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Die Geheimnisse von Cecilia Hyde

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M ein lieber Joel,

wenn du diesen Brief in den Händen hältst, werde ich nicht mehr bei dir sein.

Ich werde dich schrecklich vermissen, denn du warst mein Sonnenschein, meine Luft zum Atmen und das Beste, was mir je passiert ist. Ich weiß, dass du das Einzige sein wirst, dass ich aus ganzem Herzen vermisse werde, egal wo ich jetzt bin.

Mein Leben lief nicht immer so, wie ich es mir wünschte, doch es lief immer so, wie ich es verdient habe. Darum hadere nicht mit dem, was passierte und dich diesen Brief erhalten ließ, sondern lebe dein Leben. Ignoriere alles, was dir zu Ohren kommen kann und behalte mich so in Erinnerung, wie du mich kanntest. Denn das ist der wertvolle Teil von mir, den nur deine Geburt in mir zum Klingen brachte.

Bitte sei dir immer im Klaren, dass ich die Liebesfähigkeit, zu der ich wohl doch im Stande war, nur über dich ausgebreitet habe. Über niemanden sonst. Vergiss das nie und ignoriere alles, was dir etwas anderes Einreden will. Bewahre mich in deinem Herzen und forsche nicht nach dem, was mich in ein anderes Licht rückt, als in das, was du bei mir kanntest. Das ist das einzige, um was ich dich aus ganzem Herzen bitte. Bleib mein mutiger Prinz, der sein Leben meistert.

Deine dich immer liebende Mutter

Zu spät!

Ich zog vor acht Wochen in diese Wohnung, die sich als eines der vielen Geheimnisse meiner Mutter entpuppte. Hätte mir jemand gesagt, dass sie die Hüterin vieler Geheimnisse war und ein Doppelleben führte, ich hätte es nicht geglaubt. Aber seit ihrem Tod werde ich ständig eines Besseren belehrt.

Ich bin siebzehn Jahre alt, Einzelkind, hatte nie einen Vater und habe nun auch keine Mutter mehr. Sie starb vor fünf Monaten bei einem Unfall und war alles, was in meinem Leben Bedeutung hatte. Allerdings erkannte ich das erst, als es schon zu spät war. Wer denkt auch schon daran, dass eine Mutter auch sterben kann?

Klar, als Siebzehnjähriger ist man sich sowieso sicher, dass man keine Mutter braucht. Man fühlt sich schon lange als Beherrscher seiner Welt und über alles erhaben. Vor allem über das, was eine Mutter noch meint, einem mit auf den Weg geben zu müssen. Man tut es als unwichtig ab und hält sie für spießig, weltfremd und völlig unwissend. Sie ist halt nur eine Mutter!

Aber wenn man dann aufwacht und erkennt, dass sie für immer weg ist, dann ist die Welt auf Schlag eine andere. Mit dem Tag sinkt auch die Herrschaft über das eigene Reich in sich zusammen und alles gleicht einem Trümmerfeld.

Die Leute sagen, man erholt sich von dem Verlust und das Leben geht weiter. Klar geht es weiter. Aber wie?

Der Ort, an dem ich jetzt lebe, war eins von Mamas Geheimnissen. Sie hatte diese Wohnung vor zwei Jahren gekauft, ließ uns aber weiterhin in der Mietwohnung wohnen. Mein Onkel meinte, dass sie bestimmt nur abwarten wollte, bis ich die Schule beendet habe. Aber sorry … eine kleine Erwähnung, dass wir Wohnungsbesitzer sind, wäre schon angebracht gewesen. Außerdem bin ich alt genug, um einen Schulwechsel zu verkraften oder eine längere Busfahrt in Kauf zu nehmen.

Ich war ja immer für ein Moped. Aber das war meiner Mutter zu gefährlich. Ich hätte ja einen Unfall haben können.

Tzzz, lachhaft. Sie hat es sogar zu Fuß erwischt. Mitten in der Nacht, mitten in einer erhellten Stadt zu einer Zeit, wo es kaum mehr jemanden auf die Straße treibt …

Dass es diese Wohnung gibt, offenbarte sich mir bei der Testamentseröffnung vier Wochen nach ihrem Tod, bei der auch mein Onkel Andreas, Mamas einziger Bruder, und Michelle, die Mitbesitzerin ihres Internetcafes, anwesend waren. An dem Tag erbte ich diese Wohnung und sogar Bargeld in Höhe von 25000 Euro. Mein Onkel erhielt Mamas Anteile an seiner Baufirma zurück und Michelle … sie bekam mich als Mitbesitzer mit 20% Anteilen am Internetcafe. Die anderen dreißig Prozent meiner Mutter gingen an Michelle, weil sie ihr keine Hilfe mehr sein wird.

Mein Onkel hatte mich nach dem Unfall meiner Mutter zu sich geholt. Aber er ist selbst alleinstehend, hat eine Baufirma und drei Kinder. Mir war klar, ihn beglückte der Umstand nicht, dass er mich auch noch am Hals hat. Und weil sein ältester Sohn Timo nach den Sommerferien in die Stadt ziehen musste, um sein Studium beginnen zu können, hatten wir die Idee mit der WG in der von mir geerbten Wohnung. Er möchte Lehrer werden.

Timo und Lehrer. Die armen Schüler!

Ich fragte mich immer, wie meine Mutter sich eine Wohnung überhaupt leisten konnte und woher sie so viel Geld hatte. Aber mittlerweile ahne ich so manches.

Da ich noch nicht achtzehn bin, hat mein Onkel das Sorgerecht. Mir war von Anfang an klar, dass er keinen Bock hat, sich um noch einen Jugendlichen zu kümmern. So ließ er mich und Timo in meine Wohnung ziehen. Außerdem wohnen Katja und Manuell noch hier. Das Ganze schimpft sich WG.

Katja war Timos Wahl, Manuel ganz klar meine. Er ist ein Computerfreak und wurde für mich in den letzten Wochen zu einem Freund, der einige Geheimnisse meiner Mutter mit mir lüftete.

Zu unserem Domizil gehört ein großes, gemeinsames Wohnzimmer, eine ultramoderne Küche und ein riesiges Badezimmer mit einer ultramodernen Dusche. Alles war fast ungebraucht - bis auf mein Zimmer. Das hatte meine Mutter wohl hin und wieder bewohnt, wenn sie in der Stadt war und ich glaubte, dass sie eine ihrer Nachtschichten in ihrem Internetcafe hatte oder auf einer Geschäftsreise war. Daher wollte ich da unbedingt einziehen. Es lässt mich etwas von der Cecilia erspüren, die sie außerhalb unserer vier Wände und meines behüteten Lebens war. Der anderen Cecilia.

Dieser Brief von ihr, den ich am Tag der Testamentseröffnung neben der Wohnung und dem Geld erhalten hatte, ist mir mehr wert, als alles auf der Welt. Er ist für mich wie eine Verbindung zu ihr, die noch nach ihrem Tod besteht. Er gibt mir das Gefühl, dass ich sie noch nicht ganz verloren habe.

Aber dass sie ihn verfasste, erschreckt mich. Schließlich zeigt das, dass sie mit ihrem Tod rechnete. Wer tut das schon? Und ihre Bitte kann ich ihr nicht erfüllen. Wie soll man das auch können, wenn man plötzlich feststellt, dass die eigene Mutter ganz offensichtlich ein Jekyll and Hyde war.

Es ist jetzt fünf Monate her, als ich nach der Schule nach Hause kam und zwei Polizeibeamten an der Tür klingelten, bevor ich noch die Jacke ausziehen konnte.

Damit begann für mich ein rabenschwarzer Tag. Der schlimmste in meinem Leben.

„Joel Kammlagen?“

Ich hatte sofort ein schreckliches Gefühl, dass etwas passiert war.

Noch heute wundere ich mich darüber, dass mich da erst dieses Gefühl beschlich und nicht dreizehn Stunden zuvor, als Mama mich und die Erde verließ.

Ich habe einige Zeit damit verbracht zu ergründen, was ich in dem Moment getan habe, als sie starb und warum ich das nicht spürte. Naja, ich weiß nicht, ob ich nichts spürte. Ich habe geschlafen. Als meine Mutter sich aus meinem Leben stahl, lag ich in meinem Bett und habe einfach nur geschlafen.

Vielleicht träumte ich von ihr? Vielleicht war sie bei mir?

Nein, nicht nur vielleicht. Wenn ich etwas weiß, dann, dass sie auf alle Fälle bei mir war. Sie war bestimmt zu mir gekommen, hatte sich auf meine Bettkante gesetzt und mir die blonden Haare aus dem Gesicht gestrichen. Dann hatte sie mich mit diesem eigentümlichen Lächeln gemustert und mir leise zugeflüstert: „Joel, Licht meines Lebens. Ich muss gehen. Sei nicht traurig. Es wartet eine bessere Welt auf mich.“

Naja, das mit dem Licht ihres Lebens ist ein Spruch, den sie früher immer zu mir sagte. Das änderte sich, als ich älter wurde und durchaus einigen Unfug im Kopf hatte. Und das mit der besseren Welt … mittlerweile weiß ich, meine Mutter führte ein sprichwörtliches Doppelleben. Es gab die Cecilia für mich und eine für den Rest der Welt. Und irgendwie war letztere in einem Leben verwoben, dass sie zwar reich machte, aber bestimmt nicht glücklich. Zumindest will etwas in mir das denken. Alles andere würde heißen, dass sie nicht normal tickte.

Also, diese beiden Polizisten hatten die leidige Aufgabe, mich über den Tod meiner Mutter zu informieren. Sie hatte einen Unfall. Mitten in der Frankfurter Innenstadt war sie nachts um drei Uhr von einem Auto angefahren worden.

Sie war auf einer ihrer Geschäftsreisen und wollte am Samstag zurückkommen. Aber am Freitag, den zwölften April, lief sie nachts um drei Uhr irgendwo in Frankfurt durch die Innenstadt und wurde einfach von einem Auto umgefahren. Der Fahrer sagte, er hatte nicht damit gerechnet, dass sie plötzlich über die Straße laufen würde. Sie stand wohl auf dem Bürgersteig und telefonierte. Plötzlich war sie abgedreht und auf die Fahrbahn gelaufen … direkt vor das Auto, dass sie voll erwischte. Und als wenn das nicht schon gereicht hätte, wurde sie an eine der Laternen geschleudert und brach sich das Genick. Sie war sofort tot.

Da es ganz klar ein Unfall war, der sogar von einer Kamera eines Geschäfts aufgezeichnet wurde, erfolgten keine Nachforschungen von Polizeiseite. Nur von mir. Ich fuhr sogar im Juli zu dem Typ, der sie getötet hat und er beteuerte auch vor mir, dass es ein Unfall war, den er nicht verhindern konnte. Auf meine Frage, ob er meine Mutter kannte, reagierte er ziemlich perplex und verneinte. Zu perplex, als dass ich ihm das nicht abkaufte. Ich wollte auch nur erfahren, ob er einer der Leute war, mit denen meine Mutter zu tun hatte. Geschäftlich zu tun.

Aber er war nur ein unbescholtener Bürger, der von seiner Schicht kam und nach Hause wollte und dem meine Mutter, nach einem Telefongespräch mit irgendwem, völlig hirnlos vor das Auto gesprungen war. So zumindest stelle ich mir das vor.

Und sorry, aber da kann doch keiner verlangen, dass man sich darüber keine Gedanken macht. Mit wem hat sie telefoniert? Warum telefonierte sie überhaupt nachts um drei und lief danach kopflos auf die Straße? Was machte sie um die Zeit dort? Warum war sie überhaupt in Frankfurt?

Ein Geheimnis jagt das nächste und Fragen türmen sich mittlerweile so hoch wie der Mount Everest vor mir auf.

Es klopft an meine Zimmertür und ich schrecke zusammen. Ich sitze an dem Schreibtisch meiner Mutter und sinniere mal wieder über all das nach, was mich seit Monaten beschäftigt.

Ohne auf eine Antwort zu warten, wird die Tür aufgestoßen und ein blonder, kinnlanger Pagenschnitt schiebt sich in den Türspalt. Katjas haselnussbraune Augen sehen mich an und ihr schmaler Mund schickt mir ein Lächeln in den Raum, das Wüstensand in Glas verwandeln kann.

Katja ist schön und deshalb wohl bei uns. Timo schleppte sie vor ein paar Wochen an. Ich weiß nicht mal, wo er sie aufgegabelt hat. Er meinte nur, sie wäre eine arme, streunende Katze ohne Zuhause.

„Joel, magst du mitessen? Ich habe gekocht.“

Auch wenn Katja wirklich eine Augenweide ist, so ist sie ansonsten wenig nützlich. Wenn sie kocht ist das Essen wie Russisch Roulette – jeder Bissen kann tödlich sein.

Aber wer kann diesem Lächeln wiederstehen und vor allem seinen hungrigen Magen ignorieren?

Katja wohnt zwar hier, aber ich weiß manchmal nicht genau in welchem Zimmer. Manchmal kommt sie aus ihrem, manchmal aus Timos. Ein paar Mal lag sie auf dem Sofa und schlief. Einmal habe ich sie mir da genauer angesehen …

Ja, sie ist wirklich süß. Aber für mich sind Mädchen noch etwas, was mich irgendwie anzieht und dennoch schrecklich verunsichert. Meine Erfahrungen mit ihnen halten sich in Grenzen und waren bisher eher abschreckend.

Timo ist da anders. Er ist zwar mein Cousin, aber wir ähneln uns überhaupt nicht. Nicht mal im Aussehen. Er ist groß, dünn, hat blonde, glatte Haare und schwarze Augen, wie seine Mutter. Als einziger der Familie. Seine Geschwister haben die blauen Augen meines Onkels.

Ich bin einen halben Kopf kleiner als er, habe aber in der letzten Zeit zugelegt.

Vielleicht liegt es an meinem fleißigen Gebrauch unserer Trainingsgeräte, die Mama damals kaufte, um sich fit zu halten und die wir mit in diese Wohnung nahmen. Erst fanden sie noch Platz in dem freien Zimmer, mussten dann aber nach Katjas Einzug weichen. Seitdem hat Timo die Hantelbank in seinem Zimmer und das große Trainingsmodul steht an der Balkontür neben dem Fernseher.

Natürlich benutzte ich sie damals schon. Aber erst jetzt entfaltet sich offenbar mein Potenzial an Muskelmasse. Außerdem habe ich die dichten, blonden, welligen Haare meiner Mutter geerbt, die Timo, trotz gleichem Genpool, nicht abbekam … und braune Augen, die von meinem Erzeuger stammen müssen.

Klar, Timo sieht gut aus und Katja steht auf ihn. Allerdings sah ich sie auch schon aus Manuels Zimmer kommen, was mich wirklich irritierte.

