Читать книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 4
Eine seltsame Begegnung
ОглавлениеIch kann in der Nacht nicht schlafen. Ständig schwirren mir die Geschichten von dem Professor, Julian und meinen Eltern durch den Kopf. Dazu kommt das, was mein Kopf selbst produziert, und das ist nicht unerheblich. Schließlich bin ich ein Geschöpf mit unermesslichem Reichtum an Fantasie. Das zumindest behauptet meine Deutschlehrerin, der meine Aufsätze meist zu fantasievoll sind.
Als ich am Morgen aus dem Bett krabbele, fühle ich mich, als hätte mich der Schulbus überrollt. Die Stimmung am Frühstückstisch ist auch nicht gerade erhebend und ich sehe meinen Eltern an, dass sie eine diskussionsreiche Nacht hinter sich haben. Sie scheinen um Jahre gealtert zu sein.
Mir ist an diesem Morgen der Professor irgendwie egal. Sein Anfall sieht nun, im Licht eines neuen Tages, kaum mehr erschreckend aus und ich mache mir keine weiteren Sorgen. Ganz im Gegenteil. Ich bin mir sicher, dass man mir den Alten vom Hals halten wird. Warum sonst hatte die Schule es für nötig gehalten, meine Eltern zu informieren und ihnen zu versprechen, dass so etwas nicht wieder vorkommt.
„Hast du gut geschlafen?“, höre ich die besorgte Frage meiner Mutter, und der Kopf meines Vaters fährt so ruckartig aus dem Papier der Tageszeitung hoch, dass mich sofort wieder ein seltsames Gefühl beschleicht.
„Eigentlich schon“, antworte ich vorsichtig.
Ich registriere den Blick, den meine Eltern sich zuwerfen.
„Du siehst aber etwas blass aus“, meint meine Mutter skeptisch.
Ich schüttele nur genervt den Kopf. Es hat sich eigentlich nichts verändert und doch tut sie so, als hätte ich eine lebensbedrohliche Krankheit und müsse unbedingt von allem schlechten dieser Welt abgeschirmt werden.
„Du sagst uns doch, wenn dich etwas bedrückt oder ängstigt … oder du schlecht schlafen kannst. Wir sind immer für dich da.“
Ich sehe meine Mutter aufgebracht an. Dann meinen Vater. Aber ich sage nichts dazu. Offenbar haben sie völlig vergessen, dass ich schon siebzehn bin.
Julian schlurft in die Küche und wirft seine Schultasche auf den Stuhl neben mir. Ich kann gerade noch den Arm wegreißen, als Papa ihn schon anpflaumt: „Mensch, pass doch ein bisschen auf. Carolin hat nicht so gut geschlafen!“
Als wenn das ein Stichwort ist, sieht mein Bruder mir verunsichert ins Gesicht.
Das ist doch wirklich zu blöd. Sind hier jetzt alle übergeschnappt?
Ich stehe auf und gehe kopfschüttelnd ins Badezimmer. Da habe ich wenigstens ein bisschen Ruhe vor den Irren da draußen.
So bin ich auch froh, als ich das Haus endlich verlassen kann. Eigentlich viel zu früh.
Der Weg zu unserer Bushaltestelle ist so lang, dass ich ihn üblicherweise mit dem Fahrrad bewältigte. Da ich aber viel früher als sonst bin, gehe ich zu Fuß. So entgehe ich wenigstens den Sprüchen meines Bruders, der bestimmt zehn Minuten später mit dem Fahrrad folgen wird.
Wir besuchen zwar unterschiedliche Schulen, müssen aber bei der gleichen Bushaltestelle in den Schulbus einsteigen. Ein Umstand, der mich heute mehr nervt als sonst. Aber da der Winter vorbei ist, wird Julian bestimmt bald wieder regelmäßiger mit dem Fahrrad zum Gymnasium fahren. Das hoffe ich zumindest.
Die frische Luft ist herrlich, und das Zwitschern der Vögel lässt meine Laune wieder etwas steigen. Die Sonne strahlt schon so hell, dass es ein schöner Tag zu werden verspricht und auf einem Feld kann ich die fünf Rehe sehen, die sich in den Wäldern der näheren Umgebung aufhalten. Sie sehen kurz auf und grasen dann unbekümmert weiter.
Ich bin stolz darauf, dass die grazilen Tiere keine Angst vor mir haben und sehe schon in einiger Entfernung die Bushaltstelle, in der aber noch niemand wartet. Ein Blick zurück sagt mir, dass Julian auch noch nirgends auftaucht.
Zu meinem Erstaunen komme ich sogar noch vor Julian an der Bushaltestelle an und frage mich, ob er heute schon das erste Mal mit dem Fahrrad direkt zur Schule gefahren ist.
Im selben Augenblick trifft auch Christiane ein, die morgens immer von ihrer Mutter gebracht wird.
„Hi!“, knurrt sie mürrisch, wie jeden Morgen. Christiane ist notorisch immer schlecht gelaunt.
Wir setzen uns auf die leere Bank des Bushäuschens und sie fragt mit einem Blick auf den leeren Fahrradständer: „Bist du etwa zu Fuß?“
Ich nicke.
„Du bist ja wohl total verrückt!“, keift sie kopfschüttelnd und sieht mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.
Christiane lässt sich meistens bringen, um nicht mit dem Fahrrad fahren zu müssen. Niemals würde sie freiwillig ihren Weg zur Bushaltestelle zu Fuß bewältigen, obwohl er sogar kürzer als meiner ist.
Sie murrt schnippisch, weil ich nichts dazu sage: „Das hätte ich nicht getan. Jetzt siehst du aus, als hättest du einen Tausendmeterlauf hinter dir. So würde ich mich in der Schule nicht blicken lassen.“
Soll ich ihr sagen, dass ich die halbe Nacht wach gelegen habe?
„Danke“, antworte ich ihr stattdessen, die Gekränkte spielend. Aber eigentlich ist mir Christianes morgendliches Geplänkel egal. Sie hat fast jeden Morgen schlechte Laune.
Julian kommt in diesem Moment die Straße hochgeradelt. Er hat es sehr eilig, wie mir scheint. Warum sehe ich im selben Augenblick, als der Bus sich der Haltestelle nähert.
„Ist der Bus zu früh oder ist Julian zu spät?“, frage ich Christiane, die ohne zu antworten aufsteht und Julian zuruft: „Hau rein, du lahme Socke!“
Wir steigen in den überfüllten Bus und Julian hechtet hinter uns her. Ich höre ihn etwas von „durchgeknallten Eltern“ murmeln und sehe, wie er sich neben einem Jungen in den Sitz wirft. Ich und Christiane müssen stehen.
Christiane ist an diesem Morgen wieder einmal mehr als üblich schlecht mit sich und ihrer Umwelt zufrieden. Sie schimpft über den Busfahrer, der etwas zu rasant die Kurven nimmt und winkt ihrer Cousine zu, die weit hinten im Bus sitzt, mit den an mich gerichteten Worten: „Die Doofe könnte uns ja auch mal einen Platz freihalten.“
Mir ist warm. Einerseits von dem Marsch, andererseits von den mittlerweile im Gang dicht gedrängten Schülern. So bin ich froh, als wir den Bus an der Schule endlich wieder verlassen können. Dort gesellen sich die anderen Mädchen aus Christianes Klasse zu uns und wir umarmen und drücken uns kurz.
Als der Bus an uns vorbeizieht, sehe ich auf und mein Blick trifft auf Julian, der nun am Fenster sitzt und in seiner Tasche wühlt. Er fährt weiter bis in den Nachbarort, in dem das Gymnasium seinen Sitz hat und liest bestimmt bis dahin in einem seiner Schulbücher oder lernt etwas anderes.
Er ist ein unglaublicher Streber, immer darauf bedacht der beste zu sein.
Christianes Cousine eilt mit einigen ihrer Freundinnen auf uns zu, packt mich und reißt mich zu sich herum. Erschreckend aufgedreht reden alle auf mich ein, dass ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Und so schnell, wie sie uns überfielen, verschwinden sie auch schon wieder. Kichernd machen sie sich auf den Weg zur Realschule.
„Was war los? Was wollten die?“, fragt Christiane.
Ich habe keine Ahnung und ziehe nur die Schultern hoch. Irgendein Junge hatte angeblich irgendwen über mich ausgefragt. Mehr hatte ich nicht verstanden.
Den gesitteten und weniger aufgedrehten Gesprächen von Christianes Mitschülern kann ich da schon besser folgen.
Langsam gehen wir auf die Schulen zu. Dort wird es dann heißen, sich zu trennen. Denn ich bin von dem Trupp die Einzige, die zur Hauptschule muss.
Es klingelt schon zur ersten Stunde und wir verabschieden uns mit einer Umarmung. „Bis zur Pause“, sagt Christiane und lächelt kurz aufmunternd. Sie weiß, dass ich nicht gerne in diese Schule und diese Klasse gehe. Aber durch unseren Umzug damals, und meine schlechten Noten, war mir nichts anderes übriggeblieben als in die Hauptschule zu gehen.
„Bis dann“, erwidere ich und sehe ihnen kurz hinterher, bevor ich meinen eigenen Weg antrete. Nur noch ein paar Monate und ich werde diese Schule verlassen. Was ich dann tun soll, weiß ich allerdings noch nicht.
Ich gehe über den Lehrerparkplatz auf den Schulhof der Hauptschule zu. Dabei versuche ich meinen Tagesablauf auf die Reihe zu bekommen, der irgendwie in meinen tieferen Gehirnwindungen steckengeblieben zu sein scheint. Ich habe das Gefühl, als wäre ich noch gar nicht wirklich hier. Zumindest nicht mit dem Kopf. Der scheint noch wie ausgeschaltet.
Plötzlich überkommt mich ein seltsames Gefühl.
Ich brauche einige Sekunden, bis ich das als Unruhe definiere, die sich durch mein Innerstes schleicht.
Verstohlen sehe ich mich um und mein Blick bleibt an einer Gestalt hängen, die an einem der Bäume lehnt, die den Schulhof umsäumen. Es ist ein Junge, der mich genauso anstarrt, wie ich ihn anstarre.
Er trägt eine Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Kappe auf seinen kurzen, dunklen Haaren.
Da mein Weg mich direkt an ihm vorbeiführt und es keine Ausweichmöglichkeit gibt, atme ich tief ein und versuche mein unruhig pochendes Herz zu beruhigen. Auf meine Füße sehend, konzentriere ich mich angestrengt darauf nicht zu stolpern. Ich glaube immer noch seinen Blick zu spüren und das verunsichert mich schrecklich.
Als ich näherkomme, sehe ich kurz noch einmal auf, immer noch das brennende Gefühl im Magen.
Tatsächlich starrt mich der Junge immer noch aus schwarzen Augen an, als wolle er mich durchleuchten.
Schnell sehe ich wieder zu Boden. Mein Herz schlägt jetzt wild gegen meine Brust und ich finde es echt lächerlich, dass mich dieser Typ so aus der Fassung bringt.
Und dann höre ich ihn, als ich auf seiner Höhe bin, leise „Hallo!“ sagen.
„Hallo!“, entfährt es mir irritiert und ich gehe schnell weiter. Ich wünsche mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher als Christiane an meiner Seite. Mit ihr fühle ich mich nicht ganz so hilflos und so einer würde mich nicht anquatschen.
Ich bin froh, als ich beim Schulgebäude aus seinem Blickfeld verschwinden kann.
In der Aula der Schule ist der Junge schnell vergessen, denn der Rektor kommt mir schon entgegen und begrüßte mich freundlich. Ein wenig zu freundlich.
