Читать книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 3
Verrat und Zusammenhalt
ОглавлениеIch werde wach, weil von irgendwoher ein Handy klingelt.
„Erik, dein Handy!“, raune ich schlaftrunken und höre nur ein verdrossenes Brummen neben mir.
Das Klingeln hört kurz auf, um erneut wieder zu beginnen.
Das Licht der kleinen Nachttischlampe springt an und ich höre Erik sich aus dem Bett wälzen. „Verdammte Scheiße!“, knurrt er müde und erschöpft.
Er war, nach einer schlaflosen Nacht in einer Gefängniszelle, sofort eingeschlafen, nachdem er all seinen Frust und seine Angst in mir entladen hatte. Geblieben war die Liebe, mit der er mich in seine Arme schloss und die ihn in einen Schlaf schickte, endlich von allem schrecklichen Erlebten und Erdachten befreit.
Ich hatte nicht sofort schlafen können. Zu sehr drängten sich mir die Bilder von dem auf, was ich erlebt hatte.
Ich habe keine Ahnung, wie alles weitergehen wird. Schließlich bin ich jetzt ein Al Kimiya … und was das heißt, ist mir nicht ganz klar. Aber ich habe Erik wieder und das ist alles was für mich im Moment zählt. Doch dass Tim freie Hand über sein Handeln hat, verursacht ein stechendes Gefühl der Angst in mir.
Ich werde mir überlegen müssen, wie ich mit ihm umgehe. Freundschaftlich, um ihn etwas im Griff zu haben oder ihn ignorieren? Darüber hatte ich mir den Kopf zerbrochen, bevor auch mich die Erschöpfung in einen Schlaf schickte, aus dem mich Eriks Handy nun gerissen hat.
Draußen ist es mittlerweile dunkel und ich habe Hunger. Ich schiebe mich aus dem Bett, werfe mir meinen Bademantel über und finde Erik im Flur. Seine Jacke liegt achtlos vor ihm auf dem Fußboden und er hat sein Handy am Ohr.
„Kannst du mir erklären, was bei euch los ist? Wie tief seid ihr eigentlich gesunken?“, tobt er mit einer Wut in der Stimme, die sie erzittern lässt. „Wer hat denen denn gesagt, dass ich das vorhabe? Willst du mich verarschen? Und was war mit dem Zeug bei meinem Auto, das die Polizei für Stoff hielt? Ich hatte nichts bei mir. Sie hätten mich nicht mal mitnehmen können, wenn ihr nicht Tütenweise irgend so einen Scheiß an meinem Auto platziert hättet!“
Erneut scheint Erik zuzuhören und ich gehe verunsichert in die Küche. Ich beschließe, uns ein Sandwich zu machen. Erik hatte zwar im Gefängnis heute Morgen ein Frühstück bekommen, aber ich weiß nicht, ob er das auch angerührt hat, und ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.
Mir ein großes Glas Wasser aus dem Wasserhahn nehmend, trinke ich erst mal gierig. In meinen Kopf drängt sich das gehörte. Hatten die Al Kimiys nicht gesagt, sie hätten das Zeug an Eriks Auto verschwinden lassen?
„Das sagst du jetzt! Angeblich gab es diese Tüten aber und die hätten mich für immer in den Knast bringen können“, höre ich Erik brüllen.
Ich nehme einige Toastscheiben und lege sie auf den Küchenschrank.
„Das kann doch nicht wahr sein! Die haben mich verkauft? Walter …, ich schwöre dir, das zahle ich denen heim und wenn sie Carolin noch einmal zu nahekommen gibt es Tote. Und ich bin fertig mit euch! Ein für alle Male!“
Es knallt und ich höre das mir vertraute Geräusch, wenn ein Handy sich in seine Bestandteile zerlegt.
Schnell verlasse ich die Küche und sehe Erik im Flur stehen und wie er sich resigniert über das Gesicht fährt.
Ich hebe das Handy, die Kappe und den Akku auf und gehe zu ihm, um ihn in die Arme zu nehmen. „Hey, Schatz! Was ist los?“, frage ich beunruhigt und seine vor Zorn funkelnden Augen treffen mich. Er schüttelt kurz den Kopf und zieht mich an sich.
„Die Hunde behaupten, es war nur ein Deal mit jemand, der sie dafür bezahlte und klargestellt hat, dass wir am nächsten Tag wieder rauskommen … und sie hätten nie etwas an unseren Autos platziert, was den Eindruck erwecken sollte, ich wolle dealen.“ Er schüttelt erneut den Kopf. „Und sie wollten mir nur eine kleine Abreibung verpassen, damit ich wieder nach ihren Regeln spiele. Diese Schweine!“
Er zittert und ich öffne meinen Bademantel und lege ihn um seinen nackten Körper, ihn mit meinem wärmend. Dabei überschlagen sich meine Gedanken. Einer lügt. Seine Leute oder meine neuen Freidenkerfreunde. Und ich muss gestehen, dass ich in diesem Moment eher Walter glaube. Denn auch mir war schon geschossen, dass es zu viele Zufälle gestern Abend gab.
„Komm!“, murrt Erik und schiebt sich aus der Wärme des Frotteestoffes. „Lass uns heiß duschen.“
Ich folge ihm bereitwillig ins Badezimmer. Sein Gesichtsausdruck zeigt eine Traurigkeit, die mich erschüttert. Erik scheint immer mehr die Fähigkeit zu verlieren, seine Gefühle zu verbergen. Ihn immer öfter so zu sehen tut mir weh.
Wenig später rieselt das heiße Wasser über uns hinweg und spült den Schmutz des Wochenendes von uns herunter. Ich lasse Duschgel in meine Handfläche laufen und in meiner Hand aufschäumen.
„Ich schnall das alles nicht“, zischt Erik, während ich ihn einseife und den Schmerz in seinen Augen sehe. Der angebliche Verrat seiner alten Freunde, die mal so etwas wie seine Familie waren, trifft ihn schwer.
Ich raune leise: „Ich glaube, Walter hat recht. Vielleicht haben Sam und Teddy sich kaufen lassen, um dir … oder vielmehr wegen mir … eins auszuwischen. Aber sie wollten dich nicht im Gefängnis verrecken lassen. Bestimmt nicht. Und wahrscheinlich haben diese Al Kimiyaer das mit dem Stoff nur gesagt, um mich auf ihre Seite zu ziehen. Sie behaupteten, den Stoff weggenommen zu haben, damit ihr nicht belastet werden könnt. Aber vielleicht waren sie es, die ihn dort hinlegten? Komm Schatz! Heute klären wir das nicht mehr. Und mir ist klar, dass ich diesen Leuten nicht trauen kann. Zumindest weniger als Sam und Teddy. Die beiden sind nur große Kinder, die etwas überreagieren, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Und Walter hat mich zu sich geholt, damit mir nichts passiert. Wäre ich bei ihm geblieben, hätten mich die Typen nicht gekriegt“, versuche ich Erik aufzubauen.
Es erscheint mir unglaublich schlimm, ihn denken zu lassen, dass es wirklich niemand außer Daniel und mir gibt, der ihm auch nur etwas Respekt und Zuneigung entgegenbringt. Die ganze Welt sollte ihn eigentlich lieben.
Erik hat seine Augen geschlossen, aber in seiner Brust erschüttern krampfhafte Seufzer sein Inneres und über sein Gesicht laufen Tropfen die Wange hinunter, die nicht unbedingt vom Wasserstrahl herrühren. Erschüttert frage ich mich, ob Erik weint. Ich ziehe ihn an mich und schlucke schwer. Dieser Verrat reißt ihn erbarmungslos in die Tiefe.
Als wir am Montagmorgen am Küchentisch sitzen und unseren Kaffee und Tee trinken, setze ich mich auf Eriks Schoß. Meine Hände in seine Haare vergrabend, sehe ich ihm ins Gesicht. „Versprichst du mir etwas?“
„Was du willst!“, antwortet er mir und in seinen Augen sehe ich die Ergebenheit, die er mir mittlerweile entgegenbringt. Wo alles um ihn herum zusammenbricht, bin ich ihm erhalten geblieben und stehe unerschütterlich an seiner Seite.
„Du legst dich nicht mit Sam und Teddy an. Wir klären das mit ihnen in Ruhe und mit Bedacht. Hörst du?“
Erik sieht mich barsch an. „Wir? Dich lasse ich nicht annähernd in ihre Nähe. Und ich werde ihnen das heimzahlen!“
„Schatz, das wirst du nicht. Ich will nicht, dass wir noch mehr Stress mit ihnen bekommen. Du siehst doch, was dabei herauskommt. Nachher bringt ihr euch noch gegenseitig vor den Kadi. Ich will das nicht. Das am Samstag hat mir vollkommen gereicht.“
Erik weiß das und er sieht an meinem Gesichtsausdruck, wie ernst es mir ist.
„Bitte versprich es mir!“, bitte ich noch einmal entschieden und er nickt ernst.
„Aber dann sagst du mir jedes Mal, wenn du etwas von diesen Kimiyaern hörst. Und wenn du zu ihnen gehen sollst oder sie dich aufsuchen, werde ich immer dabei sein“, brummt er.
„Natürlich!“, erwidere ich und küsse ihn lächelnd. „Keine Alleingänge mehr. Nicht von dir und nicht von mir! Versprochen.“
„Okay! Versprochen“, raunt er.
Ich steige von seinem Schoß herunter und setze mich vor meinen Tee. Heute bringt Erik mich zur Schule, weil Daniel Ellen von der Villa aus zur Schule chauffiert. Sie schlafen immer noch dort, weil ihre Eltern auf ihren zweiten Flitterwochen sind.
Ellen steht schon am Schulhof und wartet auf mich, als Erik den Mustang vor der Schule anhält. Mittlerweile ist es für mich völlig egal, ob uns jemand sieht oder nicht. Es wissen sowieso schon alle, die es irgendwie interessieren könnte, dass Erik sesshaft geworden ist und ich der Grund bin. Komischerweise begegnet man mir inzwischen mit einer seltsamen Zurückhaltung.
Mir ist das egal, weil Erik mir wichtiger ist als alle anderen.
„Tschüss Schatz! Und sauber bleiben“, sage ich zu ihm und küsse ihn durch sein offenes Fenster.
„Du auch! Bis heute Abend!“, antwortet er mir. „Ich hole dich ab.“
Ellen baut sich neben mir auf. „Hi Bruderherz! Alles gut überstanden?“
Erik nickt nur und ich küsse ihn noch einmal, weil er mir einfach nur leidtut. Er hat noch immer nicht verkraftet, was seine Junkie- und Zuhälterfamilie ihm am vergangenen Wochenende angetan hatte.
Als ich mit Ellen wenig später zum Eingang der Schule gehe, sieht sie mich besorgt an. „Alles klar bei euch?“
Ich nicke und starre betrübt vor mir auf den Boden. Als ich wieder aufsehe, liegt ihr Blick wartend auf meinem Gesicht.
„Das waren wohl Sam und Teddy, die Daniel und Erik eins reinwürgen wollten. Und um das abzurunden ließen sie sich wohl von dem Trupp finanziell dazu anleiten, der mir Tim und Julian auf den Hals hetzt.“
„Was? Woher weißt du das?“, raunt Ellen und sieht sich um, ob auch niemand uns zuhört.
„Erik hat mit Walter telefoniert. Und als sie euch am Samstag von den Bullen einsacken ließen, wurde auch ich geschnappt und entführt.“
Ellen bleibt mit weit offenem Mund stehen und sieht mich entsetzt an. Als sie endlich ihre Stimme wiederhat, flüstert sie: „Was?“
„Ich lief nach draußen, um euch zu suchen, als mich jemand packte, mir eine Spritze in den Arm jagte und ich Stunden später irgendwo aufwachte.“
„Mein Gott! Das waren doch nicht auch noch Teddy und Sam? Erik bringt die um!“
„Nein, nein. Das waren diese Al Kimiy Dingsbums. Die Leute halt, die Julian das Studium finanzieren. Und der Anwalt, der euch rausholte, war auch der gleiche Anwalt, der Julian aus der Untersuchungshaft holte.“
Mein Bruder Julian hatte fast zwei Monate im Gefängnis eingesessen, weil er Tim übel zugerichtet hatte und mich mit einem Messer am Hals verletzte.
Ellen scheint starr vor Schreck zu sein. Aber sie ist nicht dumm und raunt kurz darauf: „Und was musstest du dafür tun, dass er auch bei uns solchen Einsatz zeigte?“
„Nicht viel! Ich soll in Zukunft etwas mit ihnen kooperieren und mich zu ihrem Verein zählen. Die Geschichte mit den Kindern darf noch warten, haben sie gesagt und wenn Julian es hinbekommt, dass sie bekommen, was sie wollen, dann brauche ich gar nichts mehr für sie tun. Und ich kann bei Erik bleiben.“ Das stimmt nicht ganz, aber auch vor ihr will ich die Geschichte so hingestellt sehen.
Ellen scheint mir kein Wort glauben zu können. „Das ist nicht dein Ernst?“
Ich sehe vor mir zu Boden, weil ich nicht weiß, ob ich ihr anvertrauen kann, was mir auf der Seele brennt.
„Carolin?“, knurrt sie bissig und zieht mich an die Seite, weil ein Pulk Lehrer an uns vorbeizieht. Es klingelt im selben Moment, was wir ignorieren.
Ich sehe auf und bitte sie leise: „Versprich mir, dass weder Daniel noch Erik etwas davon erfahren.“
„Wovon?“, brummt Ellen und ihre braunen Augen werden zu Schlitzen.
