Читать книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 4
Liebe und Sehnsucht
ОглавлениеAls mich der Wecker am nächsten Morgen aus dem Schlaf reißt, ist Erik schon wach und hält das Handy von Tim in der Hand.
„Guten Morgen“, sage ich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
Er sieht mich an und murmelt: „Guten Morgen“. Dann beugt er sich zu mir rüber und küsst mich verhalten.
„Brauchst du das Passwort?“, frage ich und er schüttelt den Kopf. „Nein, ich wusste es noch. Er hat dir viel geschrieben. Unglaublich! Der schnallt einfach nicht, dass du mit mir zusammen bist“, knurrt er aufgebracht. „Ich glaube, ich muss dem echt welche in die Fresse hauen, damit das mal bis in sein Gehirn geht.“
Seine Wut verunsichert mich. „Nein, das tust du nicht. Das will er vielleicht nur. Dann kann er dich anzeigen und die knasten dich wieder ein. Was hat er denn geschrieben?“
Erik reicht mir das Handy und ich gehe auf die erste SMS von der Liste. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich die von meinem Geburtstag wirklich gelöscht hatte. Aber die, die sich öffnet, ist mir fremd. „Carolin, bitte verzeih mir doch! Ich will dich nie wieder zwingen, aber überreden darf ich dich doch noch.“ Tim hatte einen Zwinkersmilie dahinter gesetzt. Ich öffne die nächste: „Mein Herz ruft nach dir. Ich will nicht mehr hier sein. Wenn ich doch nur nicht ausgerastet wäre, dann hätte ich noch deine Freundschaft. Ich brauche dich! I miss you so! Meine Sonne …“
Ich schlucke und sehe Erik an, der mich beobachtet. Will er meine Reaktion testen?
Die nächste klingt schon aggressiver: „Mir ist egal, was alle sagen. Du gehörst zu mir! Du wirst das schon noch begreifen.“
Noch eine. „Julian, der Verräter. Er soll nicht so tun! Ich weiß, dass er auch mit dir ins Bett gehen will. Er soll mir nicht blöd kommen. Ich werde mich von ihm nicht aufhalten lassen.“
Ich schlucke schwer. In mir beginnt etwas zu brodeln.
Die zweitletzte. „Weißt du noch? Mit mir in Alfhausen, in Wolfsburg oder auf einer einsamen Insel. Das sind deine Optionen. Ich habe von dir geträumt. Du liebst mich! Das weiß ich! Du hast es mir gesagt. Ich werde dich holen. Bald!“
Wieder sehe ich Erik an und setze mich auf, weil mir die Luft wegbleibt. Ich öffne die letzte. Sie wurde am letzten Sonntag geschrieben.
„Du warst mir so nah. Ich war in deinem Zimmer, konnte dich ansehen … berühren. Ich liebe dich! Sie haben dich wieder gehen lassen. Aber sie stellen sich mir nicht in den Weg. Ich werde wiederkommen. Ich werde eine neue Telefonnummer haben, damit der Typ mich nicht mehr erreicht. Du gehörst mir! Schon immer! Er wird daran nichts ändern. Du bist meine Frau!“
„Durchgeknallt!“, presse ich hervor. Meine Gedanken überschlagen sich. War er in der Nacht auch dort gewesen, wo sie mich hin verschleppt hatten?
Mein Kopfkino sieht mich in dem Krankenhausbett, von einem Mittel betäubt und festgeschnallt, Tim an meiner Seite …
Ich spüre regelrecht, wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht und mir wird schwindelig.
Er konnte mich anfassen …, oh Mann!
Ich will nicht darüber nachdenken, was er noch tun konnte, ohne dass ich es mitbekam. Mir wird schlecht.
Ich werfe das Handy auf die Bettdecke und springe aus dem Bett. Schnell renne ich zur Toilette, weil sich gerade mein Magen aufbäumt.
Erik springt erschrocken mit mir aus dem Bett und eilt hinter mir her. „Carolin, was ist? Oh nicht! Bitte nicht!“, raunt er aufgebracht, als er mich vor der Toilette findet. Ich zittere am ganzen Körper und schaffe es kaum, mich hochzuhieven und meinen rebellierenden Magen sich über der Toilettenschüssel austoben zu lassen.
Er kniet neben mir nieder und ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und halte mich an ihm fest.
„Bitte, Schatz! Beruhige dich. Es ist alles gut!“, versucht er mich zu beruhigen.
Dass er selbst so stoisch ist, zeigt mir, dass er die letzte SMS wohl gar nicht geschnallt hat. Sonst würde er nicht so ruhig bleiben können. Oder ihm war nicht der Gedanke gekommen, der mir mit Urgewalt einen Schrecken eingejagt hat, und der mich fast wieder in einen Zusammenbruch stürzt.
Er hebt mich hoch und trägt mich zum Bett zurück. Mich auf das Bett legend, schiebt er sich neben mich und wirft die Decke über uns. „Komm, beruhig dich!“ Er legt seine Arme um mich und hält mich einfach nur fest.
Langsam höre ich auf zu zittern und versuche zu verdrängen, was sich in meinem Kopf als Film immer wieder abspielen will.
„So ist gut. Ich bleibe bei dir. Er wird dir nichts tun, dafür sorge ich.“
Es ist schon fast sieben, als ich mich soweit beruhigt habe, dass ich nicht mehr zittere und mein Magen nicht mehr das Nichts in sich loswerden will.
Langsam setze ich mich auf und Erik sieht mich beunruhigt an. „Ich denke, es ist besser, du bleibst heute zu Hause.“
Den Kopf schüttelnd, setze ich mich auf die Bettkante und versenke mein Gesicht in meinen Händen. Das Entsetzen über Tims SMSen und weil er in der Nacht bei den Al Kimiyaern gewesen sein könnte, als sie mich festhielten, will einfach nicht weichen.
Erik schiebt sich neben mich und legt seinen Arm um meine Schulter. Leise und eindringlich flüstert er mit dumpfer Stimme: „Er wird dich nicht angerührt haben. Das wüsstest du. Glaub mir! Und du kannst nicht schwanger werden. Ich bin so froh darüber.“
Ich sehe ihn verdattert an. Also weiß er, was Tim damit meinte, als er schrieb, dass er mich gesehen hat und berühren konnte.
„Oder hast du mir etwas verschwiegen?“, raunt Erik leise.
„Nein, ich schwöre dir, dass Tim dagewesen sein soll, davon weiß ich nichts. Ich bin irgendwann wach geworden und dieser Typ war da. Ich konnte ihn nur hören und nicht sehen, und er hat nichts von Tim gesagt. Und er hat mich nicht angepackt. Das hätten die nicht zugelassen“, sage ich mit einer falschen Überzeugung, die Erik in Sicherheit wiegen soll. Er soll keine Minute denken, dass Tim die Möglichkeit genutzt haben könnte. „Ich wüsste das sonst“, füge ich noch hinzu, seinen Wortlaut wiederholend. Aber mir ist klar, dass ich nichts weiß und das schreckliche Gefühl, dass Tim mich erneut für sich gehabt haben könnte, muss ich verdrängen, sowie die Wut, die mit diesem Gedanken in mir hochkriecht.
„Ich hasse den Typ. Verdammt! Er soll mich endlich in Ruhe lassen!“, heule ich resigniert auf.
Erik sagt nichts und ich stehe auf. Die Tränen, die sich über mein Gesicht stehlen, wische ich brüsk weg. „Ich gehe duschen. Ich muss zur Schule und heute Nachmittag in die Fahrschule. Mir geht es gut.“ Gedankenfetzen, die aus meinem Mund dringen und heile Welt suggerieren sollen.
Erik steht auch auf und greift nach meinem Arm. Er zieht mich erneut an sich und streicht mir meine Haare aus dem Gesicht.
„Du bist ganz durcheinander. Er hat dich nicht angefasst. Ganz bestimmt nicht. Das wüsstest du!“, redet er mir und sich noch einmal ein.
„Ich weiß!“, antworte ich und lehne mich an ihn.
„Ich liebe dich! Das ist wichtig. Daran sollst du immer denken. Egal, was dir passiert. Vergiss das nie und verliere das nie aus dem Blick“, höre ich Erik an meinem Ohr raunen und bin entsetzt. Wo er sonst schon bei einem Telefongespräch abdreht, scheint er mir gerade klarmachen zu wollen, dass, egal was mir passiert, er mich liebt und egal was ich ertragen muss, ich daran denken soll.
„Ich muss duschen“, raune ich, löse mich aus seinem Griff und gehe ins Badezimmer.
Das heiße Wasser tut mir gut und vertreibt den Schock darüber, dass ich vielleicht Tim ausgeliefert war. Ich suche in meinem Kopf und meinen Gefühlen nach einem Hinweis darauf. Aber da ist nichts! Gar nichts! Und ich war vollständig angezogen, als ich wach wurde …
Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass es kein Zufall war, dass Tim zur gleichen Zeit am gleichen Ort war und man mich für Stunden lahmgelegt hatte. So sehr sich alles in mir dagegen sträubt, so habe ich doch nicht das Gefühl, dass sie diese Chance ungenutzt verstreichen ließen.
Mit aller Macht versuche ich die Gedanken in ruhigere Gewässer zu lenken, um nicht völlig auszurasten.
Ich muss zur Schule gehen. Nur dort habe ich die nötige Ablenkung und kann vielleicht mit Ellen darüber sprechen. Vielleicht sieht sie einige Zusammenhänge, die mir verborgen bleiben.
Erik ist schon angezogen und hat eine Tasse Kaffee in der Hand, als ich mit einem um den Körper geschlungenen Handtuch an ihm vorbeigehe. Er sieht mir ins Gesicht, seinen Kopf etwas zur Seite geneigt und ich versuche ihm ein Lächeln zu schenken.
„Hey, mein Schatz! Es ist echt besser, du bleibst heute hier. Wenn du willst, bleibe ich auch“, ruft er mir hinterher.
„Nein, wir gehen. Beide! Ich komme klar! Gar kein Problem“, antworte ich ihm und mache einen auf zuversichtlich. „Aber du kannst schon fahren. Ich nehme den Bus! Es reicht, wenn ich zu spät komme … wegen meinem Scheiß“, knurre ich den letzten Satz viel leiser als die anderen. Erik soll ihn gar nicht hören.
„Vergiss es! Und es ist nicht nur dein Scheiß! Du gehörst zu mir und somit ist es auch mein Scheiß“, antwortet der zornig, an der Tür zum Schlafzimmer auftauchend.
Ich ziehe mich schnell an und verzichte auf den Tee, den Erik mir gemacht hat.
„Bitte Schatz!“, drängt er, dass ich mich eben hinsetzen soll und wenigstens etwas trinke und das Brot esse, das er mir mit Käse schön auf einem Teller angerichtet hat.
Ich kann seinem beunruhigten Blick nicht standhalten und trinke einige Schlucke und greife mir das Brot. „Ich esse es nachher.“
„Dann nimm doch bitte den Tee auch mit. Du kannst ihn im Auto trinken.“
Erik möchte, dass ich im Auto esse und trinke? Oh Mann! In seinem wertvollen Mustang. Dann ist ihm das wirklich wichtig.
Ich bemühe mich, nicht einen kleinen Krümel oder Tropfen zu verlieren und er schenkt mir ein Lächeln. „Die Tasse nehme ich heute Abend wieder mit hoch. Ich bin beruhigter, wenn du was gegessen hast. Du bist schrecklich blass. Hätte ich gewusst, dass dich die SMSen von Tim so aufregen, dann hätte ich sie gelöscht.“ Erik wirkt betreten, als er hinzufügt: „Ich weiß nun, dass du ihn nicht willst. Ich habe es an deinem Blick gesehen und an deiner Reaktion auf seine letzte SMS. Es tut mir leid, Schatz, dass ich dir da nicht mehr vertraut habe“, raunt er leise.