Mich verschonte sie bisher. Ich denke, ich bin ihr zu jung. Sie ist neunzehn und sogar drei Monate älter als Timo. Manuel ist schon zwanzig, mindestens genauso groß wie Timo, aber doppelt so breit. Deshalb hätte ich nicht gedacht, dass Katja sich auch an ihn heranmachen würde. Aber wer weiß schon, was sie in seinem Zimmer wollte.

Ich schließe die Seite, die ich an meinem PC geöffnet hatte, weil ich eigentlich etwas für die Schule tun wollte und murmele: „Ich komme.“ Dabei schiebe ich mich mit dem dicken Lederschreibtischstuhl von dem massiven Schreibtisch weg, der so monströs ist, dass ich gar nicht weiß, wie die ihn damals hier hineinbekommen haben. Die Tür erscheint mir viel zu klein und der Fahrstuhl ist es definitiv auch. Vielleicht haben sie ihn hier zusammengebaut. Und wer? Wer hat Mama das Ganze eingerichtet? Das ist eine Frage, die ich mir noch nicht beantworten konnte. Wer hat Mama die zwei großen Schränke aufgestellt, die eine ganze Wand einnehmen, das Sofa hier hineingeschleppt und das große schwarze Bett in die Nische eingebaut? Selbst die zwei Matratzen sind so dick, dass man sie kaum tragen kann. Ich hatte sie einmal angehoben, als ich auf der Suche nach weiteren Verstecken war. Aber es gibt nur das nicht zu öffnende in dem Schrank, in dem sich auch alles andere Erschreckende befand, dass meine Mutter hier gebunkert hatte. Offensichtlich wollte sie nicht, dass ich etwas davon Zuhause finde. Anscheinend traute sie mir nicht mehr. Vielleicht glaubte sie, dass ich mit siebzehn dem ungeschriebenen Gesetz nicht mehr folge, dass sie mir von klein auf eingebläut hatte. „Du hast dein Zimmer, ich meins. Und in meins darfst du nur, wenn ich dabei bin.“

Ich hätte ihr Zimmer früher inspizieren sollen. Dann hätte ich eher erfahren, was sie so treibt und sie von dieser Reise nach Frankfurt abhalten können. So glaubte ich immer, dass sie nur die Besitzerin dieses Internetcafes ist. Ich meine, sie hatte das tatsächlich. Aber sie war nicht so viel da, wie ich dachte und es gehörte ihr nur zu 50 Prozent, was ich auch nicht wusste.

Es liegt hier in der Stadt, weswegen ich keine zwei-dreimal in meinem Leben dort gewesen bin. Ich glaubte ihr natürlich, dass dieses Internetcafe 24 Stunden geöffnet hat. Daher gab es die vielen Nachtschichten. Meiner Mutter waren die Nachtzuschläge für die Mitarbeiter zu teuer. Sie war ziemlich geizig und machte immer lieber alles selbst. Erst bei meinen Recherchen nach ihrem Tod wurde mir klar, dass sie mich belogen hatte. Das Internetcafe macht um 22 Uhr zu … und das nicht erst seit gestern.

Daher weiß ich, dass sie nachts wohl einem anderen Geschäft nachging, dem ich versuche auf die Schliche zu kommen. Einem Geschäft, dass im Dunkeln stattfindet und auch nur Kreaturen anlockt, die ihr Unwesen im Dunkeln treiben und die nur tagsüber ein Mensch wie du und ich sind … und wie meine Mutter.

Als ich durch die Tür in das geräumige Wohnzimmer trete, sticht mir das grelle Tageslicht in die Augen. Ich blinzele benommen und höre Katja belustigt rufen: „Du solltest mal deine Schalosien hochziehen. Heute war den ganzen Tag lang schönster Sonnenschein.“

Ich sehe durch die großen Fenster auf die Stadt hinaus, die sich unter uns ausbreitet. Die Sonne scheint tatsächlich das Grau der Stadt etwas aufzuhellen, die in den letzten Tagen im Regen versunken war. Mittlerweile registriere ich sowas auch wieder. Genauso wie den Blumenstrauß auf dem Tisch.

„Schön, ne? Die haben mich so angelächelt, da habe ich sie geklauft.“

Ich werfe Katja einen bösen Blick zu. „Du schickst uns noch die Polizei auf den Hals, mit deiner ständigen Klauerei. Dir ist schon klar, dass ich dich auch wieder hinauswerfen kann?“

„Ach, das tust du nicht!“, ruft Katja nur völlig überzeugt und schenkt mir wieder ihr süßestes Lächeln. „Außerdem kann das nur Timo.“

Ich werfe mich auf einen Stuhl und starre in den Kochtopf mit dem undefinierbaren Durcheinander darin, den Ausspruch von ihr ignorierend.

Katja weiß nicht, dass mir die Wohnung gehört. Ich wollte das so. Sie weiß auch nicht, dass meine Mutter tot ist.

„Dann muss ich mal mit Timo ein ernstes Wörtchen reden“, sage ich und Katja lacht selbstsicher auf. „Tu das.“

Sie weiß, Timo liebt die Vorzüge, die sie bietet. Da brauch er sich nicht auf die Jagd machen, wenn ihm nach etwas Spaß ist. Und er sieht gut genug aus, dass Katja sich jederzeit von ihm vernaschen lässt. Also werde ich umsonst gegen sie intervenieren.

Ich winke ab und lasse mir das Nudelgemisch auf den Teller schaufeln. Es schmeckt sogar besser, als es aussieht.

„Lecker ne?“, will Katja gelobt werden.

Ich nicke nur, während ich mir hungrig das Essen in den Mund schaufele. Ich habe seit dem Frühstück noch nichts gegessen. Nun ist es Abend. Aber wenn ich am PC sitze, oder an den Unterlagen von Mama, dann vergesse ich Raum und Zeit.

Was hatte Mama so schön über Raum und Zeit gesagt? Alles nur Illusion. Und sie hat recht. Jetzt verstehe ich das. Wenn ich über ihren Sachen brühte, bringen mich meine Gedanken weit weg und überall hin. Dann fließen die Raumstrukturen ineinander und verwischen völlig. Manchmal weiß ich gar nicht, wo ich bin, und wer und wann. Das wann kommt mir wirklich oft abhanden. In einem Moment ist es achtzehn und im nächsten schon zweiundzwanzig Uhr.

Mama erzählte mir mal, dass weder Zeit noch Raum feste Konstanten sind. Nur die Geschwindigkeit ist gleichbleibend, und zwar durch die Lichtgeschwindigkeit, die sich nie ändert, während eine Sekunde nicht immer eine Sekunde ist und Meter nicht immer ein Meter. „Alles ist relativ zueinander“, hatte sie gesagt und noch Geschichten hinzugefügt, die ich nicht richtig verstand. Nur eine blieb mir überhaupt im Gedächtnis. „Wenn du an der Autobahn stehst und ein Ferrari rauscht an dir vorbei, dann kommt dir die Zeit, in der er auf dich zukommt, an dir vorbeifährt und am Horizont verschwindet kürzer vor, als wenn du in einem eigenen Auto selbst auf der Autobahn fährst und du den Ferrari bei dem gleichen Manöver beobachtest.“

Das kam irgendwie von dem Superhirn Einstein.

Mama war auch ein Denker und konnte mich damals noch beeindrucken. Später tat ich ihre Weisheiten als unnütze Gedankenspiele ab, die sie bestimmt in dem langweiligen Internetcafe überfielen. Ich stellte sie mir an ihrem Schreibtisch oder Tresen sitzend vor, selbst eine Tastatur vor der Nase und einer Tasse Tee. Mama trank viel Tee und ich glaubte, dass sie auch viele Stunden im Internetcafe zubrachte.

„Erde an Joel! Du denkst zu viel!“ Katja klingt gekränkt. „Und wohl nicht an mich.“ Eins von Katjas Lastern ist, dass sie ständig Aufmerksamkeit braucht.

In dem Moment hellt sich aber ihr Gesicht schon wieder auf, als sie einen Schlüssel im Schloss hört und weiß, dass nun ein bestimmt Gesellschaftsfähigerer auf der Bildfläche erscheint. Und ich bin auch froh darum. In meinem Kopf wüten wirklich zu viele Gedanken, um Katjas Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu befriedigen.

Ich sehe auch erwartungsvoll auf und hoffe darauf, Manuel zu sehen. Aber es ist Timo, der um die Ecke kommt.

„Hi! Hm, hier riecht es nach Essen.“

„Ich habe gekocht“, ruft Katja freudestrahlend und Timo verzieht erschrocken das Gesicht.

„Es schmeckt sogar“, sage ich und kratze die Reste von meinem Teller.

Timo geht zum Kühlschrank und holt sich ein Bier. „Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich noch ein wenig warte. Nur so zehn bis fünfzehn Minuten und schaue, ob einer von euch beiden vom Stuhl kippt.“

„Mein Essen ist nicht verseucht“, mault Katja und zieht einen Schmollmund, was wirklich süß aussieht. Damit wirkt sie eher wie vierzehn, statt neunzehn.

Timo kann natürlich diesem Schmollmund nicht wiederstehen. Er küsst sie und sieht mich dann an, als wolle er um Vergebung bitten.

Meint er wirklich, ich weiß nicht, was da ständig zwischen ihnen läuft und dass er die Finger nicht von ihr lassen kann. Ich hatte Timo damals gesagt, dass ich keine Frau in der Wohnung haben will, weil das nur Stress macht. Timo meinte daraufhin nur: „Blödsinn. Es darf bloß keiner mit ihr anbändeln und sich in sie verlieben. Dann ist das ganz easy. Außerdem brauchen wir jemanden zum Kochen, Waschen und Putzen.“

Katja kann nichts davon. Aber wir hatten das eine freie Zimmer, dass bis dahin Abstellraum und Muckibude war. Das wurde ausgeräumt und sie zog da ein.

Manchmal höre ich die beiden, wenn sie sich in Timos Zimmer vergnügen. Dann stelle ich die Musik an und setze meinen Kopfhörer auf, weil meine Hormone sonst mit mir durchgehen.

Ich habe mit noch keinem Mädchen geschlafen. Meine Mutter trichterte mir gradenlos ein, dass man seinen ersten Sex erst haben soll, wenn man wirklich verliebt ist. Sie war der Meinung, man versaut es sich sonst fürs ganze Leben.

Einmal fragte ich sie: „Warst du schon mal richtig verliebt?“

Dass sie Sex hatte, davon ging ich aus. Sie hatte eine annehmbare Figur, ein schönes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer geraden Nase und dieses blonde, volle Haar, das ihr in weichen Wellen fast bis zur Hüfte reichte, wenn sie es offen trug. Die Haare und die Gesichtszüge vererbte sie mir. Aber ich habe braune Augen und sie hatte wunderschöne hellblaue.

Sie hatte mir nur ausweichend geantwortet: „Vielleicht früher mal.“

Meine Mutter und Männer, das war ein Thema für sich. Es gab angeblich nie welche in ihrem Leben. Mir erzählte sie sogar fast mein halbes Leben lang, dass ich ein kleiner Jesus bin, gezeugt von irgendwas … aber keinem Mann! Gott bewahre!

„Du hast keinen Vater, Joel. Lass dir auch nichts anderes einreden“, bläute sie mir ein.

Und ich kämpfte damit gegen Windmühlen an. Schon im Kindergarten, wenn einmal im Jahr alle Väter eingeladen wurden, hieß es. „Jeder hat einen Vater.“ Jedes kleine Kind wusste das. Auch in der Grundschule versuchte man mir das klarzumachen. Doch ich beharrte darauf, dass ich eine Ausnahme bin. „Meine Mutter lügt nicht. Ich habe keinen Vater.“

Nah gut! Irgendwann musste auch ich einsehen, dass dies biologisch unmöglich ist. Mama besann sich damals auch darauf, dass sie mir mit so einem Quatsch keinen Gefallen tat. Also änderte sie die Geschichte in: „Das war kein Mann, sondern ein Ausrutscher.“ Aber sie erklärte mir täglich, dass ich das Beste in ihrem Leben bin. Immer wieder sagte sie das. Das Licht ihres Lebens.

Und ich weiß, es war auch so. Auch wenn ich mir nicht mehr sicher bin, ob sie mit dem Leben als Mutter zufrieden war und ob ich wirklich das war, was sie sich für ihr Leben gewünscht hat.

Timo wartet wirklich zehn Minuten ab, bevor er sich selbst etwas von dem Essen nimmt. Ich drücke gerade meine Zigarette aus, als er sich etwas auf den Teller schaufelt, nachdem er einige Anekdoten von seinen Kommilitonen zum Besten gab.

Ich werfe einen nervösen Blick zur Küchenuhr.

„Kannst es nicht abwarten, bis Manuel endlich wieder nach Hause kommt?“, hänselt Katja mich.

„Wir haben ein neues Spiel, das wir heute Abend ausprobieren wollen“, lüge ich. Weder Timo noch Katja ahnen, was Manuel und ich tatsächlich immer treiben.

Es begann nach der Beerdigung, dem zweitschlimmsten Tag in meinem Leben.

Mir wurden von Onkel Andreas die Sachen von der Unfallnacht ausgehändigt, die meine Mutter bei sich gehabt hatte. Ich brauchte fast vierundzwanzig Stunden, bis ich die Handtasche öffnen konnte, die ich bis dahin die ganze Zeit mit mir herumschleppte.

Man hatte alles, was sie bei sich getragen hatte, dort hineingelegt und meinem Onkel überreicht, der es mir dann nach der Beerdigung gab. In einem Tütchen waren unter anderem ihre goldene Kette mit dem goldenen, runden Anhänger, auf dem schwarze Rosen ranken, und drei Ringe.

Mein Onkel erklärte mir, dass die Sachen sehr wertvoll sind und ich damit sorgsam umgehen soll.

Für mich stand sofort fest, dass ich sie selbst tragen werde. So habe ich immer diese Kette mit dem Anhänger und den drei Ringen um den Hals. Sieht vielleicht etwas schwul aus. Aber das ist mir egal. Sie sind alles, was mir noch von meiner Mutter geblieben ist.

Außerdem beherbergte die Handtasche zwei Handys. Das eine kannte ich. Meine Mutter hatte es immer bei sich und ich wäre nie darauf gekommen, dass es auch noch ein zweites Handy geben könnte. Auch das fand ich in der Tasche und es war wohl das, mit dem sie kurz vor dem Unfall telefoniert hatte und dass sie in der Hand hielt. Darum war es ziemlich demoliert.

Ich brachte es zu einem Handyshop, wo ich das erste Mal auf Manuel traf. Er arbeitete zu der Zeit dort, um sich Geld für sein IT Studium zusammenzusparen. Irgendwie mochte ich seine ruhige, behäbige Art und erzählte ihm, was mit dem Handy passiert war. Er war von meiner Geschichte sichtlich betroffen und versprach mir zu helfen. So entstand diese Freundschaft.