„Sie sagten mir, dass sie sich aber nicht einmischen, was Tim angeht. Er ist im Moment mein größtes Problem.“
Ellen strafft ihre Schultern und winkt ab. „Ach der! Den machen wir platt, wenn er noch mal auftaucht. Mit dem werden wir spielend fertig!“
Ihr Enthusiasmus in Ehren. Ich hatte ihn erlebt. In all seinen Facetten. Und ich habe Angst vor dem, zu was er noch fähig ist. Aber ich lächele sie an und nicke. „Du hast recht.“
Wir gehen zu unserer Klasse, wo uns der Mathelehrer wegen unseres Zuspätkommens mit bösem Blick auf unsere Plätze verweist. Aber so kann ich wenigstens der mich ständig in den Abgrund ziehenden Gedankenflut entkommen.
Am Nachmittag will Ellen mich zur Arbeit bringen, um haarklein alles von meiner Entführung zu erfahren. In der Schule waren wir keinen Moment mehr allein gewesen und zu meiner Überraschung sehe ich, dass Michaela mit uns in die Stadt fährt.
„Ich muss mit Julian sprechen. Kannst du ihm das ausrichten?“, frage ich Michaela leise und sie nickt.
„Er ist noch in der Uni“, erklärt sie. „Er arbeitet außerdem jetzt irgendwo in einem Labor. Ich weiß aber nicht, wo das ist.“ Sie wirkt etwas traurig und ich lege meine Hand auf ihre Schulter.
„Michaela, dieser Job in dem Labor ist wichtig für euch. Er soll für seinen Arbeitgeber einige Forschungen voranbringen. Sie finanzieren ihm dafür alles. Dass er an diesen Forschungen arbeitet ist Voraussetzung dafür, dass sie das auch weiterhin tun. Julian macht das vor allem für dich. Er hat sich wirklich in dich verliebt. Das hat er mir gesagt. Und er muss denen, die ihm sein Studium finanzieren, jetzt dementsprechend Zeit schenken“, erkläre ich ihr.
Sie soll ihm auf alle Fälle diese Zeit geben. Sie ahnt nicht, wie wichtig das für uns alle noch werden kann. Julian muss es schaffen, etwas für diese Leute zu kreieren, dass sie von ihrem anderen Vorhaben abbringt. Ich hätte ihr beinahe gesagt, dass er es dafür tut, um mit ihr auch weiterhin zusammen sein zu können. Aber ich weiß nicht, wie weit sie eingeweiht ist und ich habe wahrscheinlich sowieso schon zu viel preisgegeben. Wüsste sie, dass Julian und Tim eigentlich mit mir zusammen Kinder zeugen sollen, dann würde sie mich wahrscheinlich massakrieren. Schließlich habe ich ihr, aus ihrer Sicht zumindest, schon Erik ausgespannt.
„Wirklich? Das hat er dir gesagt?“, flüstert sie zurück und ihre Augen leuchten auf. Bei ihr ist nur hängen geblieben, dass Julian sie meines Erachtens liebt.
Ich nicke nur und wende mich wieder Ellen zu, um nicht noch weitere Einzelheiten erfinden zu müssen, auf die Michaela bestimmt ganz scharf ist.
Auf dem Weg zur Arbeit erzähle ich Ellen alles über Samstagabend und die Al Kimiys, wie ich sie nenne. Ich schließe meine Erzählung mit dem Auftauchen der drei in der JVA, als der Anwalt sie zu mir brachte. Alles weitere weiß sie selbst.
„Das ist echt abgefahren! Und jetzt glaubst du, dass sie Sam und Teddy dafür bezahlt haben, um uns Samstag aus dem Weg zu räumen?“
„Überleg doch mal. Erst lädt Sam uns zu seinem Geburtstag ein. Dann werdet ihr von der Polizei einkassiert, als sie auch mich kidnappen wollen. Naja, sie hätten kaum Chancen gehabt, wärt ihr den ganzen Abend bei mir gewesen. Und dann haben sie mir erzählt, sie hätten den Stoff von den Autos weggenommen, damit sie euch damit nicht belasten konnten. Aber Walter sagt, es gab keinen Stoff bei den Autos. Und ich glaube ihm. Woher sollten die Typen wissen, dass Stoff bei den Autos versteckt wurde und gleichzeitig die Bullen kommen, wenn sie ihn nicht selbst dort platziert haben und nicht selbst dafür sorgten, dass jemand die Bullen verständigt?“
Ellen nickt nur und raunt: „Sie haben auch etwas gefunden, das sich letztendlich aber als Vitaminpulver herausgestellt hat. Sonst hätte dieser Anwalt uns nicht so einfach raushauen können.“
Ich schüttele den Kopf. Wem kann man glauben und wer hat wirklich die Fäden gezogen?
„Erik ist auf alle Fälle schwer geknickt, dass Sam und Teddy das mit ihm gemacht haben“, raune ich.
Wieder nickt Ellen nur verstehend. „Sie waren seine Freunde. Fast so was wie Brüder“, murmelt sie.
„Ich weiß!“
Wir kommen vor dem Cafe an und ich sehe auf meine schöne Armbanduhr, die mir Erik zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
„Oh Mann, ich muss mich beeilen.“ Ich drücke Ellen kurz an mich und hauche ihr ein „Danke!“ zu, weil sie mich hergebracht hat und mir wieder einmal ein offenes Ohr schenkte.
„Bitte! Wir vier sind auch wie eine Familie. Da ist das selbstverständlich“, meint sie dazu nur.
Ich nicke und drehe mich schnell um. Ihre Worte greifen mir ans Herz und sie hat recht! Wir sind wie eine kleine Familie ohne Eltern.
Alessia empfängt mich wie immer freudestrahlend und wartet nur ab, bis ich umgezogen bin. Dann macht sie sich auch schon auf den Weg zu ihren Enkelkindern, mit denen sie an diesem Tag einen Kinonachmittag geplant hat.
„Wir gehen in einen drolligen Kinderfilm. Niko, ein Rentier hebt ab. So heißt der“, sagt Alessia freudestrahlend und ich schaue sie nur lächelnd an. Seit sie Zeit mit den Kindern verbringt, scheint sie noch ein wenig gut gelaunter und energiegeladener zu sein. Ich freue mich darüber und bin stolz, dass ich ihr das ermögliche. Außerdem verdiene ich damit Geld, um mir einiges kaufen zu können. Aber mittlerweile ist klar, dass es keine Miete an Erik zu zahlen gibt und er übernimmt auch die Nebenkosten. Ich kann mich schon fast freuen, wenn ich mal etwas bezahlen darf.
Aber Erik besteht darauf, mir mein kleines Budget zu erhalten und bei einem Streit vor einiger Zeit darüber hatte er geschimpft: „Das zahle ich allein. Ich bin schließlich auch die ganze Zeit hier und ich bin hier der uneingeschränkte Hausherr über die Wohnung, das Inventar und die Mieterin. Damit das klar ist. Und wenn du mir das streitig machst, kannst du auch gleich ein Messer nehmen und mir die Eier abschneiden.“
Das wollte ich natürlich auf keinen Fall. Das wäre doch zu schade.
Da war Erik noch hart und unerschütterlich gewesen. Doch die letzte Zeit hat ihn regelrecht niedergedrückt und erschreckend weichgemacht.
Alessia sagt zum Abschied: „Okay! Ich gehe dann. Bis Freitag! Dann möchte ich mit meiner Tochter eine Wohnung anschauen gehen und am Abend kommt deine Mutter mich besuchen.“
Ich schaue sie entgeistert an. „Meine Mutter?“
„Ja, ich habe Sophie an deinem Geburtstag eingeladen und sie hat mich am Wochenende angerufen und wir gehen Freitag zusammen essen und dann auf ein Glas Wein zu mir. Dein Bruder nimmt sie dann wieder mit nach Hause.“
Ich bin völlig perplex und Alessia lacht nur über meinen verdatterten Gesichtsausdruck.
„Okay! Nah dann viel Spaß!“, kann ich dazu nur sagen.
Am Abend holt mich Erik ab und wir gehen zusammen nach Hause. Aus der Küche duftet es nach Essen und ich sehe Erik erstaunt an.
„Die letzte Vorlesung ist ausgefallen und ich habe uns ein paar Schnitzel vom Metzger geholt und gebraten. Den Kartoffelsalat habe ich allerdings fertig gekauft.“
„Wow! Ich liebe es, wenn du kochst“, säusele ich und hauche ihm einen Kuss auf den Mund. Beim Essen raune ich ihm neckend zu: „Du bist mein Held! Wer hat schon einen Mann, der auch kochen kann?“
Er grinst nur, sich ein großes Stück Fleisch in den Mund schiebend und ich sehe ihm an, dass er sich langsam wieder fängt. Den ersten Schock darüber, dass seine Zuhälterfamilie ihm eine Nacht in der JVA bescherte, scheint überwunden zu sein.
An diesem Abend schmiege ich mich im Bett an ihn und sage ihm, was seine Schwester mir gesagt hat. „Ellen meint, wir vier sind eine Familie. Ist das nicht süß?“
„Süß? Eher peinlich. Ellen ist doch wohl aus dem Alter raus, dass ihr so etwas noch wichtig ist“, murmelt er.
Das sagt mein großer Gangster, der niemals aus diesem Alter herauszukommen scheint.
Auch wenn Erik den harten Typen immer wieder rauskehrt, so lässt sich nicht verleugnen, dass er tief in seinem Inneren ein Junge ist, der sich mit fünf Jahren von einer liebevollen, fröhlichen Welt verabschieden musste, als ein durchgeknalltes Kindermädchen ihn entführte und böse verletzte.
„Hm, ich finde den Gedanken schön“, antworte ich ihm. „Ich bin froh, euch drei zu haben.“
Er drückt mich an sich und küsst mich auf die Stirn, sagt aber nichts.
Erschöpft von den Auswirkungen des Wochenendes und dem Tag, der hinter uns liegt, liegen wir beide nur da und hängen unseren Gedanken nach, bis uns der Schlaf in seine Dimensionen lockt.
Am nächsten Tag fahren Ellen und ich wieder zur Fahrschule. Es ist unsere dritte Theoriestunde und wir rauchen noch schnell eine Zigarette, bevor wir uns in das graue Gebäude mit der riesigen, gelben Aufschrift begeben. Die beiden Mädels, die mich am Donnerstag ansprachen, kommen an uns vorbei und ich frage sie, wie ihre ersten Fahrstunden waren.
„Oh, schrecklich!“, sagt Nina und lässt ihre schiefen Hasenzähne aufblitzen. „Voll chaotisch! Ich dachte ständig, ich ramme was.“
Sarah winkt ab. „Ach, Heulsuse! Ich fand das gestern voll cool. Ich glaube, ich bin echt gut!“
Sarah macht mir Hoffnung und auch Ellen lassen ihre Worte nicht kalt. Sie hat noch viel mehr Angst vor dem Fahren als ich.
Wir rauchen zu Ende und Sarah zieht ihre Freundin schon in das Gebäude der Fahrschule.
Ich frage Ellen, den beiden hinterhersehend: „Wir müssen noch die Passbilder abgeben und wann wollen wir den Erste-Hilfe-Kurs machen?“
Erik hatte mir am Morgen beim Frühstücken gesagt, dass ich in der Fahrschule nach einem Termin dafür fragen soll.
Statt darauf zu antworten, knurrt Ellen: „Ne, nicht der schon wieder! Und sooo dreist! Unfassbar!“
Ich sehe sie verunsichert an und drehe mich um, ihrem Blick folgend.
Grinsend kommt Werner bei uns an, wirft seine lange, blonde Strähne etwas zur Seite, um seine grünen Augen eine freie Sicht zu bieten und sagt: „Hi, ihr zwei Hübschen. Unsere dritte Stunde! Und schon fleißig Fragenkataloge gewälzt?“
„Was willst du denn schon wieder?“, knurrt Ellen nur, statt ihm zu antworten.
Ich lächele ihn an und drehe mich zu ihm um. „Ne, noch gar nicht! Aber diese Woche muss ich ernsthaft damit anfangen.“
„Aber bestimmt! Sonst ziehen wir nicht gleich, wenn du durch die erste Prüfung rasselst“, sagt er und lacht über meinen Gesichtsausdruck. Dabei legen seine vollen Lippen zwei blendend weiße Zahnreihen frei und auf seinen Wangen bilden sich zwei kleine Grübchen, die nur erscheinen, wenn er ausgelassen lacht. Einen Moment verunsichert er mich ein wenig.
Ich sehe schnell Ellen an, die sich einfach umdreht und mich am Arm hinter sich herzieht.
An uns vorbei strömen ganze Völkerscharen in die Fahrschule und ich frage mich schon, ob wir so früh sind, dass noch keiner reingegangen ist oder ob es heute so voll wird.
Carsten und Tobias scheinen nicht da zu sein. Zumindest sitzen auf ihren Plätzen zwei Mädchen, die beide besser zwei Stühle genommen hätten.
Ellen sieht sich nach freien Plätzen um. Aber es scheint alles besetzt zu sein, bis auf die zwei Plätze, auf denen wir letzte Woche auch schon saßen. Ellen grinst und zieht mich nach hinten. Sie wirft sich auf den Platz neben einen Jungen mit roten Haaren, den ich noch nie hier gesehen habe und ich setze mich auf den letzten Platz am Reihenende.
Klaus, der Theorielehrer, kommt herein und mit ihm Werner.
Ellen grinst schadenfroh, weil kein Platz mehr frei ist.
Werner sieht sich um. Hinter ihm kommen noch zwei weitere Jungen in den Raum, die wohl neu sind. Sie wirken angesichts des Platzmangels verunsichert und ein wenig verstört.
„Holt euch bitte von dem Stapel draußen einen Stuhl und setzt euch an den Rand. Vielleicht lassen euch nette Tischnachbarn ihren Tisch mitbenutzen“, sagt Klaus.