Einen Moment bin ich wie vor den Kopf gestoßen. Erik war sich immer noch nicht sicher, dass Tim für mich nicht mehr existiert? Unglaublich!
„Ich hasse ihn! Und wenn er nicht aufhört, mein Leben aufzumischen und sich weiter einredet, dass wir noch irgendetwas miteinander zu tun haben, dann werde ich noch zum Mörder“, brumme ich wütend. Aber was mich am meisten gegen Tim aufbringt ist die Tatsache, dass er mir die letzte SMS überhaupt geschickt hat. Warum musste er mir schreiben, dass er da war und dass er mich berühren konnte, ohne dass ich das mitbekam. Warum? Wüsste ich das nicht, dann würde es mir besser gehen … viel besser. Wie weit will er noch gehen?
„Bevor du zum Mörder wirst, werde ich das erledigen“, knurrt Erik.
„Du darfst gar nichts. Nicht mal den kleinen Finger ausstrecken. Ich will dich auf keinen Fall wegen dem verlieren.“
Der Mustang hält an der Schule und ich sehe Erik an. „Versprich mir hoch und heilig, dass du nichts gegen ihn unternimmst? Bitte!“, raune ich flehend. Ich fühle eine unsagbare Bedrohung durch Tim, der Erik aus dem Weg haben will. Da bin ich mir sicher.
„Das kann ich nicht“, antwortet Erik und ich sehe an seinem ernsten Gesicht, dass ich da wirklich zu viel von ihm verlange. „Wenn er dir zu nahekommt, ist es aus mit ihm.“
Ich beuge mich zu ihm rüber und küsse ihn. „Ich liebe dich und will dich nicht verlieren. Denk da einfach immer dran“, sage ich, bevor ich aussteige und die Autotür zufallen lasse.
Erik steigt auch aus und ich sehe ihn beunruhigt an. Seine Hand greift nach meinem Arm, als ich auf seine Höhe komme und er zieht mich vor seine Füße. „Ich liebe dich auch und werde brav sein, wenn du über meine Frage nachdenkst, die ich dir gestern gestellt habe.“
Mir stockt der Atem. Was soll ich ihm antworten? Ich hatte damit gerechnet, dass der Anfall bei Anbruch eines neuen Tages vorbei ist. Aber Eriks Augen funkeln mir entgegen, wie an dem Tag, als ich mit ihm auch hier stand und er mich gerade aus der Schule getragen hatte. Da leuchteten seine Augen auch so, weil er sich sicher war, dass er mich in der Hand hat und mir keine Chance bleibt, mich letztendlich gegen das, was er will, zu wehren.
„Ich denke darüber nach“, sage ich leise und gebe ihm einen schnellen Kuss. „Und jetzt muss ich mich beeilen. Wir kommen heute beide hoffnungslos zu spät!“, versuche ich das Thema zu wechseln.
Erik raunt: „Ist wohl so. Und ich freue mich auf heute Abend. Bleib bitte immer bei Ellen, ja? Keine Alleingänge!“
„Keine Alleingänge, versprochen.“ Mich von ihm loseisend, gehe ich einen Schritt zurück und er steigt in den Mustang ein, lässt den Motor aufbrummen und fährt die Straße hinunter.
Ich sehe ihm unschlüssig hinterher und bin überrascht, dass er immer noch seine Frage beantwortet haben will. Was für ein Verrückter. Aber ich liebe ihn für diese Verrücktheit, die ein wenig meine dunkle Welt erhellt.
In der Klasse entschuldige ich mich bei unserer Klassenlehrerin mit der Ausrede, dass es in der Nacht im Haus einen Stromausfall gegeben hatte und der Radiowecker darum heute Morgen nicht zur richtigen Zeit ansprang. Zu meiner Überraschung winkt sie mich nur zu meinem Platz und macht mit dem Unterricht weiter.
Ich werfe mich neben Ellen, die mich unsicher ansieht und der scheinbar sofort klar ist, dass etwas nicht stimmt. Ich nicke ihr nur zu und mache eine beschwichtigende Handbewegung.
„Pause!“, sagt sie mit stummer Lippenbewegung und ich kann mich schon auf eine Ellen Inquisition gefasst machen.
So zieht sie mich auch gleich nach dem Klingeln vom Stuhl, bevor ich überhaupt meine Schulsachen zusammengepackt habe, und wir gehen nach draußen. Es ist ein dunkler, trüber, aber milder Dezembertag und wir laufen über den Schulhof hinter das Schulgebäude. Dort sind wir ungestört.
„Was ist los! Du siehst total fertig aus und warum bist du heute so spät?“, fragt Ellen, noch bevor ich meine Zigarette angezündet habe.
Ich sehe sie unschlüssig an und sie raunt: „Das mit dem Radiowecker war doch völliger Quatsch, oder?“
Nickend ziehe ich an meiner Zigarette und entschließe mich dazu, Ellen einzuweihen. Sie hatte schon viele Geheimnisse für mich verwahrt und ich muss mit jemandem über meine Angst sprechen, die an mir seit dem Morgen nagt.
„Erik und Daniel haben gestern bei Tims Wohnung nachgesehen, ob er wieder da ist. Daniel meinte, ihn gesehen zu haben“, beginne ich.
„Ja, aber er hat sich wohl geirrt“, wirft Ellen ein.
Ich nicke unschlüssig und erkläre ihr: „Daraufhin haben wir heute Morgen das Handy von Tim gecheckt, auf das er einige SMSen geschickt hatte. Eine war vom letzten Wochenende, als wir im Hyde Park waren.“ Ich ziehe an meiner Zigarette, weil das, was ich jetzt sagen muss, mir unendlich schwerfällt und Ellen sieht mich beunruhigt an. Sie weiß nur zu gut, dass es immer einen Grund gibt, wenn ich so herumstottere. Weil ich nicht weiterrede, versucht sie mir ungeduldig auf die Sprünge zu helfen. „Von dem Wochenende, wo die Ärsche uns in den Knast gebracht haben und du entführt wurdest. Okay, … weiter!“
„Er war auch da. In dem Haus, in das sie mich brachten …“ Meine Stimme wird etwas zittrig und ich versuche mich zusammenreißen. „Und er war im selben Zimmer und konnte mich berühren. So schrieb er zumindest. Ich weiß davon nichts, weil sie mich ausgeknipst hatten. Ellen …“ Ich werfe mich an ihren Hals und sie ist erschüttert von meiner Reaktion. „Ich weiß nicht, was er mit mir gemacht hat!“
Ich spüre, wie sie in meinem Arm steif wird, mich von sich wegdrückt, um mich ansehen zu können und raunt: „Hat er dich vergewaltigt?“
„Ich weiß es nicht! Aber er hat das so komisch geschrieben und ich war bewusstlos und sie haben Tim trotzdem zu mir gelassen.“
Erneut schlägt die unglaubliche Fassungslosigkeit über mich hinweg und abermals kommen mir deshalb die Tränen.
„Was sagt Erik?“, fragt Ellen entsetzt und legt wieder ihre Arme um mich.
„Nichts! Das Tim mir nichts getan hat und ich mir keine Sorgen machen soll. Er ist so komisch. Er würde mich lieben … egal was passiert und was man mit mir anstellt. Das hat er echt gesagt, wo er sonst nicht mal ertragen kann, wenn ich mit jemandem telefoniere.“
Eine Zeit lang scheint Ellen meine Worte wirken zu lassen, bis sie raunt: „Er hat Angst, dass du ihm wieder nichts sagst, wenn dir etwas zustößt. So wie beim letzten Mal, als Tim dich überfallen hat.“
Ich löse mich aus ihrer Umarmung und sehe sie an. Natürlich, das wird es sein.
„Aber egal!“, meint Ellen abwinkend. „Du verhütest doch noch? So ganz vorschriftsmäßig, meine ich.“
„Warum?“, frage ich sie, nicke aber.
„Und deine Pille ist auch noch deine Pille? Hast du das gecheckt? Es bringt ihnen nichts, dir Tim auf den Hals zu schicken und du verhütest“, murrt sie leise.
„Nein, ich nehme die Pille nicht mehr. Ich habe mir eine Dreimonatsspritze geben lassen. Da brauche ich die Pille nicht mehr.“
„Eine was?“
Ich erkläre ihr, wie die Spritze wirkt und sie nickt. „Hauptsache du verhütest. Aber Tim kann ja auch nicht wissen, wann du deine Pille nehmen musst und wann du deine Tage hast.“
Ich sehe sie betroffen an. „Das weiß Tim schon. Er weiß zwei Daten, wo ich meine Tage hatte und damit könnte er schon meinen ganzen Zyklus herausfinden. Ein Wochenende früher hätten sie mich nicht entführen brauchen. Aber dieses Wochenende war eigentlich auch denkbar schlecht zum Schwanger werden. Von daher!“, antworte ich und eine Hoffnung schleicht durch meine Adern, dass sie doch nicht zuließen, was ich befürchte.
Es klingelt und ich wische mir durchs Gesicht. „Du hast recht. Den Al Kimiys hätte es nichts gebracht, wenn Tim über mich hergefallen wäre.“
Ich bin etwas beruhigter und habe nicht mehr das Gefühl, dass Tim auf alle Fälle die Gunst der Stunde nutzen durfte. Sofort geht es mir etwas besser und ich kann in der Klasse schon Sabine und Andrea ein Lächeln schenken, als sie erneut meinen Brief an Erik versuchen zu rekonstruieren, was ihnen nur misslich gelingt. Erik konnte das weitaus besser.
Am Nachmittag fahren wir wieder mit dem Bus zur Fahrschule. Erwarteter Weise sehen uns die Mitstreiter von Dienstag zurückhaltend entgegen.
Aber zu meiner Überraschung verschwinden Nina und Sarah sofort in das Gebäude, bevor wir sie erreichen können. Auch sie erliegen scheinbar der Ansicht, dass Erik mit seinem Auftreten, seinem Äußeren und seinem Zuhälterschlitten in die Kategorie fällt, dass brave Mädchen die Flucht ergreifen sollten.
Dafür schenkt mir ein Mädchen mit schwarzen Stumpfhosen, Springerstiefeln, schwarz gefärbten Haaren, etlichen Klimbim im Gesicht und dunkler Kriegsbemalung ein Lächeln. Und auch die jungen Männer, denen wir vorher nicht aufgefallen waren, sehen mich und Ellen mit anderen Augen an.
Es muss schon etwas an uns dran sein, wenn solche Typen hier auflaufen und uns ziemlich theatralisch abholen.
Ich kann nur den Kopf deswegen schütteln. Es ist für mich immer noch nicht leicht ertragbar, dass Erik mich wieder einmal in ein Licht gerückt hat, das eigentlich nicht meins ist. Aber ich weiß mittlerweile, ich liebe ihn auch damit. Und würde er irgendetwas ändern wollen … den Mustang gegen einen Audi eintauschen oder seine Muskeln auf die eines Nerds verkümmern lassen … ich wollte es nicht. So wie er ist, will ich ihn auch haben. Mit all seinen Facetten. Und dass er seine Locken wieder etwas wachsen lässt, ist für mich das einzige, was ich gerne als Änderung hinnehme.
„Komm! Gehen wir rein!“, meint Ellen, der diese zweigeteilte Aufmerksamkeit auch nicht entgangen ist.
„Hallo!“, höre ich hinter mir Werner rufen und er drängt sich an zwei Kerlen vorbei, die mit coolem Gehabe Aufmerksamkeit erhaschen wollten. Sie sehen Werner fassungslos an, weil er einfach auf uns zusteuert und uns begrüßt.