Ich sehe mich erschrocken um, ob das auch keiner mitbekommen hat. Denn wenn einem am Morgen schon der Rektor mit offenen Armen empfängt, dann kann das nichts Gutes heißen. Außerdem wirft das immer ein schlechtes Bild auf einen Schüler, wenn es so aussieht, als wäre man Best Friend mit dem Schuldirektor.
Ich werde von ihm in sein Zimmer geleitet und muss mich sogar setzen.
Sofort beteuert er mir, dass die Geschichte mit dem Professor nicht wieder vorkommen wird und wie froh er ist, dass ich alles nicht so ernst nehme.
Ich starre ihn nur an.
Außerdem soll ich jederzeit zu ihm kommen, wenn ich irgendein Problem habe, und ich kann ihn auch jederzeit anrufen, wenn mich etwas bedrückt.
Puh!
Er drückt mir eine Karte in die Hand, mit seiner Nummer von der Schule und seiner Privatnummer. Außerdem ist meine Klassenlehrerin auch immer für mich da, vergisst er nicht zu erwähnen.
Ich bin froh, dass ich endlich gehen kann. Natürlich komme ich zu spät zum Unterricht. Aber als ich reumütig die Tür öffne und darauf warte, dass unser wenig netter Mathelehrer mir die Hölle heiß macht, höre ich nur ein freundliches: „Nah, da ist ja auch unsere Carolin.“
Ich setze mich verdattert. Was ist denn in den gefahren? Und seine Carolin bin ich schon mal gar nicht. Ich würde es natürlich sofort werden, wenn er mir in der nächsten Mathearbeit eine Zwei, statt einer Fünf gibt. Aber da sehe ich keine Chance.
Ansonsten verläuft der Vormittag wie immer, bis auf die Kleinigkeit, dass die Lehrer plötzlich überschäumen vor Nettigkeit.
In den Pausen ertappe ich mich mehrmals dabei, wie ich nach dem Jungen Ausschau halte, dem ich am Morgen begegnet war. Aber ich sehe von ihm nichts und bin mir sicher, ihn auch noch nie vorher hier irgendwo gesehen zu haben.
Am Nachmittag verabrede ich mich mit Christiane. Ich habe beschlossen, sie ein klein wenig in den Wirrwarr von Geschichten einzuweihen, die mich so plötzlich überrollt haben. Außerdem bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass ich auf diese Weise vielleicht auch mal etwas über die Geschichte von damals erfahre, was nicht den Ausflüchten meiner Eltern, dem irren Gebrabbel eines alternden Professors oder den Erinnerungen meines Bruders aus frühster Kindheit entspringt. Christianes Eltern wissen bestimmt auch etwas darüber. Schließlich wohnt ihre Familie schon ewig hier.
Doch als wir am Nachmittag in unserem Kornspeicher, einem großen alten Nebengebäude auf unserem Grundstück, dessen Erdgeschoss unser Partyraum ist, auf den alten Sesseln lümmeln und ich ihr ein paar Brocken von der Geschichte von diesem Kurt vorwerfe, reagiert sie nur mit heftigem Desinteresse.
„Poor, was früher war? Was weiß ich denn? Und von der Geschichte wegen diesem Haus? Ach, ich glaube, das ist alles Quatsch. Mein Vater sagt das auch.“ Damit scheint für sie das Thema erledigt zu sein.
Doch ich gebe nicht so schnell auf. „Was denn für eine Geschichte wegen diesem Haus?“, frage ich, als wüsste ich gar nichts von den Gerüchten oder hätte alles vergessen.
Und dann überrascht Christiane mich wieder einmal aufs Schärfste. Ihr rechtes Bein lässt sie lässig über die Sessellehne baumeln und sagt, als spräche sie über das Brotbackrezept ihrer Oma: „Papa hat mal so was erzählt. Ich fragte ihn mal, das war noch bevor ihr hierhergezogen seid, warum das Haus immer noch leer steht und er meinte, dass hier einige glauben, dass in dem Haus Leute umgebracht wurden. Das fand ich erst ganz interessant. Aber Papa wollte mich nur verulken. Er sagte, man hätte früher mal jemanden hier verbrannt und der wäre dann als Geist über die hergefallen, die das Haus nach ihm bewohnten. Eine Mutter und ihr Kind sollen hier gestorben sein. Mama hat gleich gesagt, dass alles gelogen ist und Papa mir nur Angst machen will. Und dann hat er auch gesagt, dass alles nur auf dummes Geschwätz beruht und die Menschen sich so was nur ausdenken, um dummen Leuten etwas interessant erscheinen zu lassen.“
Das hatte Christianes Vater gut eingefädelt. Hätte Christiane ihn weiter ausfragen wollen, hätte sie sich gleich als dumm abstempeln können.
Ich glaube, dass sie mich auch für dumm halten wird, weil ich auf so eine Geschichte hereingefallen war. Sie weiß ja nichts von den Hintergründen und ich überlege, was ich ihr noch alles sagen soll. So hole ich erst einmal aus dem alten Schrank eine Flasche Limonade, die noch von der letzten Karnevalsfeier übriggeblieben ist, und zwei Plastikbecher.
„Glaubst du etwa an den Quatsch?“, fragt Christiane da auch schon und sieht mich mit forschem Lächeln an, das mir zeigt, was ich zu hören bekomme, wenn ich das bejahe.
So lasse ich es lieber und versuche es auf einem anderen Weg.
„Ach weißt du, eigentlich nicht, obwohl, gestern hatten wir Vertretung bei so einem alten Professor und der hat mich nach der Stunde zu sich gerufen, als alle andere schon gingen. Ich sage dir, der war vielleicht verrückt! Der sagte mir, er sähe genau, dass ich von diesem Kurt abstamme, der hier verbrannt wurde und dass er glaubt, dass ich auch so wie dieser Kurt bin und er mich verbrennen will, sobald er das beweisen kann“, sage ich so ganz nebenbei.
Ich sehe an Christianes Blick, dass ich ihr gerade das Verrückteste erzählt habe, was sie je gehört hat. Ihr Mund steht weit offen und ihre Augen sind so groß wie Wagenräder.
„Du spinnst!“, bringt sie entsetzt hervor.
„Nein, im Ernst! Dann musste ich heute Morgen zum Rektor und mir eine Predigt anhören, dass dieser Professor nie mehr in meine Nähe gelangen wird. Toll was? Dabei kann doch keiner darauf aufpassen, ob so ein alter, durchgeknallter Opa sich irgendwo auf mich stürzt, um aus mir eine lebende Fackel zu machen.“
Ich wählte diese Worte extra so, um Christiane ein wenig zu schocken, und genau das erreiche ich auch.
„Mensch Carolin, du willst mich doch jetzt verschaukeln?“, raunt sie aufgebracht und setzt sich auf.
„Nein, ich schwöre, so war’s! Deshalb habe ich dich gefragt, ob du was von der Geschichte von früher weist?“, und nicht, weil ich dumm bin, füge ich besser nicht hinzu. Denn ich bin mir selbst nicht ganz sicher, ob ich nicht langsam dem Ganzen zu viel Aufmerksamkeit entgegenbringe.
Christiane sitzt nun nicht mehr locker im Sessel, sondern kerzengrade auf der vordersten Kante, als wolle sie gleich aufspringen und weglaufen.
„Du meinst, das ist alles wirklich hier passiert und dieser Lehrer will dir deswegen an den Kragen?“
Ich hebe unwissend die Schultern. Schließlich weiß ich doch auch nicht genau, was der Alte von mir wollte. Aber zumindest habe ich Christiane jetzt da, wo ich sie haben will.
„Aber kannst du vielleicht etwas darüber herausbekommen?“, frage ich sie und sie nickt, sich schaudernd umsehend.
Nun ist sie diejenige, die voll auf die Geschichte anspringt. „Wenn das stimmt, dann sind hier wirklich Menschen ermordet worden … von einem Geist!“ Sie schüttelt sich und sieht gar nicht mehr gut gelaunt und über die dumme Geschichte ihres Vaters erhaben aus.
„Ich kenne nur die Story von meinem Ururgroßvater, der einige Jahre in Ägypten war und von dort irgendwelche seltsamen Praktiken mitgebracht haben soll. Als ein Mädchen in der Gegend starb … oder verschwand, hat man diesen Mann angeblich verbrannt, weil man ihn für einen Hexer hielt. Mehr weiß ich auch nicht.“
„Poor, das ist ja alles voll gruselig. Und das war dein Urgroßvater? Dann ist das doch noch gar nicht so lange her?“
„Doch! Mindestens fünfzig Jahre. Und das war mein Ururgroßvater.“
Christiane sieht mich wieder mit weit aufgerissenen Augen an. „Unglaublich, dass der alte Lehrer davon noch etwas weiß? Das ist doch schon Urzeiten her!“ Sie lässt sich zurück in ihren Sessel fallen.
Wir sehen uns eine Zeit lang unschlüssig an und scheinen beide auf etwas zu warten. Plötzlich flüstert Christiane: „Ist ja doch etwas gruselig. War der denn schuld wegen dem Mädchen?“
Ich ziehe die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Aber ich glaube nicht, dass er als Geist in unserem Haus herumspukt.“
Christiane setzt sich wieder auf und sieht mich verunsichert an. „Papa meint, dass hier schließlich auch noch mehr Leute gestorben sind. Aber ich weiß auch nicht genau. Ich habe nicht weiter nachgefragt. Aber er sagte etwas von einer Frau und einem Kind. Vielleicht meinte er aber auch das Mädchen?“
„Also interessieren würde mich die ganze Geschichte schon. Ich meine, so Sherlock Holms mäßig“, erwidere ich und hoffe inständig, Christiane stimmt mir zu.
Mit leuchtenden Augen starrt sie mich einen Augenblick unschlüssig an. Dann ruft sie wie aus der Pistole geschossen: „Echt, mich auch. Ich muss Papa noch einmal fragen. Der hält sich doch immer für so schlau.“
Ich beglückwünsche mich und bin irgendwie unendlich froh, dass ich Christiane nun auf meiner Seite habe. Es ist beruhigender, wenn man nicht allein mit seiner Angst vor der Vergangenheit dasteht. Und dass ich doch etwas Angst habe, das wird mir jetzt erst richtig bewusst.
Es ist schon toll, wie sehr Christiane sich für das Thema begeistern kann.
Wir treffen uns täglich in unserem Kornspeicher und legen sogar ein Buch an, in dem wir alles aufschreiben, was wir herausfinden.
Christiane hatte ihren Vater noch einmal auf die Geschichte dieses Hauses angesprochen und nur zu hören bekommen, dass sie sich um ihre Schulsachen kümmern soll, statt sich mit anderem Blödsinn zu beschäftigen. Sie meinte, dass er darüber wohl nicht mehr sprechen will, weil wir nun dieses Haus des Schreckens bewohnen. Natürlich kann er sich ausmalen, dass sie mir darüber Bericht erstatten wird, und das ist wohl nicht in seinem Sinne. Sie war richtig wütend darüber und schimpfte über ihn und schallt ihn einen Feigling.
Mich wundert es fast, dass er ihr den Umgang mit mir nicht verbietet.
Also haben wir bisher nur das, was der Professor und Julian von sich gaben. Das Gequatsche meiner Eltern hatte dem nichts Neues hinzugefügt. Mehr haben wir noch nicht und dass, obwohl wir schon Stunden damit zugebracht hatten, in der Schulbibliothek und im Internet nachzuforschen. Wir fanden nichts, außer in einer Familienchronik über Ankumer Familien den Namen Rosa und Ewald Gräbler und deren Kinder Kurt, Marie, Josefine, Hans und Heinrich. Die Schwestern von Kurt Gräbler hatten scheinbar keine eigenen Familien. Von dem Bruder Heinrich fanden wir eine Heiratsurkunde mit seiner Frau Maria und eine Geburtsurkunde seines Sohnes in dem Stadtarchiv aus dem Jahr 1950. Christiane hatte mich dorthin gezerrt, weil ihre Tante dort arbeitet, und die unterstützte uns dann sogar bei unserer Suche nach brauchbarem Material. Christiane hatte ihr erzählt, dass ich für die Schule einen Stammbaum ausarbeiten soll und dafür einige Unterlagen brauche. Zu meiner völligen Verblüffung gab es hier schon ein voll technisiertes Netz von Unterlagen, das bis 1900 zurückreicht.