Werner verschwindet als erstes in den Gang und die anderen beiden folgen ihm. Er kommt auch als erstes wieder in den Raum, einen weißen Plastikstuhl in den Händen und steuert direkt auf mich zu.
„Das ist doch jetzt nicht wahr?“, knurrt Ellen ungehalten und ich lächele Werner zu. Was soll ich auch anderes tun, um Ellens Unfreundlichkeit zu kompensieren.
„Darf ich?“, fragt er und ich nicke. „Klar! Kein Problem.“
Er setzt sich an die Tischkante meines Tisches, dicht an mich heran.
Ellen wirft ihm einen bösen Blick zu, muss sich dann aber nach vorne wenden, weil Klaus uns erklärt, was wir als Erstes an diesem Tag tun werden.
„Ich gebe allen eine Fragenseite und ihr schaut mal, was ihr darauf ausgefüllt bekommt.“
Nah toll. Das kann ja was werden.
Klaus gibt einen Stapel Zettel herum und jeder nimmt einen runter. Zeitgleich folgt eine Kiste mit Kugelschreibern.
„Die Kugelschreiber hätte ich gerne wieder zurück“, ruft Klaus und Gemurmel und Gelächter hebt an.
„Sind die nicht im Preis mit drin?“, ruft einer.
„Nein, und ich habe auch nur begrenzt welche. Also bitte! Legt sie später in die Kiste zurück oder lasst sie auf dem Tisch liegen.“
Als ich endlich den Zettel vor mir liegen habe und einen Kugelschreiber in der Hand halte, mache ich ein wenig Platz für Werner, damit auch er seinen Zettel problemlos auf den Tisch legen kann.
„Danke!“, raunt er und sieht sich den Zettel an.
Ich werfe Ellen einen hilflosen Blick zu. Oh Mann! Es ist zwar nur zum Ankreuzen, aber das kann auch schwer sein, wenn man nicht weiß, was man ankreuzen soll.
„Manchmal gehen auch mehrere Antworten“, raunt Werner und beginnt Kreuze zu setzen.
Ich lese mir die Fragen durch und die möglichen Antworten. Die erste geht leicht. Als ich bei der zweiten Frage ein Kreuzchen setzen will, schiebt Werner mit seinem Kugelschreiber meinen eine Antwort tiefer.
Ich sehe ihn aus dem Augenwinkel an und er zwinkert mir zu.
Als ich mich auf die nächste Frage stürzen will, tippt er auf eine weitere Antwort bei der vorherigen und ich lese sie mir nochmals durch.
„Ach so?“, flüstere ich leise.
„Ja!“, flüstert er zurück.
So geht es den ganzen Zettel weiter. Er gibt mir fast immer die Antworten auf irgendeine Art und Weise vor und ich lese schon fast gar nicht mehr die Antworten, sondern warte ab, was er so meint. Da er einen anderen Fragenzettel hat als ich, lese ich eine seiner Fragen und weiß die Antwort. Frech kreuze ich mit meinem Kugelschreiber seine Antwort an.
„Danke!“, säuselt er und schenkt mir ein Lächeln mit Grübchen.
„Bitte!“, raune ich leise und setze mich zurück, um etwas mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Sein Lächeln kann einen schon aus dem Gleichgewicht bringen.
„Poor! Ich muss zu Hause üben“, mault Ellen neben mir mürrisch. „Das ist ja voll schwer!“
Ich beuge mich zu ihr und sehe mir ihre Fragen an. Da sie den gleichen Zettel wie Werner hat, gebe ich ihr die letzten drei Antworten vor und sie sieht mich überrascht an.
„Der Scheiß liegt dir scheinbar!“
„Nicht wirklich“, raune ich und lache leise. Mein Blick fällt auf Werner, der mich ganz offen mustert. „Hat mal jemand deine Sommersprossen gezählt?“, fragt er leise.
„Was“, frage ich irritiert. Ich könnte ihm sagen, dass Marcel es oft versucht hatte, Tim einmal und Erik nie. Aber ich sage nichts und wende mich lieber Klaus zu, der auf die Uhr schaut und ruft: „So, die Zeit ist um. Wir haben drei verschiedene Fragenzettel, die im Umlauf sind. Wir besprechen jetzt jede Frage.“
Auf der Wand hinter ihm erscheint riesengroß mein Fragenzettel und wir beginnen die Fragen alle nacheinander durchzukauen. Zu Ellens Erstaunen habe ich alles richtig. Ihr und Werners Zettel kommt als nächstes dran und Ellen hat zwei Fehler, Werner keinen. Den dritten Zettel durchnehmend, weiß ich, auf dem hätte ich gar nichts gewusst.
„Gute Zusammenarbeit“, raunt Werner mir leise zu. „Danke!“
Mein Gott, ist der lieb.
„Bitte!“, murmele ich leise zurück.
„Sag mal! Was wird das?“, faucht Ellen ein wenig zu laut.
Klaus sieht auf und einige drehen sich zu uns um.
„Was soll was?“, faucht Werner zurück.
Die beiden sehen sich wie Kampfhähne an.
„Sag mal, bist du lesbisch, dass du so ein Theater machst, wenn wir uns unterhalten?“ Werner zeigt auf mich und sich.
Das war laut genug, um alle im Raum aufhorchen zu lassen.
Ich schaue entsetzt von Werner zu Ellen und fahre dazwischen. „Das ist sie bestimmt nicht.“
Klaus ruft uns zu: „Gibt es in der letzten Reihe irgendwelche Probleme?“
Ich schüttele energisch den Kopf, während Ellen und Werner sich anstarren, als wollen sie sich an die Gurgel gehen.
Ich verstehe die beiden nicht. Was haben die bloß miteinander?
„Gut, dann machen wir die letzte Viertelstunde noch einen weiteren Fragenzettel“, höre ich Klaus ausrufen und setze mich mit ausgebreiteten Armen zurück, dass ich den beiden Kontrahenten unsanft vor die Brust stoße und sie sich zurücksetzen müssen. Somit unterbreche ich wenigstens ihren Blickkontakt und nehme mir vor, später Ellen zu fragen, was wirklich los ist.
Die murmelt böse etwas vor sich hin und greift zu ihrem Handy. Das macht sie immer, wenn sie etwas aufregt, und ich widme mich genervt den Ausführungen unseres Lehrers über die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten von irgendwelchen Schildern.
Wir überziehen zehn Minuten, weil einige Fragen in der großen Gruppe aufgetaucht sind, die Klaus noch geduldig mit uns bespricht. Aber dann werden wir entlassen und Werner bringt seinen Stuhl wieder in den Gang zurück. Er scheint sauer zu sein und tut mir leid. Ellen sieht auch nicht mehr gut gelaunt aus und ich frage mich erneut, was sie so sehr daran stört, wenn ich mich mit jemandem unterhalte? Selbst bei ihrem Daniel macht sie nicht so einen Aufstand.
Ich steuere Klaus an, der die Kugelschreiber einsammelt.
„Kann ich Sie mal was fragen?“
„Sicher!“, sagt er freundlich.
„Wie läuft das denn mit dem Erste-Hilfe-Kurs? Können wir den hier machen?“
„Sicher! Ich schaue mal eben nach den Terminen. Ich glaube, der nächste ist in zwei Wochen. Der findet immer samstags statt. Warte, ich sage es dir gleich und wir können dich dafür auch sofort anmelden.
Ellen erscheint hinter mir, als ich mit Klaus zu dem Pult gehe, an dem er seine Tasche angelehnt hat. Er hebt sie auf den Tisch und kramt ein kleines Buch hervor.
„Ja, am dreizehnen Dezember ist der nächste Termin. Es ist der letzte bei uns in diesem Jahr.“
„Können Sie uns bitte dafür anmelden?“, frage ich und er nimmt einen der Kugelschreiber.
„Carolin Maddisheim und Ellen Zeiss-Clarkson“, sage ich und er trägt unsere Namen ein.
„Danke“, sage ich und schenke Ellen ein Lächeln.
„Oh Mann. Auch das noch!“, murmelt sie mürrisch.
Ich schiebe sie durch den Raum, Klaus ein „Bis zum nächsten Mal“ zurufend und teile ihr leise mit: „Ja, Erik hat mich heute Morgen daran erinnert und es ist der letzte Kurs in diesem Jahr.“
Sie bleibt stehen und sieht mich mürrisch an. „Ach, Erik? Dass du dich überhaupt noch an seinen Namen erinnerst!“
Ich sehe sie verdattert an. Was soll das jetzt?
„Wo du doch eine Stunde lang nur Werner im Kopf hattest“, knurrt sie böse.
Ich bin von ihren Worten betroffen. „Ellen, du spinnst! Und langsam gehst du mir echt auf den Geist mit deinem Theater. Auch wenn ich mit Erik zusammen bin, heißt das doch wohl nicht, dass ich mich mit keinem anderen männlichen Wesen unterhalten darf, oder?“, sprudeln mir die Worte wütend über die Lippen. „Erik ist doch deshalb nicht aus meinem Kopf gestrichen. Keine Sekunde! Und das sollte dir mehr als klar sein.“
Ellen weicht ein wenig vor mir zurück und ihr Gesichtsausdruck wandelt sich. „Weiß nicht. Ich will nur nicht …“, murrt sie.
„Was willst du nicht?“, fahre ich sie an. „Was glaubst du denn? Dass ich mir den nächsten greife, sobald Erik nicht in der Nähe ist?“
Ich bin nun wirklich wütend auf sie. Nicht so sehr, weil sie scheinbar für möglich hält, dass ich Erik mal einen Moment vergesse, sondern weil sie mir den normalen Umgang mit Mitmenschen abspricht und Werner immer so blöd anmacht, dass es schon peinlich ist.
„Ne!“, murmelt sie und plötzlich wird ihr Blick unsicher. Sie kennt das von mir nicht, dass ich sie so böse anfahre. Das ist bisher auch noch nicht oft vorgekommen, obwohl sie mich oftmals zur Weißglut bringt.
„Gut!“ knurre ich. „Dann komm jetzt! Ich will nach Hause.“
Als wir auf den kleinen Vorplatz treten, stehen noch viele unserer Mitstreiter draußen, schwatzend und rauchend. Ellen sieht sich um und ich bin schon wieder genervt. Schaut sie schon wieder wo Werner ist?
Ein Brummen lässt mich hellhörig werden. Ich höre es trotz der vielen Stimmen und der anderen Autos, die auf der Straße an der Fahrschule vorbeiziehen und es vibriert in meinem Inneren und rüttelt dort alles wach.
Ich sehe auf und direkt in Ellens Gesicht, die mir ihre Zigarettenschachtel hinhält. Sie möchte also Frieden schließen.
Doch statt eine ihrer Zigaretten zu nehmen, sage ich lauschend: „Erik?“
Sie sieht mich verunsichert an und dreht sich zur Straße um, wo das Brummen lauter wird. Kurz darauf schiebt sich der Mustang auf den Parkstreifen vor dem breiten Fußgängerweg.
„Erik!“, stelle ich freudig fest und grinse Ellen an, die erleichtert wirkt.
„Was du alles hörst!“, sagt sie mit gerunzelter Stirn.
Hinter dem Mustang kommt mit etwas weniger Tumult der BMW auf den Parkstreifen für die Fahrschulautos gefahren.
„Und Daniel!“, sage ich zu Ellen und meine Laune steigt sofort um hundert Prozent.
Erik steigt beschwingt aus dem Mustang aus, die Blicke der um uns stehenden ignorierend, die sein Auto mustern.
Für mich zählt nur Erik und als er so um sein Auto herumgeht und suchend in die Menge lugt, schlägt mein Herz schneller.
Auch Daniel steigt aus und auch er schaut sich um.
Plötzlich habe ich das Gefühl, die beiden sind nicht zufällig da. Ist etwas passiert?
Schnell bewege ich mich durch die um uns Stehenden auf Erik zu, der mich in dem Moment entdeckt.
„Erik, alles in Ordnung?“, frage ich schon, als ich ihn noch nicht mal erreicht habe.
Er sieht mich an und seine Augen leuchten auf. Aber er sagt nichts, sondern kommt mir entgegen, zieht mich an sich und küsst mich.
Ich bin nicht nur irritiert, sondern auch etwas peinlich berührt. Diese Auftritte machen mich immer noch verlegen.
Erik lässt mich los und grinst: „Jetzt schon.“
Ich drehe mich zu Ellen um, die Daniel einen Kuss gibt, mir zuwinkt und schnell in den BMW steigt.
Ich wollte sie doch noch wegen Werner zusammenstauchen, aber sie scheint es mit einem Mal sehr eilig zu haben und Daniel zieht mit seinem BMW an dem Mustang vorbei, hupt kurz und weg sind sie.
„Komm! Ab nach Hause!“, knurrt Erik mir in seiner Gangstermanier zu und gibt mir einen Klaps auf den Po.
Ich sehe ihn etwas ungehalten an, weil ich so etwas gar nicht mag. Das mimt immer ein wenig den Anstrich von Nutten-Zuhälter Konstellation.
Eriks Blick wandert düster über die Leute hinweg und mir wird auf einmal klar, dass dieser Auftritt wohl überlegt ist. Deswegen hat Ellen sich so schnell aus dem Staub gemacht. Sie weiß, wie sehr ich so einen Auftritt hasse und ich denke mir, sie hat ihn höchstpersönlich erbeten.
„Können wir jetzt fahren?“, brumme ich resigniert. Sowas werde ich aus diesen Zeiss-Clarkson wohl niemals herausbekommen.
Erik hält mir sogar die Beifahrertür auf, was ihm einen mittlerweile bösen Blick von mir einbringt. Aber er ignoriert den lässig.