„Hi!“, antworte ich ihm und schenke ihm ein Lächeln.
Mit einem Blick auf Ellen stelle ich mit Befriedigung fest, dass sie heute wenigstens nicht unfreundlich guckt.
„Und bereit? Halbzeit! Noch mal so viel und ich fange mit meiner ersten Fahrstunde an“, erklärt Werner mit leuchtenden Augen. „Ich übe schon etwas auf den Feldwegen bei meinem Opa. Ich denke, dass ich den Führerschein schnell in der Tasche habe.“
„Üben … das sollten wir vorher vielleicht auch mal“, sage ich zu Ellen und sie nickt mit diesem ängstlichen Flackern in den Augen.
Werner lacht auf. „Auf was willst du üben? Auf dem Mustang von deinem Freund? Den zerlegst du doch in Nullkommanix. Die Pferde gehen mit dir schneller durch, als dass du bis zehn zählen kannst.“
Ich sehe ihn aufgebracht an, weil er mir die Worte eher abfällig entgegenspukte.
Ellen schaltet sich ein. „Dann nehmen wir halt den BMW.“
„Ja! Klar! Als wenn der für Anfänger besser wäre. Mein Opa hat einen alten Golf. An dem kann nichts mehr kaputtgehen und der fährt sich sanft wie ein Kinderwagen. Mit dem ist Autofahren gar kein Problem.“
Den Kopf etwas schief legend, sieht er mich an. „Wenn ihr wollt, nehme ich euch am Wochenende mit zu meinem Opa und ihr könnt auch üben. Dort gibt es viele private Wege, wo uns keiner krumm kommt, wenn wir ohne Führerschein herumfahren. Und auf dem Hof geht’s dann ans Einparken. Das klappt bei mir schon echt super! Und somit hat man seinen Führerschein echt billig und im Handumdrehen.“
Ich sehe Ellen an und sie mich. Das ist ein Angebot. Zumal ich für meinen Teil nicht möchte, dass mein Führerschein teuer wird. Das wäre wie ein Zeugnis für Dummheit und Unfähigkeit. Damit möchte ich Eriks Eltern nicht gerade aufwarten. Da Ellen nichts sagt, erwidere ich nur unsicher: „Mal schauen.“
Da der Vorplatz mittlerweile wie leergefegt ist, gehen wir in das Gebäude und durch den Gang zum Unterrichtsraum. Heute ist nicht viel los und Ellen murrt nicht, als Werner uns einen Platz weiterschiebt, um neben mir Platz zu haben.
Zu meiner Überraschung ist sie es auch, die Werner am Ende der Stunde ihre Telefonnummer gibt. Er ist etwas verwirrt darüber und ich nicht weniger.
„Wegen dem Üben! Das wäre keine schlechte Idee. Du kannst mich anrufen, wenn du das nächste Mal zu deinem Opa fahren willst“, sagt sie leichthin und mir fällt fast die Kinnlade runter.
„Klar, mache ich“, sagt Werner, wirft seine langen Stirnhaare etwas zurück und grinst verschwörerisch. „Und zu keinem ein Wort. Eure BMW und Mustangfahrer werden bestimmt nicht glücklich sein, wenn ihr auf einem Golf üben wollt.“
Ellen grinst und nickt zustimmend.
Ich bin einfach nur sprachlos und als wir zum Bus gehen, frage ich bestürzt: „Du willst wirklich mit ihm üben?“
Ellens Gesichtsausdruck schlägt um und sie sieht mich unglücklich an. „Ich habe so viel Schiss, das glaubst du gar nicht. Und wenn ich mich richtig blamiere, macht das bestimmt gleich die Runde. So viele Leute kennen meine Eltern und mich … und dann sagen alle, ich bin zu blöd zum Autofahren.“
Dass Ellen immer unter einem selbsterdachten Leistungsdruck steht, war mir schon klar. Aber dass sie sogar zu solchen Maßnahmen greift!
„Ich bin mir sicher, Daniel übt auch mit dir. Und Erik auch“, sage ich und wir steigen in den Bus ein, der neben uns hält. Als wir uns in einen Sitz fallen lassen, murrt sie: „Die sollen auch nicht wissen, wie blöd ich mich anstelle. Und du hast doch gehört! Die haben gar nicht die richtigen Autos zum Üben.“
Nun ist also Werners Wort Gesetz? Bloß weil er den BMW und Mustang für zu PS stark hält sollen sie nicht zum Üben taugen? Ich fasse es nicht! Aber vielleicht hat Werner auch recht und wenn Ellen zu ihm fahren will, soll sie es tun.
Die fährt mit zum Hasetor und geht mit zu mir nach Hause, weil Daniel sie sowieso von dort abholen will. Mir scheint das Ganze eher wieder wie eine angeordnete Rundumüberwachung. Wahrscheinlich hatten Daniel und Erik diese Notwenigkeit am Abend zuvor wieder in Erwägung gezogen.
Als wir in meine Wohnung kommen, ist noch niemand da und ich gehe, gleich nachdem ich meine Jacke und Schuhe in der Flurgarderobe ließ, ins Schlafzimmer und hole das Handy. Ich möchte, dass Ellen die SMSen liest.
In der Küche setzen wir uns an den Tisch und ich öffne die erste.
„Hier, lies du die mal und sage mir, was du davon hältst.“
Ellen sieht auf das Display und liest laut: „Carolin, bitte verzeih mir doch. Ich will dich nie wieder zwingen, aber überreden darf ich dich doch noch.“
Sie raunt aufsehend: „Ist das ein Spinner!“
Die nächste SMS öffnend, halte ich ihr das Handy hin: „Mein Herz ruft nach dir. Ich will nicht mehr hier sein! Wenn ich doch nur nicht ausgerastet wäre, dann hätte ich noch deine Freundschaft. Ich brauche dich! I Miss you so! Meine Sonne …“
Ellen sieht mich verunsichert an und sagt nichts weiter dazu. Ich sehe an ihrem Gesicht, dass seine Worte sie nicht kalt lassen.
Sie nimmt mir das Handy ab, öffnet die nächste und liest sie vor: „Mir ist egal, was alle sagen. Du gehörst zu mir. Du wirst das schon noch begreifen.“
„Hm …“, macht Ellen nachdenklich.
Sie öffnet eine weitere: „Julian, der Verräter. Er soll nicht so tun. Ich weiß, dass er auch mit dir ins Bett gehen will. Er soll mir nicht blöd kommen. Ich werde mich von ihm nicht aufhalten lassen.“
Ellen sieht mich an und ich schüttele den Kopf. „Das stimmt nicht. Ich habe mit Julian gesprochen. Das will er nicht! Auf keinen Fall!“
Eine weitere öffnend, raunt Ellen: „Wie viele sind das denn?“
„Zwei noch“, erwidere ich und sie öffnet die nächste: „Weißt du noch? Mit mir in Alfhausen, in Wolfsburg oder auf einer einsamen Insel. Das sind deine Optionen! Ich habe von dir geträumt. Du liebst mich! Das weiß ich! Du hast es mir gesagt. Ich werde dich holen. Bald!“
Erneut trifft mich Ellens beunruhigter Blick. „Langsam macht er mir Angst“, sagt sie.
Ich nicke nur und sie öffnet die letzte: „Du warst mir so nah. Ich war in deinem Zimmer, konnte dich ansehen … berühren. Ich liebe dich! Sie haben dich wieder gehen lassen. Aber sie stellen sich mir nicht in den Weg. Ich werde wiederkommen. Ich werde eine neue Telefonnummer haben, damit der Typ mich nicht mehr erreicht. Du gehörst mir! Schon immer! Er wird daran nichts ändern. Du bist meine Frau!“
„Gott!“, haucht Ellen bestürzt. „Das ist die vom letzten Samstag? Jetzt verstehe ich! Er war wirklich bei dir im Zimmer und du hast davon nichts mitbekommen. Verdammt! Da würde ich auch wer weiß was denken.“
Ihr Ausruf entsetzt mich. „Glaubst du, er hat …?“ Weiter komme ich nicht, weil meine Stimme versagt.
Ellen sieht an meinem Blick, wie entsetzt ich bin, wenn sie das jetzt bejaht und raunt: „Ne, ich glaube nicht. Aber trotzdem erschreckend, wenn man sich vorstellt, man schläft tief und fest und da ist einer, der dich berührt und vielleicht küsst. Poor! Gruselig!“
Berührt und küsst? Oh Mann! Mir wird wieder übel.
Daniel ruft ein lautes: „Hallo!“, vom Gang in die Wohnung und ich reiße das Handy aus Ellens Hand und mache es schnell aus. Eilig lasse ich es in der Küchenschublade verschwinden.
Wenigstens schleicht Daniel sich nicht in die Wohnung, wie Erik das immer tut. Von ihm höre ich auch diesmal nichts, bis er im Türrahmen erscheint und Ellen ihm ein: „Hi!“, zuruft.
Er kommt zu mir, gibt mir einen Kuss und setzt sich neben mich auf einen Stuhl. Mit dunkler Stimme raunt er: „Was macht ihr?“
Ellen antwortet ihm: „Nichts! Quatschen! Und auf euch warten.“ Sie schenkt ihrem Bruder ein Lächeln und lässt sich von Daniel von hinten umarmen und küssen. Er hatte wohl einen Abstecher zur Toilette gemacht.
„Kaffee oder lieber etwas anderes?“, frage ich schnell und Erik antwortet: „Kaffee wäre nicht schlecht.“
Ich stehe auf und gebe Wasser in den Behälter und lege ein Pat ein. Für mich setze ich Wasser für meinen Tee auf. Der erste Kaffee läuft sprudelnd in eine Tasse und ich höre nur mit halbem Ohr zu, was am Tisch geredet wird. Meine Gedanken kreisen um Tims SMSen. Ich hatte heute Morgen gleich so geschockt reagiert, dass mir der eigentliche Sinn von vielem verborgen blieb. Zum Beispiel, dass er schreibt, dass er mich holen wird … bald!
Ich sehe Erik an, der mich zu beobachten scheint. Sieht er mir an, wie sehr mich die SMSen immer noch beunruhigen?
Im selben Moment fällt mir die Stille im Raum auf und mir wird bewusst, dass auch Ellen und Daniel mich ansehen. „Was?“, frage ich aus einem Reflex heraus.
„Essen?“, fragt Ellen. „Möchtest du auch etwas?“
Ich sehe Erik an, weil ich nicht weiß, was er geantwortet hat.
„Bestellt ihr eine Hawaipizza mit“, sagt er nur und ich nicke brav.
Mein Teewasser kocht und ich gieße meine Tasse mit Kräutertee auf. Der Kaffee läuft in die zweite Tasse und ich stelle Zucker und Milch auf den Tisch. Die vollen Tassen vor Erik und Ellen stellend, gebe ich den dritten Pat in die Maschine und fülle die dritte Tasse für Daniel. Meinen Tee zum Tisch balancierend, muss ich feststellen, dass meine Hände zittern. Als ich mich hinsetzen will, zieht Erik mich auf seinen Schoß, während Daniel zu seiner Jacke geht und den Pizzaservice anruft.
„Hey, Schatz!“, raunt er leise und mit sanftem Blick, der mich gleich wieder Ellen ansehen lässt. Noch immer reagiere ich so, weil ich nicht weiß, wie weit sie sich schon daran gewöhnt hat, ihren Bruder so zu sehen.
