kommen nicht weit. Es klingelt an der Tür und wir sehen uns verdattert an.

Es klingelt erneut, in einer bestimmten Abfolge und Erik wird ruhiger.

„Das ist Daniel“, raunt er nur und steigt aus dem Bett. „Er möchte sich heute den Mustang ausleihen.“

Verwirrt sehe ich ihm zu, wie er in seine Boxershort steigt und das Schlafzimmer verlässt. Kurz darauf kommt er wieder und hält eine Tüte Brötchen in der Hand.

„Zeit zum Frühstücken!“

Beim Frühstücken erfahre ich dann auch, warum Daniel den Mustang mitgenommen hat. Erik spricht sowieso die ganze Zeit nur von Daniel und ich erfahre zum ersten Mal, dass der gar nicht aus Osnabrück kommt. Er ist eigentlich aus Dortmund und dort auch bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr aufgewachsen. Dann hat seine Mutter sich scheiden lassen und ist zu einem Kerl nach Osnabrück gezogen und weil Daniels Vater ein Säufer ist, ging Daniel lieber mit ihr mit.

Diesem neuen Typ seiner Mutter gehörte die Wohnung in diesem Haus. Aber schon zwei Jahre, nachdem sie hierhergezogen waren, starb der dann an Krebs und Daniels Mutter erbte diese Wohnung, da es keine Verwandten gab.

Ein weiteres Jahr später traf Daniels Mutter wieder einen anderen Typen und zog bei dem in sein Haus in Bad Lear ein. Weil Daniel sich mit dem aber gar nicht verstand, wollte die Mutter ihn nicht mitnehmen und überließ ihm die Wohnung. Seitdem lebt Daniel allein hier und der Einzige, der ihn unterstützte, war Eriks Onkel Clemens. Eriks Augen leuchten, wenn er von seinem Onkel spricht. Er hat das noch nicht oft getan. Aber wenn er ihn erwähnt, merke ich, dass er ihm wirklich eine tiefe Zuneigung entgegengebracht hatte und ich finde es besonders bedrückend, dass Erik zu allem Überfluss auch noch ihn verlieren musste. Vielleicht wäre vieles anders gelaufen, wenn dieser Clemens diesen Unfall nicht gehabt hätte.

„Daniels Mutter hat diesen Typ dann auch noch geheiratet und der bezahlt Daniel das Studium. Dafür darf er sich bei denen nie sehen lassen und die tun so, als gäbe es ihn gar nicht. Kranke Welt, oder?“, brummt Erik missmutig.

„Dass die Mutter das zulässt? Ich kann das alles nicht verstehen“, kann ich dazu nur sagen und trinke den Rest von meinem Tee aus. „Wirklich eine kranke Welt.“

„Und heute ist er mit Ellen und dem Mustang nach Dortmund aufgebrochen, um dort an einem Klassentreffen teilzunehmen. Und der Mustang ist dafür gedacht, richtig einen raushängen zu lassen.“

Ich lache darüber und finde es von Erik total lieb, dass er sein Schätzchen das Wochenende über an Daniel abgibt. Aber mir ist klar, dass Daniel ihm sogar mehr bedeutet als Ellen und nicht weniger als ich. Und ich bin immer wieder froh, dass er Daniel zum Freund hat und dass Ellen ihm endlich eine Schwester sein will und kann, wie er es die ganzen Jahre schon gebraucht hätte. Er hat es so verdient!

Nach dem Frühstücken gehen Erik und ich bummeln. Er möchte neue Turnschuhe kaufen und ein paar neue T-Shirts und ich habe auch noch einige Wünsche für meine Wohnung offen, die ich mir eventuell erfüllen will, wenn ich etwas Passendes finde. So vergeht der Tag wie im Flug und als wir am späten Nachmittag die Tüten und Tasche in der Wohnung abstellen, bin ich müde und erschöpft und Erik verdonnert mich zu einem Schongang auf das Sofa. Nicht mal die Tüten darf ich auspacken helfen. Das macht er alles allein und ich darf ihm nur zuschauen.

Zum Essen bestellt er Pizza und Rotwein und ich beginne meine Hausaufgaben nachzuholen, die ich noch in den Ferien erledigen wollte. Nun sind die schon fast um.

Wieder wird mir schnell klar, dass Erik ein Musterschüler ist, dem alles zufällt. Egal ob in Englisch, Mathe oder Physik, er weiß alles und kann alles. Nur Biologie liegt ihm nicht.

Abends schauen wir uns DVDs an, die er am Nachmittag gekauft hatte. Was ich haben wollte, kaufte er mir und er wirkte an diesem Nachmittag wirklich zufrieden und glücklich, solange ich nicht murrte, wenn er mir etwas kaufen wollte. Und so haben wir nun einen Packen DVDs, der endloses Filmeanschauen garantiert.

Aber ich schlafe bei dem ersten Film schon in Eriks Armen ein und er trägt mich irgendwann ins Bett. Ich lasse mich von ihm ausziehen, kuschele mich in seinen Arm und schlafe erschöpft weiter.

Ich bleibe das ganze Wochenende von meiner Familie verschont. Marcel meldet sich am Sonntagabend als Einziger bei uns. Erik lässt mich sogar, ohne zu murren, mit ihm telefonieren - allerdings bei angeschaltetem Lautsprecher.

Marcel berichtet mir, dass Julian sich gestern bei ihm gemeldet hat und sogar heute Nachmittag bei ihm vor der Tür stand.

„Der tat so, als wäre nichts passiert und komischerweise interessierte er sich dafür, wie wir beide letztendlich zusammengekommen sind. Eure Eltern hatten ihm das wohl schon bei ihren Besuchen erzählt. Er wollte wissen, was alles in den letzten zwei Monaten passiert ist und er tat so, als wären wir die besten Freunde. Er war mir fast schon ein wenig unheimlich“, erzählt Marcel.

Erik hört aufmerksam mit, was mich nervös macht.

„Das glaube ich dir“, raune ich bei Marcels Ausführungen nur. „Bei mir machte er auch so einen seltsamen Spruch, als wüsste er gar nicht, was wirklich passiert ist. Und meine Mutter hat mich angerufen und mich aufgefordert mit ihnen heile Familie zu spielen. Ich habe dankend abgelehnt. Aber Julian musste ich versprechen, dass er mich mal anrufen darf.“

„Anrufen! Mehr aber auch nicht. Zumindest nicht, bis ich ihn auf Herz und Nieren abgecheckt habe“, brummt Marcel und erklärt mir, dass er sich weiterhin mit ihm treffen wird, um zu erfahren, was er vorhat und ob ich wirklich jetzt vor ihm sicher bin. Marcel ist so lieb und ich würde ihn am liebsten umarmen. Aber es ist Erik, der mir das Handy aus der Hand nimmt und Marcel dafür dankt, dass er so unerschütterlich zu mir hält und dass er Julian für uns im Auge behalten will.

Mir kommen fast die Tränen, als Erik zu Marcel sagt: „Ey Alter! Wenn du mir hilfst, sie zu beschützen und aufpasst, dass Julian nicht wieder etwas Krummes dreht, dann hast du was bei mir gut!“

Mir wird in diesem Moment klar, dass Erik solche Angst hat, mich nicht beschützen zu können, dass er selbst den Teufel mit ins Boot holen würde. „Ihr darf nichts passieren!“, zischt er mit einer Eindringlichkeit, dass ich seine Angst um mich fast körperlich spüre.

„Verlass dich darauf, dass ich tun werde, was ich kann“, höre ich Marcel antworten und Erik bedankt sich nochmals bei ihm und gibt mir das Handy zurück.