Als er einsteigt, den Motor aufbrüllen lässt und den Mustang auf die Straße treibt, sehe ich nicht noch mal zurück zu den vielen jungen Leuten. Ab heute werden sie mich mit anderen Augen sehen, das steht schon mal fest.
„Was ist?“, fragt Erik gut gelaunt.
„Nichts!“, knurre ich und er lacht. „Ich liebe das, weil ich weiß, wie wenig dir an solchen Auftritten liegt.“
„Ja, Danke. Schon klar. Jetzt wissen alle Bescheid!“, murre ich, kann aber nicht länger böse auf ihn sein, weil seine Augen so zufrieden glänzen und um seinen Mundwinkel dieses belustigte Lächeln spielt, das ich so an ihm mag, weil es mir zeigt, dass es ihm gut geht. Und wenn ihn solche Auftritte glücklich machen …
Am nächsten Morgen treffe ich Ellen an der Schule. Sie wurde wieder vor mir von Daniel dort abgeliefert und muss nun erschrocken feststellen, dass ich noch nicht mit ihr fertig bin.
„Guten Morgen!“, säuselt sie, als ich Erik hinterherwinke.
Ich sehe sie mit bösem Blick an, was ihre gute Laune verfliegen lässt.
„Kein guter Morgen. Zumindest nicht für dich!“, fahre ich sie an und tue so, als wäre ich noch stinksauer. Sie soll mir einfach sagen was sie mit diesem Werner für ein Problem hat.
„Ich habe nichts gemacht“, sagt sie in Abwehrhaltung.
Sie zum Schulhof ziehend, frage ich barsch. „So, nicht? Und was ist das mit diesem Werner? Kannst du mir mal sagen was du gegen den hast? Der will doch nur nett sein!“
Ellen bleibt wie erstarrt stehen und lacht böse auf. „Ach, wegen dem bist du sauer? Das ist doch wohl nicht wahr.“
„Ich bin nicht wegen dem sauer, sondern weil du ihm gegenüber so feindselig bist. Was ist denn bloß mit dir los?“
Langsam weitergehend scheint sie meiner Frage ausweichen zu wollen. Aber als ich neben ihr bin, raunt sie: „Gleich am ersten Tag … du hattest es so eilig und bist zum Bus gerannt, weißt du noch? Da hat er mich angequatscht und nach deinem Namen gefragt. Ich fand, dass ihn der nichts angeht. Aber er ließ nicht locker und meinte, dass du doch bestimmt die Maddisheim bist“, erwidert sie. „Und dann hat er gesagt, dass er noch nie so ein hübsches Mädchen gesehen hätte und ich habe ihm erklärt, dass er keine Chance hat, weil du einen Freund hast. Da hat er nur gelacht und gesagt, dass das Mädchen, das ihm widerstehen kann, erst noch geboren werden muss. Poor! Ich fand den so ätzend!“
Ich sehe sie erstaunt an. So gesehen kann ich ihre Abneigung verstehen und auch ihr Misstrauen ihm gegenüber. Aber meinen Namen kann er auch irgendwo aufgeschnappt oder auf dem Anwesenheitszettel gelesen haben und mir ist völlig egal, woher er den weiß. Was mir nicht egal ist, ist allerdings der Umstand, dass sie mir nicht mehr vertraut. Werner ist hübsch … und nett. Aber das war´s auch schon.
„Gut!“, sage ich. „Du bist doch schon mal klar Nummer eins, die kein Problem hat, ihm zu widerstehen und glaub mir … ich bin Nummer zwei. Aber deswegen muss ich weder unfreundlich sein noch so tun, als wäre er nicht da. Wir können ganz normal mit ihm umgehen, wie mit jedem jungen Mann, der uns nicht interessiert. Du tust so, als wäre er eine Bedrohung! Ist doch klar, dass er wer weiß was von sich denkt.“
Den Blick, den Ellen mir zuwirft, kann ich nicht deuten. Aber als wir durch den Gang der Schule gehen, nickt sie plötzlich und meint: „Eigentlich hast du recht. Er muss denken, ich sehe ihn als Konkurrenz für Erik an.“
„Genau! Und glaub mir: Eine Konkurrenz für Erik muss erst mal geboren werden und nichts anderes.“
Wir biegen in die Klasse ein, wo uns die anderen Mädels empfangen, als wären wir zwei verschollene Kinder. Jetzt, wo es kalt und ungemütlich draußen ist, warten sie nicht mehr vor der Schule auf uns und wir sehen uns meistens erst in der Klasse.
Ich ziehe meine Jacke aus und werfe sie über den Stuhl, als Michaela neben mir erscheint. „Julian ruft dich heute Abend an. Ist das okay?“
„Natürlich!“, sage ich, obwohl mich bei dem Gedanken an ihn immer noch ein seltsam beunruhigendes Gefühl beschleicht. Aber ich will ihm erzählen, was mir am Wochenende passiert ist und seine Meinung dazu hören.
Die Lehrerin kommt in den Raum und legt einen Packen Zettel auf den Tisch.
Wir setzen uns hin und sie begrüßt uns: „Guten Morgen!“
Wir antworten brav und sie schenkt uns ein Lächeln. „Ich habe eure Briefe wieder mitgebracht und war überrascht. Es heißt doch, dass eure Generation nicht nur keine Fantasie mehr hat, sondern auch des Schreibens nicht mehr fähig ist. Ich muss dem wirklich widersprechen. Ich habe ganz tolle Briefe von euch bekommen. Ich habe sie benote, was nicht ganz einfach war. Ich muss gestehen, meine Benotung ist durch den Aspekt, wie weit mich ein Brief berührt hat und wie weit er mir eine Bedeutung wiederspiegelte, ausgefallen. Natürlich sind Briefe etwas Persönliches und ich werde keinen vorlesen. Aber ich werde euch sagen, welches die Besten waren und wenn ihr wollt, könnt ihr diejenigen Fragen, ob sie ihn euch lesen lassen.“
Sie beginnt die Briefe zu verteilen und bleibt vor Nicole, einem übergewichtigen, pausbäckigen Mädchen stehen. „Nicole, du hast von mir eine eins bekommen. Wirklich gut!“, raunt die Lehrerin. Sie verteilt weiter und auch Ellen bekommt ihren Brief. Aber erst bei Sabine bleibt sie stehen. „Sabine, auch du hast klar eine eins verdient. Wundervoll geschrieben. Und so gefühlvoll!“
Die letzten Briefe werden verteilt und ich werde nervös. Als sie sich vor meinem Tisch aufbaut und mir meinen Brief hinhält, kann ich sie kaum ansehen, weil mir mein herzergreifendes Liebesgeplänkel für Erik plötzlich peinlich ist.
„Carolin! Unschlagbar! Ich habe einen Tag gebraucht, um mich von deinem Brief zu erholen. Wer immer der ist, dem du ihn geschrieben hast, er muss dir wirklich sehr viel bedeuten. Dich möchte ich gerne bitten, ihn vorzulesen. Ich möchte dich bitten, kann es aber nicht. Ich denke, es steckt so viel Herzblut da drinnen, dass mir nicht zusteht, dich zu bitten, alle daran teilhaben zu lassen.“
Ihre Worte verunsichern mich und ich spüre die Blicke, die wie Brenneisen auf mich gerichtet sind.
„Och, bitte!“, raunt Andrea mit einem Augenaufschlag, der sich gewaschen hat. Und auch Ellen knufft mich. „Ach komm! Stell dich nicht so an. Wir werden es auch keinem weitererzählen.“ Sie grinst frech.
Jedes meiner Mädchen scheint vor Neugierde zu platzen und bittet mich, bis ich raune: „Meinetwegen. Aber ich lese das nicht vor!“
Die Augen der Lehrerin leuchten auf und sie sagt: „Das übernehme ich gerne.“
Sie nimmt mir den Zettel wieder aus der Hand und ich sehe Ellen unglücklich an.
Die schenkt mir ein schadenfrohes Grinsen und fragt: „Für wen war der noch mal?“
Frau Greiner stellt sich an ihren Schreibtisch und atmet ein paar Mal tief ein.
„Mein lieber Schatz“, liest sie vor.
Mir wird in diesem Moment klar, dass ich besser doch nicht will, dass mein Brief vorgelesen wird. Aber nun ist es zu spät.
„Ich schreibe dir diese Worte, weil du der Einzige bist, der sie verdient.
Sie erzählen von Gefühlen, die ich nie vorher kannte, so unglaublich tief in mich hineinreichend, so schmerzhaft, wenn ich denke, sie werden nicht erwidert … und so süß, wenn du sie mit mir teilst. Ich will diese Gefühle ein Leben lang.“
Sie lässt ihre Augen durch die Klasse gleiten, die alle stumm dasitzen.
„Sie erzählen von Liebe, die mich wie ein Nebel durchdringt und wenn ich an dein Gesicht denke, spüre ich eine Wärme in mir aufsteigen, die alle Kälte des Lebens verjagt. Wenn ich daran denke, wie du mich in deinen Armen hältst und unsere Körper verschmelzen lässt, wird diese Wärme zur Hitze, die selbst die Antarktis schmelzen kann und wenn du mich an dich ziehst, damit keiner mir zu nahekommt, spüre ich, dass wir zusammengehören. Ich will diese Liebe ein Leben lang.“
Wieder macht sie eine Pause und schluckt. Und ich schlucke auch und werde in meinem Stuhl immer kleiner und mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
Frau Greiner beginnt weiterzulesen. „Und sie erzählen von dem Schmerz, wenn wir uns dem Leben nicht gewachsen fühlen, das uns immer wieder mit Problemen überhäuft. Dieser Schmerz versucht das Gefühl und die Liebe zu mindern und mich von dir fernzuhalten. Aber er kann mich verbrennen, er kann mich zerstückeln oder mich quälen, bis ich ohnmächtig werde … aber er wird nie die Kraft aufbringen, mich von dir zu trennen … denn das wäre ein Schmerz, der mit nichts vergleichbar mich vernichten würde.
Ich liebe dich mehr als mein Leben, mehr als meine Freiheit, mehr als irgendetwas auf dieser Welt.
Bitte lass mich zu dir! Dein Schatz.“
Die Lehrerin sieht mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen.
„Wunderschön!“, haucht sie ergriffen und in der Klasse scheint alles Leben ausgelöscht zu sein. Erst als sie sich durch die Klasse bewegt und mir den Brief reicht, erwachen die ersten.
„Oh Mann! Ist der für Erik?“, fragt Ellen neben mir und wischt sich betreten über das Gesicht.
„Poor, ich heul gleich“, meint Andrea und ihre braunen Augen sehen mich aus einem rotwangigen Gesicht an. Ich höre Gemurmel von denen, die das Bestätigen möchten und ich muss gestehen, dass auch ich ziemlich ergriffen bin, zumal ich weiß, wann und warum ich diese Zeilen schrieb.
„Der letzte Satz, Bitte lass mich zu dir, gibt nach so einem Text so viel gedanklichen Spielraum. Unglaublich!“, sagt Frau Greiner. „Ich muss gestehen, ich würde gerne wissen wie das Ganze weitergehen würde, wenn es weiterginge.“
„Das ist bestimmt weitergegangen! Carolin hat den Brief an meinen Bruder geschrieben. Der hat ihr bestimmt zurückgeschrieben!“, meint Ellen stolz darüber, dass ihr eigener Bruder für so etwas der Anlass war.
Alle Augen richten sich auf mich. Ich nicke vorsichtig. „Aber das ist persönlich. Die Antwort darauf kann ich keinem zeigen, weil so etwas nur der Verfasser entscheiden darf.“
„Ich rufe Erik an“, ruft Ellen augenblicklich und ich lege meine Hand auf ihre, die nach ihrem Handy greifen will. „Das tust du nicht. Der Brief an ihn war schon nur für ihn bestimmt. Ich werde es nicht erlauben, dass du ihn zu etwas überredest.“ Natürlich geht das auch nicht, weil Erik darin auch etwas über seinen Drogenkonsum schreibt.
Ein enttäuschtes Gemurmel setzt ein und Frau Greiner hebt die Hand. „Das ist etwas, was wir auf alle Fälle akzeptieren müssen. Zumal wir schon froh sein dürfen, dass wir Carolins Brief erleben durften. Lassen wir es dabei.“
Ich nicke ihr dankbar zu und auch Ellen scheint nicht weiterbohren zu wollen. Vielleicht ist ihr klargeworden, dass Erik auch Gefühl gezeigt hat und das ist immer noch etwas, was sie schnell verstört, weil sie fast ihr ganzes Leben lang gedacht hat, er hat gar keine. Sie sieht mich aber eine Zeitlang nachdenklich an.
Als Frau Greiner zu ihrem Pult geht, beugt Ellen sich zu mir rüber und raunt: „Tut mir leid. Du hast recht. Ich bin blöd, wenn ich denke, so ein Werner kann auch nur eine Sekunde mehr als Nettigkeit von dir erwarten.“
Ich sehe sie irritiert an und nicke, den Brief zusammenfaltend und in meine Hosentasche schiebend. Wenn ich auch ein wenig das Gefühl habe, das mit der Bekanntmachung meiner Zeilen diese ein wenig an Wert verloren haben, so weiß ich doch, dass Erik selbst dafür an Wert in den Augen anderer gewonnen hat. Und das entschädigt mich dafür, dass meine Gefühle für ihn hier eben breitgetreten wurden. Mich hat das tiefe Gefühl für ihn wieder eingeholt, das mich diese Zeilen verfassen ließ, auch wenn er sich nur eingesperrt hatte, um mich wieder in seine Arme zu treiben. Dabei war ich ihm keine Sekunde daraus entflohen. Zumindest nicht in meinen Augen.