Christianes Tante ist unglaublich stolz auf dieses Programm, in das sie selbst viele der Unterlagen eingegeben und die Originale dazu einscannt hatte. Sie zeigte uns sogar genau, wie sie dabei vorging und erklärte uns, wie wir verschiedene Unterlagen „schnell und präzise“ finden können. Schnell und präzise sind wohl ihre Lieblingswörter, denn sie gebrauchte sie so oft wie möglich.
Leider haben wir uns einen Tag für unsere Recherchen ausgesucht, an dem die Öffnungszeit uns zwang früher zu gehen.
Im Bus, der uns nun nach Hause bringt, versuchen wir das Erfahrene in einen Zusammenhang zu bringen. Von Onkel Otto, oder auch Opa Otto, hatte Mama das Haus geerbt. Aber wie der Otto mit dem Kurt zusammenhängt, das wissen wir nicht. Ich nehme an, dass Opa Willy und Opaonkel Otto vielleicht auch irgendwie Söhne von diesem Heinrich, Kurts Bruder, sein könnten. Wir hatten zwar nur einen Sohn und dessen Geburtsurkunde gefunden. Aber vielleicht gab es weitere Kinder?
„Wir wissen ja jetzt, dass der Sohn von diesem Heinrich 1950 geboren wurde. Wenn ich wüsste, wann Opa Willy oder Onkel Otto …“ Ich sehe in Christianes verständnisloses Gesicht und beschließe meine Gedanken lieber leise weiterzuführen. Aber was ich mir auch zurechtlege, nichts passt zusammen. Dafür hat Christiane eine Idee, die sie sofort umsetzen will, wenn wir wieder bei mir zu Hause sind.
So sitzen wir eine halbe Stunde später in meinem Zimmer und versuchen uns wirklich an einem Familienstammbaum. Christiane setzt mich und Julian an unterster Stelle ein, so wie ich es an dem Nachmittag getan hatte, als Julian mir von der Geschichte zum ersten Mal berichtet hatte. Dann setzt sie meine Eltern und Oma und Opa, die Eltern von Mama darüber. Als ich ihr die Namen von Oma und Opa väterlicherseits sage, pflaumt sie mich an: „Die brauchen wir doch gar nicht, die haben mit der ganzen Sache doch gar nichts zu tun. Nur die, die blutsverwandt mit diesem Kurt sein können, brauchen wir. Und das ist die Seite deiner Mutter.“
Ich bin ehrlich beeindruckt. Sie hat immerhin mehr Durchblick als ich.
„Woher kennst du dich damit so genau aus?“, frage ich sie neugierig und sehe Christiane groß an.
„Das habe ich schon mal mit meinem Vater mit unserer Familie gemacht, um herauszufinden, woher mein Bruder die braunen Augen hat“, antwortet sie leichthin.
Ich bin platt. Ich wusste gar nicht, dass die Augen von ihrem Bruder braun sind und dass das schon einmal zu einem weitgreifenden Thema in Christianes Familie geworden war. Christiane Augen sind blau und sie hat dunkelblondes, schulterlanges Haar. Sie ist auch größer als ich, obwohl sie ein Jahr jünger ist. Ihr Bruder hingegen ist nicht besonders groß, hat aber das gleiche dunkelblonde Haar wie sie. Dass er braune Augen hat, konnte ich noch nicht feststellen, weil ich ihm nie näher als einige Meter gekommen bin.
Christianes Bruder ist nicht nur schüchtern, sondern auch, in meinen Augen, recht unattraktiv. Also nichts, was mich veranlassen würde, ihm sehr dicht kommen zu wollen. Außerdem regt sich in mir immer etwas wie Abwehr gegenüber dem anderen Geschlecht. Deshalb beruhige ich mich und alle anderen auch immer mit der Aussage, dass bei mir halt erst der Richtige kommen muss.
„Ähm…, da fehlt noch was“, raune ich und zeige neben Oma Martha. „Da muss noch Opas Bruder Otto hin, von dem meine Mutter das Haus geerbt hat.“
„Der ist doch völlig egal. Der interessiert doch gar nicht“, knurrt Christiane über meine angebliche Dummheit.
„Aber er ist eigentlich der Vater von meiner Mutter“, sage ich und bin mir im Klaren, dass Christiane jetzt aus allen Wolken fallen wird.
„Was? Ich denke dein Opa ist ihr Vater.“
Ich erzähle ihr kurz und bündig, was bei der Testamentsvorlesung zu Tage trat und dass wir seitdem wissen, dass mein Opa nicht mein Opa ist.
Christiane schreibt fast widerwillig den Namen Otto neben meine Oma und verbindet die beiden mit meiner Mutter. Willy streicht sie kurzerhand durch.
„Otto ist Willys Bruder. Du kannst ihn ruhig stehen lassen. Er muss auch irgendwie mit diesem Kurt verwandt sein.“ Ich tippe mit dem Zeigefinger auf meinen armen durchgestrichenen Opa.
Über Willy und meine Oma Martha setzen wir dann meinen Uropa und meine Uroma, die Johannes und Maja hießen, wie ich einige Tage zuvor von meiner Mutter herausgequetscht hatte. Aber sie ist nicht sehr gesprächig, wenn ich in letzter Zeit mit Fragen über die Vergangenheit zu ihr komme.
„Maja ist schon ein komischer Name für diese Zeit“, raunt Christiane und ich muss ihr recht geben.
Aber damit sind unsere Informationen erschöpft und unser Stammbaum weist große Wissenslücken auf. Wir können nur noch ganz oben die Namen von Kurt und seinen Geschwistern einsetzen. Dazu Heinrichs Frau und seinen Sohn, mit dem Vermerk seines Geburtsjahres. Das war’s dann aber auch schon. Mehr haben wir nicht.
„Willy und Otto können eigentlich nichts mit diesem Heinrich, dem Bruder von Kurt, zu tun haben. Zumindest nicht als Söhne“, sinniere ich nachdenklich und Christiane schaut mich groß an.
„Natürlich nicht“, meint sie und schüttelt über mich den Kopf. „Das passt vom Alter her nicht. Höchstens deine Uroma, diese Maja, oder dein Uropa Johannes können von ihm sein.“
Nach langer Zeit des Grübelns und Diskutierens habe ich eine Idee. „Ich glaube, wir sollten mal auf dem Friedhof nachsehen. Vielleicht gibt es noch irgendwo ein Grab von der Frau und dem Kind, die in unserem Haus gestorben sein sollen.“
Christiane sieht mich erst entsetzt an. Doch dann nickt sie. „Da könnten wir etwas finden.“
Aber für heute ist es schon zu spät, um noch mit den Fahrrädern nach Ankum zu fahren. So beschließen wir, es auf den nächsten Tag zu verschieben.
Da Christiane nicht so oft nachmittags nach Ankum fahren darf, kommt uns die glorreiche Idee, gleich nach der fünften Stunde von der Schule aus dem Friedhof einen Besuch abzustatten.
Beinahe platzt das aber, weil ich meine Hausaufgaben in Mathe nicht habe und mir mein Lehrer mit Nachsitzen droht. Ich beknie ihn förmlich, es nicht zu tun und er gibt mir eine letzte Chance, mich zu bessern.
So treffe ich mich wie besprochen mit Christiane am Busbahnhof, wo wir, wie jeden Mittag auch, auf einige der anderen stoßen, die mit uns zur fünften Stunde Schulschluss haben.
Nur mit Mühe können wir die anderen davon abhalten, mit uns ins Dorf zu gehen. Schließlich denken sie, wir wollen einen netten Bummel machen. Erst als Christiane sagt: „Bummeln? Wie langweilig. Wir haben ein Rendezvous mit einigen netten Jungs auf dem Friedhof“, stutzen die anderen erst und lachen dann über den gelungenen Scherz, der eigentlich keiner ist.
Mir bleibt fast das Herz stehen. Es soll doch keiner etwas von unserem wirklichen Plan erfahren.
Als der Bus kommt, gehen Christiane und ich unserer Wege und die anderen fahren nach Hause, enttäuscht, dass wir sie offensichtlich nicht mitnehmen wollen.
Der Friedhof ist noch eine gute Fußstrecke entfernt und wir beeilen uns.
Scherzend und lachend suchen wir nach dem richtigen Weg, um die dunklen Gedanken nicht heraufzubeschwören, die vor allem mich bedrücken. Irgendwie scheint die Aussicht, gleich den Friedhof abzusuchen, ein seltsames Gefühl in mir zu hinterlassen.
Wir betreten ihn durch eine kleine Seitenpforte und teilen uns auf. Jeder bekommt eine Reihe von Grabstellen und sucht die Inschriften ab.
Es ist schrecklich beklemmend, wenn man auf Gräber von Kindern stößt oder von mehreren Familienangehörigen, die an ein und demselben Tag gestorben sind. Ich bin überrascht, mit wie viel Sorgfalt die Gräber gepflegt werden und wie sauber und ordentlich alles ist. Es gibt nur wenige Grabstellen, die verwahrlost wirken. Ich ertappte mich dabei, mich für die Geschichte der Toten zu interessieren. Was ist wohl dem Kind passiert, was hatte ein Ehepaar so jung und innerhalb weniger aufeinander folgender Tage sterben lassen?
Das beklemmende Gefühl steigt und ich fühle mich in einer seltsamen Stimmung gefangen, die mich irgendwie aber auch anspricht. Ich wundere mich, warum ich noch nie vorher diesen Ort betreten habe. Ich glaube fast schon, mich mit den Toten verständigen zu können, wenn ich nur wollte.
„Da ist nichts“, höre ich Christiane plötzlich hinter mir sagen und schrecke heftig zusammen.
„Hier auch nicht“, raune ich verlegen. Mir ist peinlich, dass ich wie ein verängstigtes Kaninchen auf sie reagierte.
„Ist schon ein komischer Ort“, sagt sie aber nur und wir begeben uns zu den nächsten Reihen.
Wir finden nichts, außer dem Grab von meinem Opaonkel Otto, der Mama das Haus vererbt hatte und die Grabstätte von einem Onkel und einer Tante von Christianes Vater.
Enttäuscht wenden wir uns dem Hauptausgang zu, der uns an der kleinen Kapelle vorbeiführt, als die Tür aufgestoßen wird und ein alter Mann heraustritt.
Er sieht uns erst missbilligend an, ruft uns dann aber ein: „Guten Tag!“ zu, dass wir höflich erwidern.
Christiane zieht mich schon am Ärmel weiter, weil der Mann ihr wohl unheimlich ist, als er fragt: „Nah, was haben denn zwei Wichter wie ihr hier auf dem Friedhof zu suchen?“
Nicht wissend, was mich eigentlich treibt, starte ich eine Gegenfrage. „Kennen sie die Familie Gräbler?“ Mir kommt der Name angesichts der vielen Gräber unsinnig vor und ich hoffe, der Alte glaubt nicht, ich wolle ihn verulken.