Ich kann kaum sprechen und flüstere ergriffen, weil die beiden sich so für mich ins Zeug legen: „Danke Marcel. Danke für alles.“

Es dauert einen Augenblick, bis Marcel mir antwortet: „Hast du mal Der kleine Prinz gelesen? Meine Schwester ist mir eine Zeit lang damit ziemlich auf die Nerven gegangen. Aber einen Spruch daraus habe ich niemals vergessen: Man ist zeitlebens für das Verantwortlich, was man sich vertraut gemacht hat. Ich denke, ich sollte mich für immer für dich verantwortlich fühlen, weil du mir der vertrauteste Mensch bist, den es gibt.“

Ich sehe bedrückt Erik an. Ihn müssen Marcels Worte genauso treffen wie mich. Ich kann nichts antworten und eine Träne läuft mir über die Wange, bevor ich es verhindern kann. Mein Herz schmerzt und ich bin einen Moment wirklich betroffen. Aber ich sehe an Eriks Augen, dass es ihn genauso trifft, dass Marcel mir das sagt und er erwidert verunsichert meinen Blick.

Ich weiß, ich muss das Gespräch schnell beenden. „Danke Marcel. Danke, dass du uns hilfst. Wir bleiben in Verbindung, okay? Bis bald und einen schönen Abend!“

„Das wünsche ich euch auch“, antwortet Marcel etwas enttäuscht, dass ich nach seinen Worten nur noch schnell das Gespräch beenden will. „Bis bald!“

Ich lege das Handy schnell weg und stürze mich regelrecht in Eriks Arme.

Er sieht mich etwas irritiert an und ich murmele an seiner Brust: „Und ich bin jetzt zeitlebens für dich verantwortlich.“

Er hält mich fest umschlungen und antwortet leise: „Ja, bitte.“

Erik kann mich mit seiner Art, die so viele Facetten hat, immer wieder fassungslos machen. Aber wenn er mir zeigt und zugibt, wie sehr er mich braucht, dann übertrifft das alles … und keiner braucht mich so sehr wie er.

Am Montagmorgen gehen Ellen und ich zusammen zum Bus. Ellen erzählt mir von ihrem Wochenende und ich spüre ihre tiefe Zuneigung zu Daniel bei jedem Satz, den sie von sich gibt.

„Es ist richtig schön, wie sehr ihr beiden euch aufeinander eingeschworen habt“, sage ich und hake mich bei ihr unter.

Sie wird ernst. „Ja, ich hätte auch nicht gedacht, dass er es für mich sein wird. Aber er ist so lieb und besonnen. Genau das Gegenteil von mir. Manchmal verstehe ich nicht, was er an mir findet.“

„Das weiß ich bei Erik und mir auch nicht“, sage ich und kann sie nur zu gut verstehen.

Der Blick, den sie mir zuwirft, macht mich stutzig. Leise sagt sie: „Erik kann froh sein, dass er dich hat. Und er ist es auch. Ein wenig zu sehr sogar!“

„Wie meinst du das?“, frage ich sie irritiert und lasse sie los.

Sie scheint unschlüssig zu sein, ob sie mir dazu etwas sagen soll. Doch meinem fragenden Blick nicht länger standhaltend, raunt sie: „Er ist von einem Extrem ins andere gefallen. Daniel sagt, er macht sich damit voll fertig. Er hat Angst um dich und Angst, dass du ihn nicht mehr ertragen kannst. Wenn er nicht bei dir ist und sieht, dass alles in Ordnung ist, dann dreht sich alles in seinem Kopf nur um dich. Und dass du dich in einen anderen verlieben könntest, ist für ihn mittlerweile sein schlimmster Albtraum. Echt extrem!“

Jedes Wort, das sie sagt, erwärmt mein Herz. Wenn es tatsächlich so ist, kann ich mich zu den glücklichsten Menschen auf diesem Planeten zählen.

Ellen sieht meine leuchtenden Augen und schüttelt den Kopf. „Das klingt nur gut, solange ihr in trauter Zweisamkeit zusammen seid. Daniel und ich möchten lieber nicht erleben, wenn es irgendwann nicht mehr so ist.“

Wir müssen über die Straße laufen, um den Bus noch zu erreichen, der gerade auf die Bushaltestelle zurollt.

Ellens Worte können mich nicht beunruhigen, weil ich mit Erik immer zusammenbleiben werde. Wenn er mich lässt …

Nachmittags gehe ich zu Alessia und sie mustert mich sorgenvoll. „Geht es dir denn wirklich gut? Du siehst immer noch nicht besser aus als am Freitag“, sagt sie besorgt.

Ich winke ab und versichere ihr: „Nein, es ist wirklich alles in bester Ordnung. Ich fühle mich wirklich gut.“

„Wenn du meinst! Ich wollte gerne einkaufen und mit den Jungs ins Kino gehen. Meine Tochter muss heute arbeiten“, sagt sie und schenkt mir ein Lächeln.

„Ich schaffe das schon! Kein Problem“, beteuere ich und sie geht.

Aber ich spüre den ganzen Nachmittag, dass ich doch noch etwas an Elan und Kraft eingebüßt habe, obwohl ich mir ständig einrede, dass alles, was mich bisher bedrückt und verängstigt hat, weg ist. Julians Verhandlung ist vorbei. Er hat sein altes Leben wieder und das ist weit weg von mir und Tim, der mich abgeschrieben zu haben scheint. Von ihm hörte ich bisher nichts mehr. Erik und Marcel lieben sich zwar nicht gerade, sind aber auch keine Feinde mehr. Und Erik beginnt langsam einzusehen, dass nicht alles nur mit Drogen zu überstehen ist. Er ist stark und klug und nicht mehr allein. Er kann es auch ohne schaffen. Und ich kann mich endlich meinem Leben widmen und mich um mich selbst kümmern. Meine Schule geht vor und mein Job. Und über allem steht Erik … ganz oben auf meiner Prioritätenliste.

Als ich die letzten Gäste mit Cappuccino und Eiskaffee versorge, bekomme ich eine SMS von ihm, dass ich im Cafe auf ihn warten soll. Ich darf auf keinen Fall ohne ihn gehen.

Mir war schon klar, dass ich abgeholt werde, weil auch Ellen schon mittags völlig entsetzt darüber war, dass ich allein zum Cafe gehen wollte. Schon da dämmerte mir, dass ich keinen Schritt mehr allein vor die Tür machen werde, bevor nicht ganz klar ist, dass mir keinerlei Gefahr droht.

Erik ist noch nicht da, als ich die kleinen Blumenvasen auf den Tischen gieße. Das soll mein letzter Einsatz hier sein, bevor ich gehe.

Unschlüssige sehe ich auf die Uhr und beschließe, ihm noch ein paar Minuten zu geben, bevor ich ihn anrufe.

In dem Moment geht die Tür auf und ich sehe ihn ins Cafe treten. Sofort nehme ich meine Jacke und Schultasche und gehe zu ihm.

„Alles in Ordnung?“, fragt er und sieht sich um.

„Natürlich! Ich kann auch allein nach Hause gehen. Wirklich!“, sage ich und gebe ihm einen Kuss.

„Nein! Versprich mir, dass du immer mit einem von uns gehst. Bitte!“, brummt er, mich in seinen Arm ziehend. „Ich weiß, dass du das nicht für notwendig hältst. Aber ich muss wissen, dass dir nichts passieren kann. Versprich mir das!“ Seine eindringlichen Worte zeigen mir erneut, wie sehr er sich sorgt, wenn er nicht in meiner Nähe ist und mir fallen Ellens Ausführungen über den neuen Erik ein.

„Okay. Ich verspreche es dir“, kann ich daraufhin nur ergeben antworten.

Wir schließen ab und gehen. Die Sonne erstrahlt an diesem schönen Abend mit ihrer letzten Kraft. Ich habe Hunger und möchte etwas zum Essen mitnehmen, aber Erik teilt mir mit, dass Ellen uns zu Daniel eingeladen hat und wir da etwas essen werden.

„Kocht Ellen selber?“, frage ich und muss lachen.