Ich sehe Erik wieder an und antworte auf seine nicht gestellte Frage: „Es geht mir gut! Ehrlich!“
Er nickt leicht, aber seine Augen scheinen mir nicht ganz glauben zu wollen. Seine Arme legen sich fester um meinen Bauch und ich würde ihn gerne küssen und diese Sorgenfalte auf seiner Stirn wegwischen. Aber weil Ellen neben uns sitzt, ist mir das etwas unangenehm. So versuche ich mich von seinem Schoß zu hieven, um den letzten Kaffee zu holen, als Daniel wieder in der Küche erscheint und sagt: „Bleib sitzen, solange der Stuhl das mit sich machen lässt.“ Er grinst frech und holt sich seine Tasse.
„Danke!“, sage ich und er beginnt sogar die Teller für die Pizzas, die in kürze geliefert werden sollen, auf den Tisch zu stellen und Besteck dazuzulegen.
Ellen sieht ihm zu, rührt sich aber nicht und ich denke mir, sie und ihr Bruder sind von einem anderen Stern. Anders kann es nicht sein.
Daniel zwinkert mir zu, als hätte er meine Gedanken erraten.
„Ich gehe am Wochenende vielleicht schon mal Autofahren üben“, wirft Ellen in die Runde, während Daniel sich wieder an den Tisch setzt.
Ich sehe sie entsetzt an. Warum muss sie das ausgerechnet hier ansprechen?
Sie schenkt Daniel ein Lächeln und erklärt: „Welche, die auch mit uns in die Fahrschule gehen, haben außerhalb der Stadt ein großes Privatgelände und einen alten Golf, mit dem wir üben dürfen.“
Ich bin platt, dass sie das so locker anzubringen wagt.
Und ich bin noch viel platter als Daniel zurücklächelt und sagt: „Hm, das hört sich vernünftig an. Das wäre wirklich eine gute Möglichkeit schon mal ein bisschen Verständnis fürs Fahren zu bekommen.“
Erik sieht mich an. „Aber wir beide üben zusammen, oder?“
Ich will gerade nicken, als Ellen brummt: „Ja, meinst du denn, ich gehe da allein hin? Carolin kann erst da üben und dann in den Mustang steigen.“
Ganz im Gegensatz zu Daniel fragt Erik: „Was sind das für Leute? Kennen wir die?“
Ellen verdreht die Augen und antwortet: „Neee! Aber das ist ja auch egal.“
„Mir nicht!“, knurrt Erik. „Außerdem kommen am Wochenende unsere Eltern wieder und wollen bestimmt, dass wir da eben auflaufen.“
Ich sehe Ellen an und bin fast versucht zu erwähnen, dass sie ihre Fahrstunden mit dem Typ machen will, für den Daniel und Erik noch am Dienstag die große Show abgezogen haben. Ellen ist schon ein Luder und vollkommen auf sich bedacht.
Ich halte aber den Mund.
„Ich habe ja auch gesagt, ich schau mal. Vielleicht machen wir es auch eine Woche später. Mal sehen, was er sagt.“
Daniel trinkt seinen Kaffee, Ellen nimmt auch einen Schluck und ich sitze auf Eriks Schoß und halte den Atem an. Vorsichtig sehe ich von Ellen zu Daniel, als Erik reagiert: „Er?“
Ich wusste es! Auch wenn Daniel nie wirklich etwas mitbekommt und Ellen deswegen unvorsichtig ist … Erik entgehen solche Patzer nicht.
Ellen sieht auf und weiß in dem Moment, dass sie einen Fehler gemacht hat. Sie wird mich nicht mitnehmen können, wenn es sich bei der Geschichte um einen Er handelt.
„Ja, da ist auch ein Kerl dabei. Der ruft mich dann an, wann die da wieder hinfahren.“
Daniel wirkt immer noch völlig unbeteiligt und Erik nickt nur. Ich weiß schon, er wird das noch mit mir unter vier Augen klären. Danke Ellen!
Es klingelt und Daniel steht auf, um die Pizzas in Empfang zu nehmen. Erik reicht ihm einen fünfzig Euro Schein und ich frage mich langsam, ob er die im Keller selbst druckt.
Ich schiebe mich von seinem Schoß herunter und folge Daniel, um ihm zu helfen. Mit den Kisten komme ich in die Küche zurück, während Daniel noch zahlt.
„Danke Schatz!“, sage ich und gebe Erik einen Kuss auf die Wange.
„Wofür?“
„Für das hier“, sage ich und winke mit den Pizzaschachteln, bevor ich sie auf den Küchenschrank gleiten lasse.
Ich öffne sie nacheinander und gebe die Pizzas auf die Teller. Ellen bekommt wie immer eine Tunfischpizza, Erik hat Salami und Pilze und Daniel eine mit Artischocken, Kapern und Pilzen. Erik hatte für mich eine Hawaipizza bestellt, die auch am Leckersten aussieht.
Das Thema Autofahren ist beendet und Daniel erzählt von ihrem Tag in der Uni. Ich lausche ihm, weil ich von Erik nur selten etwas aus seinem Alltag zu hören bekomme. Und Daniel kann gut erzählen. Es scheint für ihn überhaupt kein Problem zu sein, viel zu reden und ich besehe mir das überrascht. Mit mir hat er erst einmal mehrere zusammenhängende Sätze gesprochen, als er im Cafe auftauchte und alle Schuld auf sich nahm, um Erik in ein besseres Licht zu rücken. Sowieso hatte er bisher nur mit mir geredet, wenn es um Erik ging.
Nun sitzt er an unserem Tisch, redet wie ein Buch und bringt uns immer wieder zum Lachen und ich kann sogar einige Zeit Tim vergessen.
Es ist Freitag und Ellen bringt mich zur Arbeit. Mir wird klar, dass wirklich alle Überwachungsmaßnahmen wieder verschärft wurden und Ellen brummt nur auf meinen Kommentar diesbezüglich, dass sie mich nicht einen Schritt allein gehen lässt, solange dieser Spinner Tim da draußen ist.
Ich will ihr klarmachen, dass sie dann ihr Leben lang an meiner Seite verbringen muss, lasse es aber, weil es mir eigentlich lieber ist, wenn immer jemand in meiner Nähe ist. Ich träume schon nachts von seinen Worten: „Ich werde dich holen … bald!“
Es ist fast eine Woche her, dass diese Al Kimiys mich verschleppten und ich habe von ihnen seitdem nichts mehr gehört. Ich weiß nicht, was sie von mir erwarten. Nicht mal eine Adresse oder Telefonnummer habe ich, an die ich mich wenden könnte, wenn ich Fragen habe. Und ich habe Fragen. Vor allem will ich wissen, was sie meinen, was mein weiterer Einsatz dafür sein soll, dass Erik wieder bei mir ist und Ellen und Daniel wieder ein nettes, normales Leben führen können. Übermorgen kommen die Eltern aus ihrem Urlaub wieder und es wäre die Hölle, wenn Ellen und Erik noch in der JVA säßen, mal ganz davon abgesehen, dass Erik sowieso durchgedreht wäre. Das war mir meine Zusage, dass mich dieser Verein zu seinen Jüngern zählen darf, wert. Aber jetzt? Ich bin wohl zum Abwarten verdammt.
„Dann bis morgen! Daniel und ich schlafen in der Villa. Ich glaube, Daniel will endlich wieder in seinem Bett schlafen. Aber die zwei Nächte wird er wohl noch aushalten. Und ich muss sehen, dass alles in der Hütte in Ordnung ist, damit Mum und Dad keinen Herzinfarkt bekommen“, sagt Ellen mürrisch.
Ihr ist dieser Aufwand schon wieder viel zu viel. Sie fügt in unveränderter Tonlage hinzu: „Erik holt dich heute Abend ab. Also warte, bis er da ist.“
Ich antworte ihr lächelnd: „Mache ich! Gut, dann bis morgen … oder Sonntag.“
Als ich in das Cafe trete, fällt mir gleich auf, dass noch mehr Weihnachtsschmuck angebracht wurde und es überall leuchtet und glitzert. Ich komme mir vor wie bei Tausend und einer Nacht.
„Hallo Carolin!“, ruft Alessia von der Theke her mir zu: „Und, wie findest du das?“
„Wunderschön!“
Auf jedem Tisch steht ein kleines Glas mit bunten Kerzen und kleinen Kugeln, die im Kerzenlicht in verschiedenen Farben schimmern. An den Wänden hängen an bunten Bändern Weihnachtskugeln in Rot und Gold. In den Fenstern leuchten zusätzlich zu den Lichterketten auch noch Sterne mit Leuchtdioden. Eine Lichterkette beleuchtet das Kuchenbuffet.
„Ja? Findest du? Du musst dich schließlich auch wohlfühlen.“
Alessia hat aufgehört noch weitere Mitarbeiter zu suchen. Im Winter ist sowieso nicht viel los und sie möchte dann nur mich als Hilfskraft in ihrem Cafe haben.
Ich fühle mich bei ihr wirklich wohl und dass sie mich so lieb integriert, gibt mir ein gutes Gefühl und lässt mich immer gerne wiederkommen.
„Und, wo geht es heute hin?“, frage ich sie, während ich mich umziehe.
„Erst bin ich bei den Kleinen und später treffe ich mich noch mit deiner Mutter zum Essen.“
Ach ja! Das Treffen von meiner Mutter mit Alessia!
„Nah, dann viel Spaß!“, sage ich mit einem ironischen Unterton und binde mir die Schürze um.
„Das werden wir bestimmt haben“, sagt sie lächelnd.
Ich überlege kurz, was mein Vater wohl an diesem Abend macht und beschließe, ihn am Abend anzurufen.
Wenig später verlässt Alessia das Cafe und wirft mir einen Handkuss zu.
Ich winke zurück, die letzten Torten aufschneidend, die noch nicht angeschnitten sind.
Die ersten Gäste geben sich mit Alessia die Türklinke in die Hand und ich lächele ihnen freundlich entgegen. Somit beginnt mein Arbeitstag.
Gegen sechs kommt Erik und setzt sich auf seinen Stammplatz.
Ich bringe ihm einen Cappuccino und ein Stück meiner Lieblingstorte, die er auch gerne isst.
„Danke Schatz!“, flüstert er und zwinkert mir zu. Seine Hand wandert kurz an meinem Bein hoch und ich mache einen Schritt zu Seite, damit sie nicht zu tief unter meinen Rock gleitet, was ihm ein süffisantes Grinsen entlockt.
„Wie wäre es mit einem Kuss zur Begrüßung?“, raunt er spitzbübisch und ich sehe zu dem Pärchen hinüber, das noch in Ruhe einen Jägertee trinkt, den wir im Winter mit im Programm haben, und mit sichtlichem Appetit die Schinkenbrote isst. Alessia hat für die kalte Jahreszeit selbstgebackenes Brot mit Schinken oder Käse mit auf die Karte genommen, und ich freue mich immer, wenn jemand das bestellt. Dann hole ich die einzeln entnehmbaren Brotscheiben aus dem Gefrierschrank, taue sie in der Mikrowelle auf, was sie wie frisches Brot wirken lässt, beschmiere sie mit Butter und belege sie mit der vorgegebenen Menge Schinkenscheiben oder Käsescheiben, schneide ein paar Gurkenscheiben ab und platziere sie oben auf dem Brot und schneide eine Tomate in Viertel und garniere den Teller damit. Das macht mir Spaß und ist mal etwas Abwechslung.
„Nichts da. Ich habe noch Gäste“, flüstere ich zurück und gehe wieder hinter den Tresen. Ich räume die Spülmaschine aus und beginne mit dem abendlichen Aufräumen, das ich besser mache als alle meine Vorgängerinnen, hatte Alessia mir noch in der letzten Woche versichert. Ich kann nur hoffen, sie erzählt das auch meiner Mutter, damit die mal ein wenig stolz auf mich ist.
Die Gäste winken mir zu und ich gehe kassieren. Sie loben das besonders leckere Brot und ich erkläre ihnen, dass wir es selbst backen.