„Oh, die Gräbler …“, meint er sinnierend und greift sich ans Kinn. „Was war das noch für eine Geschichte?“, raunt der Alte und scheint heftig in seinem Gehirnarchiv zu wühlen. „Das ist schon zu lange her. Ich denke nicht, dass da noch Gräber von existieren.“
Ich sehe ihn trotzdem erwartungsvoll an, denn er scheint weiter angestrengt nachzudenken.
„Da war doch noch was. Die Gräbler …? Ach, ich komm nicht drauf.“
Ich will mich schon enttäuscht von dem Alten verabschieden, als er ausruft: „Doch, der Heinrich, genau! Ich kam doch nicht mehr auf den Namen. Der wohnte einige Zeit in unserem Nachbarhaus. Jaja! Der war ein seltsamer Kauz gewesen. Der hat sehr spät noch einen Sohn bekommen und verlor dann kurz hintereinander seine Frau und diesen Jungen. Stimmt!“ Der Alte nickt bedächtig mit dem Kopf. Dann blickt er mich an, ohne mich wirklich zu sehen und scheint zu erstarren. Fast wie ein Flüstern dringen seine Wörter zu uns: „Der Arme … Er hätte seine Familie nicht in dieses Haus bringen dürfen.“
Ich sehe Christiane mit vielsagendem Blick an. Ist das unsere Geschichte und sind das die dazugehörigen Toten?
Plötzlich sieht der Alte uns an, als fiele ihm erst jetzt unsere Gegenwart ein. Er räuspert sich und sagt laut: „Da war auch noch der Bruder von dem Heinrich. Mein altes Gehirn lässt mich nicht im Stich. Jetzt fällt es mir wieder ein. Der Bruder … wie hieß der noch? Der war auch so seltsam. Der hatte das Haus, in dem Heinrichs Familie starb, vor ihm bewohnt. Der war doch ein Hexer und wurde ver…“ Der Alte verstummt und sieht sich um, als hätte er Angst, jemand könnte ihn gehört haben. „Aber was interessieren euch so alte Geschichten? Lernt ihr in der Schule nichts Ordentliches?“, schnauft er und seine Augen verengen sich, als wären wir plötzlich Feinde.
Wir bedanken uns schnell und eilen an ihm vorbei dem Ausgang des Friedhofes entgegen.
„Mein Gott! Kriegst du das alles auf die Reihe?“, fragt mich Christiane verwirrt und ich blicke mich schnell noch einmal um, ob der Alte uns nicht doch noch folgt, um uns vom Friedhof zu jagen, wie räudige Hunde. Er hatte im letzten Augenblick so danach ausgesehen.
Ich sage nichts und bemühe mich, meine Gedanken zu sortieren. Der Alte hatte uns eine Menge verraten, was ihm hinterher scheinbar sehr leidtat. Es scheint mir, als wäre ihm etwas eingefallen, das nicht an die Öffentlichkeit dringen darf und was er uns fast verraten hätte.
„Dann stimmte die Geschichte von deinem Vater also. Es starben wirklich eine Frau und ihr Kind in dem Haus, und zwar die von diesem Heinrich. Und wenn wirklich sein Bruder Kurt als Geist schuld an deren Tod war?“ Ich schüttele verunsichert den Kopf. „Oder habe ich da etwas nicht richtig verstanden?“
Christiane antwortet, einen Stein vom Gehweg auf die Straße kickend: „Poor, ich weiß auch nicht.“
So versuchen wir auf dem Weg zur Schule alles in die richtige Reihenfolge zu bringen.
„Dieser Kurt kaufte unser Haus und wurde da vielleicht von den damaligen Bürgern dieser Stadt verbrannt … oder er ging doch wieder nach Ägypten zurück. Sein Bruder Heinrich bezog das Haus mit seiner Frau. Ob er dort erst Vater wurde oder das Kind schon auf der Welt war, wissen wir nicht. Aber dort starben seine Frau und sein Sohn. Leider haben wir davon keine genauen Daten.
Heinrich gab das Haus an Otto weiter, der es für verflucht hielt und dort nicht einzog. Warum Heinrich es Otto gab, und in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zueinander standen, ist mir schleierhaft. War Maja seine Tochter und Otto sein Enkel? Dann vererbte Otto es meiner Mutter, weil sie seine Tochter ist, was bis dahin keiner wusste.“
„Mensch, deine Familie hat ja echt was zu bieten. Da ist unsere Familiengeschichte ja so langweilig wie das Liebesleben von Ameisen“, meint Christiane und grinst.
„Woran die Frau und der Junge von diesem Heinrich wohl gestorben sind?“, frage ich nach einiger Zeit des Schweigens nachdenklich.
„Keine Ahnung! Aber ist das für uns denn wichtig?“
„Eigentlich schon. Denn das muss der Grund gewesen sein, warum Otto nicht in das Haus zog und die Leute lange Zeit von einem Fluch oder einem Geist sprachen, wenn sie das Haus meinten.“
Wir werden jäh von einer auf uns zustürmenden Gruppe Mädchen unterbrochen, die auch auf ihre Busse warten müssen und in deren Pulk zwei Cousinen von Christiane sind. In Sekundenschnelle umringen sie uns und plötzlich ist der fünfzehnte Geburtstag einer der Cousinen wichtigstes Gesprächsthema.
„Chrissi! Hast du deine Eltern gefragt, ob ich meine Party bei euch machen darf?“ Das blonde Mädchen mit der dicken Brille auf der Nase hüpft vor uns auf und ab.
„Nee, mach ich heute Abend“, brummt Christiane.
„Du hast es mir versprochen!“, ruft ihre Cousine und zappelt wieder aufgedreht vor uns herum.
„Ja, ja. Heute Abend. Ich rufe dich dann an“, raunt Christiane genervt. Sie zieht mich schnell mit. „Mein Vater ist ihr Patenonkel und wird bestimmt erlauben, dass sie ihre bescheuerte Party bei uns feiern kann“, flüstert sie und klingt ziemlich entsetzt über diese Aussicht.
Hoppelnd und mit springendem Pferdeschwanz haben wir das Mädchen plötzlich wieder vor uns. „Ach, du und deine Freundin, ihr seid natürlich auch eingeladen und es kommen ganz viele tolle Jungen“, ruft sie übermütig und wirkt eher wie ein Mädchen, das sich auf ihren zehnten Geburtstag freut. Sie sieht mich mit ihren durch die Brillengläser großen Augen herausfordernd an und ich bedanke mich höflich für die Einladung, die mich aber im Moment überhaupt nicht interessiert.
Nun sind auch die anderen Mädchen wieder um uns versammelt und Christiane unterbricht unseren erfolglosen Versuch, ihnen zu entkommen. Alles redet durcheinander und macht Gestaltungspläne für die große Feier und es scheint für alle klar zu sein, dass dies die Jahrhundertparty werden wird. Christiane und ich bemühen uns, etwas aufkeimende Begeisterung zu zeigen, um die anderen nicht stutzig werden zu lassen. Aber ihre Party ist uns im Moment wirklich völlig egal und es sind noch sechs Wochen bis dahin. Als dann auch noch das Thema auf die einzuladenden Jungen fällt und warum man den einen oder anderen einladen muss, verdreht Christiane die Augen und startet einen erneuten Fluchtversuch, mich am Arm hinter sich herziehend.
Endlich kommt der Bus und wir entkommen den wilden Ausführungen über den angeblichen Jahrhundertgeburtstag.
Im Bus suchen wir uns einen Platz und ich lehne mich müde tief in den Sitz.
Christiane ist auch erschöpft und stiert versunken vor sich hin.
Ich lege meine Stirn an die kalte Scheibe und starre auf die Felder und Wiesen, die an uns vorbeirauschen. Irgendwie ist mein Kopf leer und wie im Halbschlaf. Das habe ich öfters, wenn ich im Bus nach einem schweren Schultag einige Minuten zur Ruhe komme.
Ich schließe die Augen und gebe mich dem Rütteln des Busses hin, als plötzlich Schüsse fallen und heulende Töne und ein lauter Knall durch mein Innerstes toben. Ich sehe Männer, die im Dunkeln vor mir durch den Schlamm robben und erschrecke, als über uns immer wieder die Nacht sich hell erleuchtet, von einem Donnergrollen begleitet.
„Hey Caro! Was ist mit dir?“, Christiane schüttelt mich unsanft am Arm.
Ich schrecke hoch und sehe in zwei weit aufgerissene Augen.
„Ich dachte schon, du kriegst einen Herzanfall. Fängst hier voll an zu keuchen und zu wimmern. Manchmal bist du echt peinlich“, zischt meine Freundin aufgebracht.
Ich starre sie verwirrt an. Ich keuchend und wimmernd? Am helligten Tag im Schulbus? Das ist wirklich peinlich.
Christiane steht auf und ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Der Bus hält gerade an unserer Haltestelle. Schnell greife ich nach meiner Tasche und schiebe mich durch den Gang des Busses zum Ausgang, in den Gesichter prüfend, ob jemand meinen Anfall mitbekommen hat.
Aber keiner sieht mich schräg an und ich bin etwas beruhigt. Erst als wir den Bus verlassen haben und ich zufällig noch einmal aufsehe, überkommt mich das ungute Gefühl, dass alle mich anstarren. Und als der Bus an uns vorbeizieht, trifft es mich wie ein Schlag. Von der hintersten Sitzreihe starrt mich der Junge mit den schwarzen Augen und den dunklen Haaren an, dem ich vor unserer Schule begegnet war.
Erschrocken blicke ich dem Bus hinterher.
„Was ist nun schon wieder? Hast du einen Geist gesehen?“ Christiane ist wirklich genervt. „Der Friedhof ist dir wohl nicht bekommen?“
Um sie milde zu stimmen, denn ich will ihr auf keinen Fall etwas von dem Jungen sagen, antworte ich ihr mit einem gekonnten Augenaufschlag: „Ach Chrissi! Das ist doch Quatsch. Es ist alles in Ordnung.“
Sie schlägt mir freundschaftlich auf den Rücken und grinst. In dem Moment hält der dunkle Volvo ihrer Mutter neben uns und wir beschließen später zu telefonieren, weil Christiane mir noch nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sie am Nachmittag noch wegdarf.
So gehe ich zu meinem Fahrrad und schließe das Schloss auf. Dabei merke ich erst, dass meine Hände zittern. Ist schon verrückt. Erst träume ich mitten im Schulbus, dass ich in einem Kriegsgebiet durch den Schlamm robbe und dann sitzt auch noch dieser Junge in meinem Bus. Und wie der mich ansah …
Tief in meinem Inneren flattert etwas aufgeregt hin und her, was sich nur schwer ignorieren lässt. Daher versuche ich es erst gar nicht.
Dieser Junge berührt mich irgendwie und weckt daher mein Interesse.
Am Abend, als ich mit meinen Eltern und Julian am Tisch sitze und Abendbrot esse, erkläre ich: „Wir nehmen jetzt in Geschichte den Zweiten Weltkrieg und Hitler durch.“
Ich habe von allem eigentlich gar keine Ahnung und hoffe, dies nicht mit diesem einen Satz schon zu verraten.
„Aha!“, meint mein Vater nur und Julian sieht mich seltsam an.
Ich ärgere mich, dass ich in Geschichte, als wir wirklich das Thema hatten, nicht besser aufgepasst habe.
Einige Zeit vertue ich mit brotschmieren, bis ich damit rausrücke, was ich eigentlich will. „Waren von unserer Familie eigentlich auch welche im Krieg dabei? Wir sollen nach Verwandten suchen, die in diesem Krieg verwundet wurden oder sogar starben."
Papa sieht Mama an und Mama Papa. „Muss das wieder sein?“, brummt sie und schüttelt den Kopf. Dann murmelt sie: „Naja … bestimmt.“
Einen Augenblick habe ich das Gefühl, meine Mutter will wieder einmal nicht über die Vergangenheit reden.