„Sicher, dafür geht sie schließlich in eure Schule. Da wird sie das doch wohl lernen! Oder was macht ihr da den ganzen Tag?“

„Stimmt! Aber sie ist überall super … nur nicht in Kochen.“

„Wir werden es überleben.“ Erik lächelt und sein Gesichtsausdruck sagt mir, dass er alles ertragen wird, was Ellen ihm auftischt.

Als wir um die Hausecke biegen, steht neben dem Mustang und dem BMW ein Pickup. Sofort bleibt Erik stehen und zieht mich zurück.

Ich sehe ihn verwirrt an und sein Gesichtsausdruck ist erschreckend ernst.

„Scheiße, was wollen die denn?“, raunt er.

In dem Moment geht die Tür der Pickups auf und der Kerl springt heraus, dem ich schon mal im Treppenhaus begegnet war.

„Erik! Wir dachten, wir sehen mal nach dir. Irgendwie scheinst du dich in letzter Zeit rar zu machen. Was ist los?“ Er kommt auf uns zu und Erik schiebt mich hinter sich.

„Ah, ich sehe den Grund. Jaja! Ich habe schon gehört. Erik in Love! Oh Mann! Und auch, dass du sittsam werden willst. Schade! Wirklich schade! Wir hatten doch noch so einiges mit dir vor.“ Der Typ erreicht uns und baut sich vor Erik auf. Er ist noch ein kleines Stück größer als Erik. Ich sehe die tätowierten Arme und rieche den Schweißgeruch, den der Typ verströmt. Im Gesicht hat er überall Piercings, vor allem seine Lippe ist voll davon. Seine schwarzen Haare sind teilweise kurz geschoren und seine hellblauen Augen richten sich auf mich.

Ich versuche mich noch kleiner zu machen und ganz hinter Erik zu verschwinden.

„Ich bin raus aus der Sache. Seit Hamburg ist es besser, ich halte eine Zeitlang die Füße still. Und Daniel auch! Wir haben dort echt Lehrgeld bezogen“, murrt Erik in seinem mürrischen Gangstertonfall.

„Ach Quatsch! Du hättest dich nie von so etwas einschüchtern lassen, wenn dich nicht plötzlich etwas weichgemacht hätte.“ Das falsche Grinsen, das der Typ aufsetzt, ist widerlich und von einer Arroganz, die durch seine Aufmachung unwirklich erscheint. Ich halte ihn für einen schmierigen, übelriechenden, tätowierten Punkverschnitt, der nicht nur hirnlos, sondern auch noch aufgepumpt und hässlich ist.

„Das Püppchen sollte dir Geld einbringen und nicht dein Leben bestimmen! Du hast das Zeug dazu, dir einen ganzen Stall der Besten aufzubauen. Und stattdessen steigst du aus“, murrt der Typ missbilligend.

Seine Worte machen mich wütend. Es soll Erik mit seinem Scheiß in Ruhe lassen.

Der brummt: „Vergiss es! Ich bin raus! Auch wenn es dir nicht passt.“

„Das meinst du jetzt nur, weil du noch meinst verliebt zu sein. Das vergeht und ich und Sam können dir da ganz schnell drüber weg helfen. Kein Weib ist es wert, sich seine Karriere zu zerstören. Und die Kleine sowieso nicht! Oder ist an der etwas besonders?“

Eine Hand greift um Erik herum und packt mich am Oberarm. Er zieht mich aus Eriks Deckung und sieht mich von oben bis unten an. „Die kleine Hexe hätte ich damals schon gefügig machen sollen, dann wäre das alles nicht passiert“, raunt er und Erik schlägt seinen Arm weg. „Pack sie nicht an!“, faucht er und ich spüre die Angst, die sich langsam in meine Adern schleicht, als auch der andere Typ aus dem Pickup steigt, genauso fies grinsend und genauso widerlich stinkend und mit einem schwarzen Muskelshirt, einer Jeanshose und Springerstiefeln bekleidet, wie der andere Typ auch. Sein tätowierter, durchtrainierter Oberkörper wirkt erschreckend bedrohlich. Seine Haare sind auch kurz geschoren, bis auf einen geflochtenen Zopf im Nacken, der sich über die Schulter die Brust hinunter schlängelt. Er muss bestimmt dreißig Zentimeter lang sein.

„Hey, was ist los, Teddy?“, hören wir hinter den beiden jemanden rufen und ich atme erleichtert auf. Daniel, der gegen die beiden wie ein schmächtiger Junge wirkt, erscheint an unserer Seite und schiebt mich ein wenig in den Hintergrund. „Gibt es ein Problem?“

Dieser Teddy schaut mich durchdringend an und ich zucke unter dem Blick zusammen. „Ich weiß nicht? Erik will wohl unsere geschäftliche Zusammenarbeit beenden … und ich kann das nicht akzeptieren“, brummt Teddy, für den dieser Name echt lachhaft ist.

„Lass uns erst mal Luft holen. Hamburg hat uns wirklich zugesetzt. Wir brauchen etwas Zeit und werden uns dann bei euch melden“, höre ich Daniel sagen.

„Ihr seid doch jetzt nicht weich geworden?“, brummt der andere Typ, den ich für Sam halte, mit einer Stimme, die mir das Blut gefriert. Diesmal ist es seine Hand, die vorschnellt und mich am Handgelenk packt. „Aber wenn ihr meint! Ihr könnt ja gehen, wenn ihr wollt“, raunt er und hält mich fest, unmissverständlich damit andeutend, dass ich aber bei ihnen bleiben werde.

Erik rührt sich nicht und Daniel sagt auch nichts.

Teddy beginnt zu lachen und Sam grinst nur böse. „Pah, was ist los? Ist dir deine Freiheit nichts mehr wert, Erik? Du warst schon mal ein Mann! Jetzt bist du nur noch ein Waschlappen. Ist sie das wert?“

Ich kann nicht anders. „Heißt bei euch Mann sein, an Kinder Drogen zu verticken und Mädchen auf den Strich zu schicken? Nah, tolle Männer sind das. Für mich sind das die eigentlichen Waschlappen!“, fauche ich aufgebracht und versuche mich loszureißen.

Erik sieht mich erschrocken an und Daniel schließt kurz die Augen.

Die beiden Männer vor uns scheinen einen Moment sprachlos zu sein. Aber nur einen Augenblick und mir wird klar, ich hätte einfach die Klappe halten sollen.

„Du musst sie noch zähmen, sonst machen wir das“, brummt Sam und sieht Erik wütend an.

„Lass sie jetzt in Ruhe!“, knurrt der und seine braunen Augen verengen sich wütend und er macht einen Schritt auf Sam zu, der ihm am nächsten steht und reißt mein Handgelenk aus dessen Pranke.

„Sie hat uns beleidigt! Du weißt, was wir mit kleinen Raubkatzen machen.“

„Nicht mit ihr!“, höre ich Erik bedrohlich raunen und atme entsetzt ein. „Sie gehört zu mir!“

„Ach Erik, den Respekt, den wir vor dir haben müssten, um dir diesen Wunsch zu erfüllen, hast du verspielt. Damals war das in Ordnung. Aber jetzt? Nein. Den musst du dir erst wieder verdienen. Und manchmal stellen wir auch den Spaß vor den Nutzen.“ Teddy lacht und sieht mich wieder an.