Bei den beiden Handys befanden sich in ihrer Tasche auch noch ihre Zigaretten mit einem Feuerzeug, ihre Schminktasche, eine Bürste, Kondome, Tempos, Pfefferspray, Kleingeld, Zahnstocher und ein kleines Schweizer Messer. Die Karte ihres Hotelzimmers war abgegeben worden und ihr kleiner Reisekoffer hatte auch seinen Weg zu meinem Onkel gefunden. Allerdings habe ich ihn nie zu Gesicht bekommen. Onkel Andreas meinte auf meine Frage diesbezüglich: „Hm, ihr Koffer? Ich weiß gar nicht, wo ich den gelassen habe. Wenn ich ihn finde, gebe ich ihn dir.“ Mir war klar, er wollte ihn mir niemals geben. Vielleicht war das für ihn ein letztes Andenken an seine Schwester, dass er für sich irgendwo gebunkert hat oder der Koffer beinhaltet Dinge, die ich nicht sehen soll.

Ich war erstaunt, dass er die Kondome in Mamas Handtasche gelassen hatte. Aber vielleicht hatte er sie auch gar nicht gesehen. Sie steckten in einem Seitenfach mit Reißverschluss.

Mich schockten die nicht. Kondome hatte meine Mutter immer schon in ihrer Handtasche. Darum ging ich davon aus, dass sie durchaus Männerbekanntschaften hatte. Nun interessiert mich, wer diese Männer waren. Plötzlich scheint mir das wichtig, nachdem ich immer mehr auf diese andere Cecilia stoße, die sich auf Geschäftsreisen begab, mitten in der Nacht durch eine fremde Stadt tingelte, mit irgendwem telefonierte und dann vor ein Auto sprang.

Ich habe diesem Autofahrer abkaufen müssen, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war. In dieser Nacht waren die Uhrzeit und der Ort etwas Reelles, nicht Relatives. Für alle Beteiligten. Ich sah, dass auch er litt, weil er das Leben meine Mutter ausgelöscht hatte. Diesmal waren Zeit und Raum keine Illusion, sondern hielten für uns das Schreckliche genau fest. Für immer benennbar, unauslöschbar und nicht verschiebbar. Im Fall meiner Mutter, dieses Mannes und mir war es Freitag, der zwölfte April 2017, um 3:04 Uhr in der Berliner Straße in Frankfurt. Punkt!

Meine Mutter hatte mir einmal etwas erzählt, dass mich damals eher verunsicherte und dass ich deshalb nicht näher hinterfragen wollte. Sie sagte mir, dass wir für alles, was uns passiert, auf die eine oder andere Art selbst verantwortlich sind. Ich weiß gar nicht mehr, warum sie mir diese Weisheit erzählte. Doch es hatte bestimmt einen Grund und nach ihrem Tod bekam das Ganze sogar eine Bedeutung, die mir ihren Tod etwas erträglicher machte. Denn sie hatte mir damals begreiflich zu machen versucht, dass wir in unserem Leben noch mit Bürden zu kämpfen haben, die uns wegen vorheriger Vergehen in einem anderen Leben mitgegeben wurden. Und soweit ich mich erinnere, ging es auch um die Menschen, denen man im Leben begegnet. Auch die sind laut meiner Mutter nicht alle zufällig in unser Leben gestolpert. Sie meinte, dass uns mit einigen etwas aus anderen Leben verbindet und wenn wir jemanden dort wehgetan haben, dann wird er uns in einem folgenden wiederbegegnen und sich rächen. Nein, sie nannte es nicht rächen. Sie nannte es eine schlechte Resonanz auslöschen.

Sie hielt das für wichtig. Sie glaubte daran, dass wir Resonanzen abbauen müssen, damit es uns dann in einem neuen Leben bessergeht.

Ich war damals zwölf oder dreizehn und verstand nicht viel von dem, was sie mir da erzählte. Es interessierte mich auch nicht. Sie war schließlich nur meine Mutter!

Heute weiß ich, sie war alles auf dieser Welt und ich hätte ihre Worte aufsaugen müssen, sie aufnehmen, einrahmen, in Gold gießen müssen. Aber ich tat sie nur ab.

Doch nach dem Besuch bei ihrem Mörder fielen sie mir wieder ein und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass das Zusammentreffen dieses Autofahrers und meiner Mutter, mitten in der Nacht in Frankfurt, einen Sinn hatte. Wie meine Mutter so schön geschrieben hatte, konnte sie deswegen endlich diesem Leben entkommen und ein neues anstreben. Und dieser Mann - vielleicht war er jemand, der sie in einem anderen Leben über alles geliebt hatte - erlöste sie in dieser Nacht nur. Zumindest gefällt mir diese Variante viel besser, als die, dass meine Mutter ihm in einem anderen Leben Schlimmstes zugefügt hatte und der Unfall nur eine Retourkutsche war.

Ich helfe noch den Tisch abzuräumen, wobei Katja und Timo mehr herumalbern, als sich am Abräumen zu beteiligen. Darum überlasse ich ihnen den Abwasch und verdrücke mich in mein Zimmer.

Ich beneide Timo manchmal, wie ungezwungen und locker er mit Katja umgeht. Er hat überhaupt kein Problem damit, bei ihr auf Tuchfühlung zu gehen.

Katja höre ich noch kreischen, weil Timo sie beim Abwaschen von hinten umschlingt, sie an die Spüle presst und wer weiß was mit dem Wischwasser anstellt.

Ich schließe schnell meine Tür, gehe zu meiner Musikanlage und drehe meine Musik etwas lauter. Ich will die beiden nicht hören. Das verursacht immer einen seltsamen, unangenehmen Druck in meinem Bauch.

Ungeduldig ziehe ich eine Schalosie hoch und sehe aus dem Fenster, wo die letzten Sonnenstrahlen im Grau des aufsteigenden Abends versinken und alles in ein schönes Rot färben. Hinter den gegenüberliegenden Häuserblöcken sehe ich das Grün des Stadtparks ein letztes Mal aufleuchten.

Wenn Manuel nicht bald aufkreuzt und mit mir Mamas Laptop checkt, drehe ich durch. Nachdem wir wochenlang versuchten, den Pin zu knacken, hat er sich nun ein Programm zugelegt, dass unser Problem lösen soll. Das läuft seit gestern Abend und ich hoffe, dass wir endlich ein Ergebnis präsentiert bekommen.

Mir wird mulmig bei dem Gedanken, dass auch der Laptop bereinigt worden sein könnte, wie das zweite Handy meiner Mutter.

Das ist ein weiteres Geheimnis, das Manuel und ich entdeckten.

Als ich Manuel das Handy brachte, konnte er es soweit richten, dass wir es untersuchen konnten. Es war eine Prepaid Karte mit der üblichen IMSI und einer Kontaktliste. Da waren Nummern wie meine, die von ihrem Internetcafe, Onkel Andreas, von Michelle, die ich bei der Testamentseröffnung erst kennenlernte, ihrem Friseur, ihrer Autowerkstatt und vielen Taxiunternehmen aus fast jeder Stadt drauf. Alles ganz normal anzurufende Nummern.

Es gab aber auch andere gespeicherte Nummern, die mit irgendwelchen Namen zusammenhingen, die mir keinen Erkennungswert gaben. Natürlich versuchte ich überall anzurufen, weil ich herausfinden wollte, was diese Menschen mit meiner Mutter zu tun gehabt hatten. Doch eine mechanische Stimme wies mich immer wieder darauf hin, dass diese Nummern nicht vergeben sind.

Ich habe keine Ahnung, warum meine Mutter ihren Kontaktspeicher mit Menschen und Telefonnummern gefüllt hat, die es nicht gab.

Ansonsten fand ich keine Bilder, keine SMSen oder sonst was auf dem Handy. Nichts. Selbst die Anrufspeicher präsentierten mir ein vollkommen leeres Dasein und nicht mal ihr letzter Anruf wurde angezeigt.

Manuel ist aber ein Schlaukopf und fand heraus, dass meine Mutter auch einer gewesen sein muss. Und das, obwohl sie sich mir gegenüber immer als völlige Technikniete ausgab. Sie konnte nicht mal ihren Pin ändern oder etwas herunterladen. Doch Manuel fand ein Programm auf ihrem Handy, mit dem man Daten verschlüsseln und Kontakte als Privat kennzeichnen kann, die dann weder in den Kontakten noch in Anruflisten auftauchen. Aber weil auch alles andere aus dem Handy verschwunden war, glaubt er, dass Daten gelöscht wurden.

„Das kann man mit so einem Programm. Man kann von außerhalb auf das Handy zugreifen und alles löschen, was anderen nicht in die Hände fallen soll“, hatte er mit roten Wangen erklärt und seine blauen Augen hatte diesen Ausdruck, den sie schnell bekommen, wenn ihn etwas aufregt oder fasziniert. Er hatte damals auch diesen Blick, als Katja einzog. Daher wusste ich da schon, dass sie unser Untergang sein wird.

Meine Mutter hatte dieses Handy also nicht nur gesichert, sondern es gab auch jemanden, der alle Daten darauf gelöscht hatte, nachdem sie tot war. Natürlich gab ich Manuel auch Mamas anderes Handy.

Er konnte nichts darauf finden, dass Mamas Aufstieg zum Super-Technik-Hirn anzeigte. Es war ganz normal und ohne Schnick-Schnack und zu ganz normalem Gebrauch bestimmt, ohne irgendwelche Sicherheitsprogramme.

Nun warten wir darauf, dass Cecilias Laptop einen Blick in seine Daten preisgibt. Der hat hoffentlich noch einige Antworten für mich parat. Aber Manuel erklärte mir schon, dass ich Pech haben könnte und dort auch das Programm seinen Platz gefunden hat, das alles vor uns sichert oder sogar alles gelöscht ist. Das wäre natürlich fatal. Dann wären meine Nachforschungen am Ende. Zumindest die Nachforschungen, in die Manuel involviert ist.

Es gibt aber noch etwas, dass sich vehement dagegen wehrt, mir seinen Inhalt zu präsentieren und von dem ich mir einiges erhoffe. Es ist dieser versteckte Tresor in einem der beiden Schränke in meinem Zimmer. Niemand weiß, dass es ihn gibt. Ich entdeckte ihn, als ich hierherzog. Ich wollte dort meine drei Kisten mit den Sachen meiner Mutter aus unserer alten Wohnung verstauen. Um Platz zu schaffen, sollte die im Schrank befindliche Kiste entsorgt werden, die mit „Altkleider“ deklariert war. Ich hatte ihn bei meinem ersten Besuch in dieser Wohnung geöffnet und wirklich unansehnliche Pullover, alte Socken und so einen Kram darin gefunden. Klar, dass da keiner drin wühlen wollte. Nicht mal ich. Aber als ich ihn aus dem Schrank heben wollte, ging das nicht. Darum dachte ich mir, dass er etwas sehr, sehr schweres beinhalten muss und zog die unansehnliche Wäsche heraus. Und zu meinem Erstaunen fand ich den Grund, warum sich die Kiste nicht mal verschieben ließ. Sie war um einen Tresor gestellt worden und die Wäsche hatte meine Mutter nur oben auf platziert, um Neugierige von einem Blick hinein abzuhalten.

Bisher konnte ich diesen Tresor aber noch nicht öffnen.

Das mit der Kombination und den Passwörtern gestaltete sich wirklich schwierig, weil Mama nicht die genommen hat, die ich erwartete. Kein Geburtsdatum, keine denkenswerte Kombination passte und auch nicht Mamas heißgeliebtes und einziges Passwort, dass sie mir mein Leben lang präsentiert hatte, als wäre sie unfähig, sich mehr als ein Wort zu merken. So gab es dieses eine: Vogelmiere.

Natürlich hatte meine Mutter über die Vogelmiere auch einiges zu berichten. „Das ist ein wirklich zartes Gewächs mit winzigen, weißen Blüten, dass völlig unscheinbar wirkt. Aber es ist unglaublich widerstandsfähig. Es trotzt Wind und Wetter, Kälte und Schnee … einfach allem. Und es vermehrt sich unglaublich. Es ist einfach nicht totzukriegen.“ Das waren ihre Worte.

Mama liebte offenbar Kämpfer, obwohl sie mich eher zu einem Weichei machen wollte, mit ihrem: „Sei nett zu allen, respektiere jede Form von Leben und Lebensweise, sei immer hilfsbereit und zuvorkommend und denke immer daran, dass jeder Mensch gleich ist.“ Es fehlte nur noch: Wenn dich jemand schlägt, dann halte auch die andere Wange hin.

Manchmal schwelgte sie förmlich in Nachsicht und Verständnis für alles und jeden. Es kam mir dann immer so vor, als mochte sie Außenseiter besonders. Penner, Junkies, Homos, Psychopaten … alles ganz tolle Menschen, bei denen nur etwas im Leben anders gelaufen war.

Sie liebte auch Ordnung. Aber als ich damals das erste Mal in diese Wohnung kam, fand ich hier keine Spur von der ordnungsliebenden Cecilia. Ich denke, wenn mein Onkel Andreas gewusst hätte, dass Mama diese Wohnung nutzte und was darin zu finden war, dann hätte er sie vorher inspiziert und ausgeräumt. So stieß ich auf diese andere Cecilia.

Ich hatte die Schlüssel schon seit der Testamentsvollstreckung im Besitz, war aber noch so entsetzt, dass Mama tot war, dass ich gar nicht in der Lage war, mich dem Leben wirklich wieder zu stellen. Damals war es auch eher Timo, der darauf brannte zu erfahren, wie es um diese von mir geerbte Wohnung bestellt war. Er malte sich aus, dort einziehen zu können, wenn er sein Studium beginnt. Natürlich ahnten wir beide nicht, dass es eine superteure Penthousewohnung ist. Das wusste nur Onkel Andreas, weil er meiner Mutter wohl damals gesteckt hatte, dass sie noch zu kaufen ist.

Timo lag mir lange in den Ohren mit seiner WG Idee. So raffte ich mich eines Tages auf und fuhr mit dem Bus in die nahegelegene Stadt, um sie mir anzusehen.

Natürlich wollte Timo mit. Aber ich wollte erst alleine hinfahren und mich dem Stellen, was mir dort begegnen würde. Ich rechnete nicht mit viel. Doch was ich fand, haute mich um.

Das sechsstöckige Haus mit den Geschäften im Erdgeschoß war erst vor einigen Jahren erbaut worden. Onkel Andreas Baufirma hatte wohl einen nicht geringen Anteil an dessen Entstehung. Die nächsten vier Stockwerke waren Büroanlagen verschiedenster Firmen und oben gab es dann die Wohnungen. Ich weiß nicht warum, aber diese stand wohl lange leer, bis meine Mutter sie kaufte. Ich weiß nicht mal, ob sie die Küche ausgesucht hatte oder ob die schon drinnen war. Zumindest gebraucht worden war sie nie. Es gab auch kein Geschirr oder Töpfe.

