Читать книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 3
Sehnsucht
ОглавлениеMarcel und ich genießen den Nachmittag auf unserer Terrasse in der Sonne liegend. Ich soll mich von der anstrengenden Woche erholen, in der ich zwei ganze Nachmittage angeblich Ellen gepflegt hatte.
Ich bin wirklich völlig fertig. Aber nicht wegen Ellen, sondern wegen ihrem Bruder Erik. Er hatte sich vier Tage in seiner Panikwohnung mit einem Berg Drogen eingesperrt und stand schlimm zu, als er mich endlich zu sich ließ. Und ich war die einzige, die er bei sich haben wollte. Nicht mal Ellen oder Daniel wollte er sehen. Nur mich.
Und ich hatte ihm seine Wunden versorgt, die er sich im Drogenrausch zugezogen hatte, … und er hatte mich erneut in sein Bett gezogen.
Dass wir ein zweites Mal miteinander geschlafen haben, ist ein Umstand, der mich verwirrt. Denn bisher kam das in Eriks Leben so gut wie nie vor, dass er eine Frau nochmals zu sich mitnahm.
Erik will keine Gefühle und er will keine Beziehung. Das weiß jeder und er sagt es auch jedem. Er hatte das auch zu mir schon gesagt. Und dennoch wollte er mich ein zweites Mal und verlangte, dass ich heute noch einmal zu ihm kam und nach seinen Wunden sah. Und er hatte mir viel von sich erzählt und mir viel erklärt, als wäre ihm wichtig, dass ich sein konfuses Leben verstehe. Und er hatte mich nach Hause gefahren und ich hatte ihn zum Abschluss geküsst …
Marcel ahnt das alle nicht. Er glaubt, ich bin einfach nur von einer anstrengenden Woche geschafft und müde. Aber das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist meine Beziehung und Liebe zu Marcel … und dass Erik in mir Gefühle auslöst, die falsch sind. Und obwohl ich das weiß, kann ich mich ihm nicht entziehen.
Marcel achtet an diesem Nachmittag strickt darauf, dass ich mich nicht zu viel aus dem Liegestuhl erhebe. Er holt Trinken, Essen, versorgt unser Katzenbaby Diego und deckt mich zum Abend hin zu, als es etwas kühler wird.
Ich schlafe fast die ganze Zeit und werde höchstens durch Diego geweckt, der mir auf den Bauch springt, um es sich dort gemütlich zu machen.
Es ist schon spät, als Marcel mich weckt und mich bittet, ins Haus zu kommen. Als ich ihm folge, von seiner Hand mitgezogen, erwartet mich ein Essen bei Kerzenschein und Wein. Er zieht mir den Stuhl zurück und grinst mich schelmisch an. „Jetzt noch ein gutes Essen, frisch vom Italiener geholt und du wirst für eine heiße Nacht gewappnet sein.“
Mir vergeht augenblicklich der Appetit, den ich eben noch hatte. Aber mir ist klar, dass ich mir das auf gar keinen Fall anmerken lassen darf. Ich werde mir diese schöne Nacht mit Marcel machen … irgendwie.
Erik würde es freuen, wenn er über meinen wirklichen Sex-Elan bei Marcel informiert wäre.
Marcels Handy meldet eine ankommende SMS, die er schnell ausdrückt.
„Schaust du nicht rein?“, frage ich ihn und drehe mir die Spagetti auf die Gabel.
„Kann nichts Wichtiges sein“, raunt er und isst weiter.
Nachdem wir die Flasche Wein ausgetrunken haben und Marcel mich ins Bett trägt, wird der Abend doch noch ganz schön. Er lässt sich Zeit und seine zärtlichen Berührungen und heißen Küsse verfehlen irgendwann auch nicht mehr ihre Wirkung. Da draußen langsam ein Gewitter aufzieht, legt sich eine schnelle Dämmerung über den Ort, die uns in eine seichte Dunkelheit hüllt und mich nur kurz den Atem anhalten lässt, als Marcel mein T-Shirt über meinen Kopf zieht.