Erik schiebt mich hinter sich und Daniel zischt: „Lasst es! Wir waren doch schon mal so etwas wie Freunde. Also lasst sie in Ruhe. Sie gehört zu Erik und wir vergreifen uns doch auch nicht an euren Mädchen.“

„Warum nicht? Wenn ihr zahlt!“, sagt Sam und lacht dumpf. Sein Blick läuft in Daniels und Eriks ernsten Gesichter. „Aber gut! Wir sind nicht gekommen, um zu streiten. Sei froh, dass Papps seine Hand über euch hält. Sonst hättet ihr nichts mehr zu lachen. Wir werden mit ihm sprechen und ihm erzählen, dass Erik seinen Part nicht mehr erfüllen will. Mal sehen, was er dazu sagt.“

Erik streicht sich nervös die Haare zurück und antwortet: „Das mache ich schon selbst. Sag ihm, ich werde deswegen in den nächsten Tagen noch bei ihm vorbeischauen.“

Das scheint die beiden zu irritieren. Sie sehen sich unschlüssig an. Teddy greift nach Sams Oberarm und dreht sich um. „Werden wir. Und pass auf deine Zaubermaus auf!“ Seine Worte klingen wie ein bedrohliches Donnerwetter und ich spüre wieder das Entsetzen durch meine Adern kriechen. Aber sie gehen zu ihrem Auto und Erik greift nach meiner Hand und zieht mich schnell zur Haustür. „Verdammte Scheiße!“, stammelt er dabei vor sich hin und ich atme auf, als die Tür hinter uns ins Schloss fällt und wir den Pickup vom Hof fahren hören.

Ellen wartet schon an der Wohnungstür auf uns und ihr Gesichtsausdruck schlägt von ernst in besorgt um, als sie unsere Gesichter sieht.

„Was wollten die Maas? Die kreuzen mir hier in letzter Zeit echt zu oft auf“, brummt sie und ich sehe sie groß an. Ich war denen bis jetzt erst einmal hier begegnet und da war Ellen noch nicht mal dagewesen. Oder zumindest glaube ich das.

Daniel antwortet ihr, als er die Tür hinter uns schließt: „Seit der Sache mit Hamburg hat Erik sich bei allem etwas zurückgehalten, was mit denen zu tun hat und sie sind deswegen sauer. Außerdem verlieren sie nicht gerne einen guten Kunden.“ Mehr sagt er Ellen nicht und sie nickt nur. Ich bin mir sicher, dass ihr die Information reicht, weil sie sowieso über alles Bescheid weiß. Mir reicht es definitiv nicht und ich nehme mir vor, Erik später darüber auszufragen.

Zu meinem Erstaunen fragt Ellen: „Und Carolin?“

Daniel schüttelt nur den Kopf.

Sie sieht Erik an, der immer noch wütend eine Zigarette raucht. „Zu allem Überfluss hat sie sich mit den beiden auch noch angelegt. Das ist Futter für die Fische!“

In meinem Kopf rotieren die Gedanken und einen Moment glaube ich verstanden zu haben: Die ist Futter für die Fische!

Ellen wendet sich an mich. „Ach Mensch! Auch das noch! Diese zwei Spinner sind echt nicht zu ertragen. Hätte ich Carolin damals bloß nicht mitgeschleppt!“ Sie scheint sich über etwas aus der Vergangenheit zu ärgern.

„Das sind voll die Hohlköpfe! Machen da einen auf dicken Macker, dabei sind das nur ein paar dumme Zuhälter, die Drogen verticken. Sowas gehört ins Gefängnis“, brumme ich.

Alle drei sehen mich an und Ellen lacht plötzlich kopfschüttelnd lauf. „Kannst du mir einen Gefallen tun, Carolin? Sag ihnen das nicht jedes Mal, wenn du auf sie triffst. Es entspricht zwar der Wahrheit, aber die verkraften so etwas gar nicht.“

Erik zieht mich am Arm vor seine Füße und sieht mich forsch an. „Und wenn die etwas nicht verkraften, dann sind das kleine, blonde Mädchen, die ihnen die Stirn bieten. Das hast du schon mal gemacht und deswegen haben die dich auf dem Kicker!“

Ich sehe ihn irritiert an. „Ich? Ich kenne die doch gar nicht.“

„Oh doch!“, sagt Ellen und lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen. „Als wir das erste Mal zusammen los waren - den Abend im Hyde Park - da hast du erst Teddy und dann Sam einen Korb gegeben. Sie wollten dich anbaggern und du hast sie völlig ignoriert. Ich weiß nicht mal, ob dir das überhaupt klar war. Du hast so ausgelassen getanzt und wir hatten so viel Spaß und die beiden rochen Frischfleisch und waren ziemlich aufgebracht darüber, dass du sie nur mit Verachtung gestraft hast. Ich dachte wirklich, die machen uns Stress.“

Ich kann sie nur verständnislos anstarren.

Daniel stellt für alle Bierflaschen auf den Tisch und öffnet seine mit einem Feuerzeug, das er dann weitergibt. Jeder macht seine Flasche damit auf, nur ich kann meine Flasche nur mit einem bittenden Blick an Erik weiterreichen, der das für mich erledigt.

Daniel ergänzt: „Die haben sich ziemlich über dich ausgelassen und dass sie solche Püppchen wie dich eigentlich zum Frühstück verspeisen. Daraufhin hat Erik ihnen gesagt, du gehörst zu ihm und sie sollen sich das verkneifen. Natürlich fanden sie das lächerlich, auch wenn Ellen die ganze Zeit mit dir tanzte und er sollte denen das irgendwie beweisen. Also ist er zu dir auf die Tanzfläche gegangen …“

Daniel grinst Erik an, der nur mit ernstem Blick sein Bier trinkt.

„Und erst schien es so, als würdest du bei ihm sogar brav sein. Aber dann hast du auch ihn ziemlich unmissverständlich abblitzen lassen und bist abgehauen. Die Maas fanden das wenig lustig und meinten, er müsse noch einiges lernen, wenn du angeblich zu ihm gehörst und mit ihm so umspringst. Die sahen echt seine Ehre und ihr Zuhälterimage den Bach runtergespült und weil sie so etwas nicht durchgehen lassen, ist Ellen losgeschossen, um dich zu suchen, bevor sie das tun konnten. Und deshalb habe ich euch dann sofort nach Hause gebracht.“

Ich sehe Erik an und kann nicht fassen, dass mein Leben schon da eine Wendung genommen hat, die ich nicht mal im Entferntesten ahnte und die mich jetzt noch verfolgt.

„Und jetzt?“, frage ich ihn.

„Ich werde morgen zu Walter gehen und er soll die beiden in ihre Schranken weisen. Du bist keines dieser Mädchen wie ihre. Du bist meine Freundin und gehörst zu mir“, knurrt Erik und ich habe das erschreckende Gefühl, er ist wütend auf mich.

Ich stehe auf und lege meine Arme von hinten um ihn. Tausend Fragen wüten in meinem Kopf. Aber ich wage keine zu stellen. Ich weiß von Ellen, dass Walter der Typ ist, der Erik und Daniel zu Erledigungen seiner dubiosen Geschäfte schickt und scheinbar haben Sam und Teddy auch mit ihm zu tun.

„Ich gehe mit!“, sagt Daniel. „Wenn er glaubt, du willst aussteigen, wird er dir trotz allem nicht zuhören.“

Erik wirft ihm nur einen wütenden Blick zu und nickt.

Ellen schiebt sich vom Stuhl. „Gut, dann lasst uns jetzt Essen. Flaschen vom Tisch! Teller auf den Tisch! Das Fleisch ist bestimmt jetzt gar.“ Damit scheint das Thema beendet zu sein.

Es gibt Hähnchenfilets in Zwiebelsahnesoße mit Reis und es schmeckt köstlich, auch wenn keiner mehr richtig Appetit hat.