Der Eingangsbereich hatte mich schon schlucken lassen. Der Flur war groß und mit schwarzweiß gekachelten Fliesen belegt, sowie einer schwarzen Flurgarderobe. Die gleichen Fliesen waren auch in der Küche und im Badezimmer zu finden. Alle anderen Räume sind mit Holzfußboden. Das Wohnzimmer ist riesig und bietet einen Balkon und einen unglaublichen Blick über die Stadt und hat einen offenen Bereich in die Küche. Mich hatten diese drei Räume schon sprachlos gemacht und ich konnte nicht fassen, dass uns das schon lange gehörte und wir doch niemals hergezogen waren.

Ich war langsam durch das Wohnzimmer geschlichen und hatte in alle Räume geschaut, deren Türen offenstanden. Aus irgendeinem Grund umging ich die einzige Tür, die geschlossen war. Doch als ich alles inspiziert hatte und mich sogar der Ausblick von dem großen, überdachten Balkon schwindelig gemacht hatte, steuerte ich diese Tür an. Ich erwartete nichts. Gar nichts. Aber was ich fand, zog mir die Beine unter dem Arsch weg.

Der Raum war dunkel, weil alle Schalosien heruntergelassen waren. Als ich das Licht anknipste, offenbarte sich mir ein voll eingerichteter großer Raum mit einem überdimensionalen Schreibtisch, einem dicken Leder-Chef-Drehsessel, zwei großen, massiven Schränken, die fast eine ganze Wand einnahmen, und einem Sofa mit einem kleinen Glastisch gegenüber der Schränke. Erst als ich den Raum betrat, sah ich die Nische mit dem Bett, das durchwühlt war, als hätte darin noch vor Kurzem jemand geschlafen. Und über allem lag Mamas Parfüm, dass sie immer großzügig aufgetragen hatte, wenn sie zur Arbeit oder sonst wohin ging. Es schwebte beständig durch unsere alte Wohnung wie eine undurchdringbare Dunstwolke. Dass meine Klamotten diesen Geruch annehmen könnten, beunruhigte mich mit zunehmendem Alter. Deshalb trat ich dem süßlichen Gestank mit einer maskulinen Duftnote und Zigarettenqualm entgegen. Als Cecilia sich darüber aufregte, dass ich in meinem Zimmer rauche, konterte ich, dass sie erstens auch raucht und ich zweitens somit diesen süßen Duft entgegensteuere, der penetrant alles verseuchte.

Wir stritten uns um so viele Kleinigkeiten und um so viel Unnützes. Dabei gab es so viel, um was wir uns wirklich hätten streiten können. Zum Bespiel ihrem Lebenswandel, den sie so akribisch vor mir verbarg und dem Umstand, dass sie eine Penthousewohnung besaß. Mal ganz zu schweigen von den vielen Lügen, die sie mir immer aufgetischt hatte.

Und genau auf die traf ich in diesem Zimmer.

Auf dem Fußboden fand ich Wäsche und einige vollgezeichnete Blätter. Genau solche Zettel hingen auch an der Wand über dem Schreibtisch. Sie zeigen Orte oder Szenen mit Strichmännchen an.

Mama war kein Maler. Überhaupt nicht. Das sah man.

Ich hob völlig perplex ein Wäschestück auf, auf das ich sonst getreten wäre. Es war ein Pullover meiner Mutter, den ich kannte. Alle anderen Wäschestücke, die ich aufsammelte, kannte ich nicht. Es sah so aus, als hätte sich hier jemand eilig angezogen und dabei alles Mögliche ausprobiert. Von Unterwäsche über zusammengeknuddelten Netzstrümpfe, Strapse, ein schwarzer Rock aus Plastik oder Gummi, ein anderer aus Spitze, Schnürkorsetts in verschiedenen Farben und Ausführungen und eine Maske mit Verzierungen und Federn lagen auf dem Boden verstreut und erinnerte mich an Utensilien, die ich in diversen Pornos gesehen hatte.

Ich wusste in dem Moment, dass ich der anderen Cecilia noch ein weiteres Stück mehr auf die Schliche gekommen war. Der Cecilia, die auch ein Stück weit in unserer alten Wohnung gelebt hatte. Auch dort war ich ihr nach ihrem Tod schon begegnet.

Als mein Onkel Andreas, meine Cousins Timo und Martin und eine Umzugsfirma die Wohnung ausräumen wollten, hatte ich mir ein Herz genommen und hatte Mamas Zimmer in Angriff genommen. Bis dahin hatte ich nur viele Stunden in ihrem Bett gelegen und versucht zu erfassen, dass sie nicht mehr zurückkommt. Doch da musste ich mich entscheiden, was ich von ihr behalten wollte. Onkel Andreas hatte mir drei Kisten zugestanden und ich hatte mir die größten der Umzugskartons herausgesucht und mich in Cecilias Zimmer eingeschlossen. Alle Kleider, Röcke, Jeans, Pullover, Blusen, die mir einen bestimmten Erkennungswert an schöne Zeiten gaben, legte ich zusammen und verstaute sie in einer Kiste. Auch ihren heißgeliebten alten Mantel und ihre Stiefel und Puschen. Auch dort gab es Unterwäsche, die mich schwer Schlucken ließ und die bei mir die Frage aufkommen ließ, wann Mama so etwas getragen hat.

Ich packte auch einige Bücher ein, zwischen denen ich auf ein A5 Heft stieß, wie wir sie in der Schule haben. Das machte mich natürlich neugierig und ich sah hinein. Es gab eine Überschrift mit einer Geschichte, die über vier Seiten ging. Dann folgte eine weitere Überschrift mit erneuten drei Seiten und so weiter. Sie waren in Mamas feinsäuberlicher Schrift geschrieben.

Ich wusste bis dahin nicht, dass Mama überhaupt Geschichten schrieb. Es gab dazwischen gefaltete Dina 4 Blätter, die von einem PC stammten und ausgedruckt worden waren. Ich dachte, dass das alles ein kleines Sammelsurium netter Kurzgeschichten ist und nahm mir vor, sie irgendwann zu lesen.

Mittlerweile hoffe ich, sie stammen alle von jemand anderem. Denn die Geschichten darin können einem schlaflose Nächte bereiten. Darum dürfen sie niemanden in die Hände fallen.

Auch ihren Schmuckkasten, ihr Parfüm und ihre Schminksachen … alles behielt ich. Die CDs mit ihrer Musik und mit unseren Fotos und Videos, ihren kleinen Koffer mit Erinnerungen, die wohl aus ihrer Kindheit stammen und alles, was mich an sie erinnert, packte ich auch ein. Der restliche Hausstand wurde sowieso verpackt, sowie die Möbel. All das lagerte Onkel Andreas in einem Teil seiner Halle ein. Nur meine drei Kisten klebte ich mir ans Bein. Sie gingen, wohin ich ging und waren mit fast einer ganzen Rolle Paketkleber verklebt gewesen, damit niemand sie öffnen konnte.

Tatsächlich öffnete ich sie erst, als ich in diese Wohnung zog. Dass ich hierherziehen würde, stand für mich in dem Moment fest, als ich diese Wohnung das erste Mal betrat und Mamas zweites Leben vorgefunden hatte.

Ende Juli war es dann soweit. Da Timo ab September etwas zum Schlafen in der Stadt brauchte, willigte Onkel Andreas ein, dass wir meine Penthousewohnung beziehen durften. Ich allerdings nur mit der Auflage, dass ich mich vorbildlich benehme, immer brav zur Schule gehe und er keinen Ärger wegen uns bekommt. Somit riefen wir unsere WG ins Leben, der Manuel sich anschloss.

Die Möbel aus unserer alten Wohnung wurden wieder aus der Versenkung geholt und unser neues Domizil damit eingerichtet. So veränderten sich die Räume im Nu. Nur Mamas Zimmer blieb wie es war.

Mein Onkel war nicht so erstaunt wie ich, dass Cecilia die Wohnung genutzt hatte. Ich weiß nicht, ob er mehr über das weiß, was meine Mutter dort getrieben hat. Er war immer sehr kurz angebunden, wenn ich versuchte, mehr aus ihm herauszuquetschen. Er sprach auch erst wirklich von ihr, als wir uns in unserem Urlaub etwas mehr annäherten.

Um uns von dem Tod meiner Mutter zu erholen, buchte mein Onkel in den Sommerferien für uns alle eine Finka auf Mallorca. Vier Wochen verbrachten wir dort und das hat uns als Familie ein wenig mehr zusammengeschweißt. Ich hatte nie viel mit Onkel Andreas zu tun gehabt. Nur mit meinen Cousins und meiner Cousine und meiner Tante, die aber vor einigen Jahren mit einem von Onkel Andreas Bauarbeitern durchbrannte. Das war im selben Jahr, als auch Oma und Opa starben. Ich glaube, da hatte meine Mutter mir das mit dem - selbstverantwortlich für sein Schicksal sein – erzählt und dass man diese alten Resonanzen aus anderen Leben aufarbeiten muss.

Die Geschichten, die mein Onkel mir von sich und Cecilia erzählte, gaben mir ein Bild einer glücklichen Kindheit. Zumindest solange, wie mein Onkel noch zuhause lebte. Meine Mutter war zwölf, als er auszog und in die Lehre ging. Deshalb hatte er auch nicht viel aus ihrer späteren Jugendzeit zu berichten … oder er wollte es nicht.

Nach dem Urlaub war das Verhältnis zwischen mir und meinem Onkel allerdings fast schon freundschaftlich und uns hatte die gemeinsame Zeit ein Stück weit Mamas Tod verkraften lassen. Darum ließ er uns das mit der WG in Angriff nehmen.

Ich hätte sowieso die Schule wechseln müssen und so suchte ich mir ein Gymnasium ganz in der Nähe der Wohnung und wurde dort in die elfte Klasse aufgenommen, weil mir zu viel Stoff wegen Mamas Tod fehlte und mein Zeugnis somit nicht das beste war. Am 3 August hatte ich dort meinen Einstand, muss aber sagen, dass mich alle für etwas eigenbrötlerisch halten. Aber ich habe auch zu viel mit dem zu kämpfen, was ich bisher herausfand.

Wenn man von dem Menschen, den man glaubte am besten zu kennen, plötzlich lauter verrückte Dinge erfährt, dann ist das schwer zu verkraften.

Das Prepaid Handy mit dem Sicherheitsprogramm war ja schon seltsam … und dass wir in einer Mietwohnung lebten, obwohl Mama eine Eigentumswohnung hatte. Dazu kommt der Tresor in der Altkleiderkiste, den ich bisher nicht knacken konnte. Mamas Unterwäschegeschmack war auch seltsam und dass sie auf Geschäftsreisen ging, obwohl sie doch angeblich nur das Internetcafe besaß. Gut, das mit den Geschäftsreisen hatten erst in den letzten drei Jahren begonnen. Ich war ja froh, dass ich dann sturmfreie Bude hatte und habe das nie hinterfragt. Wir waren viel zu beschäftigt damit, dann Partys zu feiern. Mein Freund Jonas war wirklich der Held in Partys organisieren. Ich hatte nicht mal ausgesprochen, dass Mama weg sein würde und er hing schon am Telefon und lud Leute ein.

Aber dann hatten wir einen heftigen Streit, weil er mit Marie in Mamas Zimmer geschlichen war und sie in ihrem Bett gevögelt hatte. Ausgerechnet das einzige Mädchen, dass ich gut fand und ausgerechnet das einzige Zimmer, dass niemand betreten durfte.

Ich war sowas von sauer, zumal Jonas wusste, dass ich das Mädchen mochte. Er meinte zwar, Marie war diejenige, die ihn in das Zimmer gezogen hatte und vernaschte. Aber das war mir egal. Jonas war für mich gestorben. Und Marie sowieso. Somit gab es keine Partys mehr bei mir, die ich nur zugelassen hatte, weil ich Marie näherkommen wollte. Die fanden woanders statt und meistens ohne mich. Aber das war mir egal. Nach der Pleite mit Marie verbrachte ich meine Zeit lieber mit Internetspielen.

Und dann war meine Kindheit sowieso mit einem Schlag vorbei. Der Tod meiner Mutter hatte alles aus den Angeln gehoben und nachhaltig meine Grundfesten erschüttert, weil ich erkennen musste, dass ich sie nie wirklich gekannt habe. Nun will ich ihre Geheimnisse ergründen. Alle.

Gut, sie hatte mich in dem Brief inständig gebeten, genau das nicht zu tun. Aber sorry, wer kann so etwas einhalten? Also ich nicht!

Ich hatte am ersten Tag, als ich meine neue Wohnung begutachtete und Mamas geheimes Domizil fand, all ihre Wäsche zusammengelegt und in dem Schrank verstaut, in dem auch noch einige andere Kleidungsstücke zu finden waren, die mich Mama mit anderen Augen sehen ließen. Während es Zuhause nur nette Sommerkleider, schicke Röcke und Blusen, bequeme Pullover und Jeans gab, fand ich hier im Schrank hautenge, schwarze, rote, oder blaue Kleider und Hosen, zum Teil aus diesem Plastik oder Gummi oder was das auch immer sein mag. Ihre Unterwäsche und seltsamen Korsetts waren echt nuttenmäßig. Extrem nuttenmäßig. Erschreckend nuttenmäßig. Und ihre Mäntel und Röcke waren aus Leder oder Lederimitat. Dazu hatte sie fünf Paar Stiefel im Schrank, die alle einen so hohen Schaft hatten, dass man sich darin hätte verstecken können. Dazu die hochhakigen Schuhe. Lauter Knochenbrecher.

Natürlich ahnte ich, dass ich eine Seite meiner Mutter aufgedeckt hatte, die mich entsetzte und verstörte. Ich fragte mich ernsthaft: War meine Mutter eine Prostituierte oder ein Spion?

Mir gefiel die Sache mit dem Spion natürlich besser. Dazu passten auch das Handy und die seltsamen Zeichnungen, die ich alle vom Fußboden aufgelesen hatte und von den Wänden klaubte und auch in besagtem Mama-Schrank deponierte. Mit ihnen kann ich bis heute nichts anfangen. Gar nichts. Denn sie zeigen seltsam kranke Dinge.

Natürlich bekamen auch alle anderen Sachen mit Erinnerungswert einen Platz dort. Er wurde zu meinem Riesentresor mit Erinnerungen, den ich immer abgeschlossen halte, um ihn vor unliebsamen Blicken zu schützen. Genauso, wie meine Mutter den Inhalt des kleinen Tresors in diesem Schrank immer noch vor meinen Blicken schützen kann. Ich finde einfach nicht die Kombination heraus. Es ist zum Verzweifeln.

Ich versuchte auch ihre Geschäftsreisen zu rekonstruieren, die wenigstens ein wenig in meine Spion-Wunschvorstellung passen. Aber ich musste feststellen, dass mich Mamas Ausflüge so wenig interessiert hatten, dass ich kaum etwas Verwertbares auf die Reihe bekam.