In der Pause verspricht mir Ellen, Werner nicht mehr so viel Aufmerksamkeit zu schenken. „Soll er sich doch an dir die Zähne ausbeißen. Das geschieht ihm ganz recht und holt ihn von seinem Egotrip herunter.“
„Du brauchst dir wegen niemandem den Kopf zerbrechen. Jedes Wort, was du heute gehört hast, ist wahr und beschreibt doch nur im Ansatz, was ich wirklich fühle“, antworte ich ihr ehrlich.
Ellen sieht mich an, als könne ich nicht ganz bei Sinnen sein. Dann schüttelt sie den Kopf und dreht sich zu Andrea um, die auf uns zustürmt. „Carolin, schreibst du mir auch mal so was, wenn ich jemandem einen Liebesbrief schreiben will?“
„Ne! Bestimmt nicht!“
„Oh, warum denn nicht?“, fragt sie betroffen.
„Weil ich das nicht einfach so schreiben kann. Das muss man auch fühlen!“
Da die anderen auch zu uns stoßen, beenden wir das Thema. Aber Ellen scheint mit etwas zu kämpfen. Aber sie sagt nichts mehr dazu.
Ich koche nach einem schönen, ruhigen, mit Kerzenlicht und guter Musik ausgefüllten Nachmittag unser Abendessen. Es gibt gefüllte Eierpfannkuchen.
Erik kommt nach Hause und rauscht in die Küche, wo ich gerade nach dem Lied Wish you are here von Pink Floyd, das aus einem You Tube Mix gespielt wird, tanze. Dabei fülle ich mit schmierigen Fingern Käse und gekochten Schinken in die mit Frischkäse bestrichenen Eierpfannkuchen.
„Hallo Schatz!“, sagt er und küsst mich auf die Wange.
„Hey, dein Timing ist perfekt! Wir können gleich essen.“
Für uns ein Bier und ein Alster aus dem Kühlschrank holend, deckt er den Tisch und ich wasche mir die Hände, bevor ich die Pfannkuchen auf den Tisch stelle.
„Und, wie war es in der Schule?“
Ich grinse ihn an. „Ich habe heute eine eins bekommen und du warst fast gar nicht beteiligt.“
„Fast gar nicht?“, fragt er und lädt sich hungrig zwei Pfannkuchenrollen auf seinen Teller.
„Wir haben heute unseren Brief wiederbekommen. Meiner war wohl der Beste, und der war an dich.“
Erik sieht auf und seine braunen Augen funkeln gut gelaunt. „Ich trage ihn auch immer bei mir“, raunt er und stopft sich hungrig den Mund voll.
„Echt?“, frage ich verdattert.
Er nickt, aber ich glaube ihm kein Wort. „Ach komm! Du trägst den doch nicht immer bei dir?“
Er lässt sein Besteck neben den Teller gleiten, steht auf, zieht seine Brieftasche aus der Hosentasche und holt aus einem Fach den kleingefalteten Brief.
„Wow!“, hauche ich beeindruckt.
„Ich glaube, ich kann ihn auswendig“, meint Erik und setzt sich wieder. Den zusammengefalteten Brief legt er auf den Tisch und verdeckt ihn mit seiner Hand, wie einen Schatz. Sein Blick versenkt sich in meinen und er raunt leise, meinen Brief rezitierend: „Ich schreibe dir diese Worte, weil du der Einzige bist, der sie verdient.“ Sein Blick wird sanft und seine Augen glänzend. „Unglaublich! Diese wenigen Worte sind schon wie eine Droge für mich, weil ich weiß, welche Worte es sein werden, die folgen.“ Leise gibt er den Inhalt meines Briefes wieder. „Sie erzählen von Gefühlen, die ich nie vorher kannte, so unglaublich tief in mich hineinreichend, so schmerzhaft, wenn ich denke, sie werden nicht erwidert und so süß, wenn du sie mit mir teilst. Ich will diese Gefühle ein Leben lang.“ Er schluckt. „Diese Worte kann ich so unterschreiben, denn sie gelten auch für mich, seit ich dich kenne.“ Seine Hand verstärkt den Druck auf den Brief und seine andere legt sich auf meinen Arm.
„Sie erzählen von Liebe, die mich wie ein Nebel durchdringt und wenn ich an dein Gesicht denke, spüre ich eine Wärme in mir aufsteigen, die alle Kälte des Lebens verjagt. Wenn ich daran denke, wie du mich in deinen Armen hältst und unsere Körper verschmelzen lässt, wird diese Wärme zur Hitze, die selbst die Antarktis schmelzen kann, und wenn du mich an dich ziehst, damit keiner mir zu nahekommt, spüre ich, dass wir zusammengehören. Ich will diese Liebe ein Leben lang.“
Er schüttelt ergeben den Kopf und sagt: „Das sind die Worte, die mir zeigen, dass du alles an mir liebst und mich nimmst wie ich bin, mit meinen Narben und allem, was sonst keiner so lieben kann wie du.“
Ich schlucke. Ich muss mein Besteck ablegen, weil meine Hände etwas zittrig werden.
Erik sieht mir tief in die Augen, sich ein wenig über den Tisch beugend und raunt: „Und sie erzählen von dem Schmerz, wenn wir uns dem Leben nicht gewachsen fühlen, das uns immer wieder mit Problemen überhäuft. Dieser Schmerz versucht das Gefühl und die Liebe zu mindern und mich von dir fern zu halten. Aber er kann mich verbrennen, er kann mich zerstückeln oder mich quälen, bis ich ohnmächtig werde … aber er wird nie die Kraft aufbringen, mich von dir zu trennen. Denn das wäre ein Schmerz, der mit nichts vergleichbar mich vernichten würde.
Ich liebe dich mehr als mein Leben, mehr als meine Freiheit, mehr als irgendetwas auf dieser Welt … ja, das tue ich“, sagt er feierlich, legt seine Hand unter mein Kinn und küsst mich.
Als er mich wieder loslässt, bin ich nur noch scheinbar feste Materie. Gefühlt bin ich eher Schmelzkäse bei hundert Grad.
„Und jetzt essen wir“, raunt er mit der gleichen sanften Stimmlage, wie er den letzten Satz meines Briefes vorgetragen hatte, ohne auch nur einen Blick auf den Zettel werfen zu müssen. Den Brief steckt er wieder sorgsam in seine Geldbörse zurück, nimmt das Besteck und schneidet sich ein großes Stück Pfannkuchen ab.
„Du bist nicht nur die süßeste, liebste, tollste und schönste Frau, sondern kannst auch echt gut kochen. Dich gebe ich um nichts auf der Welt wieder her“, säuselt er und grinst frech.
„Ich dich auch nicht“, antworte ich verlegen und nehme auch wieder das Besteck in die Hand, von seinen Worten und dem Gedanken gefesselt, dass ihm der Brief und dessen Inhalt wirklich etwas bedeutet. Und mir wird wieder einmal mit einem Schlag in den Magen klar, wie sehr er sich verändert hat und wie viel mir an ihm liegt.
„Hey, was ist los?“, fragt er unsicher, als er sieht, dass ich kaum esse.
„Nichts! Alles in Ordnung“, raune ich leise und sehe doch in seinen Augen Besorgnis aufblitzen. „Ich bin nur wieder völlig baff, wie sehr du dich verändert hast und wieviel Liebe du mir entgegenbringst.“
„Du mir doch auch!“, entgegnet er nur und schlägt mit seiner Gabel an meine. „Deswegen kannst du trotzdem etwas essen.“
Ich schenke ihm ein Lächeln und esse weiter, damit seine Sorgenfalte auf der Stirn wieder verschwindet.
Nach dem Essen hilft er mir abzuwaschen. Wir wollen es uns gerade auf dem Sofa gemütlich machen, als sein Handy klingelt und er den Anruf entgegennimmt. Das Gespräch ist kurz und als er zu mir ans Sofa kommt, raunt er: „Das war Daniel! Ich soll mit ihm noch mal etwas nachschauen fahren. Soll ich dich mit zur Villa nehmen? Dann kannst du Ellen ein wenig Gesellschaft leisten, bis wir wieder zurück sind.“
Kurz finde ich die Idee gut. Doch dann erwidere ich, dass ich besser zu Hause bleibe und etwas für die Fahrschule lerne. Schließlich möchte ich bei den nächsten Fragebögen nicht mehr so dumm dastehen.
Erik sieht mich beunruhigt an und brummt: „Okay, aber Ellen, Daniel und ich haben einen Schlüssel. Du machst niemandem sonst die Tür unten auf, verstanden?“
„Okay!“, sagte ich nur und finde diese Anordnung wieder einmal ein wenig übertrieben. Aber ich sage nichts und begleite ihn zur Tür.
Er küsst mich. „Dann bis später, mein kleiner Streber.“
„Ja, bis später! Wenn es bei dir spät wird, findest du mich da …“ Ich zeige hinter mich zur Schlafzimmertür.
„In Ordnung! Aber du weißt ja, ich finde dich sowieso. Immer und überall!“ Er küsst mich noch einmal und geht.
Ich frage lieber nicht, was er mit Daniel vorhat. Wenn ich darüber etwas wissen soll, dann würde er es mir von sich aus sagen.
Ich gehe in die Küche zurück und koche mir einen Tee. Die Musik leiser drehend, setze ich mich mit dem Fragenbuch auf das Sofa und beginne die erste Frage zu lesen und versuche sie zu beantworten. Mit einer Schablone kann ich gleich darauf meine Antworten kontrollieren. Aber ich hatte nur eine Antwort für richtig gehalten und zwei waren es letztendlich. Ich versuche mir das zu merken und nehme mir die nächste Frage vor.
Drei Seiten später lege ich das Buch neben mich und nehme meine Teetasse in die Hand. Der Tee ist nicht mehr heiß und ich trinke die halbe Tasse leer, in Gedanken an das versunken, was Ellen mir über Werner erzählt hatte.
Dass er so arrogant und von sich eingenommen ist hatte ich nicht erwartet. Aber es ist eigentlich nicht verwunderlich. Er weiß, dass er gut aussieht und die Mädels auf ihn stehen. Und er ist noch jung. Auch gerade mal achtzehn.
Ich versuche mir vorzustellen, wie Erik ausgesehen haben könnte, als er achtzehn war. Wie er seine Haare da wohl trug? Vielleicht schulterlang, wie zu der Zeit, als ich ihm das erste Mal begegnete und er sie komplett aus dem Gesicht nach hinten gekämmt trug.
Wie immer bin ich fasziniert von der Entwicklung meiner Liebe zu ihm. Ich muss daran denken, wie ich ihm das erste Mal in Daniels Auto begegnete. Seine arrogante Art mochte ich gar nicht, und noch viel weniger den Blick, den er Daniel zugeworfen hatte, als wäre ja wohl klar, wer als nächstes auf seiner Speisekarte steht. Mir war er sofort unsympathisch und hätte mir da jemand gesagt, dass er meine große Liebe wird, ich hätte den für völlig verrückt gehalten.
Sky and Sand von den Kalkbrennern läuft an und ich drücke an der Fernbedienung die Musik etwas lauter.
Eriks Stimme rauscht durch meinen Kopf, wie er mir beim Abendessen meine geschriebenen Worte aufgesagt hatte, kein einziges Wort vergessend und es auf seine Weise kommentierend. Er ist nicht mehr der Erik von vor vier Monaten … und ich bin bei weitem nicht mehr die gleiche Carolin.
Von einem Geräusch aufgeschreckt sehe ich von meiner Tasse auf, in die ich völlig versunken gestarrt hatte. Mein Handy bettelt in meiner Schultasche um Aufmerksamkeit und ich hole es heraus.
Es zeigt einen Anruf von Julian an und ich nehme mit unruhig schlagendem Herzen an.
„Hi!“ Noch immer geht etwas in mir auf Habachtstellung, wenn ich mit ihm zu tun habe.
„Hallo Carolin! Ich sollte dich anrufen?“, höre ich Julian fragen und mir fällt ein, dass ich Michaela gebeten hatte, ihm das auszurichten.
„Ja …“, sage ich und habe plötzlich Angst, mit ihm über das zu sprechen, was mir am Wochenende widerfahren war.
„Was kann ich für dich tun?“, fragt er.
Ich muss ihm nun aber antworten und er soll wissen, dass ich jetzt auch dem gleichen Verein angehöre, wie er und Tim.
„Julian, am Wochenende haben mich diese Al Kimiyaer entführt.“
„Ach, echt?“, fragt er, ohne aber eine angemessene Anteilnahme zu zeigen. „Aber sie ließen dich wieder gehen, oder?“
„Ja!“, knurre ich aufgebracht über seine lapidare Art. „Da war so ein Typ, der hat mir einiges erklärt und ich habe ihnen zugesagt, dass ich jetzt auch zu ihnen gehöre und mit ihnen in Kontakt bleibe.“
Einige Zeit ist die Leitung wie tot. Dann höre ich Julian raunen: „Einfach so?“
Ich schlucke. „Ne, nicht wirklich. Sie hatten Erik, Daniel und Ellen in die JVA inhaftieren lassen und das war der Deal, um sie wieder frei zu bekommen … mit dem Anwalt, der auch dich vertreten hat.“
„Scheiße! Die machen wirklich ernst!“, knurrt Julian leise und mir stockt der Atem.
„Was meinst du damit?“
Julian reagiert mit einer Gegenfrage. „Was haben sie dir alles erzählt? Von Tim und mir … meine ich.“
Ich beginne ihm die Worte wiederzugeben, die in meinem Kopf hängen geblieben sind. „…sie lassen mir zwei bis drei Jahre Zeit“, schließe ich meinen Bericht. „Und sie machen meinen weiteren Lebensverlauf davon abhängig, was du ihnen liefern wirst. Bis dahin ist es für sie scheinbar in Ordnung, dass ich mit Erik zusammen bin. Bloß gegen Tim werden sie nichts unternehmen. Ihm lassen sie freie Hand“, füge ich zum Schluss hinzu.