Als ich abends mit Erik im Bett liege und er nachdenklich an die Decke starrt, frage ich ihn: „Bereust du, dass du dein altes Leben aufgegeben hast? Du hast jetzt wegen mir so viele Sorgen und Probleme.“

Er legt sich auf die Seite und stützt sich auf dem Ellenbogen ab. „Mein Leben war vorher wirklich einfacher. Ich brauchte mir nur Sorgen um mich zu machen und das hieß, ich machte mir keine. Was ich verpatzte, musste ich auch selber wieder ausbaden und die Konsequenzen betrafen nur mich.“

Mir stockt der Atem. Leise flüstere ich: „Und was heißt das? Dass du das mit uns bereust?“

„Hätte ich dich nie kennengelernt, wäre mein Leben so weitergelaufen. Ich wusste nicht, dass mir etwas fehlt. Und dann kamst du. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ich kann nie wieder in mein altes Leben zurückkehren und so sein und fühlen wie vor dir. Das ist vorbei. Und ich möchte das auch gar nicht. Das, was ich mit dir habe, brauche ich jetzt. Ich möchte ohne diese tiefe Zuneigung und Liebe nicht mehr leben … nicht die zu dir und nicht die von dir. Ich wusste nicht, wie das ist und wie sich das anfühlt. Aber ich habe ständig Angst, dass dir etwas zustößt. Unsere Welt ist so krank und unberechenbar. Fast glaube ich, ich sollte dich zu Marcel zurückschicken, damit du wenigstens vor meiner kranken Welt sicher bist.“

Ich schnappe nach Luft. Wut kriecht in mir hoch. „Du kannst mich nicht zu Marcel zurückschicken! Du kannst mich verlassen. Aber du kannst mich nicht einfach wieder bei irgendwem abgeben und fertig. Wenn du mich nicht mehr willst, muss ich allein klarkommen und damit leben oder untergehen. Aber auch ich kann nicht mehr in mein altes Leben zurückkehren und alles, was mit uns war, vergessen. Und ich habe auch Angst um dich. Und ich habe Angst, dass du dich mit deinen Drogen umbringst, wie Ellens Alex, oder einer deiner dubiosen Freunde dich um die Ecke bringt, weil da gerade mal ein Deal nicht so gelaufen ist. Mir geht es also nicht besser als dir!“, kann ich ihm nur wütend entgegenschleudern und schlage seine Hand weg, die sich mir entgegenstreckt. Ich weiß, Erik bemüht sich, das Problem mit seinen Drogen in den Griff zu bekommen und sein Blick sagt mir, dass meine Worte ihn in seinem tiefsten Inneren treffen. Aber dass er auch nur in Erwägung zieht, mich wieder bei Marcel abzugeben, wie ein unliebsames Haustier, ärgert mich.

„Komm her!“, knurrt er. „Ich werde dich niemandem überlassen und ich werde, wenn es so kommen sollte, mit dir zusammen untergehen.“ Er greift nach meinem Handgelenkt und zieht mich zu sich heran, legt ein Bein über meine und schiebt seinen Oberkörper ein Stück auf meinen, um mich zu fixieren. „Ich kann gar nicht mehr anders.“

Sein warmer Körper und seine Nähe lassen mich meine Wut vergessen. „Ich auch nicht“, flüstere ich und ziehe ihn ganz auf mich.

Ellen lässt mich am nächsten Tag nicht aus den Augen. Daniel hatte uns am Morgen mit Pfefferspray ausgerüstet … für den Notfall, und uns eingebläut, es immer griffbereit in der Tasche zu haben. Erik brachte uns zur Schule und ich musste ihm versprechen, keinen Meter allein zu gehen.

Ich fühle mich langsam wirklich unwohl. Aber so, wie die anderen drei mich nun behandeln, müsste ich ständig vor einer Entführung stehen. Fast glaube ich, ich habe von allen am wenigsten das Gefühl, als könne mir etwas geschehen. Aber ich will ihre Angst nicht unnötig schüren und füge mich ihren Anweisungen.

Da ich nachmittags frei habe, würde ich gerne mal wieder etwas mit den Mädels unternehmen, wie wir es am Anfang immer taten. Aber Ellen lässt sich nicht erweichen.

„Wir gehen sofort nach Hause!“, knurrt sie aufgebracht, dass ich überhaupt diesen Vorschlag zu machen wage. Aber dann kommt mir eine rettende Idee. Als wir nach der Schule aus dem Gebäude treten, wende ich mich an meine Mitschülerinnen. „Wer hat Lust mit zu mir zu kommen? Ihr habt noch gar nicht meine neue Wohnung gesehen.“

Andrea und Sabine sind begeistert. Nur Michaela schlägt aus. Sie hält sich immer öfter an die anderen in unserer Klasse und ich weiß, es liegt an mir und Erik. Das tut mir leid, aber ich kann ihr nicht helfen.

Ellen sagt dazu nur, dass sie selbst schuld ist, weil sie sich ihm an den Hals geschmissen hat und er sich genötigt sah, sie mit in sein Bett zu nehmen.

Jaja.

Ich denke lieber gar nicht darüber nach, was Erik in den sechs Jahren, die er älter als ich ist, für Mädchen durchgebracht hat. In einem Moment, als ich mich in einem Anflug von Selbstzerstörungsdrang mit diesem Thema auseinandersetzte, hatte ich eine kleine Rechnung aufgestellt. Bei nur einem One-Night-Stand im Monat, was wirklich tief gerechnet ist, mal zwölf Monate und sechs Jahre, kommen allein über siebzig Mädchen auf seine Kappe. Ich hatte die Gedanken daran sofort bis auf weiteres verdrängt. Zu sehr schockte mich die Zahl. Und noch mehr irritierte mich daran, dass es angeblich niemals eine gegeben hat, die ihn in seinem Herzen berühren konnte. Das war dann der Moment gewesen, wo die Zahl an Bedeutung verlor und mir klar wurde, dass mit uns etwas Besonderes entstanden war. Etwas, was ihm alle anderen Mädchen nicht sein konnten.

Zusammen fahren wir bis zum Hasetor und laufen bis zu meiner Wohnung.

Weder der BMW noch der Mustang stehen vor der Tür und ich bin froh darüber.

Als wir die Treppe hinaufgehen, erklärt Ellen: „Da wohnt Daniel, und ich bin auch die meiste Zeit dort.“

In meiner Wohnung angekommen, mache ich Musik an und hole für alle Orangensaft und finde im Küchenschrank auch noch eine Wodkaflasche, die ich dort mal gebunkert hatte.

Wir machen es uns im Wohnzimmer bequem, lassen Musikvideos über den großen Fernseher laufen und ich kann zum ersten Mal seit langem alles vergessen, was sich immer wieder bedrückend an die Oberfläche kämpft.

Ellen geht es nicht anders und nach dem dritten ziemlich schnell heruntergekippten Wodka-Orangensaft legt sie den Arm um mich und ruft in die kleine Runde: „Leute, wir müssen wieder mehr losziehen. Das ist so kein Leben! Und Carolin ist jetzt endlich auch hier in Osnabrück und man muss die Feste feiern wie sie fallen.“

Wir nehmen uns alle vor, am Freitag die Stadt auf unsere alte Weise unsicher zu machen.

Ich stoße mit Ellen an und flüstere ihr zu: „Das Leben ist zu kurz, um es sich von Maasmännchen und Brüdern versauen zu lassen.“

Sie lacht laut auf. „Maasmännchen? Das ist gut!“

Die Musik dröhnt durch die Wohnung, als ich mit Ellen, und Sabine mit Andrea, wild tanzend durch das Wohnzimmer springen. Wir lachen und ich bin sogar richtig betrunken. Ellen scheint es nicht besser zu gehen und sie greift nach mir und fällt mir um den Hals.

Als mein Blick zur Flurtür abdriftet, steht Erik im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick verheißt nichts Gutes.

„Hoppla!“, sagt Sabine und hält Andrea fest, die gerade über die Lehne des Sofas zu stürzen droht.

Ellen wird auch auf ihn aufmerksam und säuselt lallend: „Erik! Schon da? Wir machen eine Freiheits … party!“

Ich sehe Ellen entsetzt an. Das kann kaum das richtige Wort für das sein, was wir hier feiern und an Eriks Gesicht sehe ich das auch. „Eine Einweihungsfeier, keine Freiheitsfeier“, rufe ich gegen die laute Musik an und wanke zu ihm.

Doch sein Blick bleibt unverändert. Er traut den Worten seiner Schwester wohl mehr als meinen.