Aber Eriks Mahnmale sind von Ellens Abdeckstift genügend verdeckt und in dem wenigen Licht nicht auszumachen und Marcel zeigt keine Reaktion. Ich gebe mich seinen Lippen auf meinem Körper hin.
In der Nacht schlüpfe ich erneut in mein T-Shirt und mir wird wieder bewusst, wie geschickt Erik sich mit seinen Küssen auf meinem Halsansatz, und den sichtbaren Beweis dafür, dass ich mich ihm nicht entziehen kann, immer wieder in mein Gedächtnis ruft.
Marcel zieht mich sofort wieder in seinen Arm und murrt nur verschlafen, als er den Stoff fühlt.
Ich kann nicht sofort einschlafen und frage mich, was Erik wohl gerade macht. Es ist Freitagnacht und er kann jede haben, die er will.
Am Samstag geht es mir etwas besser und ich mache mich daran, die Wohnung etwas auf Vordermann zu bringen, während Marcel mit seinem Auto zur Tankstelle fährt, um Öl zu kontrollieren und den Reifendruck zu messen. Zumindest hat er mir das gesagt und ich bat ihn, auch gleich einzukaufen. Da wir wenig zu Hause sind brauchen wir nicht viel. Das meiste ist für unseren Kater Diego.
Am Nachmittag fährt Marcel zum Training. Er hatte mich angefleht, ihn zu begleiten. Aber ich ließ mich nicht erweichen.
Ellen ruft mich an und versucht mich zu überreden, mit ihr am Abend durch die Stadt zu ziehen, weil Erik und Daniel geschäftlich unterwegs sein werden. Doch ich wimmele sie ab. Ich fühle mich schon wieder so, als hätte ich mein ganzes Pulver verschossen und möchte lieber einen ruhigen Abend daheim verbringen. Ob Marcel da sein wird, weiß ich nicht mal. Aber Diego wird es freuen, wenn jemand zu Hause bleibt.
Marcel kommt vom Training zurück und springt sofort unter die Dusche.
Ich habe einen Auflauf im Ofen und setze mich an meinen Laptop, um etwas für meine Hausaufgaben zu recherchieren, als mein Handy eine SMS meldet.
Mein Herz schlägt sofort einen anderen Rhythmus an, als ich Ellen2 lese.
„Mir geht es gut. Danke der nicht gestellten Nachfrage. Ich hoffe, der Elan hält sich in Grenzen. Sichere meine Nummer mit einem falschen Namen. Ist besser. E“
Ich muss sie zweimal lesen. Ist Erik sauer, weil ich mich heute nicht nach seinem werten Befinden erkundigt habe oder ist das erneut eines seiner Spielchen? Zumindest macht er sich Gedanken um die Probleme, die ich bekomme, wenn Marcel seine Nummer auf meinem Handy mit seinem Namen finden würde. Aber das habe ich schon längst im Griff. Erik hätte sich lieber so viele Gedanken um meine auftretenden Probleme machen sollen, als er mir die Knutschflecke verpasste.
Ich schreibe ihm schnell zurück: „Sicher geht es dir gut. Deine Nummer ist schon lange gesichert. Elan? Ich kuriere mich noch von der Woche aus und werde mir einen ruhigen Abend machen. Sei vorsichtig bei dem, was du heute vorhast.“
Dass er wieder mit Daniel seinen Geschäften nachgeht, macht mich nervös und ich versuche den Gedanken daran zu verdrängen. Erik ist noch auf Bewährung und ich denke, es geht um Drogen. Also muss ich damit rechnen, dass es auch mal schiefgehen kann. Etwas, was mich nicht kalt lässt.
Erneut meldet mein Handy eine SMS.