Dann gehen sie und ich räume den Tisch ab.
Erik sieht mir zu, in seinem Stuhl lässig nach hinten gelehnt, die langen Beine bis weit unter den Tisch gestreckt und seine Arme vor der Brust verschränkt. Seine Augen funkeln in dem Licht der Weihnachtsbeleuchtung.
Ich gehe zu ihm und räume auch seinen Tisch ab, während er mich nur ansieht. Als ich mich umdrehe und zur Theke gehe, spüre ich einen Druck am Bauch und weiß, dass Erik wieder sein liebstes Spiel spielt. Kellnerin ausziehen … zumindest die Schürze.
Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, den er grinsend ignoriert.
Als das Geschirr in die Spülmaschine geräumt ist, schiebe ich die Kuchen zusammen, räume die Milch und die Butter in den Kühlschrank, reinige die Kaffeemaschine und die Arbeitsplatten, und als alles wieder blinkt und blitzt sehe ich Erik an, der immer noch auf seinem Stuhl sitzt und mit seinem Handy spielt.
„Hey, junger Mann!“, rufe ich ihm zu und er sieht auf. „Wie wäre es mal mit etwas Mithilfe? Du kannst die Kerzen auspusten und die Lichterketten ausmachen.“
Erik steht auf und beginnt die Kerzen überall zu löschen und die Lichterkettenstecker aus den Steckdosen zu ziehen.
„Bitte lass die Sterne an. Die brennen die Nacht über durch.“
Ich folge ihm und schaue noch mal, ob alle Stühle ordentlich stehen und alle Tische sauber sind. Als ich an Erik vorbeigehen will, zieht er mich in seine Arme und küsst mich. „Das nächste Mal tue ich gar nichts mehr ohne einen Kuss zur Begrüßung“, knurrt er und ich lächele ihn an. „Ach so! Dann gibt es auch keinen Cappuccino und Kuchen mehr.“
Er sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an.
Ich entwinde mich seinem Griff und bringe das Geld in den Tresor und ziehe mich um. Als ich die Lichter im hinteren Teil des Cafes lösche, steht er vor der Tür und raucht eine Zigarette.
Ich lösche auch das vordere Licht und trete zu ihm in die kalte, feuchte Winterluft. Sorgfältig verschließe ich die Tür und er nimmt mir meine Schultasche ab und reicht mir seine Zigarette.
Ich schüttele den Kopf und schließe meine Jacke dicht zu.
„Poor! Ganz schön windig und eklig!“, murmele ich und mir wird klar, wie warm es in dem Cafe war.
„Es geht auf Weihnachten zu“, meint Erik und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann.
Wir gehen durch die Altstadt nach Hause und ich genieße es wieder einmal, wie schön alles geschmückt ist und wie wundervoll alles leuchtet.
„Ich liebe die Vorweihnachtszeit“, sage ich nach einiger Zeit und seufze behaglich.
Es dauert einen Augenblick bis Erik antwortet: „Ich mochte den ganzen Rambazamba um Weihnachten nie besonders. Aber dieses Jahr finde ich die ganze Beleuchtung ganz nett.“
Ich grinse ihn frech an. „So? Woran liegt das denn?“
Er ignoriert meine Frage und geht einfach weiter, als hätte ich nichts gefragt. Wir kommen an einem Tannenbaum vorbei, der bunt geschmückt wurde und mit vielen kleinen Lämpchen ausgestattet ist.
„Ich finde diese ganzen Lichter und geschmückten Fenster und Weihnachtsbäume schön“, sage ich noch einmal.
Erik sagt wieder nichts und mir wird klar, dass ich mir kein großes Weihnachten erhoffen darf. Dass er die Beleuchtung nett findet, ist wahrscheinlich schon mehr als ich erwarten kann.
Als wir in die Natruperstraße einbiegen, ist es vorbei mit dem Weihnachtszauber und die Straßenbeleuchtung ist alles, was uns an Licht geboten wird. Aber ich nehme Eriks Hand und bin zufrieden. Ich werde gleich ein heißes Bad nehmen und ins Bett fallen. Hoffentlich möchte Erik nicht noch mit mir ausgehen.
Als wir endlich durch die Wohnungstür in meine Wohnung treten und ich die Lichter anmache, fühle ich mich geborgen und glücklich. „Ah, ist das schön, Zuhause zu sein“, seufze ich und hänge meine Jacke auf und ziehe meine Schuhe aus.
„Du, …!“, sagt Erik hinter mir und behält seine Jacke an. „Magst du gleich noch mit mir mit zu unserer Kneipe gehen? Ich habe mich da mit zwei alten Kumpels aus meiner früheren Klasse verabredet. Die, die wir mal im Sonnendeck trafen. Weißt du noch?“
Ich nicke. Natürlich weiß ich das noch. Dass war das erste Mal, dass ich Erik mit alten Freunden gesehen habe und der Tag, an dem er mich zum Bahnhof begleitete und wir uns wieder näherkamen.
„Kommst du mit?“, fragt er noch einmal und seine Hände legen sich um mein Gesicht.
Ich sehe zu ihm auf und schüttele den Kopf. „Wenn es nicht sein muss. Ich lerne dann lieber noch etwas für die Fahrschule.“
Erik nickt, als hätte er schon damit gerechnet.
„Aber, bitte geh ruhig! Mach dir einen schönen Abend und ich werde nachher baden und ins Bett gehen. Wir treffen uns da.“ Ich schenke ihm ein Lächeln und er streicht mir mit dem Daumen über die Wange. „Schade! Ich würde dich gerne zum Angeben mitnehmen“, antwortet er mit einem frechen Grinsen und ich fühle mich unwohl.
„Ach Erik! Mit mir kannst du doch nicht angeben.“
Sein Lachen erfüllt den kleinen Raum. „Mit was denn sonst? Mit dem Mustang? Meinen reichen Eltern? Der Villa? Den Geschäften? Ne! Du bist das Einzige, mit dem ich angeben kann.“
Ich weiß, er will mich auf den Arm nehmen und knuffe ihn in den Bauch.
„Du Spinner! Nein, wirklich. Ich möchte lieber einen schönen Abend hier machen. Und ich muss gleich noch Papa anrufen. Der ist heute ganz allein. Meine Mutter ist mit Alessia unterwegs.“
„Wirklich?“, fragt Erik überrascht und ich lache.
„Ja, wirklich. Unglaublich, nicht?“
Wenig später verabschieden wir uns an der Tür, als würden wir uns tagelang nicht sehen und ich wünsche ihm einen schönen Abend. An Eriks Blick sehe ich, wie ungern er geht und mich zurücklässt, und wie sehr es ihn irritiert, dass ich ihn gehen lasse und ihm auch noch einen schönen Abend wünsche. Für ihn wäre das andersherum undenkbar. Er mag es gar nicht, wenn ich ohne ihn feiern gehe.
Ich lasse mir Badewasser einlaufen und genieße die laute Musik und dass ich tun und lassen kann, was ich will. So liege ich ewig lange im Badewasser, kuschele mich hinterher bei Kerzenschein und schöner Musik auf mein Sofa und rufe meinen Vater an.
„Hi Papa!“, sage ich, als er sich meldet.
„Carolin!“, ruft er und ich bin erstaunt, dass er sich so freut. Im Hintergrund höre ich ihn sagen: „Carolin!“
Ich bin überrascht. Mama ist doch bei Alessia. Ist Julian bei ihm?
„Ich dachte, ich höre mal, was du so machst, wenn Mama ausgegangen ist.“
Mein Vater lacht: „Nah, was meinst du? Bayern München spielen heute gegen Mönchengladbach. Und ich habe Unterstützung hier. Marcel schaut mit.“
Ich schlucke. „Das ist ja toll!“, sage ich wenig begeistert.
„Ja, und mit ihm zusammen werde ich alles geben, damit Bayern München gewinnt“, ruft mein Vater überdreht. „Willst du ihn eben sprechen?“
„Nein!“, rufe ich entsetzt, als ich wenig später Marcels Stimme höre. „Hallo Carolin!“
Er klingt nicht weniger überdreht als mein Vater.
„Hallo! Und du unterstützt meinen Vater heute Abend, damit seine Mannschaft auch wirklich gewinnt?“, frage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst zu ihm sagen soll.
„Sicher! Die laufen über den Rasen und schießen Tore und wir unterstützen sie und halten sie mit Bier bei Laune“, sagt er und lässt sein tiefes, wohlklingendes Lachen erklingen.
„Das funktioniert?“ Langsam werde ich auch lockerer und seine gute Laune steckt mich an.
„Und wie! Umso mehr wir trinken, umso besser spielen sie“, sagt er und lacht wieder.
„Und wie kommst du nach Hause?“, frage ich, wie mit einem erhobenen Zeigefinger.
Es dauert einen Moment, bis Marcel antwortet. „Wenn ich hier versacke, schlafe ich in deinem Zimmer“, raunt er leise.
Ich schlucke krampfhaft. „Ich dachte, Julian hat sich das umgebaut?“
„Ne, noch nicht. Ich hoffe, es macht dir nichts aus?“
„Nein, natürlich nicht. Es ist gut, wenn du dableibst. Das ist mir lieber.“
„Ja?“, fragt er nur und ich weiß, die gute Laune ist dahin. „Würde dir das was ausmachen, wenn ich einen Unfall hätte?“
Ich hasse das! Warum tut er das immer? Soll ich nein sagen? Verdient hätte er es. Aber das kann ich nicht. Seine Stimme hat mich wieder mal im Griff und noch immer spüre ich bei ihm etwas in meinem Herzen.
„Natürlich! Das wäre ganz schlimm! Und darum bin ich froh, wenn du bei mir schläfst.“
Marcel lacht auf. „Ich wäre auch froh, wenn ich bei dir schlafen dürfte.“
„Haha!“, raune ich und weiß, er will nur die Laune wieder hochtreiben. „Okay, dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend und das Papas heiß geliebte Mannschaft gewinnt.“
„Danke! Wir trinken ordentlich, dann wird es schon werden. Übrigens … ich wurde als bester Spieler des Jahres gekürt. Vielleicht habe ich Glück und bekomme ein tolles Angebot und ich habe eine Anfrage von einem Verein in Osnabrück.“
Er klingt so stolz und fast schon glücklich und ich freue mich: „Wow! Das ist ja super! Ich wusste schon immer, dass du etwas Besonderes bist.“
„Ja?“, fragt er wieder, als würde er das in Frage stellen.
„Natürlich! Und es würde mich riesig freuen, wenn du weiterkommst“, raune ich ein wenig niedergeschlagen, weil er alles von mir als wenig glaubhaft abtut.
„Hm!“, macht er nachdenklich. „Gut! Willst du noch mal deinen Vater sprechen?“
„Nein, nein. Er ist ja gut versorgt und in guten Händen. Ich wünsche euch einen schönen Abend. Mach´s gut, Marcel!“ Ich will auflegen, als er ins Telefon ruft: „Warte!“
„Ja?“, frage ich verunsichert, was nun folgt.
„Warte“, ruft Marcel noch mal, als wäre er wie gehetzt. Es ist einige Sekunden still in der Leitung und ich will schon fragen, was er noch auf dem Herzen hat, als er leise raunt: „Wie geht es dir? Geht es dir gut?“
Ich schlucke wieder schwer. „Ja, danke! Alles in Ordnung.“
„Gut! Okay! Hm, … das ist gut. Wirklich!“
„Okay, Marcel. Wir können noch mal ein anderes Mal …“
„Ja, bestimmt!“, höre ich Marcel resigniert sagen und werfe ein schnelles „Tschüss“ ein. Ich lege eilig auf, sonst wird das Ganze noch unangenehm. Außerdem soll er nicht das halbe Spiel verpassen, sage ich zu mir selbst. Aber Marcel zu hören, versetzt in mir immer noch etwas in eine traurige Schwingung.