Es klingelt und Erik dreht sich um und macht die Tür auf, mit flacher Hand den Weg weisend. „Hier ist deine Ellen! Party machend! Mitten in der Woche! Carolin ist schon vollkommen betrunken.“

Daniel grinst breit und geht direkt zu Ellen und küsst sie. Sie schlingt ihre Arme um ihn und beginnt mit ihm zu tanzen.

Ich sehe Andrea an, die ihre Tasche greift und auf Sabine wartet, die noch ihre Schuhe anziehen muss. Sie kichert und wird dann mit einem Blick auf Erik wieder ernst.

„Wollt ihr schon gehen?“, frage ich entrüstet.

„Ja, wir müssen los!“, sagt Andrea und zieht Sabine an Erik vorbei in den Flur, greift die beiden Jacken und schiebt die schon wieder grinsende Sabine zur Wohnungstür.

Die säuselt: „Manoman! Du kannst aber böse gucken!“, und fuchtelt Erik mit dem Zeigefinger vor der Nase herum, bevor Andrea sie ganz zur Tür bugsieren kann.

Ich lache und wünsche ihnen ein gutes Heimkommen, mich kurz an der Tür festhaltend. Auf der Treppe winken die beiden mir noch mal zu und Sabine ruft: „Freitag machen wir weiter!“

„Hundertprozentig!“, rufe ich ihr hinterher, drehe mich ein bisschen zu schnell um und stolpere in die Wohnung zurück. Die Tür fällt laut ins Schloss und Erik sieht mir kopfschüttelnd entgegen.

Ellen tanzt mit Daniel, der Erik eine beschwichtigende Handgeste zuwirft. Aber ich habe es gesehen und reiße mich zusammen. Irgendwie schaffe ich es bis vor seine Füße, ohne zu stolpern.

„Ich musste den Mädels doch noch die Wohnung zeigen“, erkläre ich und schiebe mich vorsichtig ganz dicht an ihn heran, bis wir uns fast berühren.

Er packt mit beiden Händen den Kragen meiner Bluse und zieht mich ganz an sich. „Wie kann man sich nur mitten am Nachmittag besaufen?“, brummt er. Aber sein Blick ist alles andere als wütend. Nicht so wie bei Andrea und Sabine eben, was die beiden fluchtartig die Wohnung verlassen ließ.

„Einsamkeit, Vernachlässigung und weil du mir so gefehlt hast, hat mich zu tief ins Glas schauen lassen“, flüstere ich theatralisch und sein ungläubiger Blick zeigt mir, dass er nicht fassen kann, dass ich ihm jetzt auf dieser Schiene komme.

„Soso!“, brummt er. „Ich bin also schuld?“

Ich nicke und schenke ihm einen gekonnten Augenaufschlag.

Seine Augen verengen sich augenblicklich zu Schlitzen, was das Braun aufblitzen lässt und er versucht ernst zu bleiben. „Böse Kinder legt man übers Knie“, murrt er. „Und ich denke, bei dir wird es mal höchste Zeit durchzugreifen.“

„Auja!“, freue ich mich und Erik ist kurz verwirrt. Doch dann zieht er mich am Kragen meiner Bluse langsam hinter sich her durch das Wohnzimmer, wo Daniel und Ellen uns etwas beunruhigt nachschauen.

„Macht die Tür hinter euch zu, wenn ihr geht“, raunt Erik ihnen zu und zieht mich ins Schlafzimmer. Die Tür lässt er hinter uns laut ins Schloss krachen.

Mir ist das peinlich, weil Ellen und Daniel noch da sind und es offensichtlich erscheint, was Erik bezweckt. Aber der kennt kein Pardon. Er knöpft die ersten zwei Knöpfe meiner Bluse auf und die nächsten zwei fliegen durch den Raum.

„Hey!“, beschwere ich mich.

„Sei still!“, brummt er, zieht mir die Bluse aus und lässt meinen BH gleich mitfallen.

Ich schiebe meine Hände unter sein T-Shirt und lasse sie über seine Haut gleiten. Doch mit einem Griff zieht er sie von seiner Brust, dreht mich um und hält meine Hände vor meiner Brust verschränkt fest.

Die schnelle Drehung macht mich schwindelig und Erik küsst meinen Hals und meinen Nacken. Ganz nebenbei fragt er: „Was ist am Freitag?“

Ich lasse meinen Kopf nach vorne sinken und möchte mehr von diesen Küssen. „Da gehen wir mal wieder los“, flüstere ich ergeben, mich völlig seinen Lippen hingebend.

„Bestimmt nicht!“, raunt er nur, dreht mich wieder zu sich um und küsst mich.

Ich kann das Aufbegehren in meinem Inneren somit nicht aussprechen … will es aber auch gar nicht. Seine Erektion an meinem Unterleib elektrisiert mich und ich will mehr von ihm. Ich öffne seine Hose und lasse meine Hand hineingleiten. Dabei ist mir sogar egal, ob Ellen und Daniel noch da sind. Ich will mich nur seinen fordernden Küssen hingeben und allem anderen, was sein Körper mir verspricht.

Nichts lässt mich so sehr alles um mich herum vergessen, wie die Zeit mit Erik, wenn wir unsere Körper erforschen und unsere Sinne ausloten. Kein Zeitgefühl verschwimmt dermaßen ins Nichts, als in der Zeit, die wir miteinander verbringen, wenn wir uns lieben. Und wenn ich aus diesen zeitlosen, gefühlvollen, leidenschaftlichen Wirren wieder emporsteige, bin ich erschöpft, müde und vollkommen ruhig. Und auch Erik scheint diese Zeit aus allen seinen Untiefen zu holen, die sich immer noch in seinem Inneren auftun.

„Das möchte ich für immer haben“, raunt er mir ins Ohr und zieht mich noch ein wenig dichter an seinen heißen Körper.

Mit diesen Worten holte er mich aus dem Schlaf zurück, in den ich mich langsam fallen lassen wollte. „Ich auch“, murmele ich.

So liegen wir nur da und genießen, dass uns immer noch eine Wand aus Zufriedenheit und tiefer Zuneigung umgibt, die alles böse dieser Welt noch einige Zeit aussperren kann.

Aber jeder Frieden kann schnell durch die Tücken der Zivilisation zerstört werden. In diesem Fall ist es Eriks Handy, das klingelt.

Sofort kommt Bewegung in ihn und er schiebt mich aus seinem Arm.

Ich sehe ihm hinterher, wie er den Raum verlässt, sofort beunruhigt, weil sein schneller Aufbruch nichts Gutes vermuten lässt. Ich höre ihn reden, kann aber nicht verstehen was er sagt. Aber ich möchte mich der Welt da draußen noch nicht stellen, die sich sofort auf mich stürzen wird, wenn ich das Bett verlasse. Deshalb umarme ich die Decke und schließe wieder die Augen, mich trotzig wieder der Erinnerung an die Gefühle hingebend, die wir noch vor kurzem erlebt hatten.

Erik kommt ins Schlafzimmer zurück und schiebt sich hinter mir unter die Decke. Sein Arm schlingt sich um meinen Oberkörper.

„Wer war das?“, frage ich.

„Walter.“

Der Name elektrisiert mich, und das ist die Wirklichkeit, die mich sogar hier im Bett erreicht. Ich ziehe seinen Arm von meinem Körper und drehe mich zu ihm um. Seine braunen Augen sehen mich zufrieden an, was mich augenblicklich beruhigt.

„Ich war heute Nachmittag bei ihm und habe ihm erklärt, was du mir bedeutest und dass ich dich beschützt wissen will, und dass seine Söhne ihre Finger von dir lassen sollen. Er war ziemlich überrascht.“ Erik schmunzelt und streicht mir meine Haare aus dem Gesicht. „Er kennt mich nur als Verfechter gegen das weibliche Geschlecht und ich hatte bisher immer gegen alles plädiert, was länger als zwei Stunden ging. Dass ich mich plötzlich so ändere und auch noch mit der Bitte vor ihm stehe, mir seinen Segen für unsere Beziehung zu geben, hat ihn wirklich aus den Socken gehauen.“

Ich stütze mich auf den Ellenbogen ab und frage überrascht: „Wie, du hast dir seinen Segen geholt?“ Ich verstehe Eriks Verhältnis zu diesem Mann nicht und auch nicht, wieso er so eine große Rolle in unserem Leben spielt.