„Lese ich da Sorge? Wer macht sich schon Sorgen um den Teufel? Ich werde auf mich achtgeben.“
Ich tickere nur ein schnelles: „Danke!“, rein und lösche alles.
Das Handy in meine Hosentasche verstauend, lese ich den Artikel weiter, den ich gefunden habe und schreibe mir einige Daten heraus, als Marcel hinter mir erscheint und sein nasses Haar über mir ausschüttelt.
„Iiiih, Marcel nicht! Mein Laptop wird doch ganz nass“, quicke ich.
Er lacht nur und hält seine Nase genüsslich schnüffelnd in die Luft. „Das riecht hier aber lecker. Ich habe einen Bärenhunger!“
Ich stehe auf und stelle Teller auf den Tisch und lege Besteck dazu. „Dann komm, mein hungriger Bär.“
Wir essen und ich frage: „Bist du heute Abend zu Hause?“
„Ich habe nichts vor. Und du?“
„Ich bleibe auf alle Fälle hier. Es tut mir gut, wenn ich mich noch ein wenig ausruhe. Nächste Woche wir anstrengend. Wir haben lange Schule und Mama hat sich noch nicht gemeldet, wann sie zu Julian fahren wollen.“
„Oh Mann, willst du wirklich mitfahren?“
Ich nicke entschlossen. Durch Erik habe ich das Gefühl, ich muss Julian eine Chance geben. Wenn er auch so unter der Vergangenheit leidet wie Erik, dann muss ich mit ihm reden. Vielleicht ist dieser Alchimistenmist wirklich ausgestanden und er kann zurückkommen und alles wird wieder gut. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
„Wenn du meinst!“, brummt Marcel. „Aber schön, dass du heute Abend bei mir bleibst.“
Wie er das sagt, versetzt mir einen Stich. Er tut fast so, als würde ich ihn ständig allein lassen.
Am Sonntag fühle ich mich wirklich wieder fit. Der ruhige Samstagabend und der viele Schlaf füllten meine Kraftreserven auf. Nach dem Frühstück packt mich allerdings die Unruhe. Immer wieder schieben sich Bilder von wilden Bandenkriegen und aufmarschierenden Polizisten in meinen Kopf. Als in den Nachrichten auch noch von einem gesprengten Drogenring berichtet wird, ist es mit meiner sonntäglichen Ruhe ganz vorbei. Während Marcel mit Diego in den Garten geht, um eine Zigarette zu rauchen, schreibe ich eine SMS an Ellen2.
„Ist alles in Ordnung? Geht es euch gut?“
Ich schreibe es extra so, als beziehe ich meine Frage auch auf Daniel.
Fast augenblicklich kommt zurück: „Ja, alles in Ordnung. Ich rufe dich später an.“
Oh nein! Nicht anrufen!
Aber mir ist klar, wenn Erik mich anrufen will, tut er das auch.
„Klingel mich erst kurz an und ich suche mir einen ruhigen Platz“, schreibe ich zurück und hoffe, er versteht, was ich meine.
Ich schiebe das Handy in meine Hosentasche und gehe auch in den Garten. Als ich um die Hausecke biege, sehe ich Marcel auf den Treppenstufen der Terrasse sitzen, die Zigarette im Mundwinkel und etwas in sein Handy eintippen.
Marcel ist kein großer SMS Schreiber, was man an der umständlichen Eingabe der Buchstaben sieht. Es scheint ihn einige Mühe zu kosten und ich gehe zu ihm. „Nah, schreibst du einer deiner zahlreichen Verehrerinnen?“, witzele ich und Marcel fährt erschrocken zusammen. „Nein“, brummt er und steckt das Handy augenblicklich in seine Hosentasche.
Das verwirrt mich. Will er sein Geschriebenes nicht wenigstens verschicken? Ich sehe ihn misstrauisch an. Marcel hat sein Handy neuerdings viel bei sich. Genauso wie ich.