Sie sagte: „Schatz, ich bin für drei Tage da und da“, und ich sagte nur: „Super!“, ohne wirklich zu registrieren, was sie sagte. Fertig. Ich merkte meistens erst richtig, dass sie länger ausblieb, wenn der Kühlschrank sich langsam leerte und ich nicht mehr fand, worauf ich Appetit hatte.

So weiß ich nur, dass sie schon einmal in Frankfurt war und einmal länger in Berlin. Daran erinnere ich mich, weil ich auch immer mal nach Berlin wollte und der Kühlschrank wirklich leer war, bevor Mama wieder da war.

Ich reiße mich von dem Anblick der untergehenden Sonne los, gehe zu meinem Schreibtisch und werfe mich auf den Drehsessel.

Ich hätte sie fragen sollen, was sie auf diesen Geschäftsreisen tat. Ich hätte sie auch fragen sollen, wie ihr Leben so ist und ob es ihr gut geht. Mir wird klar, dass ich nicht annähernd der Mann im Haus war, den ich in mir zu sehen glaubte. Ich war nur ein dummer Junge, der nicht mal schnallte, was seine Mutter so trieb.

Mit dem Gedanken schieben sich wieder die Geschichten aus dem Heft in meinen Kopf. Das passiert mir immer, wenn sich mir aufdrängt, dass meine Mutter diese Geheimnisse hatte. Diese seltsamen, kranken Geheimnisse.

Irgendwie wiederstrebt es mir, Mama die Geschichten überhaupt anzulasten.

Vielleicht gab es noch jemanden in ihrem Leben als mich. So ein echt widerliches, krankes Arschloch. Vielleicht hatte sie deshalb die Doku über Psychopaten.

Dass Mama einer sein könnte, das kann ich nicht glauben. Obwohl sie schon manchmal komisch war. Vor allem in den letzten zwei Jahren.

Ich springe aus dem Sessel, gehe zum Schrank, ziehe den Schlüssel aus meiner Hosentasche und schließe ihn auf.

Einerseits widerstrebt es mir, diese Geschichten erneut zu lesen. Andererseits will ich ergründen, warum Mama die hatte. Und zwar bei uns zu Hause. Da, wo sie eigentlich die brave Cecilia Jekyll war.

Gut, sie waren in ihrem Schrank versteckt und ich hätte sie nie gefunden, weil ich niemals ihren Schrank durchsucht hätte. Aber dennoch erschreckt mich, dass Mama sie überhaupt in unserem Zuhause hortete. Es fühlt sich so an, als hätte ich ein ganzes Arsenal schlimmster und perversester Pornos bei ihr gefunden.

Okay, das hätte mich wahrscheinlich nicht ganz so geschockt, weil das irgendwo normale Lektüre ist, die man überall herunterladen oder kaufen kann. Aber diese Geschichten …

Ich greife mir das Heft und ziehe eine der ausgedruckten Seiten heraus. Das Heft lege ich zurück und schmeiße den Schrank zu, während mich erneut diese seltsame Unruhe packt … und auch eine gewisse Erregung.

Ich werfe mich auf mein Bett und versuche letzteres zu ignorieren, weil es mir sogar vor mir selbst peinlich ist. Genauso wie der Umstand, dass ich mich beim letzten Mal nach einer dieser Lektüren genötigt sah zu onanieren, um den aufgestauten Druck loszuwerden.

Ich falte die Seite auseinander und sehe, dass sie eine Überschrift hat, die mir sofort auf den Magen drückt. Ich seufze einmal tief durch, als läge Schwerstarbeit vor mir und beginne zu lesen.

Das Hotelzimmer der Vergewaltigung

Es ist Abend. Ich sitze mit meinen vier Freunden an einem Tisch in einem noblen Hotelzimmer und wir spielen Poker. Das Zimmer ist schalldicht. Vielleicht sogar hoch oben über einer Stadt mit einem unglaublichen Ausblick und Fenstern, durch die man das Gefühl hat, von jedermann beobachtet zu werden. Natürlich darf uns niemand beobachten können.

Wir spielen Runde für Runde mit hohem Einsatz. Meine Freunde denken, es geht nur um das Pokern. Uns werden laufend Getränke gebracht. Immer nur von einem Hotelangestellten. (Mann)

Es geht auf Mitternacht zu und alle sind gut gelaunt. Der Hotelangestellte bringt Austern und andere Leckereien und Champagner. Für alle steht fest, dass unser Pokerabend bald zu Ende geht. Aber wie immer sind alle überdreht und gut gelaunt und wollen nicht, dass der Abend endet. Ich frage, ob ich noch etwas Nettes als Nachtisch bestellen soll.

Um den Abend noch nicht ausklingen zu lassen, willigen alle ein.

Ich rufe an und fordere den Nachtisch. (Das ist das Stichwort)

Es wird geschmolzene Schokolade gebracht und Früchte … oder irgend so was. (Egal, aber geschmolzene Schokolade wäre gut und vielseitig)

Diesmal kommt nicht der Hotelangestellte (Mann), sondern eine Hotellangestellte (Frau).

Ich frage und tue überrascht: „Holla, wo ist denn unser Page?“

Sie: „Es ist Schichtwechsel. Ich werde sie weiter bedienen.“

Ich gehe zur Tür und sage: „Das ist gut!“ und verschließe sie, damit sie nicht mehr raus kann.

Meine Freunde werden verunsichert stutzen.

Sie sieht sich gehetzt um und bittet: „Bitte, kann ich gehen?“

Ich antworte nur lapidar: „Später vielleicht, wenn wir mit dir fertig sind.“

Nun schnallen meine Freunde, was ich vorhabe. Sie sind immer noch verunsichert. Aber ich greife mir die Frau und küsse sie. Sie versucht sich loszureißen. (Natürlich ist sie nicht kräftig) Ich rufe meinen Freunden zu: „Hey. Hält mal einer die kleine Wildkatze fest? Ich will sehen, was so eine Hotelangestellte unter dem Hoteldress trägt.“

Sie kommen langsam näher und einer nimmt ihre Arme und hält sie ihr hinter dem Rücken fest.

Die Frau ist entsetzt, als ich beginne ihre Bluse aufzuknöpfen. Sie trägt schöne Spitzenunterwäsche und hat einiges zu bieten. Das bringt auch die Zurückhaltenden auf den Plan. Sie schreit, aber keiner hört sie. Wir zerren sie zu dem Bett und ich hole die Schokolade. Während die anderen sie weiter ausziehen, schiebe ich ihr die in Schokolade getauchten Früchte in den Mund, während die anderen sie festhalten.

Ich lasse die warme Schokolade aus dem Topf von ihren Lippen über ihren Körper rinnen. Die ersten beginnen gierig die Schokolade von ihrem Körper zu lecken. Aber ich befehle: „Haltet sie fest und zwei winkeln ihre Beine an.“ Ich schiebe ihr eine in Schokolade getunkte Erdbeere zwischen die Schamlippen und sage: „Wer die als erstes im Mund hat und isst, bekommt den Topf und die Früchte und darf weitermachen.“

Alle stürzen sich auf sie.

Sie ist hart im Nehmen und kann alles ertragen, was uns einfällt. Sie wimmert und weint nur. (Das muss, damit es authentisch wirkt.)

Wir toben uns an ihr aus. Jeder auf seine Art, die ihm gefällt.

Es ist eine stilvolle Vergewaltigung, mit allem Drum und Dran und völlig tabulos.

Wenn wir fertig sind, drohe ich ihr: „Zu niemanden ein Wort oder ich werde dafür sorgen, dass du diesen Job los bist und niemals wieder in einem Hotel angestellt wirst. Notfalls werden wir sagen, dass du dich uns angeboten hast.“

Sie verspricht, dass sie schweigen wird und geht.

ALZ 13007

Ich atme tief durch und kann einen Moment nicht klar denken. Andere Geschichten waren ähnlich. Es gab nur wenige, die von einem romantischen Zusammentreffen mit jemandem erzählten, das mit Massage und netten Liebesspielen letztendlich bei einer heißen Nacht endete. Die meisten waren brutale Zusammentreffen mit Gewalt und erschreckenden Spielen. Alle endeten damit, dass der Schreiber befriedigt wurde. Und dabei ging es nicht immer nur um sexuelle Befriedigung. Am harmlosesten fand ich die Geschichte - ich denke, die hat eine Frau geschrieben - mit den vielen schönen, nackten Männern, die ihr alle möglichen Speisen bringen und sie füttern sollten. Das einzige, was mich dabei irritierte, war, dass alle Männer stets einen Ständer haben sollten. Mir war nicht klar, wie das gehen soll.

Wie immer, wenn ich eine dieser Geschichten las, bin ich seltsam betroffen. Und mir macht Angst, dass Mama irgendwie mit den Geschichten und den Schreibern zu tun gehabt haben könnte. Und alle enden mit einer Buchstaben-Zahlen-Kombination.

Es klopft an meine Tür und ich springe aus dem Bett und schiebe die Seite unter das Kissen.

„Hi, Joel. Es ist so weit. Der Laptop deiner Mutter …“ Es ist Manuel, der ins Zimmer stürmt, direkt auf den Schreibtisch zu. Er schiebt meine Tastatur beiseite, um für Mamas Laptop Platz zu haben.

Ich hatte nicht mal mitbekommen, dass er wieder Zuhause ist. Wahrscheinlich war ich erneut in ein Zeitloch gefallen. Außerdem bin ich froh, dass es Manuel ist und nicht Katja. Käme sie jetzt mit der Geschichte von einem Gruselfilm und Angst und wäre in mein Bett geklettert, ich hätte für nichts garantieren können. Aber Manuel bringt mich ganz schnell wieder auf Normalmodus. Er trägt immer noch seine schwarze Kappe auf den viel zu langen, schwarzen Haaren und seine Jeans hängt unter seinem Bauch, der sie in tiefere Regionen verbannt. Sein etwas zu kleines, schwarzes T-Shirt schiebt sich am Rücken etwas hoch, als er sich stehend über den Laptop beugt und gibt seinen Rettungsring über den Hüften und einen Teil seines sehr haarigen Hintern frei.

Ich flitze zu ihm und schiebe mich neben ihn, während er grinsend den Desktop präsentiert.

„Sind wir drin?“, frage ich aufgedreht.

„Ja! Und das Passwort ist Agamemnon.“

„Agamemnon?“, frage ich fassungslos und nehme mir ein Blatt und schreibe das auf.

„Das ist irgend so ein Griechischer Herrscher aus dem Jahre schlag mich tot. Keine Ahnung. Aber halt irgend sowas. Voll abgefahren. Da kommt doch keine Sau drauf.“

Nein, wirklich nicht.

„Und sie hat noch Windows 7“, stellt er fest. Er drückt auf den Tasten herum und atmet scharf ein. „Verdammt, nicht zu fassen.“

„Was?“, frage ich beunruhigt.

Er hat die Programme geöffnet und murrt. „Scheiße ist. Da ist auf alle Fälle auch so ein Programm drauf, dass die Sicherheit auf dem PC gewährleistet. Wer auch immer das Handy säuberte, wird es wahrscheinlich auch mit dem Laptop gemacht haben.“

Ich zische aufgebracht. „Ist da nichts drauf?“

„Schau doch!“ Er klickt im Schnellverfahren in alle Ordner und alle geben nur ein leidvolles Leer sein an.

„Das gibt es doch gar nicht!“, zische ich und frage mich, wo Mamas Bilder hin sind, ihre gespeicherten Dokumente und Downloads, von denen ich weiß, dass sie da sein müssen, weil ich sie mit ihr zusammen auf ihren Laptop speicherte. Ich erinnere mich an Urlaubsfotos von ihrem und meinem Handy und ein paar Alben von ihren Lieblingsbands, die ich ihr heruntergeladen hatte.

„Wenn sie alles als privat markierte oder verschlüsselte, dann sind sie gelöscht oder unsichtbar. Sorry Joel. Aber ich kann nichts mehr tun.“ Manuel scheint wirklich geknickt zu sein. Nachdem wir wochenlang wegen dem Passwort kämpften, scheint uns der Ausgang unserer Laptop-Recherche wirklich niederzudrücken. Doch plötzlich raunt Manuel: „Hey, schau mal. Deine Mutter hat den Tor Browser. Soso!“

Ich starre ihn an. „Den Tor Browser?“

„Damit kannst du ohne Rückverfolgbarkeit der IP Adresse ins Internet gehen. Viele nutzen das vorwiegend für das Darknet. Das ist Internet, wo du alles bekommst und alles angeboten wird, was nicht legal ist. Und der Tor Browser ermöglicht, dass man anonym bleibt.“

Ich hatte schon davon gehört, mich aber niemals damit auseinandergesetzt, weil ich nicht im Internet einkaufe, sondern nur Spiele spiele. Legale Spiele.

„Und auf dem Laptop ist dieser Browser?“

Manuel zeigt mir den Button und grinst: „Also war deine Mutter bestimmt im Darknet unterwegs.“

Weil er wohl sieht, wie mich diese Aussage fast zum Heulen bringt, lenkt er ein: „Oder sie hat ihn nur benutzt, um bei Zalando zu shoppen und weil sie nicht will, dass sie der Staatsüberwachung oder Verkaufsmacht zum Opfer fällt. Die sind wie die Geier und nehmen deine Daten, um dich gezielt mit Werbung zu bombardieren, was echt ätzend ist.“

Ich weiß, er will mich trösten und weiß nicht, wie wichtig mir Trost ist, nach dem, was ich mittlerweile alles von Mama weiß, und nach dieser erschreckenden Geschichte, die mir Bilder von ihr in einem Hoteldress in den Kopf geschoben hatte.

Er weiß das alles nicht und das ist gut so. Was würde er sonst von ihr denken?

„Hey, Alter. Mach dir keinen Kopf“, will er mich beruhigen.

Ich wanke zum Sofa und lasse mich darauf fallen. Ich will alles von Mama erfahren, wissen, was sie trieb und was diese Geschichten auf sich haben. Aber jedes Mal ziehen mich neue seltsame Aufdeckungen runter, weil ich eigentlich wohl hoffe, dass ich einfach nur eine gute Erklärung für alles finde, die mir den Glauben an meine Mutter, wie ich sie kannte, wiedergibt. Stattdessen finden wir Sicherheitsprogramme, die Daten unsichtbar machen oder löschen, wenn Gefahr droht und Browser, die Identitäten im Internet verschleiern.

Mit jedem dieser Entdeckungen habe ich das Gefühl, meine Mutter noch weniger gekannt zu haben. In was war sie verstrickt und was tat sie, wenn sie nicht die brave Hausfrau und Mutter mimte?

Ich habe keine Ahnung von all dem Dunklen im Leben. Ich hatte noch nicht mal Sex!