Julian lacht auf. „Das ist typisch! Ich soll den Karren aus dem Dreck ziehen und wenn ich das nicht schnell schaffe, dann zerstören sie dein und mein Leben. Und Tim lassen sie einfach schon mal damit anfangen, obwohl sie so tun, als wäre alles noch eine freie Entscheidung von uns.“
Dass er so redet verunsichert mich. Ich hatte gedacht, dass er hinter dieser Sache steht, für die diese Leute alles tun wollen.
„Meinst du denn, du kannst ihnen geben, was sie wollen?“, frage ich kleinlaut.
„Keine Ahnung! Was weiß denn ich?“, braust er auf. „Ich arbeite daran. Aber versprechen kann ich nichts. Ich bin kein Kari Mantei und kein Kurt Gräbler. Und selbst die beiden haben das niemals geschafft. Oder warum liegen die beide mausetot in einem Grab?“
Er hat so recht und ich spüre den Druck, der auf ihm lastet.
„Julian, uns wird schon etwas einfallen. Sie lassen uns schließlich noch ein wenig Zeit“, versuche ich ihn zu beschwichtigen.
„Sie lassen uns Zeit? Sie haben nur beschlossen, Tim den Vortritt zu geben. Frei nach dem Motto, ist eigentlich egal, welches Kind als erstes auf die Welt kommt. Carolin! Tim ist jetzt irgendwann mit seiner Tour fertig und ich weiß, dass er erst mal, bis auf die eine oder andere Veranstaltung, nichts auf dem Plan hat. Er hat also eine Menge Zeit! An Geldmangel leidet er auch nicht und ich bin mir sicher, wenn er erst einmal alles ins Rollen gebracht hat, dann bin ich auch dran. Ich denke, sie werden dann nicht mehr länger warten, und sie wollen die beiden Kinder! Diese Freidenker werden von Leuten unterstützt, denen die Zeit wegläuft. Und die Kinder müssen geboren werden, heranwachsen und selbst ein Kind zeugen, das heranwachsen muss. Und dann muss sich erst einmal herausstellen, ob es wirklich Kurt Gräbler mit all seinem Wissen verkörpert. Natürlich hoffen sie darauf, dass ich schneller etwas Brauchbares liefere. Aber seit sie mich in der Psychiatrie durch die Mangel gedreht haben, träume ich nicht mehr von Alchemie und Kurt Gräbler. Ich verliere irgendwie den Bezug zu allem, und das macht mir Angst.“
Seine Worte versetzen mich in Panik. Sie machen mir klar, dass da gerade eine Hoffnung in mir verpufft.
„Mir geht es auch so. Er scheint sich langsam in Luft aufgelöst zu haben. Oder er ist irgendwohin verschwunden. Kann das denn? Nach so vielen Jahren?“
Julian klingt resigniert: „Ich habe keine Ahnung und ich habe Angst, dass sie das merken. In der Psychiatrie habe ich mit einem jungen Psychiater gesprochen, der mich als Erstes behandelte. Danach kam dieser Dr. Slawici, der dann die Sache mit dem missglückten Experiment hervorbrachte, weswegen ich letztendlich auch die Möglichkeit bekam, auf Bewährung freizukommen. Aber der andere, dem hatte ich das erzählt … mit Kurt Gräbler und den Träumen und er fragte mich, ob ich schon mal hypnotisiert worden wäre? Er meinte, er könnte sich vorstellen, dass in jedem verschiedene Seelen stecken, die zu bestimmten Zeiten an die Oberfläche kriechen und auch wieder in der Versenkung verschwinden, wenn ein anderer Teil überhandnimmt. Er erzählte mir was von Elektronen und Photonen, aus denen wir alle bestehen. Und die sind schon immer da, seit Anbeginn der Zeit und tragen Wissen in sich, was dann in einem Menschen das große Ganze ergibt und was diesen Menschen ausmacht. So eine Ansammlung von Elektronen kann auch mal ein bestimmtes Wissen oder einen bestimmten Wesenszug verstärkt auftreten lassen“, erklärt er. Wesentlich nachdenklicher murrt er leise: „Allerdings tritt dieses riesige Wissen aus alten Zeiten bei uns nur als winziger Bruchteil zutage. Wir Menschen sind eigentlich so unglaublich dumm, obwohl wir Unglaubliches leisten könnten. Ich habe viel darüber nachgedacht. Wenn es wirklich so ist, vielleicht hat Kurt Gräbler einfach nur geschafft, dass seine Elektronen sich nicht so aufspalteten, wie sie es nach dem Tod eigentlich tun … und so haben wir geballte Elektronenklumpen von ihm in uns. Wie er es allerdings schaffte, dass diese Klumpen sich in uns allen dreien zusammenfanden? Keine Ahnung. Vielleicht nur Zufall!“
Was er sagt, ist mir nicht neu. Ich habe über so etwas auch schon mal etwas gelesen. Und es scheint eine Erklärung für das zu sein, was wir bisher träumten. Vielleicht hat das eigentlich jeder Mensch, nur nicht so exzessiv. Vielleicht ist es das, was Kurt Gräbler mit seinen Mitteln erreicht hatte. Aber das ist weit von Unsterblichkeit entfernt und mir wird klar, dass Julian Angst hat, dass er dem großen Geheimnis auch niemals auf die Spur kommt, weil es nichts gibt, dem man auf die Spur kommen kann. Nicht, solange wir unser Gehirn nicht in dem Maße nutzen, wie wir es eigentlich können müssten, und die Elektronen zusammenzuhalten schaffen. Der menschliche Körper ist dem Untergang geweiht, weil die Elektronen in der vorgegebenen Konstellation nicht aufrechterhalten werden können … oder aufrechterhalten werden wollen. Und vielleicht kommen immer mal wieder ganze Elektronenbündel in einem neu entstehenden Menschen an und geben ihm etwas vor. Deswegen wird der eine zum Mörder und der andere zum großen Denker. Das sind dann gebündelte Wesenszüge eines Vorgängers. Aber Fakt ist in unserem Fall wohl, dass in einer Generation von einer Familie drei fast Gleichaltrige mit den Elektronen ihres Vorfahrens bestückt wurden. Das ist wahrscheinlich das, was diese Al Kimiys dazu veranlasste, in dem Ganzen eine Hoffnung für sich zu sehen, an den Stein der Weisen zu gelangen.
„Ich glaube nicht, dass es Zufall war“, antworte ich. „Kurt Gräbler hat das schon irgendwie beeinflusst. Und er ist nicht weg! Er ist noch irgendwo in uns und wartet darauf, wieder hervorzubrechen. Aber durch unser Leben sind wir so sehr mit anderen Dingen beschäftigt, dass er in den Hintergrund wandern musste. Du hast das Wissen in dir! Was war das mit der Hypnose? Vielleicht kann man auf diesem Wege das ganze Wissen in dir wieder hervorholen?“, sage ich und Hoffnung steigt in mir auf.
„Haben sie schon versucht. Dieser Psychiater wollte damals in zwei Sitzungen herausfinden, was in mir schlummert und dann war er plötzlich weg und dieser Dr. Slawici übernahm meinen Fall und begann mir die Sache mit dem missglückten Experiment und den Folgen einzutrichtern, durch die ich euch dann Angriff. Und das war mir viel geheurer, als die Sache mit dem Alchemisten, der mich zu einem Mörder machen wollte. Aber dass er plötzlich in mir verebbte, obwohl ich ihn noch kurz vorher als mein Leben bestimmendes Individuum in mir spürte, irritiert mich schon etwas. Aber dieser Slawici tauchte erneut bei mir auf, als ich aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Ich war keine zwei Stunden bei den Al Kimiyaern, als ich schon in ein Zimmer geführt wurde und sie mich unter Hypnose setzten. Ich wünsche mir ehrlich, sie hätten etwas Brauchbares gefunden. Aber nichts! Und sie fordern von mir, dass ich wieder Kurt Gräbler rauslasse und ihnen gebe, was sie seit mehr als einem Jahrhundert suchen. Carolin - ich habe da echt Bedenken, ob ich das kann!“
Er klingt verzweifelt und völlig außer sich, und auf einmal tut er mir leid. Ich will, dass er mir mein Leben mit Erik erhält und die Al Kimiys wollen, dass er ihnen ewiges Leben schenkt und Michaela will natürlich, dass er nicht mit seiner Schwester ins Bett gehen muss. Oh Mann. Jeder will etwas von ihm! Etwas, was keiner sonst von einem so jungen Menschen verlangt.
„Julian, sie haben uns Zeit gegeben und die werden wir nutzen. Auch ich werde versuchen einen Ausweg zu finden, ohne dass wir machen müssen, was diese Freidenker von uns wollen. Aber es ist vielleicht ratsam, wenn wir so tun, als hätte uns ihre Sache voll in den Bann geschlagen. Sie spielen mit gezinkten Karten … warum sollen wir das nicht auch?“
Einige Zeit ist es still am anderen Ende der Leitung. Dann höre ich Julian raunen: „Du hast dich so sehr verändert, das glaubst du gar nicht. Jedes Mal, wenn du den Mund aufmachst, denke ich das … und wenn ich dich mit Erik sehe. Er scheint dir wirklich das Erwachsenwerden im Eiltempo beigebracht zu haben.“
Ein warmes Gefühl wabert durch mein Innerstes. „Kann man so sagen!“ Mich lang auf das Sofa ausstreckend füge ich hinzu. „Und du hast mit Michaela wohl auch deine Interessen neu definiert?“
Ich werde etwas hellhörig, ob er eine Andeutung macht, dass er weiß, dass sie auch schon mit Erik geschlafen hat, etwas, was mir immer noch sauer aufstößt. Mir wäre lieber, wenn meine Schwägerin nicht Julians Schwager in und auswendig kennen würde. Aber scheinbar weiß Julian nichts davon und dass Michaela das als dunkles Geheimnis hütet, zeigt mir, dass es ihr zumindest unangenehm ist.
„Ja, sie ist wirklich was fürs Herz. Und sie ist noch nicht so verbraucht, wie die meisten Mädchen. Sie hatte noch nicht viele Kerle und ist in ihrem Wesen so rein und beständig. Nicht so wie die meisten Frauen, die sich von jedem ins Bett zerren lassen.“
Ich schlucke und weiß, Julian würde wahrscheinlich sein Schön Liebchen mit anderen Augen sehen, wenn er wüsste, dass sie Erik zu einem One-Night-Stand gedrängt hatte, von dem sie sich natürlich mehr erhofft hatte.
Von hinten fällt ein Schatten auf mich und ich sehe verwirrt auf.
Erik steht am Sofa und sieht mich an. An seinem Blick sehe ich, wie sehr er es hasst, mich am Telefon vorzufinden, lässig auf dem Sofa aalend und ins Telefon säuselnd. Zumindest sieht er so aus, als sähe er das so.
„Okay, Julian! Ich muss jetzt Schluss machen. Und mach dir keine Sorgen, wir kriegen das schon alles irgendwie hin. Mach du mal dein Studium weiter, das du doch sowieso machen wolltest und nimm die Hunde richtig aus. Was sie dir zahlen, lass dir bezahlen. Wir bleiben in Verbindung und schauen, wie wir da auf die Dauer wieder rauskommen. Und sag mir sofort Bescheid, wenn du was von Tim erfährst. Ich will auf keinen Fall, dass er mich wieder unvorbereitet trifft“, sage ich geschäftsmäßig.
„Klar! Das mache ich. Und du pass auf dich auf.“
„Sicher! Bis bald!“, murmele ich, als Erik seine Hand zu mir streckt, weil er das Handy haben will.
Ich lege auf und gebe es ihm.
Sofort wird sein Blick finster. „Warum legst du auf?“
Mir war klar, dass er Julian sprechen wollte. Aber ich wollte das nicht.
„Ach, wolltest du Julian noch sprechen?“, frage ich unschuldig lächelnd.
Er drückt auf dem Handy herum und ich frage mich gerade, ob er Julian wieder anrufen will, als er brummt: „Vierunddreißig Minuten?“
Ich sehe ihn verständnislos an.
„Ihr habt vierunddreißig Minuten telefoniert?“ Eriks Augen funkeln wütend und ich stehe vom Sofa auf. Irgendetwas stimmt nicht.
„Kann sein. Und? Ich habe ihm doch sagen müssen, was am Wochenende passiert ist und dass mich diese Typen verschleppt haben, für die er arbeitet“, sage ich und nehme mein Handy wieder zurück, das Erik mir entgegenhält. Er hat immer noch seine Jacke und seine Schuhe an und ich frage vorsichtig: „Was ist los? Ist etwas passiert? Du bist so schlecht gelaunt!“
„Ja!“, knurrt er. „Ich hasse es, wenn ich nach Hause komme und du hängst am Telefon und telefonierst mit irgendwelchen Exfreunden oder sonstigen Typen.“
Ich sehe Erik ungläubig an. „Das war Julian … mein Bruder.“
„Dein Halbbruder, mit dem du in die Kiste gehen sollst. Und um das Ganze abzurunden, fragst du, wann Tim endlich kommt. Nah danke!“, zischt er und mir bleibt die Luft weg. So lange hatten wir deswegen keinen Streit mehr gehabt und jetzt ist es wieder soweit. Verdammt, und das macht mich wütend! Erik soll mir vertrauen und mich machen lassen. Ich mache das nicht zum Spaß, sondern weil ich wissen will, womit ich zu rechnen habe. Und dass er jetzt auch noch eifersüchtig auf Julian ist …
„Ach komm! Hör doch auf! Julian ist mein Bruder und wir werden niemals zusammen ins Bett gehen. Das ist doch pervers. Was glaubst du eigentlich?“ In mir brodelt es. Was denkt er eigentlich von mir?