Er raucht seine Zigarette zu Ende und sagt: „Heute Nachmittag ist ein Spiel mit Werda Bremen. Schaust du dir das mit mir an?“
„Oh, ich weiß nicht. Ich muss noch Hausaufgaben machen.“
Er nickt nur und wirft mir einen seltsamen Blick zu, als hätte er auch nicht damit gerechnet.
„Vielleicht wollen deine Jungs herkommen und mitgucken?“, schlage ich vor.
„Ich frage sie mal“, antwortet Marcel nur und ich stehe auf, um ins Haus zurückzugehen. Ich möchte mir etwas zum Lesen holen.
„Soll ich dir etwas mit rausbringen?“, frage ich Marcel und er schüttelt den Kopf.
Ich gehe um die Hausecke und bleibe stehen. Irgendwie bin ich beunruhigt. Irgendetwas an Marcel beunruhigt mich.
Ich drehe mich um und schaue vorsichtig um die Hausecke und sehe ihn erneut sein Handy in die Hand nehmen und etwas schreiben.
Mit gerunzelter Stirn setze ich meinen Weg fort. Also ist da was im Busch. Marcel schreibt SMSen und ich soll das nicht mitbekommen.
Ich beschließe, etwas schrecklich Verwerfliches zu tun. Ich werde mal in seinem Handy etwas schnüffeln müssen.
Sofort spüre ich diesen Wurm in mir. Noch klein und schmierig und deshalb nur eben wahrzunehmen. Aber ich habe Angst davor, dass er zu einer Python wird, die mich erneut von innen heraus zerfetzen will.
Ich beeile mich, mir ein Buch zu greifen und laufe schnell wieder hinaus.
Marcel sitzt nur da und schaut Diego zu, der durch die Büsche streift und alles untersucht. „Der Kleine ist richtig groß geworden“, sagt er, stolz wie ein richtiger Papa.
„Ja, ist er“, sage ich und setze mich dicht neben ihn, lege meinen Arm um seinen Nacken und lehne mich an seine Schulter.
„Du siehst wieder ausgeruhter aus. Das Wochenende hat dir gutgetan“, raunt er und sieht mich zufrieden an.
Ich nicke nur.
Er legt seinen Finger unter mein Kinn und küsst mich. „Das war ein schönes Wochenende. Diese Woche wird anstrengend und wir werden uns nicht viel sehen können.“
„Ich weiß“, flüstere ich an seiner Schulter.
Er nimmt meinen Arm und zieht mich über sein Bein zwischen seine Beine, damit ich eine Stufe unter ihm zum Sitzen komme. Beide Arme um mich schlingend, haucht er in meine Haare: „Weißt du, dass ich dich liebe?“
Ich nicke, greife hinter mich und lege meine Hand auf seine Wange, während er mir einen Kuss auf meinen Hals drückt.
Warum rege ich mich auf, weil Marcel mal jemandem schreibt? Es ist nichts! Er liebt mich immer noch, also!
Wir sitzen lange zusammen und schauen Diego bei seinen Spielchen zu. Aber irgendwann muss ich reingehen und mich an meine Hausaufgaben machen.
Marcel bietet mir erneut an, mir zu helfen, wenn ich nicht klarkomme. Aber er bleibt noch draußen und ich sehe ihn wenig später in der Garage verschwinden.
Zum ersten Mal grübele ich darüber nach, was passiert, wenn wir uns trennen. Wenn er auf einmal eine andere hätte.
Ich verdränge den Gedanken daran. Es würde mir den Boden unter den Füßen wegziehen.