„Kannst du rausfinden, was Mama da im Tor Browser gemacht hat?“

Manuel sieht mich an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. „Joel, deine Mutter war über den Tor-Browser ins Net gegangen, damit keiner herausfinden kann, was sie da so trieb.“

Ich schüttele resigniert den Kopf. „Okay. Also wars das?“

Manuel nickt bedächtig. „Ich denke schon. Ende mit dem Sherlock Holms Spiel.“

Ich überlege. Ich will nicht, dass er aufgibt. Er ist meine einzige Hilfe.

„Ich hole uns ein Bier“, raune ich, weil ich mir noch nicht sicher bin, ob ich wirklich tun will, was mir vorschwebt.

Als ich mit den zwei Bierflaschen in mein Zimmer zurückkomme, sieht Manuel mich mitleidig an. „Ich verstehe ja, dass du mehr von deiner Mutter wissen willst. Aber sie hat wahrscheinlich ihr Handy und ihren Laptop nur mit diesem Sicherheitsprogramm gesichert, falls es mal geklaut wird. Mittlerweile haben viele Menschen eine regelrechte Paranoia entwickelt und wollen ihre Daten schützen. Und darum der Tor Browser. Mach dir da mal keinen Kopf.“

Ich glaube, seine Worte geben den Stein des Anstoßes. Ich winke ihn zum Sofa, drücke ihm eine Flasche in die Hand, als er Platz nimmt und bitte leise: „Manuel, wenn ich dir etwas anvertraue, behältst du das dann für dich? Es darf niemand erfahren. Vor allem Timo und Katja nicht.“

Manuel sieht mich verunsichert an. Ich weiß nicht, ob ihn verwirrt, dass ich ihm klar den Vorzug gebe oder dass es doch noch etwas Geheimnisvolles gibt. „Sicher. Ich werde schweigen wie ein Grab.“

Ich atme tief ein und erzähle Manuel, dass Mamas Zimmer schon in unserer alten Wohnung immer Tabu war und was ich nach ihrem Tod dort fand. Er kannte weder mich noch meine Mutter zu der Zeit. Wir lernten uns ja erst nach ihrem Tod kennen. Dann erzähle ich ihm, warum ich dieses Zimmer wollte und warum wir überhaupt diese Wohnung bewohnen können.

„Das ist deine?“, ruft er völlig perplex. „Ich dachte, sie gehört deinem Onkel.“

Ich schüttele den Kopf. „Meine Mutter hat sie gekauft und sie mir dann vererbt. Ich wusste nicht, dass sie die überhaupt hat.“ Ich trinke einen Schluck und erkläre leise. „Sie war wohl einige Male hier.“

Manuel sieht mich nur groß an und ich erzähle ihm, was ich vorfand, als ich das erste Mal hier drinnen war und dass sie hier ganz anders gewesen sein muss, als zuhause. „Ich schwöre dir, sie hat bei uns nie etwas herumliegen lassen. Aber hier lag alles kreuz und quer. Und sie hat niemandem gesagt, dass sie diese Wohnung hat. Sie war immer extrem kniepig und dennoch wohnten wir weiter in der Mietwohnung, obwohl es diese Wohnung gab.“

Ich sehe Manuel an, dass er langsam anders über meine Mutter denkt. Vor allem die nuttigen Dessous lassen ihn unruhig auf dem Sofa herumrutschen. Dabei zieht er die Kappe von seinem Kopf und streicht sich die viel zu langen Haare zurück.

Mit einem seltsamen Drücken im Magen berichte ich ihm letztendlich sogar von Mamas Heft und den Geschichten, die ich fand.

„Was sind das für Geschichten?“, fragt er und versteht nicht, warum mich gerade das so aufregt.

Ich gehe zu meinem Bett und ziehe die Seite mir der Hotel-Vergewaltigungs-Geschichte hervor. Ich reiche sie ihm und setze mich mit meinem Bier auf meinen Schreibtischstuhl. Ich denke, Manuel braucht etwas Privatsphäre, wenn er den kranken Scheiß liest.

Während er die Seite überfliegt, sieht er mich immer wieder verwirrt an. Als er zum Ende kommt, ist er mehr als verwirrt. „Was ist das?“, fragt er, als hätte ich eine Ahnung.

„Weiß ich nicht. Kranker Scheiß.“

„Und das kommt von deiner Mutter? Das hört sich eher so an, als hätte das ein Mann verfasst. Ein Mann mit Vergewaltigungsfantasien, der eine Nutte beauftragt, das Opfer zu spielen.“

Ich starre Manuel an.

„Ja, oder?“

Ich kann nur die Schultern hochziehen. Aber Manuel kommt schon eine neue Idee. „Vielleicht war deine Mutter Drehbuchautorin für Pornos?“

Ich starre ihn wieder nur an.

„Ja überleg mal. Das ist doch wie in einem Porno. Fünf Männer machen sich einen schönen Abend und als ein Mädel dazukommt, vernaschen sie sie. Porno! Glaubs mir!“

Ich springe auf und gehe zum Schrank. Meine Mutter als Porno-Schreiberin zu sehen, fällt mir leicht. Aber ihre Dessous sagen, dass sie nicht nur Schreiberin war.

Ich schließe ihn auf, als Manuel murmelt: „Aber die Buchstaben und Nummern am Ende sehen aus, als wären sie ein Zugangscode zu irgendwas.“

Ich ziehe das Heft hervor, lasse aber die anderen einzelnen Blätter im Schrank. Damit kehre ich zu Manuel zurück. „Die hat Mama geschrieben.“

Manuel sieht mich nur an, ohne das Heft anzurühren.

„Lies das. Dann sag mir, ob du immer noch denkst, dass sie Porno-Drehbücher schrieb.“

Manuel starrt mich immer noch an, streckt aber langsam die Hand aus. „Okkayy“, raunte er eher verunsichert und als wäre er sich nicht sicher, ob er das wirklich tun will. Dann erhebt er sich aus dem Sofa. „Wenn du das willst, mache ich das. Aber sorry, Joel. Ich bin auch nur ein Mann. Und Männer lesen so was lieber allein und mit der Hand unter der Bettdecke, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er grinst schief.

Was soll ich darauf antworten? Zumindest finde ich tröstlich, dass nicht nur meine Hormone ab und an übersprudeln.

„Aber pass auf, dass niemand sonst das Heft in die Hand bekommt. Vor allem Katja nicht. Dann weiß Timo auch sofort Bescheid. Ich will nicht, dass er irgendeinen Scheiß über seine Tante denkt.“

„Ne, klar. Ich passe auf. Ich werde mich sowieso einschließen.“ Manuel grinst wieder.

„Ist vielleicht besser“, sage ich und grinse zurück, obwohl mir immer weniger gefällt, dass noch jemand von dieser dunklen Seite meiner Mutter erfährt. Aber nun gibt es kein Zurück mehr.

Manuel taucht erst am nächsten Mittag aus seinem Zimmer wieder auf, als Timo und ich am Frühstücken sind. Es ist Sonntag und wir haben alle lange geschlafen.

Ich hatte mich am vergangenen Abend noch bis zwei Uhr mit meinem Spiel abgelenkt und dann geschlafen, ohne seltsam zu träumen.

Das ist keine Selbstverständlichkeit, bei dem, was im Moment alles in meinem Kopf herumschwirrt.

Katja kommt zeitgleich aus dem Badezimmer, als Manuel sich auf einen Stuhl fallen lässt. Er sieht mich einen Moment an, als müsse er auf der Stelle etwas sagen. Aber weil in dem Augenblick Katja an unserem Tisch vorbeirauscht, gleitet sein Blick zu ihr und er schluckt nur, als müsse er ein ganzes Brötchen im Stück herunterbringen.

Ich sehe Katja auch hinterher. Sie stakst barfuß, nur mit einem sehr dürftigen Handtuch bekleidet und nassen Haaren zu ihrem Zimmer.

„Du solltest mal mit ihr darüber reden, dass wir hier eine Männer WG sind und dass sie sich im Badezimmer anziehen soll“, murre ich an Timo gewandt.

„Mach du das doch.“

„Katja ist dein Ding. Außerdem hat sie mir gestern schon gesagt, dass ich ihr nichts zu sagen habe.“

„Hat sie das?“, fragt Timo belustigt und streicht mit einer Hand über sein sehr kurzes, blondes Haar, das frisch geschnitten ist. Manuel wirkt gegen ihn wie ein behäbiger Bär mit seinen struwweligen, zu langen schwarzen Haaren.

Katja kommt aus ihrem Zimmer, mit einem T-Shirt und einer Hot Pants am Leib. Erneut fällt Manuels Blick auf sie und scheint sich nur schwer losreißen zu können.

Ich mustere ihn misstrauisch. Sind ihm die Geschichten aus Mamas Buch nicht bekommen?

Unweigerlich drängen die Inhalte in mir hoch. Sie sind fast alle in der ich-Form und ziemlich vulgär. Es wiederstrebt mir, sie als Mamas Fantasien anzuerkennen. Mama war nicht pervers oder so. Bestimmt nicht.

„Joel möchte, dass du dich im Badezimmer anziehst, statt hier halbnackt herumzuspazieren“, sagt Timo amüsiert.

Katja greift sich ein Brötchen und grinst mich an. „Hat der Kleine Angst, dass seine Hormone mit ihm durchgehen?“

Ich hasse das, wenn sie sich für unwiderstehlich hält und mich als Kurzschwanz der WG abstempelt.

„Nein, ich will nur, wenn du dich an die Regeln hältst. Wir laufen doch auch nicht nackt durch die Wohnung“, brause ich auf.

„Uuuh, wäre aber wünschenswert“, säuselt Katja und sieht demonstrativ an mir herunter, soweit es der Tisch zulässt.

„Wir können ja mal einen Schönheitswettbewerb machen“, meint Timo grinsend. „Wir ziehen uns alle aus und schauen, wer das meiste zu bieten hat.“

Ich starre ihn an. Das ist doch nicht sein Ernst?

„Aber nur, wenn Katja anfängt“, mischt Manuel sich ein und seine Augen leuchten auf.

Katja schießt von ihrem Stuhl hoch. „Jetzt gleich? Aber ihr müsst mitziehen! Gleichzeitig!“

„Hallo? Kann man nicht mal in Ruhe frühstücken?“, zische ich. „Setz dich hin und iss“, fauche ich aufgebracht. Ich will weder Katja nackt sehen, noch will ich mich ausziehen. Und ich kenne Timo mittlerweile genug, dass ich ihm zutraue, das auch durchzuziehen. Wahrscheinlich holt er auch noch einen Meterstab und macht Schwanzlängenvergleich.

Ohne mich.

Weder meine Mutter noch ich rannten Zuhause unbekleidet herum. Ich hatte ab und an nur meine Boxershort an. Aber Mama war immer voll bekleidet und schloss auch immer die Badezimmertür zu, wenn sie duschte.

An solchen Tagen wie diesem fehlt sie mir unglaublich und ich möchte einfach nur mit ihr in unserer alten Wohnung sein. Ich würde dafür auf alles verzichten. Auch auf diese Wohnung hier.

Katja setzt sich und macht einen Schmollmund. Aber dann zwinkert sie Timo zu und ich habe ein ungutes Gefühl. Wollen die beiden mich provozieren?

„Schade!“, lässt Katja dann auch nicht locker. „Wo unser Joel doch so ein hübscher ist.“

Ich glaube, ich werde rot. Dass Katja das sagt, bringt mich durcheinander. Ich dachte immer, sie steht nur auf Timo oder bestenfalls Manuel und sieht mich nur als Kind der WG.

Timo grinst mich an und ich stehe auf und gehe Orangensaft aus dem Kühlschrank holen. „Will noch jemand?“, versuche ich das Thema zu wechseln und sehe, dass Katja und Timo sich erneut breit grinsend einen Blick zuwerfen.

Da keiner antwortet, nehme ich nur mir ein Glas mit zum Tisch und sehe erneut, dass Manuel verstohlen Katja mustert. Was ist nur mit ihm los?

Bevor ich mich wieder an den Tisch setze, steuere ich lieber auf mein Zimmer zu. „Sagt Bescheid, wenn ich abräumen helfen soll.“ Meine Zimmertür lasse ich krachend ins Schloss fallen. Irgendwie regt mich heute alles auf.

Keiner holte mich zum Abräumen. Ich werde wach und sehe auf meinem Nachttischeckregal das volle Glas Orangensaft stehen. Mamas Radiowecker sagt mir, dass es schon Nachmittag ist.

Mein Herz pocht dumpf bis in meine Schläfen und ich fühle mich verschwitzt und unruhig. Ich weiß, es liegt an dem Traum. Darin kam ich in unsere Wohnung und hörte Katja aufkreischen. Als ich ins Wohnzimmer stürmte, lag sie auf dem Tisch, nackt und mit Schokolade besudelt, die Timo und Manuel von ihrer Haut leckten.

Statt ihr zu helfen, zog ich mich aus. Ich weiß, ich wollte sie in dem Moment und das war es, was mich entsetzt aufwachen ließ.

Ich will Katja nicht. Auf keinen Fall. Sie ist ein Störenfried in unserer WG und wir ohne sie besser dran.

Aber mein Herz pocht und auch mein Freund, der sich schmerzhaft in der Hose Platz zu schaffen versucht. Ich weiß, ich sollte kalt duschen und mal wieder runterkommen. Irgendwie gehen mit mir in letzter Zeit wirklich die Hormone durch.

Als ich mit frischer Wäsche unter dem Arm aus meinem Zimmer ins Wohnzimmer komme, höre ich das leise Klacken der Gewichte des Trainingsgerätes und sehe zum Fenster.

„Hi. Ausgeschlafen?“ Es ist Manuel, der meine Gewichtseinheiten stemmt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass seine eher aus Fettgewebe bestehenden Arme und Beine das hinbekommen. Aber er scheint das nicht zum ersten Mal zu machen und mir wird klar, warum ich immer dachte, dass er das Gerät nicht benutzt. Er verstellt nie die Gewichte.

„Hol dir keinen Bruch“, werfe ich nur mürrisch zurück und frage: „Wo sind die anderen?“

„Weg. Ausgeflogen. Timo trifft sich mit welchen aus der Uni und Katja … keine Ahnung.“

Ich nicke nur und gehe ins Badezimmer, schließe ab und stelle mich unter die Dusche. Irgendwie ist mir unwohl. Aber ich brauche einige Zeit, bis mir klar wird, was es ist. Ich gehe Manuel aus dem Weg.

Ich habe Angst vor dem, was er mir über Mamas Buch sagen wird. Seine Meinung ist mir wichtig und daher fürchte ich sie auch.

Als ich aus dem Badezimmer komme, sitzt er am Tisch und wedelt mit dem Heft nervös durch die Luft. „Ziemlich kranker Scheiß!“

Ich nicke nur und werfe mich angezogen mit T-Shirt und kurzer Hose auf einen Stuhl. Es scheint wirklich schön draußen zu sein. Die Sonne scheint und ich sehe durch die großen Fenster endlos blauen Himmel.