„Wer denn?“, frage ich nach und bemühe mich, nicht zu neugierig zu klingen. Ich will schließlich keinen Argwohn bei meinen Eltern schüren.
„Also, von meiner Seite gab es bestimmt welche. Mein Opa war, glaube ich, sogar etwas Höheres. General oder so“, sagt mein Vater und grinst, den nötigen Ernst beiseitelassend.
„Ja, ganz sicher.“ Meine Mutter lacht auf und stößt ihm in die Rippen. Dann legt sich ihre Stirn in Falten und denkt nach. „Braucht ihr denn wirklich auch die Namen und so?“, fragt sie resigniert.
Ich nicke und sehe sie mit nach Hilfe heischendem Blick an.
Unschlüssig, ob sie mir helfen soll, seufzt sie auf. Doch dann antwortet sie eine Spur zu leise, als dass man hätte glauben können, dass es sie eigentlich nicht berührt: „Naja, von meinem Onkel, … ähm… Vater, der Vater starb im Krieg. Also mein Opa. Mein richtiger Opa.“
Ich sehe sie verständnislos an und auch Julian und mein Vater vergessen zu essen.
Mein Vater wirft ein mürrisches: „Dein Opa starb im Krieg? So ein Quatsch! Ich habe ihn doch noch kennengelernt. In unserem ersten Jahr“, in die Runde.
„Ich weiß“, brummt Mama und sieht ihn böse an.
„Willst uns wohl verulken?“, brummt Papa zurück. „Das hilft Carolin auch nicht weiter. Da kann sie das auch mit meinem Opa als General schreiben.“
Mama wendet sich an mich und ignoriert meinen Vater. „Na, du weißt doch! Onkel Otto war doch mein ´biologischer´ Vater. Und dem sein Vater fiel im Krieg. Das war somit eigentlich mein richtiger Opa.“ Scheinbar wird ihr dieser Zusammenhang heute das erste Mal richtig bewusst.
„Dann ist Opa Willys Vater nicht der von Opa Otto“, bringt Julian das Ganze auf seine trockene Art auf den Punkt.
„Nein, Ottos Vater war ein junger Mann, der aus irgendeiner Hafenstadt stammend als Soldat in unsere Gegend kam und hier fiel“, antwortet Mama ihm.
Oh Mann! Gibt es in dieser Familie eigentlich irgendwelche normalen familiären Verwandtschaftsverhältnisse? Das ist der Hammer! Ich freue mich schon darauf, dass Christiane zu erzählen und es kribbelt mir jetzt schon in den Fingern, dieses Ereignis in unseren Familienstammbaum einzuzeichnen. Nur zu dumm, dass Christiane den Schreiblock mit unseren Aufzeichnungen und dem Stammbaum mit nach Hause genommen hat, weil wir blöderweise ihren genommen hatten.
Papa ärgert: „Also gibt es in deiner Familie keinen General?“, und Julian frotzelt: „Naja, wieder so ein Sodom und Gomorrha.“
„Wie alt war dieser Vater von Otto damals?“, frage ich nach kurzem Zögern.
Mama denkt angestrengt nach. „Keine Ahnung. Ich denke so um die Zwanzig. Papa war nur ein Jahr jünger als Otto und wurde 1945 geboren. Also muss Otto 1944 geboren worden sein. Als Papa auf die Welt kam, war Ottos Vater schon tot.“
Mama hat immer noch die größten Schwierigkeiten, ihren biologischen Vater als Vater zu sehen und ihren Ziehvater als Onkel.
Ich grübele nach, wie ich meine nächste Frage formulieren kann, die mich dichter an mein Ziel bringen soll. Dann fällt mir das Richtige ein. Ich frage Mama: „Mussten deine Urgroßväter oder ihre Brüder nicht auch in den Krieg ziehen?“
Julian sieht mich mit einem seltsamen Ausdruck an. Er scheint erstaunt zu sein, was ich für Fragen stelle und welche Zusammenhänge ich scheinbar sehe. Zumindest bilde ich mir ein, dass sein Blick genau das aussagen soll.
Mama scheint wieder nachzudenken und sagt langsam, als müsse sie jedes Wort erst in ihrem Kopf suchen: „Ja … doch … die mussten bestimmt auch. Ich glaube, dass von ihnen einer sogar extra wieder von weit her anreiste, um für sein Vaterland zu kämpfen.“
„Für sein Vaterland kämpfen … So ein geschwollener Mist!“, regt Papa sich auf. „Das waren doch damals Zustände wie im alten Rom!“
Wir ignorieren ihn.
„Woher kam der denn?“, frage ich schnell und werfe Julian einen Blick zu, der plötzlich hellwach zu sein scheint. Er sieht mich immer noch groß an und ich weiß, dass er mein Spiel durchschaut hat.
„Der lebte lange Zeit angeblich in Ägypten“, sagt Mama und nimmt sich noch eine Tasse Tee, wobei sie meinem Vater einen beunruhigten Blick zuwirft.
„Wow!“, rufe ich aus und hoffe, dass sie einfach weiterplaudert. Doch sie sagt nichts mehr und so frage ich weiter: „Und, fiel der auch im Krieg?“
Mama sieht von ihrer Tasse auf, in der sie laut klimpernd herumrührt. Erst trifft ihr Blick mich, dann wieder meinen Vater.
Der schmiert sich ein neues Brot und scheint unser Gespräch beleidigt nicht weiter verfolgen zu wollen.
Ich warte auf Mamas Antwort.
„Ich denke …“, kommt diese dann auch, „dass man die alten Zeiten ruhen lassen sollte. Genau weiß ich das ja auch alles nicht und bevor ich dir Blödsinn erzähle …“
Sie richtet sich an Julian und fragt, ganz abrupt das Thema wechselnd: „Was habt ihr denn in letzter Zeit in Schwimmen gemacht? Hast du eigentlich dieses Jahr vor, dein Goldabzeichen zu machen?“
„Mama, wir haben doch dieses Halbjahr gar kein Schwimmen mehr“, brummt Julian grimmig und mir ist klar, dass Mama das Thema, das Julian und mich wirklich interessiert, nicht mehr vertiefen will. Und da kenne mal einer die Sturheit meiner Mutter.
Ohne dem Fernseher Aufmerksamkeit zu schenken, falle ich an diesem Abend ins Bett.
Von vielem nun wissend, dass es irgendwie der Wahrheit entspricht und doch von allem nichts Genaues, liege ich da und überdenke alles noch einmal. Etwas brennt sich mir als sehr ungeheuerlich ins Gedächtnis. Da kam dieser Kurt extra aus Ägypten, wo er erfolgreich und wahrscheinlich auch glücklich gewesen war, in sein sogenanntes Heimatland zurück, um es zu verteidigen und wird von den Menschen als Hexer verbrannt. Das ist schon echt heftig.
Ich werfe mich hin und her und ahne irgendwie, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. Mir drängen sich die Fragen auf, wann dieser Kurt nach Deutschland zurückkehrte und wann er starb … oder verschwand. Das muss doch herauszufinden sein.
In mir scheint ein Wurm mit jeder Sekunde des Nachdenkens darüber dicker und behäbiger durch mein Inneres zu kriechen und ein schreckliches Unbehagen auszulösen. Warum regen mich nur die Gedanken an so längst vergangene Zeiten so auf? Warum interessiert mich das Ganze überhaupt so? Eine Frage, die ich mir in den letzten Tagen schon oft gestellt habe und die irgendetwas in mir auf Anhieb beantworten könnte, wenn ich es zulassen würde. Aber da gibt es eine Mauer, die sich scheinbar durch meinen Körper zieht, wie die Mauer, die damals Berlin in Ost und West getrennt hatte. Bloß das sie bei mir mich und irgendetwas anderes zu trennen scheint, das in mir wohnt.
Wieder werfe ich mich auf die andere Seite und streiche mir das wirre Haar aus dem Gesicht. In meinem Zimmer ist es stockfinster und ich höre das seichte Rauschen des Wäldchens mit der Sandgrube, das sich auf der anderen Straßenseite gegenüber unserem Haus erhebt.
Ich kann einfach nicht in den Schlaf finden, obwohl ich mich todmüde fühle.
Wieder ranken sich meine Gedanken um diesen Kurt und plötzlich sehe ich ihn. Er ist erst nur schemenhaft in der Dunkelheit zu erkennen, dann kommt er näher und das helle Licht eines Blitzes erhellt sein Gesicht. Schmutzig und mit entsetztem Ausdruck in den Augen läuft er auf mich zu. Seine Haare liegen unter einem Helm versteckt und er trägt einen grauen Anzug, der so verdreckt ist, dass er von allein stehen könnte. Hinter ihm sehe ich noch mehr Gestalten, die aber einfach umfallen. Einer schreit einen Namen: „Kurt … KURT! Hilf mir!“
Ich sehe zur Seite und dort kniet jemand auf der Erde. Ich spüre plötzlich eine Angst um diesen Menschen durch meine Eingeweide kriechen und renne zu ihm.
In dem Augenblick fällt er vornüber in den Schlamm.
Ich schreie mit einer tiefen Männerstimme: „Nein! Martin! Steh auf, du darfst hier nicht liegen bleiben.“ Mich neben ihn in den Schlamm werfend, greife ich nach seinen Schultern und drehe ihn um.
Überall ist Blut …
In meinem Kopf schreit etwas, dass ich nach Kurt suchen muss. Dieser Mann wollte Kurt sehen.
Ich werfe den Kopf herum und suche in den an mir vorbei springenden Körpern nach dem Gesicht, das ich eben noch vor mir gesehen hatte.
Plötzlich zerrt jemand an mir. „Komm, Kurt! Du kannst Martin nicht mehr helfen.“ Jemand reißt mich auf die Füße und ich laufe mit ihm mit, eine schreckliche Angst und Traurigkeit fühlend.
Ein dazu unpassendes, erschrockenes Gefühl ergreift mich plötzlich, dass ich scheinbar selbst Kurt bin. Das passt doch alles gar nicht zusammen!
Dennoch renne ich weiter. Mit meinen kalten, klammen Händen umklammere ich ein Gewehr, obwohl ich es lieber entsetzt wegwerfen möchte.
Vor uns sehe ich eine Anhöhe und wir klettern, wie viele andere Körper auch, hinauf und lassen uns in den schlammigen Abgrund fallen.
„Geschafft!“, raunt neben mir die Gestalt, die mich von Martin weggezerrt hatte. Über uns knallt und donnert es. Der Himmel scheint zu glühen.
Ich zittere am ganzen Körper und spüre ein Zerren an meinen Armen und höre eine Stimme, die mir so seltsam vertraut ist und so gar nicht in dieses Bild der Zerstörung passt. „Carolin! Wach auf! Das ist nur ein Traum! CAROLIN!“
Ich schlage die Augen auf und starre in dem Licht meiner Nachttischlampe Julian an, der neben meinem Bett kniet. Er sieht mich aufgebracht an. „Nah endlich. Ich dachte schon, ich bekomme dich nie wach.“
Verwirrt setze ich mich auf. Das war alles nur ein Traum!?
Ich liege in meinem Bett und nicht in einem Schützengraben mitten unter Beschuss eines sinnlosen Krieges.
Julian horcht auf und murmelt dann beruhigt: „Wir haben echt Glück. Mama und Papa haben nichts davon mitbekommen. Sonst hätten wir jetzt ein echt großes Problem.“
Ich verstehe ihn nicht. Jeder träumt doch mal irgendeinen Blödsinn. Ich halt immer wieder den gleichen.
Kälte kriecht an mir hoch wie eine dicke Python, und ich merke, dass ich klitschnass geschwitzt und fiebrig heiß bin.