„Ach verdammt!“, knurre ich und puste die Kerzen aus. Ich gehe zum Laptop und mache die Musik aus und lösche alle Lichter. Es ist fast neun und ich hole mein Fahrschulfragenbuch hervor und gehe damit ins Schlafzimmer.
Im Licht der kleinen Nachttischlampe und tief in Eriks Decke gekuschelt, weil ich mich in seinem Bett wohler fühle, beginne ich zu lernen.
Aber lange kann ich mich nicht konzentrieren, da fallen mir schon die Augen das erste Mal zu und nach drei weiteren Fragen, die ich kaum noch wirklich wahrnehme, lege ich das Buch zur Seite und lasse mich in den Schlaf sinken.
Von einem Geräusch werde ich wieder wach und lausche in die Dunkelheit hinein, als das Geräusch erneut erklingt. Es ist mein Handy, das noch irgendwo im Sofa unter der Decke begraben liegt.
Mich aus dem Bett schiebend, schleiche ich müde durch das nur von der Straßenbeleuchtung erleuchtete Schlafzimmer zum Lichtschalter. Als ich ihn andrücke, blendet mich das grelle Licht der Deckenlampe, die ihre fünfundzwanzig Watt über Nacht in hundert Watt umgewandelt haben muss und laufe zu dem nicht ruhe gebenden Handy. Als ich es endlich in der Hand halte, sehe ich auf das Display und es zeigt Erik an. In dem Moment verstummt es, beginnt aber im nächsten Augenblick wieder nervtötend durch die Wohnung zu hallen.
Ich nehme ab, ein: „Ja!“, raunend.
„Hey, Schatz! Ich dachte schon, du wärst gar nicht zu Hause“, höre ich Erik ungehalten sagen.
„Natürlich bin ich zu Hause. Ich habe schon geschlafen“, sage ich leise und noch völlig benommen.
„Ich wollte nur hören, ob bei dir alles in Ordnung ist. Aber wenn du schon geschlafen hast …“
„Ja“, raune ich nur. „Bei mir ist alles okay. Und bei dir?“
Erik scheint überrascht zu sein, dass ich das frage. „Sicher, bei mir auch. Ich komme dann auch bald.“
„Okay, bis dann“, raune ich müde und frage mich, warum er überhaupt angerufen hat.
„Bis bald, Schatz. Dann schlaf schön weiter.“
Ich lege auf, weil mich ein wenig der Unmut darüber packt, dass er mich aus dem Schlaf geklingelt hat. Bestimmt kann ich jetzt gar nicht wieder einschlafen.
War das ein Kontrollanruf?
Ich gehe zur Toilette und danach in die Küche, um etwas zu trinken und zu meinem Erstaunen sagt mir ein Blick zur Küchenuhr, dass es schon nach eins ist. Erik hat es heute aber besonders vor, wenn er noch länger weiterzaubern will und ich spüre auch darüber einen leichten Unmut aufkeimen. Aber das unterdrücke ich sofort wieder, weil ich mich freuen sollte, wenn er auch noch andere Freunde als die Maasmännchen hat. Und so ein Wiedersehen nach langer Zeit und vielen alten Geschichten aufleben lassen … da vergeht schon mal einige Zeit.
Ich gehe ins Bett zurück, nachdem ich ein Glas Milch getrunken habe und mir fällt der Tag wieder ein, an dem Ellen mich von der Arbeit abgeholt hat und in diese Bar schleppte. Plötzlich waren Daniel und Erik auch aufgetaucht, und dieser Pulk alte Bekannter, mit denen er sich dann an den Tisch gesetzt hatte. Sie freuten sich wirklich, ihn zu sehen, obwohl sie etwas davon sagten, dass sie ihn ab einem bestimmten Punkt aus den Augen verloren hatten. Ich fragte mich damals, ob es die Psychiatrie gewesen war oder der Knast, was ihn aus der Klassengemeinschaft gerissen hatte. Aber ich fragte ihn nie danach.
Als ich gehen wollte, musste ich meine Tasche von seinem Tisch holen, die Ellen dort platziert hatte und er sah mich nur mit diesem unsicheren Blick an, der mir damals ans Herz ging. Als ich dann ging, war er plötzlich hinter mir gewesen und fragte mich, ob er mich zum Bahnhof bringen dürfe. Und er hatte sich darüber lustig gemacht, dass ich den falschen Weg eingeschlagen hätte, wenn er mir nicht gefolgt wäre. Das war unser erneuter Anfang gewesen.
Wie zu erwarten war, kann ich nicht mehr einschlafen und nehme mir wieder das Fragenbuch vor. Aber ich kann mich nicht konzentrieren, weil meine Gedanken immer wieder zu Erik schwenken und ich diese leichte Unruhe nicht unterdrücken kann, die mir vermitteln will, dass ich ihm nicht ganz vertraue. Noch immer habe ich das schreckliche Gefühl, er könnte in sein altes Muster verfallen und sich mit einem Mädel einlassen. Und das ist etwas, was tief in mir nagt, seit ich gesehen habe, wie schnell und einfach er sich auf Michaela eingelassen hatte. Das war für mich wie ein Schlag in den Magen gewesen, obwohl ich mit Marcel zusammen war, und Erik und mich da noch nichts verband, außer ein paar SMSen, Telefongespräche und so mal ein paar Worte.
Mir wird klar, dass ich damals schon eifersüchtig auf jede war, die ihm zu nahekam. Unglaublich! Eigentlich war ich ihm da schon verfallen gewesen und wusste das nicht mal. Gibt es ein unsichtbares Band, das zwei Menschen verbindet und zueinander zieht, bis sie sich aufeinander einlassen - egal welche Hindernisse ihnen im Weg stehen. Bei Erik kommt es mir so vor.
Um der Gedankenflut Herr zu werden, stehe ich wieder auf und werfe mich auf mein Sofa. Ich mache den Fernseher an und zappe durch die Programme. Aber auch hier läuft auf jedem fünften Sender etwas für Männer, wo nackte Frauen posieren und ihre Telefonnummern anbieten. Unglaublich! Brauchen Männer so etwas permanent?
Das hebt nicht gerade meine Stimmung und ich schalte den Fernseher wieder aus.
Wenigstens habe ich gute Musik auf meinem Laptop und ich lasse mich davon berieseln. Aber ich bleibe unruhig und verunsichert und dann fällt mir Tim ein. Ich kann ihn also nicht mehr erreichen. Das hat er mit seiner neuen Nummer so gewollt, sonst hätte ich ihm jetzt antworten können, wo ich allein bin und Erik sich woanders vergnügt …
Ich gehe ins Schlafzimmer zurück und nehme das Handy aus meiner Nachtischschublade. Ich drücke es unschlüssig an, ob ich mir seine SMSen wirklich noch mal antun soll und denke mir im selben Augenblick, dass die bestimmt schon von Erik gelöscht wurden.
Als das Handy nach der Pineingabe aufbrummt und eine neue SMS anzeigt, bekomme ich fast einen Herzschlag. Ich sehe mich im Zimmer um, ob da irgendwo ein guter Geist ist, der mich davon abhält, die jetzt zu öffnen. Aber nichts will mich hindern und ich muss es wohl wagen. Ich weiß nicht von wem die ist, weil kein Name angezeigt wird, sondern nur eine Nummer und ich lese: „Ich kann nicht! Ich muss dir meine neue Nummer geben und wissen, dass du mich erreichen kannst. Ohne diese geringe Chance auf einen Kontakt fühle ich mich völlig allein. Ich brauche dich! Meine Sonne…“
Ich lese die SMS noch einmal, die wirklich die einzige verbliebene auf dem Handy ist, weil Erik wohl alle anderen löschte. Wahrscheinlich geht er davon aus, dass Tim nach der Änderung seiner Handynummer nicht mehr schreiben wird.
Ich starre auf die Zeilen und weiß nicht was ich tun soll. Als wäre da etwas in mir, das nicht so denkt wie ich, drücke ich auf Antworten. Ich bin völlig unschlüssig, was ich ihm schreiben soll. Und dann drücken meine Finger die kleinen Tasten. „Tim, du müsstest nicht allein sein, wenn du einsehen würdest, dass wir nicht zusammen sein können. Nicht in Alfhausen, nicht in Wolfsburg und nicht auf einer einsamen Insel. Für uns gibt es keine Zukunft als Paar, denn wir dürfen keinem kleinen Menschen das antun, was wir durchmachen mussten. Wenn du das akzeptieren kannst, können wir uns zumindest als Freunde mal schreiben oder telefonieren.“
Ich verschicke die SMS mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube und bereue es in dem Moment schon, als sie versendet ist. Erik wird ausflippen! Aber er ist weit weg und ich stehe mit meinen Problemen letztendlich immer allein da. Vielleicht ist das ein Weg, sie zu lösen?
Aber im selben Moment weiß ich, dass es hoffnungslos ist. Selbst wenn Tim meine Freundschaft so wichtig wäre, dass er auf alles andere verzichten würde, wäre Erik keine Sekunde damit einverstanden, dass ich noch irgendetwas mit ihm zu tun habe.
Ich lasse die Musik an und lege mich in Eriks Bett zurück. Mit der Musik von meinem Laptop ist die Wohnung nicht so unerträglich still und meine Gedanken nicht so erschreckend laut.
Ich überlege, ob ich das Handy wieder ausmachen soll. Da es mitten in der Nacht ist wird Tim vor morgen nicht reagieren.
Mir fällt ein, dass ich gar nicht weiß, wann er seine SMS geschrieben hatte und ich gehe nochmals hinein und sehe, dass er sie am vergangenen Abend verschickte. Ich lösche sie, damit Erik sie nicht findet. Da ist die neue Nummer von Tim drauf und ich möchte sie nicht in Eriks Hand wissen. So lösche ich auch meine SMS an Tim und das Handy ist gesäubert. In dem Moment vibriert es in meiner Hand und meldet eine ankommende SMS.
Ich lasse das Telefon fallen, als wäre es heiß und starre es an, während der Klingelton erstirbt.
„Poor, bitte nicht“, hauche ich, weil ich mit einer Antwort nicht so schnell gerechnet hatte. Mein Herz schlägt mir bis in den Hals und ich hebe das Handy auf und öffne die SMS mit zittrigen Fingern. Entsetzt lese ich: „ICH AKZEPTIERE! Und rufe dich an.“
Im selben Moment hallt das Lied „Three Words“ durch mein Schlafzimmer und ich starre auf das Display.
Tim ruft mich an. Und er will akzeptieren.
Ich muss abnehmen, um meine Aussage nicht hinfällig werden zu lassen.
Ganz tief in meinem Hinterkopf dröhnt die Frage: Wie geht das, dass seine neue Nummer auch unser altes Lied als Klingelton abspielt?
Mein Magen dreht sich und ich weiß nicht mal, ob ich eine Stimme habe, als ich mit zittrigen Fingern den Knopf drücke und ein „Ja!“, hauche.
Mit dem Ersterben des lauten Klingelsounds höre ich nur noch meine leise Musik aus dem Wohnzimmer und sonst nichts. Die andere Seite der Leitung scheint tot zu sein.
Ich überlege schon, ob ich angesichts dessen auflegen darf, als Tim in sein Handy flüstert: „Carolin?“
Ihm scheint seine Stimme auch einen Streich spielen zu wollen und seine Unsicherheit gibt mir ein wenig meiner Sicherheit zurück.
„Tim! Hallo!“, raune ich etwas lauter.
„Hallo!“, kommt nur wie ein Echo.