Erik erklärt mir nach einer kurzen Pause und einem tiefen Seufzer: „Walter war Clemens bester Freund. Sie kannten sich schon seit ihrer Schulzeit und während Clemens zwar ein wildes und auch drogenreiches Leben führte, hatte er doch nie etwas mit den kriminellen Machenschaften von Walter am Hut, der hier in Osnabrück ein Bordell betreibt und in ziemlich allen Geschäften seine Hände im Spiel hat, die nicht legal sind. Clemens war mein Patenonkel, wie du weißt. Aber ich habe auch noch einen inoffiziellen, der mit Clemens zusammen damals beschlossen hat, sich um mich zu kümmern. Als Clemens dann diesen Unfall hatte, fühlte Walter sich verpflichtet, mich zu unterstützen. Deshalb bin ich in der Osnabrücker Unterwelt ziemlich unantastbar. Aber Teddy und Sam, die nur wenige Jahre älter als ich sind, waren von dieser Konstellation nie besonders begeistert. Zumal Walter mich nach Clemens Tod immer ein wenig bevorzugte. Das lag natürlich nur daran, weil ich der jüngere von uns Dreien bin.“

Mich aufsetzend, kann ich nur erstaunt raunen: „Dann sind diese beiden hässlichen Schlägertypen so etwas wie Brüder für dich?“

Erik grinst. „Naja! Eine Zeit lang sahen sie das so. Aber ich denke, seit gestern nicht mehr. Und ich konnte Walter überzeugen, dass ich jetzt meinen richtigen Weg gefunden habe, den ich weitergehen möchte. Ich bat ihn, mich darin zu unterstützt und seine Jungs zurückzupfeifen. Als er mich eben anrief, sagte er mir, dass er mit ihnen geredet hat und sie die Finger von dir lassen werden.“

„Warum von mir? Was habe ich damit zu tun?“, frage ich, weil ich immer noch nicht verstehe, was ich eigentlich mit der ganzen Sache zu tun habe.

Erik setzt sich auch auf und lehnt sich an die Rückwand des Bettes. „Für die beiden sind solche Mädchen wie du das, was sie nie haben werden. Außer sie zwingen sie dazu. Erst geben sie ihnen Drogen, bis sie abhängig sind und dann lernen sie sie für den Job an. Jedes ihrer Mädchen ist abhängig von ihnen und muss sich ihnen fügen. Du standst sofort ganz oben auf ihrer Wunschliste. Und dass ich dich habe, und zwar nicht so, wie sie es gerne hätten, das ärgert sie.“

Ich verstehe zu wenig von dieser Welt, als dass ich genau weiß, was er meint. „Wie sollst du mich denn ihrer Meinung nach haben?“, frage ich verwirrt.

Erik sieht mich zurückhaltend an und ich weiß, er will gar nicht, dass ich zu viel von dieser dunklen Welt weiß, in der er Jahrelang ein und ausgegangen war. Doch ich will es wissen. „Was meinst du damit?“, bohre ich nach, als er nicht sofort antwortet. Das Ganze verunsichert mich und macht mich wütend und Erik bestätigt mir in nächsten Moment, was ich schon ahne.

„Wenn ich aus dir ein drogenabhängiges Strichmädchen gemacht hätte, dann könnten sie auch über dich verfügen, wie es ihnen beliebt.“

Ich schlucke und frage aufgebracht: „Erik, gibt es Mädchen, die du drogenabhängig gemacht hast und die für dich anschaffen müssen?“

Er schüttelt den Kopf. „Nein, das ist wirklich nicht mein Ding. Aber die Maas wollten mich als Köder, weil sie schwer an die Mädels herankommen, wie du dir denken kannst. Als ich ihnen im Hype Park sagte, dass du zu Ellen und mir gehörst, dachten sie tatsächlich, ich steige endlich in das Geschäft ein. Dass du mich stehen gelassen hast, nahmen die schon fast persönlich und sahen das als geschäftsschädigenden Anfängerfehler an.“ Er lächelt zaghaft, weil er sich wohl nicht sicher ist, wie seine Offenheit auf mich wirkt.

„Oh Mann!“, kann ich nur entsetzt flüstern. Ich hatte nie richtig erkannt, wie tief Erik in diesem kriminellen Sumpf steckt, schon allein durch alle um ihn herum, die in diesem Sumpf leben.

Erik schiebt sich dicht an mich heran und sieht mich mit beunruhigtem Blick an. „Bitte, Carolin! Ich schwöre dir, ich habe nie und werde auch nie dergleichen tun. Und auch mit allem anderen werde ich aufhören. Das ist nicht mehr meine Welt. War es wahrscheinlich auch nie wirklich.“

Seine Worte sollten mich trösten und mir die Angst nehmen. Aber ich kann nicht verhindern, dass sie einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.

Ich nicke nur, stehe auf und raune: „Ich gehe duschen. Ich bin vom Alkohol noch etwas benebelt. Hinterher koche ich uns was, wenn du magst.“

Mir ist nicht nach Essen. Aber ich brauche etwas, was mich von dem Gehörten ablenkt … und dann muss ich noch meine Hausaufgaben bewältigen. Mir ist nicht klar, wie ich das alles heute noch schaffen soll. Aber zumindest können das Kochen und meine Hausaufgaben ein Vorwand sein, mich ein wenig aus Eriks Nähe zu stehlen und nachzudenken.

Der sieht mir nur hinterher und ich spüre seinen Argwohn förmlich. Er kann nicht einschätzen, was ich jetzt fühle und ich weiß es selbst auch nicht genau. Dass mein Liebster so etwas wie das Patenkind eines Bordellbesitzers ist, der die Drogenscene bestimmt und seine widerlichen Scheinbrüder Frauen nur als Prostituierte halten, das muss ich erst mal verkraften. Langsam wird mir klar, warum die Zeiss-Clarkson Clemens nicht mehr gerne in ihren Reihen sahen und sie auch nicht gerne wollten, dass Erik seine Zeit mit ihm verbrachte.

Als ich aus der Dusche steige, kommt Erik ins Badezimmer. Er reicht mir ein Handtuch und sieht mich beunruhigt an. „Alles okay?“

Ich nicke. Aber ich bin verunsichert und fühle mich nicht wohl.

In der Dusche hatte ich über mich und die Situation nachgedacht, in der ich stecke. Und ich hatte über Erik nachgedacht … mit seinen Drogen, seinem Umfeld, das von Drogen und Prostitution lebt, seinen gefühlten siebzig bis hundert Frauen, seiner Eifersucht und seiner Art mein Leben zu bestimmen. Und tief in meinem Inneren legte sich ein schwarzes Tuch über all das und bemühte sich, alles unsichtbar werden zu lassen und allem die Schärfe zu nehmen. Die Dunkelheit kann so etwas! Das hatte er mir beigebracht.

Und dann hatte ich an Marcel gedacht. Bei ihm war alles, was ich ihm vorwerfen konnte, dass er mit zwei, drei Mädels versucht hat eine Beziehung aufzubauen, was allerdings gescheitert war. Er hatte mich außerdem gebeten, nicht ganze Nächte wegzubleiben, und er wollte, dass ich sein großes Laster mit ihm teilte: Fußball! Sein schlimmes Umfeld war eine durchgeknallte Mutter, die er durch einen Verlobungsring an meinem Finger darauf aufmerksam machen wollte, dass er nur mich liebt und eine Exfreundin, die er in ihre Schranken verwies. Er war so unschuldig … und für mich war das alles schon zu viel gewesen. Und das macht mir jetzt Angst. Was ist mit mir in den wenigen Wochen passiert? Hier und jetzt, in diesem Badezimmer, das eigentlich Erik gehört, erkenne ich mich selbst nicht mehr wieder.