„Ich hatte einen echt ätzenden Traum“, entschuldige ich mich.
„War es wieder der Krieg oder diesmal die Verbrennung?“, fragt Julian und sieht mich seltsam an.
Vollkommen perplex starre ich zurück. „Woher weißt du …?“ Weiter komme ich nicht. Das Entsetzen schnürt mir immer noch die Kehle zu. Dennoch frage ich Julian, mehr zur Bestätigung meiner Befürchtungen: „Du weißt von meinen Träumen?“
Er nickt und sieht mich aufgebracht an. „Du hattest sie früher schon. Ach, ich weiß gar nicht, seit wann schon. Du konntest kaum Laufen, hast aber schon geträumt, als wäre alles Böse dieses Lebens hinter dir her. Du konntest gerade Mama und Papa sagen, da riefst du im Traum nachts nach Martin und schriest: Bomben … Bomben.“
Das kann nur ein Scherz sein und Julian verarscht mich. „Du spinnst! Das habe ich nicht!“
Doch seine Miene bleibt erschreckend ernst und er sieht mich so seltsam an, dass ich plötzlich Angst bekomme. „Warum weiß ich davon nichts mehr?“, raune ich.
„Du warst in Behandlung. Viele Jahre lang. Ich durfte mit dir kein Fernsehen gucken und keine Spiele spielen, die nicht absolut kleinkindgerecht waren. Wir schotteten dich von Nachrichten ab und von allem, was dich irgendwie erschrecken oder aufregen konnte. Die Ärzte meinten, dass du irgend so ein Syndrom hast, das dich alles, was du siehst oder hörst, nachts verstärkt erleben lässt. Aber dann kam Opa und sagte, dass dieser Martin ein Freund von Kurt, seinem Opa, gewesen war und im Krieg 1942 fiel.“ Julian sieht auf seine Hände, als habe er etwas verraten, was ihn selbst zutiefst irritiert.
„Was? Davon kann ich doch gar nichts wissen!“
„Genau“, antwortet er knapp und steht auf. „Und was träumtest du eben? War wieder Krieg? Du bist so heftig zusammengezuckt und hast um dich geschlagen.“
Ich spüre, dass vollends alle Farbe aus meinem Gesicht weicht. „Von Krieg und Bomben … und ich hörte mich jemanden rufen und sah einen jungen Mann, wie er starb.“
Julian nickt, als hätte er nichts anderes erwartet. Seine Hand legt sich auf meine Schulter und er sieht mich eindringlich an. „Sag bloß Mama nichts davon. Die flippt aus! Mit dem, was sie dir heute schon alles erzählt hat, glaubt sie bestimmt, du wärst endgültig von diesem Trip geheilt. Da würde sie dieser Traum total schocken.“
Ich nicke und weiß doch nicht, ob ich mit der Angst vor einem weiteren solchen Traum überhaupt wieder schlafen kann. Denn dieser übertraf alles Bisherige.
„Was habe ich damals noch geträumt?“, frage ich Julian vorsichtig und sehe ihm sofort an, dass ich darauf keine Antwort erhalten werde.
„Frag nicht. Ich möchte auf gar keinen Fall, dass du daran erinnert wirst. Vielleicht vergeht das Ganze dann von allein. Denn glaube mir, wenn dich wieder so ein Arzt umkrempelt, wie sie es damals getan haben, dann hast du nichts mehr zu lachen.“ Er scheint ernsthaft um mich besorgt zu sein. „Es reicht, wenn nur ich davon weiß.“
Mit den Worten steht er auf und geht zur Tür. Dort sieht er noch einmal zurück, als wolle er sich vergewissern, dass ich nicht gleich aus dem Fenster springe.
Ich habe plötzlich Angst, allein zu sein. Aber schließlich bin ich ein großes Mädchen und kann meinen Bruder nicht bitten, in mein Bett zu klettern und mich im Arm zu halten. So antworte ich nur kleinlaut: „Ist gut“, und lege mich wieder hin.
Die Tür geht leise zu und ich bin wieder allein. In meinem Kopf rotieren sofort wieder die Bilder von meinem Traum. Ich versuche sie mit aller Macht zu verdrängen und an etwas anderes zu denken. Aber das Geträumte drängt immer wieder erbarmungslos an die Oberfläche und ich suche schon fast verzweifelt nach etwas, das mich auf andere Gedanken bringt. Und dann sehe ich ihn vor mir. Seine dunklen Haare lugen unter einer schwarzen Kappe hervor und seine dunklen Augen sehen mich mit diesem unergründlichen Blick an. Der Junge, dem ich an der Schule das erste Mal begegnete und der heute in meinem Bus saß. Ich höre seine tiefe Stimme murmeln: „Hallo!“ und spüre in meinem Inneren eine seltsame Wärme, die mich zu durchfluten beginnt. Ich stelle ihn mir genau vor und versuche mich an alles zu erinnern. So konzentriert werde ich endlich ruhiger.
Erst als mich der Wecker weckt und ich aus einem traumlosen Schlaf emporsteige, weiß ich, dass ich doch irgendwann wieder eingeschlafen sein musste. Die Bilder des Albtraumes sind verblasst und nicht mehr so furchteinflößend. Martin und der Krieg scheinen mir plötzlich fremd und als das, was sie waren: nur ein Traum. Nur Julians Worte machen mir noch Angst, als sie sich in meinem Bewusstsein an die Oberfläche kämpfen. Hatte er mir einen Bären aufgebunden? Hatte ich als kleines Kind wirklich schon solche Träume gehabt und war von einem Seelenklempner wieder zurechtgerückt worden? Warum erinnere ich mich nicht daran?
Ich bin es gewohnt, seltsame Träume zu haben. Ich steige in ihnen in eine Welt hinab, die mich immer wieder in die Zeit von diesem Kurt versetzt. Ich sah mich schon über wunderbar farbenprächtige Basare gehen, in denen bunt gekleidete, verschleierte Frauen mir ihre Ware anboten. Ich betrat Häuser, die düster und unwirklich erschienen und von einem aromatischen Dunst durchdrungen waren. Dort gab es nur Männer, manche mit Turbanen auf dunklen Haaren, alle mit braun gebrannten Gesichtern und dunklen Augen. Ich fühlte mich so anders, als diese Menschen aus diesem Land und dennoch glaubte ich mich ihnen zugehörig.
In anderen Träumen sah ich mich in unserem Haus in Westrup. Ich stellte orientalische Mitbringsel auf eine alte Anrichte und stapelte Bücher in Regale. Viele Bücher … Unmengen von Büchern. Manche waren so alt, dass sie fast auseinanderfielen. Ich kletterte im Flur über Kisten, die beschriftet waren und studierte die Aufschriften. Eine besonders schwere Kiste schob ich in eine dunkle Ecke der Diele und verdeckte sie mit einem großen Tuch. Dann machte ich mich an die anderen und untersuchte ihren Inhalt … viele Male und lange Nächte hindurch.
Wieder andere Träume bescherten mir Familientreffen, die mich zum Teil im Nachhinein sehr erschreckten. Ich sah die Menschen um mich herum ganz genau und in allen Details und sprach sie mit Namen an: Marie … Werner … Josephine … Heinrich. Die alte Frau und den alten Mann am Tisch, denen ich in diesen Träumen besonders tiefe Gefühle entgegenbrachte, nannte ich sogar einmal Mutter und Vater.
„Möchtest du noch ein Stück von meiner Grützwurst? Die hast du doch früher so gemocht?“, hörte ich die alte Frau einmal sagen und antwortete ihr: „Danke Mutter, ich habe wirklich genug gegessen.“
Der alte Mann richtete in diesem Traum seine tiefe Stimme an mich: „Natürlich musst du dein Vaterland verteidigen. Dein Cousin Gerhard hat sich auch freiwillig gemeldet, obwohl er eine Frau und ein Kind hat. Glaubst du, dass seiner Frau gefällt, dass ihr Mann in den Krieg zog? Aber er ist nun mal ein Held unserer Tage.“
„Nein, Vater, das glaube ich nicht.“ Mein Blick glitt über den Tisch zu einer jungen Frau, die blass und kränklich wirkte. Auf dem Schoß saß ein blonder Bub.
Nach solchen Nächten war ich immer besonders durcheinander. Ich träumte von diesen Menschen, als wären sie meine Familie und das, obwohl es niemanden von ihnen in meinem Leben wirklich gibt.
Seit wir in dieses Haus gezogen waren, habe ich diese Träume oder ähnliche immer wieder geträumt. Ich glaube, auch schon vorher. Immer wieder spiegeln diese Träume ein Leben wider, das nichts mit meinem zu tun hat. Bei Tageslicht verdränge ich sie dann und stelle mich dem wirklichen Leben, und in dem gibt es seit kurzem einen neuen Aspekt, der mein Leben seltsam zu beeinflussen scheint - diesen Jungen.
Eine angenehme Wärme durchzieht mich, wenn ich an ihn denke und letzte Nacht half er mir sogar, die Schrecken des Albtraumes zu überwinden.
Wer er wohl ist und woher er wohl kommt? Ich hoffe, ihn bald wiederzusehen.
Seit Julian mich aus meinem Traum riss, kehren sie öfter und heftiger wieder und meine Nächte werden immer mehr zu einer Qual. Julian hat sich zur Gewohnheit gemacht, mich nach besonders heftigen Träumen aufzuwecken, damit Mama und Papa nichts von meiner nächtlichen Odyssee bemerken.
Ich bin verzweifelt und wage kaum noch ins Bett zu gehen. Das sieht man mir auch bald an. Mama wirft mir immer besorgtere Blicke zu, wenn ich morgens am Frühstückstisch erscheine und fragt immer öfter, ob ich denn gut geschlafen habe.
So auch an diesem Morgen.
Julian spinnt eine rettende Erklärung zusammen. „Mama, wusstest du, dass man in einem Schlafzimmer immer erst nach Wasseradern suchen muss, damit man nicht versehentlich sein Bett daraufstellt? Denn Wasseradern bescheren einem einen unruhigen Schlaf.“
Fast hätte ich laut losgelacht, konnte es aber noch rechtzeitig unterdrücken. Julian ist manchmal echt verrückt.
Aber als ich an diesem Nachmittag von der Schule nach Hause komme, ist mein Zimmer umgestellt. Mein Bett steht in einer anderen Ecke und meine Mutter strahlt mich glücklich und verschwitzt an.
Ich bin wenig begeistert, hoffe aber, dass die Träume wirklich aufhören.
Tatsächlich geht eine ganze Woche ins Land, ohne dass ich schlecht träume. Ich kann es fast nicht glauben. Den einzigen Schrecken, den ich in diesen Nächten erleben musste, wenn ich mal wach wurde, beschert mir ausgerechnet Julian.
Meinen Bruder saß im Dunkeln auf meinem Sofa und starrte mich an.
Das erste Mal fragte ich ihn, was er in meinem Zimmer sucht. Schließlich hatte ich keinen schlimmen Traum.
Er verdrückte sich sofort, ohne zu antworten, in sein Zimmer, wie ein Flaschengeist, den man mit einem Spruch wieder zurück in seine Flasche hext.
Als er weg war, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Schließlich stand er mir bisher zur Seite, wenn mich die Träume heimsuchten, die mich oftmals zu Tode erschreckten. Ihn nun so rüde zurechtgewiesen zu haben, tat mir leid.
So beschloss ich bei den nächsten zwei Malen, in denen ich Julian in meinem Zimmer erwischte, ohne dass ich schlimm träumte, seine Anwesenheit zu ignorieren, drehte mich einfach um und schlief weiter. Eigentlich ist es ja ganz beruhigend, dass er über meinen Schlaf zu wachen scheint. Wenn ich mich auch frage, ob er da immer nur sitzt oder ob er auch mal auf meinem Sofa schläft? Fast bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil er sich so viel Stress wegen mir macht.