„Alle Geschichten haben diese Kombination aus Buchstaben und Nummern.“ Manuel scheint nicht weiter auf die Inhalte eingehen zu wollen.

Ich bin froh darüber. „Was glaubst du, können sie bedeuten?“

Manuel zieht die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Hast du noch mehr davon?“

Ich nicke. „Und Skizzen oder Zeichnungen, die irgendwie zu den Geschichten passen könnten.“

Manuel zieht die Augenbrauen hoch und ich beschließe, ihm einige zu zeigen. „Komm!“ Schwerfällig schiebe ich mich vom Stuhl, als hätte sich die Wohnung gerade mit Gelatine gefüllt und ist daher schwer zu durchqueren.

Er folgt mir und ich schließe erneut den Schrank auf und suche einige Blätter heraus, die ich damals hier von der Wand nahm. Nun fällt mir sofort auf, was ich ansonsten noch nie wahrnahm. „Sie haben die gleichen Buchstaben und Nummern am Ende. Schau mal.“

Manuel greift sich ein Blatt und besieht sich die Nummer. Dann blättert er in dem Heft, findet aber wohl nichts. Er greift eine andere Seite und vergleicht wieder die Kombinationen und ruft: „Hier! Die passt!“

Ich starre ihn an. Aber er durchforstet schon den Text und sieht sich das Blatt an. Dann raunt er entgeistert: „Das Bild zeigt einen Aufbau von etwas, was sie in der Geschichte verwenden, um jemanden daran festzubinden. Siehst du das?“ Er hält mir die Skizze mit dem Andreaskreuz vor die Nase, das an den Eckpunkten an der Decke befestigt ist und deren Seillänge offensichtlich das Kreuz in alle erdenklichen Posen bringen kann. An jedem Ende der Holzlatten sind außerdem Schnallen befestigt.

„Warum braucht man sowas?“, frage ich entsetzt, obwohl ich es mir schon denken kann. Es ist die Geschichte mit der gekreuzigten Frau.

„Steht hier ganz klar. Deine Mutter wollte sich daran festbinden lassen, um einem Pulk in Kutten und Kapuzen gekleideter Männer und Frauen ausgeliefert zu sein, die dann machen, was ihnen gerade in den Sinn kommt.“

Ich zische wütend: „Das war nicht meine Mutter! Die hat sowas nicht gemacht!“

„Ist ja schon gut. Vielleicht waren es ja nur Fantasien. Die hat ja jeder und sind nicht verboten.“

Ich bin wirklich wütend, weil es eigentlich offensichtlich ist und mir weitere Skizzen und die vielleicht dazugehörigen Geschichten einfallen. Und was das für ein Licht auf meine Mutter wirft, kann ich fast nicht mehr ignorieren. Aber das kann einfach nicht sein. Meine Mutter war nicht so!

Und um meine Wut rauslassen zu können, zische ich Manuel entgegen: „Ja, deine Fantasien hat man heute beim Frühstück gesehen. Manoman. Dir ist bei Katjas Anblick fast einer abgegangen.“

Manuel öffnet den Mund und schließt ihn wieder, als wäre ihm die Antwort abhandengekommen. Dann setzt er sich in meinem Lederschreibtischstuhl zurück und sieht nur zu mir auf. Leise, als solle das bloß keiner hören, nicht mal ich, raunt er: „Ey, Joel. Sei nicht sauer. Aber du glaubst nicht, was sie gestern gemacht hat!“

Ich kann mir nicht denken, was er meint. Aber er wartet nicht ab, dass ich danach frage.

„Die Lektüre hat mich gestern echt durcheinandergebracht. Sie ist wirklich verstörend und ich war etwas geladen. Aber ich dachte, es schlafen alle, als ich ins Badezimmer wollte.“ Manuel sieht mich nicht an und beginnt das Blatt, dass er noch in der Hand hält, aufzurollen. „Katja war aber noch wach und kam aus dem Bad. Sie sah mich und sie sah … naja.“ Er schluckt schwer und als wolle er es schnell hinter sich bringen, raunt er noch leiser: „Sie hat mir einen geblasen.“ Er sieht auf, weil ihm wahrscheinlich einfällt, dass ich nicht weiß, was er meint. Aber ich weiß das. Ich habe es in einem Porno gesehen.

Er fügt hinzu und kann die Begeisterung in seiner Stimme kaum im Zaum halten: „So richtig. Bis zum End. Ich schwör dir, das war der Wahnsinn!“

Ich starre Manuel nur an und versuche nicht die Bilder hochtreiben zu lassen, die Katja mit einem Schwanz im Mund zeigen. Mit meinem Schwanz. Denn das Bild drängt sich plötzlich in mir hoch.

„Das ist so eine elende Schlampe“, zische ich aufgebracht. „Die macht auch alles, um hier weiterhin umsonst wohnen zu können.“

Manuel sieht mich perplex an. „Hat sie dir auch schon?“

Ich brauche, bis ich erfasse, was er meint. „Neiinnn! Um Gottes willen!“

„Aber du sagtest gestern, dass dir die Wohnung gehört. Dann sollte sie dir besser einen …“, weiter kommt Manuel nicht.

„Sie will uns gegeneinander ausspielen. Deshalb macht sie das. Und sie weiß nicht, dass mir die Wohnung gehört und soll es auch nicht erfahren“, unterbreche ich ihn barsch.

Kurz sperrt sich etwas in mir. Es ist der Gedanke, was sie mit mir alles anstellen würde, wenn sie wüsste, dass die Wohnung mir gehört. „Ich habe ihr angedroht, sie hinauszuwerfen. Deshalb fährt sie schweres Geschütz auf. Und sie weiß, was sie tun muss, um hier weiterhin wohnen zu können.“

Ich bin wirklich wütend. Ich weiß nur nicht worauf. Vielleicht, weil Katja mir immer mehr die Möglichkeit nimmt, wirklich etwas gegen sie auszurichten. Das ärgert mich. Sie ist so viel schlauer als wir alle zusammen.

„Wie, und sie zahlt nichts dafür?“, fragt Manuel in dem Moment verwirrt. „Wir haben doch unseren Satz extra gekürzt, als sie einzog.“

Ich nicke und sehe ihn nicht an. Ich weiß, ich bin selbst schuld. Ich bin bisher nicht resoluter gegen sie vorgegangen, weil ich immer dachte, dass sie irgendwann von sich aus kommt, wenn sie Geld hat. Aber die zwei Einsätze von ihr blieben bisher aus.

„Sie hat noch nichts gezahlt? Nicht mal für das Essen?“ Manuel ist wirklich aufgebracht.

Ich schüttele den Kopf.

„Was sagt Timo dazu?“ Ihm scheint der Gedanke, dass Katja sich durchschmarotzt, nicht zu gefallen und ich bin froh darüber. Denn als ich es Timo gegenüber erwähnte, meinte der nur: „Sie hat halt noch keinen Job, der genug abwirft.“

Mittlerweile hat sie eine Lehrstelle bei einem Friseur begonnen. Zumindest laut ihren Äußerungen über das Elend, anderen in den Haaren herumwühlen zu müssen, - wenn sie dann jemals soweit mit ihrer Lehre kommt. Im Moment darf sie wohl nur an Plastikköpfen hantieren, obwohl sie schon ein Lehrjahr in einem anderen Friseursalon hinter sich gebracht hat, was sie dann aber hinschmiss. Deshalb setzten ihre Eltern sie wohl vor die Tür. Zumindest stellte Timo das damals so hin. Aber ich weiß nicht, was an ihrer Geschichte wahr ist und was nicht. Wahrscheinlich hat sie schon einige WGs geprellt und musste gehen, als es nicht mehr reichte, die Beine breit zu machen.

„Hm, und wer zahlt ihren Anteil?“, fragt Manuel und sieht mich groß an.

Das ist mir wirklich peinlich. Denn bisher ging das allein auf meine Kappe. Timo hat auch keine Kohle und Manuel wusste bisher nichts davon.

„Du!“, sagt Manuel im nächsten Moment und nickt, als wäre ihm alles klar. Kopfschüttelnd fügt er hinzu: „Unglaublich. Und dann bläst sie dir nicht mal einen.“

„Weil ich die nicht will!“, rufe ich aufgebracht und laufe durch mein Zimmer, als wäre ein beißwütiger Hund hinter mir her. „Ich will doch keine, die für jeden die Beine breitmacht.“

Ich schlucke schwer, als mir in den Sinn kommt, dass alles danach aussieht, als wenn sogar meine Mutter uns so ernährt hatte. Und das macht mich fertig.

Ich sehe Manuel an und er nickt verstehend. Aber er spricht nicht aus, was in seinem Kopf zu rotieren scheint. Nämlich: „Wie deine Mutter!“

Ich werfe mich auf das Sofa und winke ab. „Lass uns das Thema wechseln. Also, eins ist klar. Meine Mutter hat das nicht mit sich machen lassen, was dort steht. Das muss irgendwie anders zusammenhängen und wir beide müssen herausfinden, wie.“

Manuel sieht mich noch einen Moment lang skeptisch an. Doch dann nickt er und raunt: „Überlässt du mir noch ein wenig den Laptop deiner Mutter? Vielleicht finde ich ja doch noch was.“

Ich winke nur zum Schreibtisch. „Nimm mit! Wenn einer etwas damit anfangen kann, dann du.“

Manuel legt das zusammengerollte Stück Papier auf das Heft und greift nach Mamas Laptop. „Ich sage dir Bescheid, wenn ich mehr herausfinde.“

„Danke!“, erwidere ich nur und bin froh, dass er geht. Die Sache mit Katja und Manuels Mutmaßungen über meine Mutter setzen mir zu. Ich brauche etwas Ruhe und Bedenkzeit. Ich muss das erst mal alles verkraften.

Manuel findet nichts Brauchbares. Er regt sich sogar darüber auf, dass meine Mutter nicht mehr Einträge bei Google aufweist. Es gibt nur die Homepage des Internetcafes, die aber wirklich klasse ist. Ich hatte sie mir noch nie angesehen und sie hatte sie mir noch nie gezeigt. Aber selbst Manuel meint, dass die ein professioneller Webdesigner gemacht hat. Also nicht meine Mutter.

Manuel hat sie außerdem bei den sozialen Netzwerken gesucht. Aber nichts gefunden, obwohl ich weiß, dass sie früher schon bei Facebook war und auch in einem Chat. Aber es gibt keine Daten dazu, die uns auf irgendeine Internetseite von ihr bringen. Aber ihr Mailaccount läuft noch, bietet aber nur Werbung. Da ist nichts Brauchbares bei. Auch keine Einträge, die auf einem Facebookaccount deuten. Es ist enttäuschend.

Ich habe noch in Mamas Koffer aus Kinderzeiten geforscht. Da waren allerlei Briefe drinnen, die man als Liebesbriefe einstufen könnte. Sie sind von verschiedenen Jungen. Mama war früher sehr beliebt.

Dann gibt es ein Tagebuch. Aber es fehlen viele Seiten, die herausgerissen wurden. Daher fand ich nichts Interessantes, was mir erzählt hätte, wie meine Mutter in ihrer Jugend drauf war oder was sie erlebt hatte.

Am Mittwoch bekam ich dann unerwarteten Besuch von Michelle, der anderen Besitzerin des Internetcafes.

Ich stand gerade in der Küche und machte mir ein Sandwich, als es an der Tür klingelte. Da von den anderen noch niemand Zuhause war, ging ich und bediente die Sprechanlage.

„Ja!“

„Hi, hier ist Michelle. Ist Joel zuhause?“

Ich war ziemlich perplex und bat sie nach oben zu kommen. Wenig später machte ich ihr die Tür auf.

Michelle schätze ich als etwas jünger als meine Mutter ein, die nur achtunddreißig Jahre alt geworden war. Sie ist eine gutaussehende Frau mit negerkrausem Haar, rot geschminkten, vollen Lippen, tiefgründigen schwarzen Augen und einem recht dunklen Teint. Offensichtlich hat sie ihre Wurzeln in Afrika oder so, spricht aber absolut gestochen reines Hochdeutsch, was etwas verwirrt.

Sie gab mir die Hand, bevor sie mit hochhakigen Schuhen über die schwarzweißen Fliesen stakte. „Schön, dass ich dich antreffe. Ich fahre damit schon seit zwei Wochen durch die Gegend und dachte eben, ich versuche es einfach.“ Damit hielt sie mir eine Kiste entgegen.

Auf meine perplexe Frage, was das ist, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln: „Sachen von deiner Mutter, die noch bei uns im Büro waren. Ich dachte, bei dir sind sie besser aufgehoben.“

Ich nahm die Kiste entgegen und stellt sie auf den Tisch, während Michelle sich umsah. „Das ist also die Wohnung, die Cecilia sich so hart erkämpft hat?“

Ihre Worte ließen mich sofort hellhörig werden.

„Wie … sie hat sich die erkämpft?“, fragte ich verdutzt.

„Naja. Du weißt schon. Die Banken wegen Kredite anbetteln und Freunde, Verwandte und wer weiß noch wen anpumpen. Sie war damals wirklich viel unterwegs, um das Geld aufzutreiben. Aber sie wollte diese Wohnung unbedingt.“

Ich starrte Michelle verblüfft an und verstand nichts. Aber ich weiß, dass Onkel Andreas den Testamentsvollstrecker gefragt hat, wie hoch die Abzahlungsraten sind. Er erklärte mir, während wir beide vor dem Schreibtisch des ziemlich alt wirkenden Mannes mit Hornbrille standen, dass ich sonst das Erbe nicht annehmen muss. Aber der schüttelte nur den Kopf, sah noch einmal seine Unterlagen durch und meinte: „Es scheint keine Gläubiger mehr zu geben, die ausbezahlt werden müssen. Ihre Schwester hat offensichtlich bei niemandem Schulden.“

Scheinbar hatte Michelle von dem Gespräch nichts mitbekommen, weil sie immer noch glaubt, dass ich nun auf einem Berg Schulden sitze und mein geerbtes Bargeld gleich in die Kredittilgung stecken musste.

„Kann ich dir einen Kaffee oder Tee anbieten?“, fragte ich sie.

„Tee gerne.“ Sie schenkte mir ein Lächeln und musterte mich von oben bis unten. „Du bist richtig groß geworden. Und hübsch. Aber bei den Genen!“

Ich ging in die Küche und setzte Wasser auf. Dabei rief ich ihr zu: „Kennst du meinen Vater?“

Ich dachte wirklich, sie meint ihn. Aber sie lachte nur auf. „Den kennt niemand, nicht mal Cecilia, befürchte ich.“

Um ihren Ausspruch nicht zu herablassend klingen zu lassen, fügt sie hinzu: „Deine Mutter war echt jung, als sie dich bekam.“

Ich machte uns einen Kräutertee und setzte mich zu ihr an den Tisch.