Aufgebracht setzte ich noch einen drauf. „Außerdem warte ich noch auf den Tag, an dem er erfährt, dass die Frau, in die er sich verliebt hat, auch schon eine von deinen Betthupfern war. Was willst du eigentlich? Ich habe nicht alles gevögelt, was nicht bei drei auf den Bäumen war!“
Ich wollte ihm das niemals vorhalten und jetzt habe ich es doch getan. Ich habe ihm an den Kopf geworfen, was mir schon lange als dunkler Schatten auf der Seele liegt und durch das Gespräch mit Julian auf einmal wieder hochgekocht war.
Und ich sehe an seinem Blick, dass meine Worte ihn treffen. Seine Wut scheint zu verfliegen und ich gehe zu ihm und lege meine Hand auf seine Brust. „Ach komm! Vergiss, was ich gesagt habe.“ Aber in meinem Inneren scheint etwas aufmüpfig zu widersprechen und es selbst nicht als vergessen ansehen zu wollen.
„Ich bin auch schon ein paar Jahre älter als du“, murmelt er leise. „Ich wette mit dir, wenn du so alt wärst wie ich und immer solo geblieben wärst, dann würdest du mich toppen.“
„Bestimmt nicht!“, knurre ich, weil ich es unglaublich finde, mir das zu unterstellen. „Was meinst du eigentlich? Ich bin noch nie mit jemanden in die Kiste gegangen, obwohl ich den erst fünf Minuten kannte.“
Erik scheint sprachlos zu sein. Bei diesem Thema ist seine Argumentation denkbar schlecht. Als einzigen Ausweg aus dieser argumentationslosen Misere dreht er sich um und geht zur Tür. „Ich muss noch in Daniels Wohnung. Er braucht morgen noch was für die Uni.“
Die Wohnungstür aufreißend geht er und lässt sie laut hinter sich ins Schloss fallen, und ich starre auf das Holz, das mich von ihm trennt.
Erik mit seiner scheiß Eifersucht. Wie oft haben wir deswegen Streit? Völlig grundlos! Bei seiner Vergangenheit sollte er den Mund halten.
Und dann schießt es mir! Er schaut wieder in mein Handy … wegen Tim? War der Anruf von Julian nur ein Vorwand für ihn, um mein Handy in Augenschein zu nehmen? Vielleicht hat Tim ihm geschrieben oder ist irgendwo aufgetaucht? Das würde Eriks schlechte Laune erklären und warum er noch mit Daniel los war.
Ich habe auf diesem Handy keine Nachricht von Tim … aber vielleicht auf dem anderen.
Ich laufe ins Schlafzimmer und reiße meine Nachttischschublade auf. Aus der hintersten Ecke krame ich das Handy von Tim hervor und schalte es an. Es hat kaum noch Stromkapazität, lässt mich aber den Pin eingeben, um mich wenig später mit SMSen zu bombardieren, um dann auszugehen.
„Verdammt!“, raune ich. Ich muss das Ladekabel finden und das Handy aufladen, ohne dass Erik das mitbekommt.
Nach dem Kabel suchend, öffne ich jede Schublade und finde es letztendlich in einer Tasche, die in meinem Teil des Kleiderschrankes steht.
Aber ein Geräusch lässt mich zusammenfahren und ich weiß, dass Erik wieder da sein muss. Und um zu kaschieren, warum ich im Schlafzimmer bin, setze ich mich auf das Bett und beginne mich auszuziehen.
Erik erscheint in der Tür. Er hat seine Jacke und seine Schuhe ausgezogen, und ich atme erleichtert auf. Also will er nicht wieder abhauen.
„Gehst du schon schlafen?“, fragt er unsicher und fast so leise, dass ich es kaum verstehen kann.
„Ja! Und du? Hast du das für Daniel gefunden?“
Er nickt und setzt sich neben mich auf das Bett. Ich sehe in sein Gesicht und spüre, wie sich mein Herz zusammenzieht.
„Was ist los?“, frage ich genauso leise flüsternd wie er vorher, weil mir meine Stimme versagen will. Erik ist blass und sieht mich seltsam an. Dann nickt er, als hätte er von jemandem die Erlaubnis bekommen, über etwas mit mir zu sprechen.
„Daniel meinte, er hätte Tim heute gesehen und wir sind zu seiner Wohnung gefahren. Aber da war niemand und es lag noch Post im Briefkasten. Wir haben auch noch einige andere Anlaufstellen abgeklappert, aber vielleicht hat Daniel sich auch geirrt?“
Jetzt verstehe ich seine miese Laune. Es geht tatsächlich mal wieder um Tim.
Dicht an ihn heranrückend, lege ich meine Hand auf seine und raune: „Oh Mann, Schatz! Deshalb bist du so drauf.“
„Ich werde alles versuchen, damit er dir nicht mehr zu nahekommt. Daniel hat ihn angerufen, weil ich mir dachte, dass er bei mir nicht abnimmt. Aber die Nummer gibt es nicht mehr.“
Das ist eine Neuigkeit, die sogar mich stutzig macht. Dass Tim von sich aus mir die Möglichkeit nimmt, ihn zu erreichen, das kann viel bedeuten. Entweder, es ist etwas passiert, dass er wirklich mit mir und der Vergangenheit abgeschlossen hat oder er will nur nicht, dass wir ihm bei etwas in die Quere kommen.
„Komisch! Vielleicht sollte ich einmal auf das Handy schauen, das ich von ihm habe. Vielleicht ist da etwas drauf, das uns sagt, was er vorhat oder wann er wiederkommt, und ob überhaupt“, sage ich vorsichtig und füge schnell hinzu. „Vielleicht will er ja gar nicht mehr zurückkommen und hat deshalb die alte Handynummer nicht mehr und will nie wieder etwas mit uns zu tun haben.“
„Stimmt, das andere Handy!“, raunt Erik und ich sehe einen Augenblick Misstrauen in seinen Augen aufflackert. „Wo ist das?“
Mir ist klar, ich muss vorsichtig sein und stehe langsam und unschlüssig auf.
„Keine Ahnung. Vielleicht in den Schubladen im Wohnzimmer. Oder irgendwo in den Taschen, die wir beim Umzug genommen hatten. Ich schau mal! Magst du eben in den Schubladen im Wohnzimmer nachsehen?“
Erik steht schwerfällig auf, als läge eine Zentnerlast auf seinen Schultern und geht ins Wohnzimmer. Ich höre ihn die Schubladen der Anrichte öffnen und durchwühlen und gehe zum Kleiderschrank. Aus der Tasche nehme ich das Ladekabel, das ich noch kurz vorher wieder in die Tasche geworfen hatte.
„Das Ladekabel habe ich schon mal!“, rufe ich und tue so, als suche ich in den anderen Taschen nach dem Handy.
„Im Wohnzimmer ist es nicht“, höre ich Erik kurze Zeit später hinter mir sagen und schicke ihn an die Nachtschränkchen. „Vielleicht ist es in deinem Nachtschrank … oder in meinem?“
Ich wühle weiter im Kleiderschrank herum, weil ich ihn lieber das Handy finden lassen will. Wenn er glaubt, dass ich nicht weiß wo es liegt, dann denkt er zumindest, dass ich es nicht mehr in Gebrauch habe.
„Hier liegt eins!“, höre ich Erik ausrufen und er hält das Handy von Tim in der Hand.
„Super! Aber der Akku ist bestimmt schon leer. Wir werden es erst aufladen müssen.“
Ich reiche ihm das Ladekabel und er steckt es auf seiner Seite vom Bett in die Steckdose und legt es auf seinen Nachtschrank.
„Gut! Schauen wir gleich. Ich gehe noch eine rauchen“, sagt er.
Ihm folgend, stelle ich mich mit ihm an das Wohnzimmerfenster. Er gibt mir eine Zigarette und zieht sein Feuerzeug aus der Tasche. Die Flamme leuchtet auf und ich lasse das erste Aufglühen an meiner Zigarette aufleben.
„Danke“, sage ich und schaue auf die erleuchtete Altstadt, die ich von meinem Fenster aus sehen kann. Die Weihnachtsbeleuchtung lässt alles noch mehr erstrahlen.
Was ich nur im Kleinen aus Ankum kannte, habe ich nun hier so geballt, dass es meine Stimmung zeitweise in eine glückliche Melancholie wirft. Ich liebe die Vorweihnachtszeit.
Erik zündet sich seine Zigarette an und sieht auch aus dem Fenster. Einige Zeit stehen wir nur da und lassen unsere Gedanken laufen, als er plötzlich raunt: „Ich hasse das Thema! Du siehst das immer alles völlig falsch.“
Den Blick von der Welt draußen reißend, sehe ich ihn an. Mir ist überhaupt nicht klar, von was er eigentlich spricht.
„Was sehe ich immer völlig falsch?“ Er muss von Tim reden? Oder von seiner Laune, wenn er mich am Telefon sieht.
Er zieht an seiner Zigarette und lässt den Rauch langsam aus seinem Mund entweichen.
„Ich hatte noch nie so viel Sex wie jetzt, wo ich mit dir zusammen bin. Ich weiß nicht mal, ob ich in den letzten zehn Jahren so viel Sex insgesamt hatte, wie in der Zeit, in der ich dich kenne. Und ich finde es schrecklich, dass du mir das immer wieder vorhältst. Dabei bin ich mir sicher, dass du mit Marcel und Tim schon mehr Zeit im Bett verbracht hast, als ich in meinem ganzen Leben mit allen Frauen zusammen“, knurrt er.
Ich starre ihn ungläubig an. Schon die Zeitspanne, 10 Jahre, verunsichert mich. Aber sicher! Viele Jugendliche fangen mit vierzehn an. Ich war mit meinen Siebzehn auch wirklich ein Spätzünder.
„Überleg doch mal! Rechne dir das doch mal aus! Nicht gerade jetzt. Und nicht vor mir. Ich will das auf keinen Fall genau wissen. Der Gedanke daran macht mich schon fertig. Aber mach das mal! Und du wirst sehen, was ich meine. Und …“ Erik schluckt. Aber er ist jetzt so richtig in Fahrt und will scheinbar alles auf den Tisch werfen, „nichts war bei mir jemals mit Liebe, nichts mit großen Gefühlen verbunden. Seit ich mit dir zusammen bin, weiß ich erst, was das heißt. Und du hast das alles schon vor mir gehabt. Das volle Programm. Und da hältst du mir das bisschen Abreagieren, das ich gesucht habe, vor? Wirklich! Ich will da nichts mehr von hören! Nie mehr!“ Jetzt ist er sogar wütend und ich bin sprachlos.
Die Zigarette fliegt aus dem Fenster und seine Finger legen sich um meine Oberarme. „Und ich bereue zutiefst, dass ich mich den einen Abend mit Michaela eingelassen habe. Aber ich glaubte damals nicht, dass ich auch nur die kleinste Chance bei dir habe und wusste nicht, dass sie sich mal mit deinem Bruder einlässt. Und deshalb will ich auch davon nie wieder etwas hören. Ist das klar?“
Ein Ruck geht durch meinen Körper, von seinen Händen ausgelöst und in seinen Augen funkelt die Entschlossenheit. „Ist das jetzt klar!“, knurrt er nochmals.
Nichts ist klar, aber mir bleibt nur eins zu sagen: „Die haben gesagt, dass Julian es in der Hand hat, ob sie auf diese zwei Kinder verzichten können.“
Eriks Blick wirkt ungläubig und der Druck um meine Arme wird fester. Dass ich nicht einfach ergeben ja sage, erscheint ihm unglaublich.
„Und er will alles dransetzen, weil er Michaela nicht verlieren will“, sage ich schnell, um meine Bedenken anzubringen und ihm zu erklären, warum ich das mit Michaela nicht einfach zu den Akten legen kann. „Aber wenn er erfährt, dass ihr …“
Erik faucht aufgebracht: „Das war vor ihm! Und vor dir! Verdammt! Und es tut mir leid! Ich werde es ihm nie sagen. Und du? Und Michaela wird das scheinbar auch nicht tun, sonst wüsste er es schon.“
„Aua, Erik! Bitte, lass mich los!“, jammere ich, weil der Schmerz in meinen Oberarmen langsam unerträglich wird.
Seine Hände lösen sich von meinen Armen und ich sehe nach meiner Zigarette, die mehr verglüht als aufgeraucht ist.
Erik steht nur da und sieht mich aus wütend aufblitzenden Augen an. „Können wir das also endlich vergessen?“
Ich nicke und gehe in die Küche, um über den Zigarettenstummel Wasser laufen zu lassen und ihn in den Müll zu entsorgen. Als ich ins Wohnzimmer komme, steht Erik immer noch am Fenster, eine neue Zigarette in der Hand. Er sieht auf die Stadt und die Lichter hinaus und in seinem Gesicht spiegelt sich ein Glanz davon wider.
Ich sehe sein Profil, seinen Körper - und überdenke noch einmal seine Worte, die mir erneut eintrichtern, dass das Leben vor mir für ihn bedeutungslos war. Dies schickt mir eine Wärme durch meinen Körper, die eine Sehnsucht nach seiner Nähe in mein Herz pflanzt.
Ich gehe zu ihm und schlinge meine Arme um seine Taille, lege meinen Kopf zwischen seine Schulterblätter und atme seinen Geruch ein.