Ich räuspere mich und überlege angestrengt, was ich sagen soll. Dann murmele ich: „Ich bin ein wenig erstaunt, dass trotz deiner neuen Nummer Three Words als Klingelton auf meinem Handy abgespielt wird.“
Kurz ist es wieder still in der Leitung. Dann höre ich ihn leise antworten: „Weil das unser Lied ist und ich habe meine Mittel.“
Seine Worte verwirren mich und ich denke, das ist kein gutes Thema.
„Aha!“, raune ich nur und schwenke um. „Wie geht es mit deinem Musical voran?“
„Oh Mann, Carolin!“, antwortet Tim aber nur, als hätte ich ihn nichts gefragt. „Dass du wieder mit mir sprichst!“ Er klingt völlig am Ende und ich fühle einen winzigen Hauch von Mitleid mit ihm. Aber das verdränge ich sofort.
„Du hast mir Angst gemacht. Und du hast mir wehgetan!“, zische ich, weil ich ihm das unbedingt vor Augen führen will und er einsehen soll, dass er das nie wieder tun darf.
„Es tut mir leid. So schrecklich leid. Aber du weißt, was ich für dich empfinde und ich konnte nicht ertragen, dass du dich so aus meiner Wohnung und meinem Leben geschlichen hast“, antwortet er niedergeschlagen.
„Ich habe mich nicht aus deiner Wohnung geschlichen. Aber es war so schwierig, immer von Osnabrück nach Alfhausen zu gelangen. Da war es ja sogar einfacher, zu mir nach Hause zu fahren. Und mit meiner neuen Arbeit war das Ganze dann gar nicht mehr zu vereinbaren gewesen“, versuche ich ihm zu erklären, ohne Erik ins Spiel zu bringen.
Die Leitung ist wieder wie tot. Dann trifft eine ungeheuerliche Frage an mein Ohr, gepaart mit einem Fetzen Hoffnung: „Bist du nicht mehr mit Erik zusammen?“
Das muss für Tim der Grund sein, warum ich mitten in der Nacht mit ihm telefonieren kann.
Einen Moment weiß ich nicht, was ich antworten soll. Ich möchte ihn nicht verärgern und ich will versuchen, das Beste aus diesem Gespräch für uns herauszuschlagen. Aber ich kann Erik nicht verleugnen.
„Doch!“, raune ich nur.
Wieder scheint die Leitung gekappt zu sein und ich frage nach einiger Zeit: „Tim?“
„Ja!“, höre ich ihn flüstern, wieder mit seiner Stimme kämpfend.
„Macht ihr noch das Musical?“ Ich will ihn von Erik und mir ablenken.
„Diese Woche sind wir noch in Leipzig. Das ist die letzte Tour. Dann komme ich nach Hause.“
Ich frage mich, was für ihn „nach Hause kommen“ heißt. Hoffentlich meint er Wolfsburg. Aber ich kann ihn nicht danach fragen.
„Weißt du schon, was du dann machen wirst?“ Ich versuche einen Plauderton anzuschlagen und Tim raunt unsicher: „Das hängt davon ab.“
Mein Herz stockt und mir liegt auf der Zunge zu fragen: „Wovon hängt das ab?“ Aber ich traue mich nicht, weil ich Angst vor seiner Antwort habe.
Er sagt, weil ich nichts dazu sage: „Vielleicht studiere ich etwas? Wie Julian. Musikwissenschaft oder so.“
Mir stockt fast der Atem. „Wo kann man so etwas studieren?“
Die Antwort ist kurz und bündig: „Bei dir … in Osnabrück, denke ich.“
Oh Gott! Nicht Tim auch noch!
„Und du meinst, das ist was für dich? Spielst du nicht lieber auf Bühnen und in Orchestern mit?“, versuche ich ihn gleich davon abzubringen.
„Das macht man da auch! Aber ich weiß halt noch nicht. Kommt auch darauf an.“
Wieder liegt mir die Frage auf der Zunge: Worauf kommt es an? Und wieder schweige ich und erneut setzt eine Stille ein, die unangenehm ist.
Tim räuspert sich und seine Stimme klingt unendlich traurig: „Ach Carolin! Könnte ich doch nur bei dir sein. Wärst du noch in meiner Wohnung und würdest auf mich warten, dann müsste ich das alles nicht tun. Dann könnten wir weggehen und woanders neu anfangen. Bei mir wärst du in Sicherheit. Ich würde dafür sorgen, dass dich keiner findet.“
Sein Kauderwelsch verunsichert mich und lässt mich aufhorchen.
„Bin ich denn nicht in Sicherheit?“, frage ich vorsichtig.
„Nein, nicht solange du nicht bei mir bist. Ich war am letzten Wochenende bei dir. Ich musste dich sehen und ich wollte wissen, ob es dir gut geht und sie dir nichts tun. Und du hast dich denen ausgeliefert … für deine dummen Freunde! Ich hätte dich am liebsten da rausgeholt, aber sie ließen mich nur kurz zu dir. Als ich dich da so liegen sah hat es mir fast das Herz gebrochen. Es war fast so schlimm wie da, wo du mir sagtest, dass du mit diesem Erik zusammen bist.“
Da ist es wieder. Wir sind erneut an dem Punkt angelangt.
„Tim, es tut mir so leid, dass alles so gelaufen ist. Aber ich kann für meine Gefühle nichts. Ich liebe Erik und werde mit ihm zusammenbleiben. Er ist alles, was ich will. Und solange er mich will, wird sich daran nichts ändern.“
Ich halte den Atem an und weiß nicht, was nun passieren wird. Aber nachdem er das mit Erik erneut angesprochen hat, musste ich ihm reinen Wein einschenken. Er muss wissen, dass es keine Hoffnung für uns beide gibt. Und ich weiß, dass ich ihn nicht liebe. Was uns verbindet ist höchstens noch ein Fünkchen Vergangenheit und dass er immer da war, wenn ich seine Hilfe brauchte.
„Sag das nicht. Das kann nicht sein! Sie sagten mir, dass du für mich bestimmt bist. Dass wir ein gemeinsames Schicksal haben …“
Ich schlucke. „Ich bin Doppelträgerin, wie Julian, und wie du wahrscheinlich auch. Das hat mir eine Wahrsagerin erklärt. Wir tragen das Schicksal in uns, das uns miteinander verbindet. Mich mit dir, mich mit Julian. Aber wir haben alle noch ein zweites Schicksal. Und das gehört einem anderen Menschen. Julian hat sein zweites Schicksal gefunden … Michaela! Und ich habe meins, das mich klar mit Erik verbindet. Und für dich gibt es auch ein zweites. Du musst es dich nur finden lassen“, versuche ich ihm klarzumachen.
„Nein!“, faucht er aufgebracht. „Das stimmt nicht! Die haben mir nichts davon gesagt!“
„Weil sie dir nur erzählen, wovon sie meinen, dass du das wissen darfst. Sie werden dir nichts anderes sagen als das, was für sie von Nutzen ist. Aber ich war bei dieser Wahrsagerin und das schon, bevor diese Al Kimiys bei mir aufkreuzten“, versuche ich ihm einzubläuen.
Wieder ist es still in der Leitung und ich höre ein unterdrücktes Schluchzen, das mir doch ans Herz geht. „Du bist mein einziges Schicksal“, schnieft Tim und ich schüttele den Kopf. „Nein, das stimmt nicht. Wir haben alle zwei Schicksale. Ich bin klar mit Erik verbunden. Und du weißt, es ist besser, wenn wir uns alle an unser zweites Schicksal halten.“
Dass ich noch mal so auf diese Schicksalsscheiße von dieser Frau Moinette herumreite hätte ich mir auch nicht träumen lassen.
„Nein, ich will das nicht! Und sie wollen auch nicht, dass du mit dem zusammen bist. Ich brauche bloß warten und sie werden das Regeln, dass du ihn nicht mehr willst. Und dann überlege es dir bitte noch mal. Ich flehe dich an! Wir gehören zusammen und ich will, dass du wieder zu mir zurückkommst. Du bist bisher immer wieder zu mir zurückgekommen.“ Mit jedem Satz wird seine Stimme dumpfer. „Und ich werde dafür kämpfen, dass du wieder bei mir sein wirst. Und wenn du nicht willst, werde ich dich holen“, knurrt er den letzten Satz.
„Tim, bitte!“, versuche ich ihn umzustimmen und stelle mit Entsetzen fest, dass mir nur noch ein Besetztzeichen entgegentönt.
Ich starre auf das Handy und frage mich, was passiert ist. Vielleicht wurden wir versehentlich getrennt und er ruft gleich wieder an. Aber nichts passiert und ich lege das Handy auf das Nachtschränkchen. Zehn Minuten will ich ihm geben, dann will ich den Anruf aus der Liste löschen und werde das Handy ausschalten.
Meine Armbanduhr zeigt mir an, dass es fast zwei Uhr ist. Jeden Moment kann Erik wiederkommen.
Ich lege mich in sein Kissen zurück und atme seinen Geruch ein. In mir steigt der Wunsch hoch, mich in seine Arme zu schmiegen und ihn zu spüren. Und die Zeit vergeht und Tim ruft nicht zurück.
So nehme ich das Handy wieder, lösche den Anruf daraus und schalte es aus. Es wieder in meine Schublade verstauend, habe ich nicht das Gefühl, dass mein Telefonat wirklich eine Hilfe für uns war. Ich kann nur hoffen, dass Erik davon nie erfährt.
Tims Worte schleichen sich immer wieder in meinen Kopf und hindern mich am Einschlafen. Sie werden das Regeln, dass ich nicht mehr mit Erik zusammen sein will? Wie? Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Aber Tim klang da zuversichtlich.
Ich wälze mich im Bett hin und her und liege wach, bis endlich die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Mich tiefer in seine Decke kuschelnd, warte ich, bis Erik ins Schlafzimmer kommt. Aber es dauert. Scheinbar geht er erst ins Badezimmer und dann in die Küche. Erst dann kommt er ins Schlafzimmer und sieht mich verwundert an. „Hallo, Schatz! Du bist ja wach!“, raunt er und ich sehe ihn von oben bis unten an, ob er irgendwelche Verletzungen oder zerrissene Klamotten aufweist. Seit er in Hamburg so zusammengedroschen wurde, habe ich das Gefühl, Erik passiert so etwas immer wieder, wenn ich nicht bei ihm bin.
Mein zweiter Gedanke gilt einem Knutschfleck, den ich aber nirgends ausmachen kann und ich schüttele über mich selbst den Kopf.
„Ich mache die Musik aus“, sagt er und kehrt in das Wohnzimmer zurück.
Dass er nicht zu mir kommt und mir einen Kuss gibt, macht mich stutzig. Und er wirkt nicht betrunken.
Die Musik geht aus, und das Licht im Wohnzimmer. Auch das Licht im Schlafzimmer löscht er, als er wieder zurückkehrt und ich mache die Nachttischlampe an.
Er kommt unsicher auf mich zu und ich werde noch misstrauischer.
„Hey, ich dachte du schläfst schon“, raunt er erneut und beugt sich über mich, mir einen Kuss gebend.
„Ich konnte nicht mehr schlafen, nachdem du mich angerufen hast“, antworte ich und er beginnt sich auszuziehen.
Ich beobachte ihn dabei und sehe ihn mir so genau an, wie das wenige Licht der Nachttischlampe es zulässt.
„Du liegst in meinem Bett“, raunt er und lacht leise und ich sehe seine Augen dunkel funkeln.
„Ja, ich fühlte mich einsam“, antworte ich ihm und er schiebt sich unter die Decke.
„Und, wie war´s?“, frage ich.