Ich hatte auf seine Frage, ob alles okay ist, nur nicken können. Ich bin verstört und durcheinander. Dass ich mich selbst nicht mehr kenne, verunsichert mich.

„Carolin?“ Erik versucht mir ins Gesicht zu sehen. Aber ich habe meinen Blick zu Boden gerichtet, während ich an ihm vorbei zum Schlafzimmer zurückkehre. Ich spüre ihn hinter mir, dicht auf den Fersen.

„Carolin!“, versucht er erneut meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und an seiner Stimme höre ich, dass er langsam nervös wird.

Im Schlafzimmer legt seine Hand sich um meinen Oberarm und dreht mich zu sich um. Er greift mit beiden Händen nach meinen Schultern und versucht erneut meinen Blick einzufangen. „Was ist los?“

Da ich ihn immer noch nicht ansehen kann, legt er seine Hand unter mein Kinn und zwingt mich aufzusehen. Ich sehe in seinen Augen Verzweiflung und weiß nicht, was er sieht. Aber ich spüre ein seltsames Gefühl, das durch meine Adern kriecht und sich immer noch fragt, warum ich Marcel für nichts böse war und Erik mir ein völlig durchgeknalltes Leben präsentieren darf?

„Carolin, was ist los?“, knurrt er und ich weiß, er schaltet in den „Ich bekämpfe, was mich angreift, mit Wut und Gewalt“ Modus.

„Ich weiß nicht“, gestehe ich und sehe in seine Augen, suche nach dem Erik, von dem er mir eben erzählt hat. Dem Erik aus der Drogen- und Zuhälterscene. Aber ich sehe nur den, der mich braucht, der seine Narben vor mir nicht verstecken muss, der ohne mich tief fällt … in genau diese erschreckende Scene, aus der ich ihn scheinbar herauszuheben im Stande bin. Und dann weiß ich, was ich bin und was ich für Marcel nie sein musste: Seine Rettung.

„Bitte, sag jetzt, was los ist!“, knurrt Erik noch eindringlicher und ich sehe mich endlich im Stande zu antworten.

„Mir ist so viel eingefallen“, flüstere ich. „Ich war immer so wütend auf Marcel … wegen seinen vorherigen Beziehungsversuchen und weil ich nicht die Erste für ihn war, wie er für mich …, weil er mich zu seiner bösen Mutter schleifte …, weil ich mit ihm zu seinen Fußballspielen gehen sollte und weil ich auf einer großen Scheunenparty auf eine Exfreundin traf. Das fand ich alles so schlimm, dass ich ihn immer wieder quälte und verlassen wollte. Und bei dir? Ich war mir einen Moment nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch ich bin.“

Erik sieht mich aufgebracht an. „Was? Du hast an Marcel denken müssen?“

Ich brauche Sekunden, um zu begreifen, dass Erik da etwas gerade völlig falsch versteht. „Ich habe an ihn denken müssen, weil ich bei ihm jede Kleinigkeit für schlimm hielt und ich bei dir viel Schlimmeres vorgesetzt bekomme.“

Weiter komme ich nicht. Eriks Augen weiten sich und sein Gesichtsausdruck wird hart. „Was soll das heißen?“, knurrt er bissig.

„Nichts! Nur dass ich mich einen Moment fragte, wo die alte Carolin hin ist. Ich hatte mich einen Moment verloren. Aber ich denke, ich weiß es jetzt.“

„Was weißt du jetzt?“

„Dass ich mich nur unglaublich verändert habe. Du hast mich verändert!“

Ich muss lächeln, weil mir ein Gedanke kommt, den ich besser nicht ausspreche. Aber Erik sieht verunsichert auf meinen lächelnden Mund und raunt: „Zumindest findest du das amüsant, was mich etwas beruhigt.“

„Das würde es nicht, wenn ich dir sage, welcher Gedanke sich gerade in meinen Kopf geschlichen hat“, raune ich, weil ich einen Augenblick das Gefühl habe, er kommt, wie immer bei mir, viel zu leicht davon. Ein wenig Unsicherheit tut ihm ganz gut.

„Dann sag mir, was für ein Gedanke das war“, knurrt er und sein Blick versetzt mir einen Stich ins Herz. Ich hatte nicht bedacht, dass Erik Erik ist und er jetzt denkt, dass ich immer noch an Marcel denke. Und dieser Gedanke zeigt sich auf seinem Gesicht, seinen zusammengekniffenen Augen und seinen zusammengepressten Lippen … und an seinen Händen, die meine Oberarme noch einen Tick fester umschließen, dass es schon an der Schmerzgrenze ist.

Ich schüttele den Kopf, fast schon in einem selbstzerstörerischen Akt, aber eigentlich, weil ich ihn noch ein wenig schmoren lassen will.

„Carolin!“, kommt es bedrohlich über seine Lippen. „ICH WILL ES WISSEN!“

Ich sehe ihm an, dass seine Schmerzgrenze erreicht ist. Wenn es um Marcel oder Tim geht, ist die nicht höher als ein Rabattenzäunchen um ein paar Rosenbüsche.

„Okay, okay!“, raune ich. „Aber bitte lass mich los. Du tust mir weh!“

Offenbar traut Erik meinem Einlenken nicht. Ohne mich loszulassen, schiebt er mich rückwärts zum Bett und lässt mich auf die Matratze plumpsen, was mein Handtuch verrutschen lässt. Scheinbar meint er, dass ich, für den Fall, dass ich doch nicht reden will, schon mal eine gute Ausgangslage für seinen nächsten Übergriff biete. Er setzt sich auf meinen Bauch und schiebt mit wütendem, aufgebrachtem Blick meine Arme über meinen Kopf.

Eine Sekunde wird mir doch etwas mulmig. Mir wird mal wieder bewusst, wie groß und stark er ist …

„Ich warte!“, zischt er durch seine zusammengepressten Zähne. Seine Augen funkeln ungeduldig und mir kommt kurz in den Sinn, dass ich froh sein kann, dass der Gedanke nichts mit Marcel zu tun hat. Ich beschließe, ihn nicht länger auf die Folter zu spannen. „Ich musste daran denken, dass du eigentlich schon so etwas wie mein Zuhälter bist.“

Erik atmet tief ein und sieht mich verwirrt an.

Ich erkläre: „Erst hast du mich nach dir süchtig gemacht und jetzt ertrage ich ohne zu murren alles, was ich bei anderen nie zugelassen hätte.“

Meine Worte machen ihn völlig sprachlos. Er hatte damit gerechnet, dass ich an glücklichere Zeiten mit Marcel dachte oder ähnlichem, und ich komme ihm mit so etwas. Er lässt mich los und rollt sich von mir runter.

Ich setze mich auf und sehe ihn an. Dass meine Worte ihn so irritieren ist gut. Sehr gut. Etwas zum Nachdenken.

„Und jetzt ziehe ich mich an und schau mal, was wir essen wollen.“

Ich gehe zum Kleiderschrank, suche mir ein T-Shirt und eine Jogginghose heraus und streife alles über. Dabei sehe ich immer wieder zu Erik, der mich nachdenklich beobachtet. Scheinbar ist er immer noch sprachlos.

Als ich an ihm vorbei aus dem Zimmer schlüpfen will, schnellt seine Hand vor und er zieht mich vor seine Füße. Er schlingt beide Arme um meine Taille und vergräbt sein Gesicht an meinem Bauch.

Diese Geste rührt mich. Ich streiche durch seine Haare und lasse ihm einfach die Zeit, die er braucht, um mit sich wieder ins Reine zu kommen und zu kapieren, dass es immer noch nur ihn für mich gibt und ich immer noch unerschütterlich an seiner Seite stehe. Trotz allem.

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

Подняться наверх