Mir drängten sich so viele Fragen auf, die beantwortet werden wollten. Ich wusste von Michelle nichts und ich weiß nicht, wie lange sie Mama kannte und ob sie so befreundet waren, dass Mama sie in ihre Geheimnisse eingeweiht hatte.

Aber ich befürchte, angesichts der Tatsache, dass sie denkt, die Wohnung wäre über Kredite bezahlt worden, dass sie nicht viel von meiner Mutter weiß.

„Wie lang bist du schon in Mamas Internetcafe Mitbesitzerin?“ fragte ich sie.

Michelle gab einen Löffel Zucker in den Tee und antwortete: „Hm, ich glaube, sie hatte es schon zwei Jahre, als ich dazustieß. Sie hatte Geldprobleme. Darum kaufte ich mich ein und brachte den Laden mit meinem damaligen Freund auf Vordermann.“

Ich muss sie ziemlich dümmlich angestarrt haben, denn sie erklärte: „Wir schufen mehr Plätze, stellten auch noch einige Spielkästen auf, einen Billardtisch, und Marco hat eine Schanklizenz. Damit konnten wir Getränke verkaufen. Deshalb ist er auch noch beteiligt. Es läuft immer noch alles über seine Schanklizenz und er ist auch weiterhin für alles Computertechnische zuständig. Das ist in einem Internetcafe echt wichtig.“ Sie lachte etwas gekünzelt auf und ich hatte das Gefühl, dass ihr der Exfreund eher ein Dorn im Auge ist. Aber bei mir begann etwas zu vibrieren und ich fragte sie: „Er kennt sich mit PCs und Programmen aus? Meinst du, ich kann seine Nummer haben? Ich brauche selbst mal einen fachmännischen Rat.“

Michelle nickte und begann in einer großen Handtasche zu wühlen. Als sie ihr Handy hervorgekramt hatte, holte ich einen Zettel und sie gab mir die Telefonnummer von diesem Marco. Dabei murmelte sie so etwas wie, dass sie sich wundert, dass ich ihn nicht kenne. Aber vielleicht hatte ich mich auch verhört.

Als sie bald darauf ging, erwähnte sie noch, dass sie über die Entscheidung meiner Mutter, ihr weitere Anteile zu geben, sehr froh ist. Ich nickte nur und fragte mich natürlich, wenn Michelle 50% hatte und meine Mutter auch, was der Anteil von diesem Marco ist oder wie seine Beteiligung aussieht.

In der Kiste, die Michelle mitgebracht hatte, befanden sich Fotografie von mir, und von Mama und mir zusammen. Außerdem ein Haufen Zettelwirtschaft, die ich sofort nach brauchbaren Informationen durchforstete. Es gab noch ein altes Adressbuch und Mamas alten Laptop, den sie vor dem jetzigen hatte. Ich wusste gar nicht, dass der noch existiert. Aber ihn in meinen Händen zu halten, elektrisierte mich und ich hoffte inständig, dass auf ihm noch nichts gelöscht worden war.

In meinem Zimmer hatte ich ihn sofort an den Strom angeschlossen, weil das Akku leer war und konnte mich bald mit dem Passwort Vogelmiere einloggen. Und es war noch alles da. Bilder, Emails, Dokumente, Musikdownloads. Einfach alles.

Als ich das Internetkabel angehängt hatte, fand ich sogar Mamas Internet Favoritenliste. Ich war völlig aus dem Häuschen und verbrachte bis tief in die Nacht damit, mir alles anzusehen. Aber er war so sauber, wie der Laptop einer braven Hausfrau und Mutter nur sein kann. Es gab auch keinen Tor Browser und ihre Favoritenliste barg nur Dokus, verschieden Einkaufsmöglichkeiten und Ferienhotels mit Kinderresort. Mir wurde schnell klar, dass Cecilia da noch Cecilia Jekyll war. Cecilia Hyde wurde sie offensichtlich erst später. Vielleicht mit dem neuen Laptop. Aber dann musste es einen Übergang geben. Ich beschloss, Manuel erneut um Beistand zu bitten.

Manuel ist ein Schlaufuchs, wie ich schon einmal erwähnte. Während ich in dem offensichtlichen herumgedattelt hatte, fand er schnell heraus, dass Mama einen Facebookaccount, sowie einen bei Lycos hatte, deren Nutzernamen bei den Einloggfeldern der Anbieter schon gespeichert sind. Ich brauchte nur das Passwort eingeben und das war natürlich Vogelmiere. Bei Lycos hatte sie es sich sogar sehr einfach gemacht. Deshalb war ich erst verwirrt. Da hieß sie auch Vogelmiere33. Manuel meinte, dass sie den Account wahrscheinlich eröffnet hatte, als sie dreiunddreißig war.

Ihr Profilbild war ein altes von meiner Mutter, auf dem sie noch recht jung war. Ansonsten waren wenige Daten eingetragen, die zum Teil sogar falsch waren. Aber sie hatte ihn auch noch zu Lebzeiten ihres neuen Laptops in Gebrauch, was mich etwas irritierte. Ich konnte mir Mama in einem Chat nicht vorstellen.

Facebook hatte ein paar Bilder drinnen, auf denen man meine Mutter nur erahnen konnte. Ansonsten gaben auch die Seiten nicht viel her, außer ein paar Bilder von dem Internetcafe und etwas Werbung diesbezüglich. Aber ihre Posts machten Manuel stutzig und dass sie immer wieder auf den Tor-Browser verwies, was mir von Manuel einen vielversprechenden Blick einbrachte. Aber was mich umhaute war ihre Freundschaftsliste. Sie umfasste mehr als zweihundert Leute und ihr letzter Eintrag war am 28 Juli dieses Jahres erfolgt, als Mama schon lange nicht mehr unter uns weilte. Da hat sie sich für die vielen Glückwünsche zum Geburtstag bedankt. Mama hat nicht am 28 Juli Geburtstag!

„Da ist jemand auf ihrem Account unterwegs gewesen“, sinnierte Manuel und ahnte nicht, wie sehr mich das erschütterte, weil es mir einen Moment vorgaukelte, dass Mama noch lebt.

Heute sitze ich erneut an Mamas altem Laptop und kämpfe mich durch den Lycos Chat, auf der Spur von Mama. Es quatschen mich viele verpeilte Kerle an, die mir zweideutige Angebote machen, aber auch jemand, der sich freut, dass Vogelmiere endlich mal wieder auftaucht.

Ich gehe auf das Profil von dem Kerl und sehe, dass es ein junger fünfundzwanzigjähriger Bursche ist. Er fragt im privaten Chat, ob es Vogelmiere bessergeht und ob sie die dunkle Seite bekämpfen konnte.

Was soll ich darauf antworten? Ich schreibe:

Vogelmiere33 ~Nein, ich suche immer noch nach einem Ausweg~

Schwarzer Hengst ~Ich habe einen gefunden. Du hattest recht. Im Net gibt es alles~

Vogelmiere33 ~Was genau hast du gefunden~

Schwarzer Hengst ~Meinen persönlichen Jeannie~

Ich weiß nicht, was er meint. Darum füge ich nur ein ungläubiges ~Aha~ ein, was sofort damit kommentiert wird, dass schwarzer Hengst auf eine Seite im Darknet verweist.

Ich bedanke mich und logge mich schnell aus. Vielleicht nicht gerade nett, aber ich habe Angst, dass der Typ doch noch merkt, dass ich nicht Cecilia bin.

Ich marschiere zu Manuel hinüber und gebe ihm den Link. „Schau mal, was das ist. Aber geh besser über den Tor-Browser hinein. Wer weiß, was sich da auftut.“

Als mich Manuels Blick trifft, der über Mamas Laptop hockt, werde ich unsicher. Er scheint schon einer faszinierenden Spur zu folgen.

„Mensch Alter. Du glaubst gar nicht, was es hier alles gibt!“ Er ist völlig aus dem Häuschen.

„Wo gibt?“, frage ich, weil ich nicht weiß, was er meint.

„Nah hier … im Darknet. Du kannst alles kaufen. Drogen, Knarren, Auftragsmörder.“

Ich glaube, er spinnt. Darum stelle ich mich neben ihn und starre auf eine Reihe gefesselter Frauen, alle nackt und wenig glücklich.

„Was schaust du dir da an?“, frage ich entrüstet. „Das ist Mamas Laptop!“ Ich habe das Gefühl, dass er mit dem Scheiß Mamas Laptop versaut.

„Mach dir nicht ins Hemd. Ich lote nur aus, was hier alles so zu finden ist … und wie vor allem. Das ist nicht so leicht. Es gibt kein Google.“

Er zieht mir den Zettel mit meinen Daten aus der Hand und tippt sie ein. Es dauert, bis sich endlich eine Seite öffnet. Sie sieht völlig nett und harmlos aus. Ein echt hübsches Mangamädchen lächelt einem entgegen, gekleidet wie der Flaschengeist Jeannie mit rosa Hütchen und irgendwelchem Tütü, das um das Gesicht geschlungen ist, einem sehr spärlichen rosa Oberteil, dass ansprechend gefüllt ist und einer rosa Hose, dessen Bund man nur sehen kann, weil es aus einem Flaschenhals schlüpft.

Ich starre geschockt auf das Mädchen. Das ist Mama in jünger! Sie trägt sogar Mamas Halskette mit dem runden Anhänger, die jetzt mit ihren Ringen um meinem Hals hängt.

Manuel sieht mich an, dann läuft sein Blick zu meinem T-Shirt, über dem der Anhänger mit den Ringen baumelt, weil ich mich zu ihm vorbeuge. „Guck mal. Ihr habt die gleiche Kette“, stellt er sofort fest und ich greife erschrocken nach dem Anhänger und lasse ihn in meinem T-Shirt verschwinden.

„Davon gibt es bestimmt ganz viele“, murmele ich nur und muss mich aufrichten, um Luft zu bekommen.

Manuel widmet sich schon wieder der Seite, die als Überschrift verkündet: Ich erfülle Dir jeden Wunsch. Alles, was Du gerne einmal ausleben willst, Deine tiefsten geheimen Wünsche und Vorstellungen – all das kann ich für Dich wahr werden lassen.

Darunter steht, wohl als Erklärung gedacht, warum jemand das von sich behauptet: Denn zu jedem Topf passt ein Deckel und ich finde Deinen, der Dir deinen Wunsch erfüllt, ohne dass Du das Gesetz fürchten musst.

„Häh?“, macht Manuel verständnislos und liest offenbar schon weiter.

Werde mein Kunde und Dir steht alles offen, was du begehrst. Es gibt keine Tabus und keine Wertung deiner Person. Du kannst dir die völlige Freiheit über dein Handeln wünschen und ich erfülle es Dir, wenn ich weiß, was Dir die Erfüllung deines Wunsches Wert ist. Ich mache ihn Dir dann dementsprechend wahr.

Dann kommt ein Button: Kunde werden.

„Willst du da Kunde werden? Vielleicht beschaffen sie dir einen Ferrari oder Porsche?“, ruft Manuel aufgedreht. „Oder einen Picasso oder Van Gogh?“

„Ich glaube nicht, dass es da um Autos oder Kunst geht“, raune ich nur leise und fassungslos, weil sich gerade Mamas Geschichten mit dieser Internetseite in meinem Kopf verbinden. „Geh da wieder raus. Das ist alles Scheiße!“, rufe ich, schnappe mir die Maus, als Manuel nicht reagiert und schließe alles.

Manuel sieht mich aufgebracht an. „Ey, warte! Ich will Kunde werden. Ich will auch so eine Jeannie, die mir alle Wünsche erfüllt.“

„Die macht das nicht umsonst“, zische ich. In meinem Kopf werden Annahmen und Tatsachen immer mehr vermischt und ich greife den Laptop, reiße ihn von dem Ladegerät, ziehe Manuels Mauskabel und Internetverbindung aus der Buchse und greife den Zettel mit dem Link. Manuel soll nicht wieder auf diese Seite gehen … und ich auch nie wieder.

Er ruft mir noch fassungslos etwas hinterher, aber ich laufe schon durch das Wohnzimmer zu meinem Zimmer. Ich sehe noch Katja und Timo, die vor dem Fernseher lümmeln und sich eine Tüte Chips teilen. Offenbar sehen sie sich irgendeinen Gruselfilm an. Damit ist bestimmt wieder garantiert, dass Katja nicht allein schlafen will.

Ich stürme in mein Zimmer und schmeiße die Tür hinter mir zu. Den Laptop lasse ich mit dem Zettel auf meinen Schreibtisch knallen und laufe zum Bett, um mich in die Kissen und Decken zu wickeln und der Welt zu entfliehen. Aber es ist zwecklos. Mein Kopf hat mittlerweile kapiert, dass ich Mamas Seite im Darknet gefunden habe, mit der sie diese Wohnung kaufen konnte. Sie ist ein Jeannie, der allen irgendwelche Wünsche erfüllt.

Ich will lieber nicht darüber nachdenken, was für Wünsche. Aber mit einem Mal bekommen die schrecklichen Geschichten einen Sinn. Sind das Wünsche, die Jeannie erfüllte oder erfüllen sollte?

Ich will darüber nicht nachdenken.

„Hey, Joel? Ist alles in Ordnung?“

Ich höre Katja an mein Bett treten.

„Ja klar. Alles okay“, murmele ich ins Kissen und hoffe, sie verschwindet wieder. Sie soll nicht sehen, dass mir Tränen über die Wange laufen. Tränen des Entsetzens und des Frusts. Ich kann nicht begreifen, wie Mama das alles tun konnte. Und ich kann noch weniger begreifen, dass ich davon nichts mitbekam.

Und jetzt ist Mama tot. Der Jeannie ist gestorben und es werden keine Wünsche mehr erfüllt. Oder?

„Wenn du uns brauchst, wir sind immer für dich da.“ Katja setzt sich wohl auf meine Bettkante, weil meine Matratze etwas nachgibt und ich spüre, wie ihre Hand über meinen Rücken streicht.

Warum tut sie das und was will sie?

„Ich komme klar. Mir geht es gut. Also lass mich bitte in Ruhe“, murre ich in mein Kissen hinein. Sie soll gehen. Schnell gehen. Sonst weiß ich nicht, was ich tue.

Katjas Hand erstarrt und sie erhebt sich. Die Matratze sinkt wieder in den normalen Zustand, nur mit meinem Gewicht belastet. Als die Tür zufällt, atme ich auf. Aber da ist auch etwas in mir, dass hätte sich gerne zu Katja umgedreht und hätte sich in ihre tröstende Umarmung fallen lassen. Mir fehlt das. Mama hatte mich früher oft in den Arm genommen. Aber die letzten zwei-drei Jahre wollte ich das nicht mehr. Es war mir peinlich. Heute würde ich alles dafür geben.

Ein Wunsch an Jeannie …

Auf ihren Spuren

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