Es ist der letzte Freitag im April und die Sonne scheint so verlockend, dass ich schnell den Computer wieder ausmache, an dem ich mir mehrere Seiten über Alchemie aus dem Internet ausgedruckt hatte. Eine seltsame Faszination geht in letzter Zeit für mich von diesem Thema aus und ich bin wie besessen, mehr darüber zu erfahren. Aber das will ich in der hellen Sonne des Frühsommers tun.
Ich hole mir eine Decke und ein Kissen, dazu ein Glas Eistee und marschiere in den Garten. Der Rasen ist am Tag zuvor von Julian gemäht worden und der Garten wirkt dadurch gepflegter. Es macht richtig Spaß, sich einen schönen Fleck Erde zu suchen und sich die Sonne auf den Rücken scheinen zu lassen, während man die Seiten durchliest, die von den Chemikern des Mittelalters berichten. Ich lese von dem Stein der Weisen, der immerwährendes Leben verspricht, von der Herstellung irgendeines minderen Stoffes in Gold und einer Methode, Gold in ein Lebenselixier umzuwandeln, das alle Krankheiten heilen soll. Die letzten Seiten berichten von einer Smaragdtafel, die ein gottgleicher Mensch Namens Hermes geschrieben haben soll und deren Übersetzung mir im Ohr klingt, als hätte ich diese Worte schon tausendmal gehört. Dennoch will mir ihr Sinn nicht klarwerden: Oben ist gleich dem Unten und Unten ist gleich dem Oben, um das Wunder des einen Prozesses zu erreichen … heißt es da. Oder: Der eine Prozess steigt von der Erde zum Himmel und wieder hinunter zur Erde, um in einem größeren Oben und Unten wiedergeboren zu werden, um das Licht der ganzen Welt zu erben und alle Dunkelheit zum Weichen zu zwingen.
Ich verstehe nicht viel von dem, was da geschrieben steht. Aber ich verstehe auch nicht viel von dem, was die wahre Natur eines Alchemisten ausmachen soll. Sie waren Mischer von verschiedenen chemischen und biologischen Stoffen, immer auf der Suche nach einer neuen, großen Entdeckung. Sie hatten Laboratorien, in denen sie experimentierten, um lebenserhaltende Stoffe zu erfinden oder Gold herzustellen. Sie erforschten die Kräfte der Natur und versuchten sie sich zu Eigen zu machen. Sie suchten nach anderen Dimensionen und erforschten die Formen des Sterbens und der Wiedergeburt. Es gab Alchemisten, die als Hexer verbrannt wurden, weil sie blutjunge Mädchen töteten, um aus ihnen Lebenssaft für ein längeres Leben zu gewinnen.
Alles klang außergewöhnlich, aufregend und zum Teil auch völlig verrückt und gruselig.
Ich bin so in die Seiten vertieft, dass ich erst gar nicht bemerke, wie sich jemand unserem Garten über das angrenzende Maisfeld nähert. Erst als ich plötzlich eine seltsame Unruhe in mir spüre, sehe ich auf und fahre erschrocken zusammen.
Da ist wieder dieser Junge mit den dunklen Haaren und den dunklen Augen. Er kommt direkt auf unseren Garten zu, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass jemand über das Feld in unseren Garten marschiert. Doch er hält sich am untersten Ende unserer Rasenfläche auf und läuft zwischen der Bruchsteinmauer und den ersten Beeten mit der jungen Kastanie und den halb hohen Stauden auf das Grundstück des Nachbarn zu, das dieser als verwahrlostes Feuchtbiotop unbeachtet lässt. Der Junge scheint sich brennend für dieses letzte Stück unseres Gartens zu interessieren und sieht sich noch nicht einmal um, ob ihn vielleicht jemand beobachtet.
Ich liege hinter einem Blumenbeet, in dem die ersten Blumen, die Mama gepflanzt hatte, sich öffnen und überlege, was ich tun soll. Irgendwann wird er mich entdecken und das wäre mir wirklich peinlich, weil es so aussieht, als würde ich mich verstecken. Aber ich kann auch nicht so tun, als hätte ich ihn nicht bemerkt.
Mit klopfendem Herzen krieche ich erst einmal weiter hinter das Beet und hoffe, er kommt nicht näher.
Doch den Gefallen tut er mir nicht. Er sucht weiter den Boden mit den Füßen ab und tritt an einigen Stellen mehrmals fest auf. Dabei kommt er mir bedenklich nahe. Er klettert sogar unter Mamas Wildrosenbusch, der an mein Beet grenzt und bleibt ein paar Mal an den langen Stacheln hängen.
Mir wird das Ganze langsam zu blöd. Was bildet sich der Typ eigentlich ein?
Gerade als er mir den Rücken zudreht, nehme ich allen Mut zusammen und springe auf. „Hey, was machst du hier?“
Ich will eigentlich ganz energisch klingen, doch meine Stimme kommt mir eher wie das Piepsen einer Maus vor.
Der Junge dreht sich langsam um. Hatte ich erwartet, dass er schnell das Weite suchen wird, so habe ich mich getäuscht. Stattdessen kommt er langsam auf mich zu.
Ich starre ihm entsetzt entgegen. Das kann er doch nicht machen!
Einen Moment überlege ich, ob ich nicht besser weglaufen soll. Doch diese dunklen Augen halten mich an meinem Platz. Er sieht entsetzlich gut aus und ich ertappe mich dabei, das auch noch zu bemerken. Er ist groß und schlank, trägt eine schwarze Jeans und einen dunkelblauen Pullover und seine schwarzen Haare glänzen in der Sonne.
Mein Herz pocht in meiner Brust, als wolle es herausspringen.
Als er nur noch einige Meter von mir entfernt ist, sagt er mit einer unglaublich wohlklingenden Stimme: „Und warum versteckst du dich hinter einem Blumenbeet?“
Ich spüre, wie ich rot wie eine Tomate werde. Umso wütender antworte ich ihm: „Weißt du nicht, was PRIVATGRUNDSTÜCK heißt? Da haben UNGEBETENE keinen Zutritt!“
Ein heiseres Lachen ertönt und ich fühle mich diesem Typ knietief unterlegen. „Also verschwinde hier!“, keife ich deshalb verbissen.
Doch er hört nicht auf mich, kommt näher, bis er vor mir steht und greift nach den Zetteln, die ich in den zitternden Händen halte. Er starrt mich erneut mit einem Ausdruck an, den ich nur schwer deuten kann. Leise raunt er: „Du interessierst dich für Alchemie?“
„Siehst du doch“, antworte ich biestig und reiße ihm die Zettel aus der Hand. Mit meinem aggressiven Verhalten versuche ich den seltsamen Tumult in meinem Inneren zu überspielen. Und da ist einiges, das überspielt werden muss.
„Hier wohnte mal ein Alchemist“, raunt er und seine dunklen Augen scheinen mich durchbohren zu wollen.
„Ich weiß“, murre ich und fühle mich unter seinem Blick wie eine Maus im Sichtfeld eines Bussards.
„Und ich weiß, dass du das weißt“, antwortet der Junge und dreht sich langsam um. Ich sehe ihm hinterher, wie er wieder die Rasenfläche zu dem Rosenbusch hinuntergeht.
Ich folge ihm vorsichtig und frage: „Was suchst du eigentlich?“, zu weiteren Feindseligkeiten nicht mehr fähig.
Der Junge sieht mich kurz an und scheint meine Frage nicht beantworten zu wollen. Das finde ich wieder extrem unhöflich und frage ihn noch einmal barsch: „Was suchst du in meinem Garten?“
Diesmal geht er einfach, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen, wieder Richtung Feld und murmelt, dass ich es noch gerade verstehen kann: „Haben dir deine Träume das noch nicht verraten?“
Ich will ihm folgen, bleibe aber wie angewurzelt stehen. Habe ich richtig gehört? Weiß dieser Kerl von meinen Träumen?
Ach Quatsch! Ich muss mich verhört haben.
Dennoch werde ich erneut wütend. Lässt mich der Kerl hier einfach ohne Erklärung stehen. Ich weiß immer noch nicht, was er in unserem Garten wollte und woher er Dinge weiß, die eigentlich nur ich und mein Bruder wissen können.
Ich flüstere zu mir selbst: „Das kann doch nur einer von Julians blöden Kumpels sein, dem Julian davon erzählt hat“, und beschließe, meinem Bruder am Abend gehörig die Meinung zu sagen.
Aber nun stehe ich nur mitten im Garten und starre dem Jungen hinterher, der über das Feld verschwindet. Die Sonne funkelt in seinen dunklen Haaren. Mir erscheint es fast so, als käme er von einem anderen Stern.
Ich kehre verwirrt zu meinem Platz zurück und werfe mich auf die Decke. Mein Herz schlägt immer noch bis zum Hals und ich schiebe es darauf, dass dieser Typ mich so wütend gemacht hat. Ich muss unbedingt abends Julian fragen, wer er ist.
In Gedanken sehe ich seine dunklen Haare erneut in der Sonne glänzen und wie er sich zu mir umdrehte und seine glühenden Augen auf mich richtete. Ich wünsche mir sofort, ihn bald wiederzusehen und mehr über ihn zu erfahren.
Schnell die Zettel greifend, versuche ich mich wieder der Studie über Alchemie zu widmen, muss mich aber geschlagen geben. Ich bin nicht in der Lage, diesen Jungen aus meinem Kopf zu verbannen. Weiß er wirklich von meinen Träumen?
Ich springe auf und beginne den Garten abzusuchen. Ich weiß nicht, was ich suche. Dennoch halte ich meine Augen auf den Boden vor mir gerichtet, um irgendetwas zu tun, was mich mit dem Jungen verbindet. In meinen Gedanken höre ich mich erneut fragen: „Was suchst du hier?“ Und seine Antwort durchdringt meinen Kopf wie eine Droge mit Horrorwirkung: „Haben dir deine Träume das noch nicht verraten?“
Die Sonne brennt auf mich hinunter und ich schwitze, obwohl ich nichts Anstrengendes tue. Ich krabbele auch unter den Rosenbusch und schreie auf, als die Dornen in meinem Haar festsitzen und mich nicht mehr freigeben wollen.
„Verdammt!“, schnauze ich und höre meine Mutter hinter mir sagen: „Nah, warte mal! Du hängst ja hoffnungslos fest. Ich helfe dir.“
Als sie mich befreit hat, sieht sie mich seltsam an. „Was suchst du unter dem Busch? Ostern ist echt schon eine Weile her.“
„Haha!“, fauche ich wütend darüber, mich in eine so missliche Lage gebracht zu haben. „Ich habe Ball gespielt und der ist mir darunter gekullert.“
Etwas Blöderes fällt mir nicht ein und Mamas Gesichtsausdruck verrät mir, dass sie dasselbe denkt. Sie hat Handschuhe an und einen Eimer und einen Hecker in der Hand und macht sich nun daran, das Rosenbeet vom Unkraut zu befreien.
„Wenn du so erpicht auf den Garten bist, dann kannst du mir ja helfen, die Beete durchzuhacken.“
Ich winke schnell ab und laufe zu meiner Decke, auf der sich durch den aufkommenden Wind die Zettel schon breit verteilt haben. Mama darf auf gar keinen Fall sehen, was ich da so intensiv studiere. Sie würde das bestimmt nicht gutheißen. Gerade weil ich auch in der Schule in der letzten Zeit ziemlich nachlasse.
So packe ich alles schnell zusammen und bemerke gerade noch wie Julian mit seinem Fahrrad in die Garage fährt.