Am Nachmittag habe ich meine Hausaufgaben fertig, den Bericht geschrieben, der eigentlich erst nächste Woche dran ist, und meine Mappen geordnet und alle Blätter eingeheftet. Marcel ist immer noch draußen und putzt seinen Golf von innen. Diego hat er bei sich und lässt ihn durchs Auto toben. Mittlerweile haben wir keine Angst mehr, den Kater auch außerhalb des Zaunes laufen zu lassen, der sowieso kein Hindernis mehr für ihn darstellt. Marcel überlegt schon, ob wir ihm irgendwo eine Klappe einbauen können, damit er jederzeit raus und rein gehen kann.
Diego kommt zu mir ins Wohnzimmer gelaufen und Marcel folgt ihm, den Eimer und die schmutzigen Lappen in der Hand. „So, mein Auto blitzt und blinkt wieder“, sagt er und sieht zufrieden aus. „Außerdem muss der Mustang, den ich gestern gesehen habe, hier irgendwo aus unserer Nachbarschaft kommen“, meint er noch und geht ins Badezimmer, um die Lappen in die Waschmaschine zu werfen.
„Warum meinst du das?“, rufe ich ihm verunsichert hinterher.
Marcel kommt ins Wohnzimmer zurück. „Weil ich den erneut gesehen habe.“
„Wo?“, frage ich verwirrt.
„Auf unserer Straße. Der ist vor einer halben Stunde hier vorbeigefahren. Schickes Teil, sage ich dir. Wirklich ein Traum. Ich würde so was gerne mal fahren.“
Ich schlucke schwer. Erik ist hier durchgefahren? Warum?
„Glaube ich dir“, murmele ich nur und gehe zum Badezimmer. „Ich gehe eben auf Toilette“, erkläre ich und schließe die Tür hinter mir.
Mein Handy aus meiner Hosentasche ziehend, schreibe ich an Ellen2 eine SMS. „Dein Auto ist zu auffällig, als das du unauffällig hier durchfahren kannst. Wolltest du etwas Bestimmtes?“
Die Antwort lässt auf sich warten. Ich werde nervös. Schließlich kann ich nicht ewig auf dem Klo hocken bleiben. Dann klingelt mein Handy einmal und erstirbt wieder. Erik will mit mir telefonieren. Verdammt!
Ich verlasse das Badezimmer und schlüpfe in meine Schuhe. Marcel wirft sich gerade vor den Fernseher. „Vielleicht kommen Michael und Mike gleich noch. Magst du nicht doch mitschauen? Das Spiel fängt gleich an.“
Ach ja, das Fußballspiel.
„Ne, ich gehe lieber eben ein Stück um die Häuser. Vielleicht danach. Okay?“
Marcel sieht mich seltsam an und ich gehe zu ihm und gebe ihm einen Kuss. „Nur eine Runde die Füße vertreten - nach dem langen Sitzen. Und vielleicht sehe ich ja, wo dein Mustang wohnt und ich sage dir dann die Adresse.“
Seine Augen leuchten auf. „Au ja! Das wäre toll!“
Ich verlasse schnell das Haus und gehe durch die kleine Gartenpforte auf die Straße. Sofort blicke ich die Straße rauf und runter. Aber ich sehe keinen auffälligen Mustang. Ich muss die leichte Enttäuschung unterdrücken, die sich an die Oberfläche schleichen will. Spüre ich da so etwas wie eine seichte Sehnsucht? Ich schüttele energisch den Kopf und verdränge das Gefühl.
Ich gehe die Straße hinunter, an den Einfamilienhäusern mit ihren schön angelegten Gärten vorbei und komme zu der Straße, an der Erik und ich parkten und ich ihm den Abschiedskuss gab. Dort wechsele ich auf die andere Straßenseite und laufe weiter in die Stadt hinein. Ich nehme mein Handy und rufe Ellen2 an.
„Hi!“, meldet Erik sich sofort. „Hast du dich wegschleichen können?“
„Hallo Erik. Warum wegschleichen? Ich habe gesagt, dass ich ein Stück um die Häuser gehe und fertig. Marcel sperrt mich nicht ein.“
„… wie ich!“, raunt Erik, als wolle ich den Satz so vervollständigen.