„Gut! Rene und David wollten wissen, was damals passiert ist, als ich nicht mehr zur Schule kam, und ich habe ihnen die ganze Story erzählt.“ Erik zieht mich in seinen Arm. „Aber … Schatz! Die beiden waren nicht allein gekommen. Sie hatten einen Bekannten mitgebracht. Der war eigentlich erst ganz lustig und locker drauf …“
Wie er den Typen erwähnt, das macht mich stutzig und ich sehe ihn an. Etwas stimmt nicht an ihm. Und er weicht meinem Blick aus.
„Ja?“, frage ich lauernd, weil ich das Gefühl habe, da kommt noch etwas Unerfreuliches nach.
„Gerrit heißt der. Und Rene kennt ihn erst seit kurzem.“
Erik druckst herum und das kenne ich von ihm nicht. Ich drücke mich aus seinem Arm und setze mich auf, was ihn noch unsicherer werden lässt.
„Erik, sag was los ist“, knurre ich und kann mir auf die Art, wie er von dem Typen spricht, keinen Reim machen. Wenn dieser Gerrit ein Weib wäre, wüsste ich was nun kommt.
„Poor, Schatz. Ich hoffe, du bist mir nicht böse“, sagt Erik und streicht mir mit dem Finger über den Arm.
Ablenkungstaktik.
„Erik!“, knurre ich und spüre den Druck in meinem Magen. „Was ist los?“
Erik antwortet nicht sofort und der Druck wird unerträglich. Dann sagt er: „Dieser Gerrit hatte Speed dabei und die haben mich echt bedrängt. Es war wirklich nur als Spaßmacher gedacht. Nur so just for fun.“
Ich bin sprachlos. Das ist, was in dem diffusen Licht nicht an ihm stimmt. Seine Augen!
Okay. Er hat wieder was genommen. Aber wenn es mehr nicht ist? Ich rechnete mittlerweile mit Schlimmeren.
„Schatz?“, fragt Erik verunsichert und ich raune: „Und das war´s?“
Er scheint irritiert zu sein. „Was heißt, das war´s? Ich dachte, das ist schon schlimm genug?“
„Wenn es nicht wieder mehr wird als mal … so just for fun, wie du sagst“, murre ich.
„Natürlich nicht!“, sagt er und fügt hinzu: „Es war schon komisch. Ich habe mich sonst mit dem Zeug immer unglaublich wohl gefühlt und meinte, ohne nicht stark genug zu sein und unfähig, mein Leben meistern zu können. Aber heute …“ Er sieht mir in die Augen und stützt sich auf den Ellenbogen ab. „Ich bekam echt so was wie eine Panikattacke. Deshalb habe ich dich angerufen. Ich hatte auf einmal das schreckliche Gefühl, nicht genug auf die Reihe zu bekommen, wenn es nötig ist. Und ich musste wissen, ob es dir gut geht. Ich hatte voll die Angst, dass ich nicht mehr fähig bin, klar zu denken und zu handeln. Schon verrückt!“
Erik im Drogenrausch … und gesprächig. Ich schließe kurz die Augen. Fast hatte ich das ein wenig vermisst. Aber nur ein wenig, denn er redet jetzt auch schon ohne Drogen mehr über sich und seine Gefühle.
„Ich sage ja! Bitte mach das nur mal, wenn du losgehst. Alleine losgehst. Dann kann ich damit leben.“
Seine Hand legt sich in meinen Nacken und er zieht mich erleichtert zu sich herunter und küsst mich. Als er mich wieder loslässt, weil er meine Gegenwehr spürt, sieht er mich fragend an. „Aber etwas sauer bist du schon?“, raunt er.
„Nicht wirklich! Ich habe nur ein bisschen Angst, dass du wieder rückfällig wirst.“
„Ach Schatz! Blödsinn!“
Ja, das sagt er jetzt.
Mir kommt ein anderer Gedanke. Etwas, auf das Tim mich gebracht hatte und das in meinem Hinterkopf mittlerweile wohl einige Gedankengänge zusammenfügte, die jetzt plötzlich hochpeitschen.
„Nicht das dir das so ergeht wie Marcel, und dir jemand so einen reinwürgt wie seine Ex das mit ihrer Aktion gemacht hat … und du mit deiner Sabrina.“
Erik sieht mich verständnislos an. „Was? Wie meinst du das?“
Ich formuliere vorsichtig meine Gedanken, die mir selbst neu sind und sich scheinbar erst aus meinen tiefsten Gehirnwindungen emporwühlen müssen. „Naja, sie setzen jemanden auf dich an, der dir Drogen aufdrängt … und was weiß ich noch alles.“
„Wozu soll das gut sein?“, fragt Erik murrend. Sein Kopf erfasst nicht, was ich ihm damit sagen will und was das mit Marcel zu tun haben soll.
„Um uns zu trennen! Ein paar Drogen hier … ein paar Mädels da … vielleicht noch ein paar Bilder dazu … und das war´s.“, sage ich und spüre, dass mich meine eigenen Gedanken überrollen und mein Magen zu schmerzen beginnt und mich Übelkeit beschleicht.
Und in Eriks Gesicht sehe ich, dass er langsam versteht, was ich ihm zu verstehen geben will.
Er setzt sich auf und schüttelt bedächtig den Kopf. „Mädels? Da waren keine!“, brummt er, aber ich höre wie betroffen ihn etwas macht. „Aber …“
Mir stockt der Atem. „Aber?“
„Ich bin nach Hause gegangen. Aber dieser Gerrit und meine Kumpels sind noch weitergezogen. Ich sollte mit! Aber ich hatte keinen Bock auf nackte Ärsche und Titten.“
Ihm muss in dem Moment seine eigene Ausdrucksweise erschrecken. „Sorry! Die wollten in eine Table Dance Bar. Gerrit wollte, dass ich mitgehe …“ Als fiele ihm etwas Schreckliches ein, knurrt er: „Scheiße!“, und sieht mich aufgebracht an.
Ich bin sprachlos. Mein Herz schmerzt bei dem Gedanken, dass er sich doch mit einer anderen eingelassen haben könnte und alles zerstört hat. Mein Magen beginnt zu krampfen und ich lege meine Hand beruhigend darauf, stehe schnell auf und gehe aus dem Schlafzimmer.
Dass es um mich herum duster ist, merke ich gar nicht. Ich muss nur weg. Luft holen! Mich fangen! Sie hatten es also getan. Und Tim hatte es mir gesagt. Und ich habe es nicht gleich geschnallt. Und Erik? Hatte er sich auf irgendwas eingelassen?
In meinem Kopf rotiert, dass er sagte, er wäre nicht mitgegangen.
Noch bevor ich die Badezimmertür erreiche, umfasst seine Hand meinen Arm und er zieht mich zurück.
„Hey, Schatz!“, stammelt er. „Ich schwöre dir, da ist nichts gewesen! Gar nichts! Mich kann kein Mädel locken. Ich bin doch auch nicht mitgegangen. Bitte!“
„Versprichst du mir, dass keine Bilder oder sonst was auftauchen werden?“, frage ich niedergeschlagen, weil mich der Gedanke schon fertigmacht.
Kurz scheint er irritiert. „Sicher! Da war nichts! Bitte glaub mir! Nur die Drogen. Und bitte sei mir deswegen nicht böse. Ich verspreche dir, dass ich nicht rückfällig werde.“
Erik muss plötzlich aufgehen, wie schnell alles zu Ende sein kann.
Ich ziehe meinen Arm aus seiner Umklammerung und nicke. Das ungute Gefühl bleibt und ich gehe ins Badezimmer und schließe die Tür hinter mir zu. Ich brauche eine Minute für mich, weil ich nachdenken muss.
Mich auf die Toilette setzend, streiche ich mir durch das Gesicht.
Verdammt! Das ist es also, was sie tun können. Vielleicht war das heute nur ein Zufall. Aber wenn sie es drauf anlegen, können sie Erik eine ganze Horde gutgebauter, wunderschöner Mädels auf den Hals schicken und sämtliche Drogendealer der Stadt. Ich muss, wenn er wieder klar denken kann, mit ihm nochmals darüber sprechen. Was er jetzt wirklich versteht, kann ich nicht beurteilen und ich weiß, dass mich einfach der Gedanke nicht loslassen will, dass er mir nicht die ganze Wahrheit sagt. Vielleicht war er doch mit in der Bar gewesen und morgen bekomme ich schon die ersten Bilder vor die Tür gelegt. Spät genug ist es dafür geworden.
Während ich spüle und mir die Hände wasche, weiß ich, dass ich stark sein muss. Ich darf dann nicht überreagieren. Aber kann ich das? Wenn ich doch bloß mehr vertrauen in Erik hätte. Und dass ich das nicht habe, entsetzt mich zutiefst. Ich sollte über allem stehen, bis ich eines Besseren belehrt werde.
Als ich aus dem Badezimmer komme, steht Erik nur mit seiner Boxershort bekleidet am Fenster und raucht eine Zigarette. Er dreht sich sofort um und sieht mich an.
Ich schüttele den Kopf. Die scheiß Drogen machen ihn wieder unempfindlich gegen alles.
„Verdammt, Erik! Willst du dir den Tod holen?“, zische ich und ziehe ihn vom Fenster weg. Schnell schließe ich es und sperre die kalte Nachtluft aus. Mich überkommt ein Schauer, der mir eine Gänsehaut über den Rücken treibt.
Er hält seine Zigarette hoch, als würde das doch alles erklären.
Ich nehme sie, gehe in die Küche und lasse Wasser darüber laufen.
Erik steht da, als hätte ich ihn ausgeschaltet. Nur sein Blick verfolgt mich und ich sehe in dem Licht der Wohnzimmerlampe seine Augen, die nur einen winzigen braunen Rand haben.
„Carolin! Ich bin ein Trottel“, raunt er.
Jedes seiner Worte in diese Richtung lässt sofort meinen Magen wieder rebellieren, weil ich mir denke, jetzt kommt seine Beichte, dass da doch ein Bild mit einem Mädel auftauchen kann. Aber ich habe das Gefühl, es nicht zu überstehen, wenn er mir jetzt derartiges beichtet.
„Komm, lass uns schlafen gehen. Morgen sehen wir weiter“, flüstere ich mit den immer wieder hochpeitschenden Gefühlen kämpfend.
Mit mir stimmt heute auch etwas nicht. Wo ist mein Vertrauen in Erik hin? Warum traue ich ihm das Schlimmste zu? Sollte ich nicht fest daran glauben, dass nichts unsere Liebe erschüttern kann!
Ich weiß plötzlich, dass die Al Kimiys schon einen kleinen Sieg davontragen und Tim sich freuen kann.
Im Bett zieht er mich an sich. Doch mehr will ich nicht. Als er mich küsst, beende ich den Kuss schnell und als er mich beginnt zu streicheln, halte ich seine Hand fest.
„Schlafen wir“, raune ich nur und weiß, das muss ihm durch Mag und Bein gehen. Noch nie hatte ich ihn so rüde zurückgewiesen.
„Schatz …!“, knurrt er widerwillig. „Ich liebe dich und habe nichts gemacht. Bitte!“
„Lass uns schlafen und morgen reden wir weiter. Ich bin nur etwas durcheinander und du vollgepumpt mit Drogen. Es bringt jetzt nichts. Also bitte!“, antworte ich ihm niedergeschlagen. Ich kann nicht ertragen, dass er leidet. Aber hier und heute finden wir keinen gemeinsamen Nenner mehr. Morgen will ich ihm in die Augen sehen und ihn noch mal fragen, ob ich mich auf etwas vorbereiten muss, dass sie gegen ihn verwenden können. Und wie er dann reagiert, wird mir hoffentlich die Möglichkeit geben, wieder Vertrauen in unsere Sache zu bekommen.