Ich eile hinter ihm her, weil ich darauf brenne, mehr über diesen Jungen zu erfahren.
Aber ich treffe Julian erst in seinem Zimmer an, in dem er abgekämpft seine Sporttasche abwirft.
„Puh, ich muss erst einmal duschen“, sagt er, statt einer normalen Begrüßung. Augenscheinlich hat er keinen Bock auf ein Gespräch mit mir.
Dennoch werfe ich hinter uns seine Zimmertür zu, um unnötige Gesprächsteilnehmer auszuschließen, was mir einen überraschten Blick meines Bruders einbringt.
„Gibt’s was?“, fragt er.
Ich weiß nicht so recht, was ich ihm nun sagen soll. Soll ich ihn gleich zusammenfalten oder vorsichtig an das Thema herangehen?
In meiner heftigen Art komme ich gleich zur Sache, was meistens unklug ist. „Da war heute ein Typ in unserem Garten, der wohl ein ganz dicker Busenfreund von dir ist“, spuke ich ihm wütend entgegen.
„Was? In unserem Garten? Wer war das? Michael oder Marcel? Ach nein, die waren doch mit mir beim Training.“
„Nicht Michael oder Marcel. Einen, den ich nicht kenne, der aber eine ganze Menge von mir weiß.“
Julian sieht mich seltsam an. „Du kennst doch alle meine Freunde. Davon war es keiner?“
„Nein, den habe ich noch nie bei dir gesehen“, antworte ich und werde unsicher. „Aber er weiß von meinen Träumen. Das kannst doch nur du ihm erzählt haben, oder?“
Julian wird augenblicklich hellhörig und ich bin mir sicher, den Schuldigen gefunden zu haben. Doch dann sieht er mich nur irritiert an und packt mich an den Schultern. Seine braunen Augen funkeln mich böse an. „Er weiß von deinen Träumen? Woher?“
„Das frage ich dich!“, schnauze ich ihn an.
„Ich habe niemanden davon erzählt.“ Er lässt mich los und scheint zu überlegen. „Vielleicht haben Mama oder Papa …?“
Das erscheint mir ziemlich unwahrscheinlich, muss aber in dem Fall, dass Julian es nicht gewesen war, stimmen. Doch von Julians Unschuld bin ich noch nicht überzeugt und außerdem weiß ich noch immer nicht, wer der Junge ist.
So beschreibe ich Julian den Typ, in der Hoffnung, er kann das Geheimnis um ihn lüften.
„Er ist in etwa so groß wie du, hat schwarze Augen und ganz dunkle, kurze Haare. Dabei ist er aber ziemlich blass und er ist schlank und …“ Ich verstumme, weil ich das Gefühl habe, dass jedes weitere Wort einer Art Schwärmerei gleichkommt.
„Kenne ich nicht. Schwarze Augen und dunkles Haar mit blasser Haut? Ich weiß nicht, wer das sein soll. Vielleicht ein Vampir? Hatte er auch etwas großgeratene Zähne?“ Julian grinst und nimmt mich nicht für ganz voll. „Und was suchte der in unserem Garten?“, fragt er, sich ein Lachen verkneifend. „Vielleicht einen Unterschlupf?“
„Tja, wenn ich das wüsste“, antworte ich schnippisch.
Julian sieht mich seltsam an und sein Grinsen verschwindet plötzlich. „Hast du ihn denn nicht angesprochen? Schließlich hat der doch nichts in unserem Garten zu suchen.“
Ich will Julian nicht erzählen, wie ich hinter dem Busch gehockt hatte und dann plump und dümmlich den Jungen anquatschte. So weiche ich etwas in meiner Antwort aus. „Klar! Natürlich wollte ich wissen, was er da sucht. Aber er meinte nur, dass ich das aus meinen Träumen wissen müsste.“
In dem Moment dreht Julian ruckartig seinen Kopf zu mir herum und seine braunen Augen wirken plötzlich erschreckend dunkel, dass ich einen Moment glaube, in die Augen des Jungen aus unserem Garten zu schauen.
„Das hat er gesagt?“, fragt Julian verdattert und sieht mich betroffen an. Dann flüstert er mehr zu sich selbst: „Das gibt es doch gar nicht. Wer ist dieser Kerl?“
Das hätte ich auch zu gerne gewusst. Aber Julian kann mir das augenscheinlich nicht sagen.
Dicht an mich herantretend, raunt er mit eindringlicher Stimme: „Wenn du den irgendwo noch einmal siehst, dann sagst du mir sofort Bescheid. Hast du verstanden?“ Dabei packt er mich an den Armen und schüttelt mich durch, als müsse er mich dazu zwingen.
„Ja! Schon gut!“, antworte ich ihm schnell und verziehe vor Schmerzen das Gesicht. Dass Julian sich plötzlich so aufregt, hatte ich nicht erwartet. Fast habe ich etwas Angst, ihm den Jungen wirklich zu zeigen, wenn ich ihm noch einmal begegne. Wer weiß schon, was Julian mit ihm anstellt? Und eines wird mir auf einmal klar. Ich will auf gar keinen Fall, dass Julian ihm auch nur ein Haar krümmt.
Als ich am Abend ins Bett falle, kann ich wieder nicht einschlafen. Doch diesmal sind es nicht die Geschichten der Vergangenheit, die schwer auf meiner unruhigen Seele lasten, sondern der Gedanke an diesen seltsamen Jungen, der angeblich über meine Träume Bescheid weiß. Ein Zustand, der mich äußerst beunruhigt. Denn wenn Julian ihm nichts davon erzählt hat, wer dann? Es weiß doch sonst niemand davon. Nicht mal Christiane.
Ich schließe nach langem Hin und Her meine Eltern aus. Die sind in dieser Sache so querdenkend, dass sie bestimmt mit niemanden darüber sprechen. So drängt sich mir der Gedanke auf, dass dieser Junge vielleicht mit diesem alten Professor Knecht zu tun hat, der ihn über die Vergangenheit meines Vorfahren informierte und ihn ausschickte, um mehr darüber zu erfahren. Aber der kann unmöglich etwas über meine Träume wissen. Oder hatte ich mich verhört und dieser Junge hatte etwas ganz anderes gesagt?
So sehr ich auch grübele, ich weiß es nicht. Das Einzige, was ich genau weiß, ist - ich will diesen Jungen wiedersehen. Aus irgendeinem Grund bekomme ich ihn nicht mehr aus meinem Kopf.
Irgendwann muss ich dann doch eingeschlafen sein. In meiner Traumwelt werde ich von Julian in einen dunklen Wald geführt. Ich starre auf die Gestalt meines Bruders, der vor mir geht und mich an der Hand hinter sich herzieht. Dabei verwandelt er sich immer mehr in einen dunklen, angsteinflößenden Mann. Als wir auf eine Lichtung kommen, dreht er sich zu mir um und ist plötzlich ein alter Mann mit gehässigem Gesichtsausdruck.
Ich versuche mich loszureißen und höre mich rufen: „Kurt, lass mich los! Hilfe! Was willst du von mir?“
Doch der Mann grinst nur böse und zerrt mich auf eine Lichtung hinaus. Dort sehe ich im hohen Gras ein riesiges Holzkreuz liegen, auf dem eine Gestalt festgenagelt ist.
Vollkommen entsetzt erkenne ich den Jungen aus unserem Garten, der in diesem Moment die Augen öffnet und schreit: „Lauf! Carolin, verschwinde von hier! Julian ist besessen!“
Nass geschwitzt und völlig verängstigt schrecke ich aus dem Traum hoch und reiße das Licht an.
Am Ende meines Bettes sitzt mein Bruder und starrt mich an.
„Julian!“, rufe ich erschrocken und versuche mir bewusst zu machen, dass ich in meinem Bett liege, nur geträumt habe und Julian mein mich liebender Bruder ist.
Verstört raune ich: „Mensch, ich hatte wieder so einen schrecklichen Traum. Wenn das doch bloß mal aufhören würde.“ Dabei wische ich mir den Schweiß von der Stirn.
„Was hast du geträumt? Du riefst meinen Namen“, fragt Julian und klingt lauernd.
Ich schüttele nur den Kopf, die Verständnislose spielend. Es erscheint mir unmöglich, Julian von diesem Traum zu erzählen. „Ach, ist doch egal“, erwidere ich und werfe mich in mein Kissen zurück.
Julian springt von der Bettkante auf, tritt an das Kopfende meines Bettes, beugt sich zu mir runter und faucht: „Carolin, das ist nicht egal!“
Ich sehe ihn überrascht und verunsichert an. Sein Ausbruch erschreckt mich.
Julian scheint sich bei meinem ängstlichen Zurückweichen zu besinnen. Er rückt sofort wieder etwas von mir ab, um mir im milden Ton zu versichern: „Ich meine natürlich, dass es deswegen nicht egal ist, weil du dich sonst immer tiefer in diese Träume verstricken könntest. Das wollen wir doch nicht, oder?“
Ich schüttele den Kopf und ziehe die Bettdecke bis unter mein Kinn. Mir ist kalt und ich fange zu zittern an.
„Nah, siehst du! Deswegen solltest du mir besser jeden deiner Träume genau schildern, verstehst du?“
Ich nicke zwar, spüre aber ganz klar einen heftigen Widerwillen gegen Julians Wunsch. Ich kann es nicht genau deuten, aber irgendetwas sagt mir, dass Julian der Letzte ist, dem ich meine Träume genau schildern sollte. Erschreckend baut sich vor meinem inneren Auge wieder das Bild von dem Jungen am Kreuz auf, der mich so eindringlich vor Julian warnte.
Ich schüttele leicht den Kopf, um den Gedanken daran zu vertreiben. Julian würde mir nie etwas zuleide tun.
„Ich habe dir ein Buch gekauft“, raunt der mir zu und ich sehe in seiner Hand ein kleines, blaues Büchlein. „In das schreibst du am besten jeden Traum auf. Dann schaffen wir es bestimmt bald, dich von den Träumen zu befreien.“ Dabei lächelt er mich aufmunternd an. „Glaub mir, das ist wirklich das beste Heilmittel. Besser auf jeden Fall als so ein Quacksalber von Arzt, der deinen Kopf wieder durchwühlt.“
Ich nicke und starre Julian über den Rand der Bettdecke hinweg an.
Mit einem zufriedenen Lächeln zwinkert er mir zu und legt das Buch auf mein Nachtschränkchen und einen Kugelschreiber oben drauf. „Es ist nur zu deinem Besten“, sagt er noch und verlässt mein Zimmer.
Ein schneller Blick auf meinen Wecker sagt mir, dass es schon nach Mitternacht ist. Muss Julian denn nie schlafen?
Ich liege noch einige Zeit wach und versuche zu verstehen, was eigentlich mitten in der Nacht um mich herum geschieht. Was mir die vielen Nächte lang nicht weiter in den Sinn kam, drängte sich mir plötzlich erschreckend auf. Was macht Julian eigentlich immer in meinem Zimmer, egal ob ich böse träume oder nicht? Und … hatte er überhaupt vorgehabt, mich aus dem Traum zu reißen oder saß er nur da, um meine Reaktionen beim Träumen mitzuerleben? Schließlich wurde ich von selbst wach und Julian hatte nur auf dem Ende meines Bettes gehockt und mich angestarrt.
Ich muss wieder an den Jungen an dem Holzkreuz denken. Seine schwarzen Augen waren so voller Schmerzen und sein dunkles Haar vom Schweiß verklebt. Er blutete überall und ließ es sich doch nicht nehmen, mich vor Julian zu warnen.
Ich werfe mich in meinem Bett herum und lasse das Licht lieber an. Mit aller Macht versuche ich den Traum wegzuschieben. Ist ja auch alles zu verrückt.