„Das hast du gesagt“, antworte ich ihm und fühle ein seltsames Zittern durch mein Inneres toben. Schon mit Erik zu sprechen lässt alles in mir vibrieren. „Und, gestern alles gut gelaufen?“, versuche ich das Thema schnell zu wechseln.
„Ja, aber frag nicht weiter. Es ist besser, du weißt von all dem nichts“, höre ich Erik murmeln.
„Stimmt! Das ist wahrscheinlich wirklich besser. Zumal das etwas wäre, dass ich nicht tolerieren könnte, wenn wir mehr als nur Freunde wären.“ Ich kann dem Drang nicht wiederstehen, ihn erneut aus der Reserve zu locken. Mir wird klar, dass in meinem Inneren die Frage wütet, was er meint, was zwischen uns ist. Dass er mir die Freundschaft zu seiner Schwester lässt, ist mir mittlerweile klar. Aber was will er von mir? Einerseits lebt er sein Leben, als gäbe es nichts anderes, was ihn interessiert und anderseits sucht er den Kontakt zu mir.
Erik sagt nichts.
Nach einiger Zeit raunt er, das Thema wechselnd: „Du fragst nicht, wie es mir geht? Vergessen? Ich bin noch immer verletzt.“
„Ach Erik, Quatsch. Wenn du nachts durch dunkle Gassen und siffige Diskotheken gehen kannst, um Drogen zu verticken, dann kann es so schlimm nicht mehr sein“, knurre ich von der Enttäuschung getrieben, dass er sich nicht weiter auf das andere Thema einlassen will.
„Autsch, das war wie ein Schlag in den Magen. Wo bleibt denn deine hilfreiche und soziale Ader? Hast du die anderweitig ausgetobt?“, blafft er zurück.
Ich bin mir nicht sicher, was er damit meint und brumme: „Die steht nicht jedem zu und Daniel ist schließlich auch noch da. Er kann dir auch dein Händchen halten. So und nun raus mit der Sprache. Warum warst du heute in Bramsche?“
Ich höre ein Seufzen und es dauert bis er antworte: „Ich habe nur nach dem Rechten gesehen.“
„Was? Wie, nach dem Rechten gesehen?“, frage ich irritiert.
„Nah, ob das Haus noch steht oder du schon deine Sachen packst und gehen willst oder irgend sowas“, sagt er, als zähle er auf, was er zum Frühstück gegessen hat.
„Ich habe nichts, wo ich einfach so hingehen kann. Meine Eltern lieben Marcel mittlerweile wieder heiß und innig und würden mir die Hölle heiß machen, wenn ich ihn verlasse“, antworte ich, an meine Gedanken erinnert, die mich genau diesbezüglich schon bei den Hausaufgaben heimgesucht hatten.
Leise raunt Erik: „Das wäre kein Problem. Ich hätte sofort eine Wohnung für dich.“
„Die ich mir nicht leisten könnte“, antworte ich nur.
„Die würde dich nichts kosten. Sie ist bei Daniel im Haus“, sagt er schnell.
Ich bleibe verwirrt stehen. „Wie jetzt?“
„Ist doch egal. Wenn du wegwillst, hast du auf alle Fälle gleich eine Wohnung. Mehr brauchst du nicht zu wissen.“
Ich schüttele den Kopf und muss einen Schritt an die Seite gehen, um eine Frau mit Kinderwagen vorbeizulassen.
„Okay“, antworte ich nur. „Aber ich glaube, ich würde mir dann lieber selbst was suchen.“ Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll.
„Sicher! Aber erst mal hättest du eine Bleibe und Ellen hättest du auch gleich da“, murmelt er.
Will er mir die Wohnung schmackhaft machen? Ich finde das alles ausgesprochen seltsam und nehme mir vor, Ellen danach zu fragen. Jetzt halte ich es erst mal für besser, das Thema zu wechseln.