Seine Hand greift nach meinem Arm und zieht mich vor seine Füße. Er legt seinen Arm fest um mich und ich schmiege mich an seine Brust. Sein Kinn stützt er auf meinen Kopf ab und so stehen wir einfach nur da. Manchmal spüre ich, wie er den Kopf hebt und an seiner Zigarette zieht. Dann umfängt uns nicht nur die kalte Luft von draußen, sondern auch der Zigarettenqualm. Aber ich möchte nicht von ihm weggehen, sondern seine Wärme und seine Nähe spüren.
„Komm! Du bekommst einen ganz kalten Rücken“, sagt er leise und zieht mich vom Fenster weg. Er schließt es, nimmt mich an die Hand und wir gehen ins Schlafzimmer zurück.
Mein Herz beginnt in banger Erwartung höher zu schlagen. Widmen wir uns jetzt dem Handy?
Aber Erik dreht mich zu sich um. Seine Hände umschließen mein Gesicht und er küsst mich sanft. Seine Wut scheint verflogen zu sein und ich gebe mich seinem Kuss hin. Meine Hände lasse ich unter seinen Pullover gleiten und spüre seine warme Haut unter meinen kalten Händen.
Er zuckt leicht zusammen und ich wärme meine Hände auf seiner Haut, mich dicht an ihn drängend. Seine Küsse werden leidenschaftlicher und ich öffne die Augen.
Erik hat seine geschlossen.
Ich muss meine Augen auch wieder schließen, um nicht hoffnungslos mitgerissen zu werden. Er ist so schön!
Irgendwann löse ich aber meine Lippen von seinen, versuche mich aus seinem festen Griff zu befreien und murmele: „Wollen wir erst nach dem Handy schauen?“
Er sieht mich an. Dann schüttelt er den Kopf, energisch und keine Widerrede duldend. Seine Lippen legen sich wieder auf meine und seine warmen Hände schieben sich auf meinen kalten Rücken.
Ich spüre ihn mit jeder Faser und gebe mich geschlagen. Langsam öffne ich seine Hose, lasse sie samt Boxershort auf seine Füße fallen und lege meine immer noch kalte Hand um seinen in Bereitschaft stehenden Freund, was Erik zusammenzucken lässt. Er sieht mich an. „Du willst mich quälen?“, fragt er leise und geht einen Schritt zurück, um sich von mir zu befreien.
„Das würde ich doch nie tun“, raune ich, und er steigt aus seiner Hose. Seinen Pullover lässt er sofort folgen und ich sehe ihn an. Er ist wirklich schön … und so unglaublich begehrenswert. Und seine Narben schenken diesem schönen, muskulösen Körper etwas Unvollkommenheit, die einen die eigene Unvollkommenheit erträglich macht.
Ich fahre mit dem Zeigefinger über sie hinweg und seine Hände schieben sich in meinen Nacken, umfassen meinen Kopf und ziehen mich zu sich heran. Seine Lippen umfangen erneut meine in einem innigen Kuss.
Langsam lege ich meine Fingerspitzen auf seinen Rücken und fahre mit den Fingernägeln zwischen seinen Schulterblättern hindurch.
Er schiebt sie zusammen und seine Brust drückt sich mir entgegen. Er stöhnt auf, als ich erneut meine Fingernägel zwischen seine Schulterblätter hindurchgleiten lasse. Seine Erektion drängt sich an meinem Bauch und seine Hände krallen sich in meine Haare, während er mich erneut alles verzehrend küsst.
Wir wollen uns nur fühlen und unsere Zusammengehörigkeit auskosten, die unser Verlangen immer weiter schürt.
Von den Gefühlen zu ihm getragen, winde ich mich aus seinem Griff und lasse von seinen Lippen ab, um mich seinen Hals hinunter zu küssen.
Er legt seinen Kopf in den Nacken und ich möchte jeden Millimeter seines Körpers berühren und ihm meine Liebe einimpfen. Er soll nur noch mir gehören und er soll sich nie wieder von einer anderen Frau anfassen lassen wollen.
Langsam schieben sich seine Hände in meinen Nacken und drücken mich sanft tiefer.
Ich küsse seine Brustwarzen und seine Narben und seine Hände drängen mich bald noch tiefer.
Ich weiß was er möchte und ich lasse ihn selbst bestimmen, wann ich dort ankommen soll, um ihn da zu küssen, wo er am empfindlichsten ist. Dabei gehe ich langsam in die Knie und streiche mit den Fingernägeln über die stramme Muskulatur seiner Pobacken.
Er spannt sie unwillkürlich an und streckt sein Becken vor. Sein Körper beginnt leicht zu zittern und er drängt mich noch tiefer.
Ich lasse meine Zunge unter seinem Bauchnabel durch die Schneise seiner Haare tiefer gleiten, wo mich schon sein Freund erwartet, der meine Wange liebkost. Meine Fingernägel kratzen vorsichtig über die Haut seiner Leiste, was ihn zusammenzucken lässt, und kraulen durch seine Schamhaare.
Er dirigiert meinen Kopf etwas zurück und bringt Luft zwischen mich und ihm, um mir die Möglichkeit zu geben, seinen Freund mit dem Mund einzufangen.
Vorsichtig lege ich meine Lippen um seine Eichel und berühre sanft mit der Zunge die Spitze.
„Scheiße!“, haucht Erik über mir und ich sehe zu ihm auf. Er hat seine Augen geschlossen, seine Lippen sind zusammengepresst und der Kopf in den Nacken gelegt. So scheint er sich dem Gefühl hingeben zu wollen.
Seine Hände schließen sich um meinen Kopf und er beginnt mich zu dirigieren. Sanft schiebt er sich in meinen Mund und wieder heraus, bis seine Eichel meine Zähne berührt. Er zuckt zusammen und ich spüre seine Muskeln unter meinen Händen, die sich immer wieder anspannen, als wollen sie die Haut sprengen.
Ich streichele ihn sanft und hingebungsvoll, während er sich mir entgegendrängt. Verdammt! Seine Reaktion macht mich selbst total an und seine Hände dirigieren mich immer schneller und erbarmungsloser.
Ich überlege, wie weit ich gehen will. Soll ich ihm das ganze Programm schenken … mich zurücknehmen … vielleicht leer ausgehen?
Aber ich will ihn nicht stoppen. Ein Blick in sein Gesicht, das mir nun zugewandt ist, und in seine braunen Augen, die voller Leidenschaft funkeln und ich weiß, ich will ihm meine ganze Liebe schenken, er soll unter mir erbeben und ich will ihm alles geben, was er sich wünschen kann.
Meine Hände auf seine Hüfte legend, weil ich befürchte, er wird vielleicht abbrechen wollen, stemme ich mich gegen seine Hände, die mich tatsächlich auf einmal von ihm wegziehen wollen. „Carolin … nicht!“, haucht er ohne viel Kraft in der Stimme, was mich erbarmungslos werden lässt.
Er stöhnt auf, als ich ihn erneut tief aufnehme und an ihm sauge und spüre die Flüssigkeit, die sich in meinen Mund ergießt. Seine Hände krallen sich in meine Haare und er keucht ungehalten, während seine Beine sich gegen das Zittern stemmen, das sie überkommt, wenn er nicht die Muskulatur anspannt.
„Ahhh!“, stöhnt er laut und ergeben und ich drücke die Lippen fester zusammen.
„Bitte!“, bettelt er mit zusammengekniffenen Augen und verzerrtem Gesicht und ich lasse ihn langsam aus meinem Mund gleiten, in dem er schon schrumpft, aller Kraft beraubt. Ich küsse mich an seiner Leiste entlang, was ihn unkontrolliert zusammenzucken lässt und lasse meine Fingernägel wieder sanft über seinen Po gleiten.
Er atmet tief ein und fasst sich an seine Brust, als müsse er sein Herz beruhigen.
Ich sehe zu ihm auf und küsse mich langsam an seinem Bauch hoch. Als ich wieder vor ihm stehe, ein süffisantes Grinsen im Gesicht, lächelt er mich seltsam an.
„Nah warte!“, raunt er leise und gibt mir einen Schubs.
Ich kreische erschrocken auf und lande im Bett.
Sofort ist er über mir, versenkt seine Lippen auf meinen, schmeckt in meinem Mund seine Flüssigkeit nach und reißt meine Hose auf. In nächsten Moment kniet er über mir und zerrt meine Hose runter.
Ich strecke meine Arme nach ihm aus, aber er ignoriert sie. Seine Hände legen sich um meine Taille und ziehen mich zum Bettrand, während er sich auf den Fußboden gleiten lässt und seine Zunge zwischen meinen Beinen versenkt.
Ich spüre die feuchte Hitze auf meinem Kitzler und halte den Atem an. Sanft und leidenschaftlich erobert er mich, und ich stemme mich auf die Ellenbogen. Doch seine Hand legt sich auf meinen Bauch und drückt mich zurück.
Ergeben lasse ich mich zurücksinken und stöhne unter seinen heißen Lippen und seiner erkundenden Zunge auf. Aber immer, wenn ich dem Höhepunkt entgegenstrebe, lässt er seine Zunge über meinen Bauch oder meine Leisten wandern, die bei jeder Berührung ein zittriges Gefühlschaos durch meinen Körper schicken.
Als ich es gar nicht mehr aushalte, schiebe ich meine Hände tief in die vollen, weichen Locken hinein und halte ihn an dem Punkt fest, an dem meine Ekstase ihren Ausgang hat.
Einen Finger in mich schiebend, lässt er in mir ein neues Gefühl aufleben.
Ich stöhne ungehalten und bäume mich unter dem erneuten Vorstoß auf. Mit einer Wucht, dass ich nur laut keuchend aufstöhnen kann, um der Energie Herr zu werden, explodiert etwas fast schmerzhaft in mir. Zu schnell zieht er sich zurück, legt seine Hände um meine Oberschenkel, zieht mich ganz zum Bettrand und stößt in mich hinein.
Ich keuche auf, von einer neuen Welle noch höher getragen und während er sich auf mir bewegt, sinke ich in einem freien Fall der ruhigen Erlösung entgegen und spüre das wohlige Gefühl tiefer Befriedigung. Seine Lippen legen sich auf meine und er küsst mich, während er sich immer wieder tief in mich hineinschraubt und dann auf mir zusammenbricht, in meinen Mund stöhnend und mit zittrigen Armen, die sein Gewicht halten sollen.
Ich schlinge meine Arme und Beine um ihn und halte ihn fest.
Er vergräbt sein Gesicht an meinem Hals und sein Atem geht stoßweise. Sein Herz spüre ich an meiner Brust wild schlagen.
„Gib mir das für ewig“, flüstert er an meinem Hals und ich lächele.
„Ein ganzes Leben lang?“, frage ich neckend zurück, mich an meinen Brief an ihn erinnernd.
Erik stemmt sich auf einen Ellenbogen und rollt sich ein Stück von mir runter. Sein ernster Blick versenkt sich in meinen und es flackert einen Augenblick Fassungslosigkeit darin auf. Und dann fragt er mich plötzlich mit todernster Miene: „Wollen wir heiraten?“
Ich starre in seine Augen, erwidere erschrocken diesen Blick, der so ernst meinem standhält und ziehe ihn in meine Arme. Er soll nicht sehen, wie geschockt ich bin und dass ich verdattert den Mund verziehe. Mein Herz schlägt mir pochend bis in meine Schläfen und mein Kopf weiß keine Antwort. Aber mein Mund raunt: „Irgendwann bestimmt.“
Wir schmiegen uns aneinander und ich hoffe, dass meine wage Antwort auf seine bestimmt nicht ganz ernst gemeinte Frage reicht.
„Komm, rutsch höher“, flüstert Erik nach einiger Zeit, die wir so dicht an der Bettkante nicht gerade bequem lagen. „Bevor du wieder einschläfst.“
Er zieht mich auf das Kissen hoch und an seine Brust, seine Arme fest um mich schlingend.
Ich greife nach der Decke, um uns damit einzuhüllen und lasse mich in seine Wärme und seinen Geruch sinken.
„Das war mir ernst!“, raunt er und küsst mich auf meine Haare.
Ich sehe auf. Seine Augen funkeln herausfordernd und ich frage verunsichert, wie ich dem Gesagten begegnen soll: „Was?“, als wisse ich nicht, wovon er spricht.
Er küsst mich auf den Mund und ich schiebe mich ihm entgegen. Es ist eine sanfte Umarmung, in die er mich einschließt und seine Zunge mit meiner vereint, als wolle er unseren Zusammenhalt mir fest ins Gedächtnis brennen … und unsere Liebe zueinander.
Ich beende diese Liebesbekundung mit einem Seufzen und lege meine Wange an seine Brust, um mich wieder in seine Wärme fallen zu lassen.
Leise wispert er an meiner Schläfe, mich an sich pressend: „Schlaf jetzt, mein Engel. Und denk drüber nach!“
Ich antworte nicht, sondern tue so, als würde ich schon in die Traumwelt driften. Doch mein Kopf ist hellwach. Meint er das wirklich ernst?
In meinem Inneren tobt ein Tumult an Gefühlen. Ich bin doch erst achtzehn … viel zu jung … will ich das überhaupt … muss es denn sein … aber ich liebe ihn … er ist alles, was ich will … und wenn ich jemals heirate, nur ihn … er ist der Richtige … aber … aber … aber …
Ich spüre seine Lippen erneut auf meinen Haaren und seine Arme, die mich noch dichter an sich ziehen.
Vielleicht meint er es gar nicht ernst. Das Ganze ist doch nur durch ein momentanes Gefühlschaos aus ihm hervorgebrochen. Total unüberlegt!
Ich beschließe, mir erst mal keine weiteren Gedanken darüber zu machen. Es gibt so viel anderes, über das ich mir den Kopf zerbrechen muss … morgen!