„Also jetzt ehrlich! Warum warst du eben da?“
„Ehrlich? Ich war in der Nähe und wollte einen kleinen Abstecher machen, um wirklich nur zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Und ich habe deinen Typen gesehen. Ich glaube, gestern auch schon. Der steht scheinbar auf Mustangs.“
Erik hört sich so an, als freue es ihn ungemein, dass er etwas hat, das Marcel auch haben möchte.
„Ich denke, wenn du ihn fragst, ob er auch mal fahren will, sagt er sofort ja“, antworte ich, seine Vermutung bestätigend.
„Ich kann ihn ja mal fragen, ob er mit mir tauscht. Er bekommt das Auto und ich seine Freundin.“ Erik lacht laut auf, um seine Worte als Witz zu kaschieren.
Ich muss auch lachen. So ein Spinner. „Nah, ich denke, er nimmt sofort das Auto“, antworte ich ihm.
„Hm, dann sollte ich ihm den Deal wirklich mal vorschlagen“, sagt Erik ernst.
„Untersteh dich“, rufe ich gespielt entrüstet aus und muss immer noch lachen. „Du bringst das wirklich und ich habe dann den Stress, weil Marcel wissen will, wie du auf so etwas kommst. Sowieso, dass ich den Mustangfahrer kenne, würde ihn aus allen Wolken fallen lassen. Also bitte halte dich zurück“, füge ich noch belustigt hinzu. Ich will diese Stimmung aufrechterhalten.
„Zurückhaltung? Hm, ich glaube, dass ich nicht gerade eine meiner Stärken“, murmelt Erik.
Ich muss schmunzeln. „Stimmt! Was ist deine Stärke?“
Erik scheint zu überlegen. „Ich weiß nicht? Ich kann nichts Besonderes. Vielleicht ist meine einzige Stärke meine Stärke.“ Er lacht auf, klingt aber eher resigniert.
„Ich bin mir sicher, du hast ganz viele“, versuche ich sofort mit einem seltsamen Gefühl im Bauch seine Laune wieder hochzutreiben.
„Ach ja? Nah, dann sage mir mal eine. Eine Einzige. Das wäre schon was“, raunt er und ich spüre erneut die Stimmung auf Talfahrt gehen.
„Ich weiß ganz viele“, sage ich aufgedreht. „Du bist stark nervig, stark verbissen, stark wehleidig, stark unberechenbar, stark ehrlich, stark im Bett.“ Das letzte lässt meinen Atem stocken. Vielleicht hätte ich das besser unerwähnt gelassen.
„Wow, das ist viel stark. Und über den letzten Punkt sollten wir uns noch mal ausführlicher unterhalten.“ Ich höre sein leises Lachen.
Ich sehe schon den Bahnhof vor mir und weiß, dass unser Gespräch zu Ende gehen muss. Ausgesprochen bedauerlich.
„Erik, ein anderes Mal. Ich bin gleich wieder zu Hause. Wir müssen Schluss machen.“
„Was? Schon? Okay …“, raunt er wenig erfreut.
In dem Moment hubt jemand neben mir und Mike brüllt aus dem offenen Fenster von Michaels Audi: „Hallo Carolin!“
Sie rasen an mir vorbei, den Motor noch einmal aufheulen lassend und Michael winkt grinsend.
„Mann, Jungs!“, brumme ich erschrocken.
„Was ist da bei dir los?“, höre ich Erik fragen und er scheint schon auf dem Sprung zu sein, um mich vor irgendwelchen bösen Buben zu retten.
„Nichts! Das waren nur Marcels Jungs. Die fahren wohl zu uns, um Fußball zu schauen.“
„Hm, alles klar. Dann hast du eine volle Bude, oder?“ Er scheint zu überlegen. „Magst du nicht lieber mit mir ein wenig rausfahren?“ Es klingt wirklich wie eine Bitte und ich schlucke.
„Nein Erik. Ich kann nicht einfach verschwinden. Außerdem habe ich noch einiges zu tun.“
Murrend höre ich ihn sagen: „Du ziehst diese Bande mir also vor?“
„Natürlich!“, sage ich neckend.
Er scheint einen Moment sprachlos zu sein. „Auch das merke ich mir“, brummt er grollend.
„Was denn noch?“, frage ich und werde immer langsamer, um noch etwas Zeit zu schinden.
„Nah, dass mit dem Teufel. Du hast gesagt, ich wäre der Teufel.“
„Ach das“, sage ich und muss erneut lachen. „Und wofür merkst du dir das?“
„Für meine Rache“, sagt er genüsslich und ich frage keck nach: „So, für die Rache! Wie soll die aussehen?“
„Lass dich überraschen“, raunt er und mir wird heiß. Das heißt wohl, dass er immer noch nicht genug von mir hat.
„Mache ich“, erwidere ich und könnte das Spiel noch endlos weiterführen. Aber ich muss gehen. Die Jungs haben mich gesehen und warten bestimmt darauf, dass ich endlich erscheine.
„Okay Erik, ich muss Schluss machen.“
„Ich weiß. Wir sehen uns dann … zu meinem Racheakt.“ Ich höre ihn förmlich die Zähne fletschen.
„Wann?“, frage ich.
„Lass dich überraschen“, antwortet er nur. „Einen schönen Sonntag noch und vergiss mich nicht.“
„Mache ich nicht. Dir auch einen schönen Sonntag. Bis bald!“ Ich lege auf, als ich fast unser Haus erreiche. Michaels Audi steht neben Marcels Golf vor der Garage.
Ich habe eigentlich keine Lust hineinzugehen. Aber ich habe noch eine Mission, die mir vielleicht gut gelingt, wenn Marcel so abgelenkt ist. Ich möchte einen Blick in sein Handy werfen.
Als ich das Haus betrete, höre ich die Fußballfreaks schon im Wohnzimmer toben, was einen schlechten Spielverlauf anzeigt. Ich schaue ins Wohnzimmer und rufe ein „Hallo“, hinein.
„Hi, Carolin!“, rufen Michael und Mike wie aus einem Mund und Marcel wirft mir einen schnellen Blick zu.
Ich gehe zu ihm und gebe ihm einen Kuss, weil ich weiß, dass ihm das ganz wichtig vor seinen Kumpels ist.
„Kommst du jetzt auch ein bisschen zu uns?“, fragt er und ich sehe mich um. Sein Handy liegt auf dem Tisch vor dem Sofa.
„Gleich! Möchte jemand einen Kaffee oder etwas anderes?“
„Kaffee wäre toll“, sagt Michael und grinst mich an.
„Dreimal“, meint Marcel, als wäre ich eine Bedienung in einem Cafe.
„Okay“, raune ich und komme wenig später mit einem Tablett wieder, auf dem Milch, Zucker und drei Kaffeebecher mit Kaffee stehen. Wie ganz nebenbei, mache ich auf dem Tisch Platz und lege Marcels Handy auf das Tablett, während ich die Becher, die Milch und den Zucker auf den Tisch stelle. Die Fernsehzeitung lege ich auch auf das Tablett und schiebe die Kaffeebecher direkt vor die jeweiligen Kaffeetrinker.
Ich gehe in die Küche und atme auf. Das Handy greifend, flitze ich ins Badezimmer und schließe mich ein. Mit zittrigen Händen und einem unglaublich schlechten Gewissen drücke ich die Tastensperre aus. Im Telefonspeicher finde ich nur Anrufe von mir, seiner Schwester, seinen Eltern oder seinen Kumpels. Ich öffne die SMSen und finde tatsächlich drei von einer Sabrina, was augenblicklich einen Sturm durch mein Innerstes toben lässt.
Mit laut pochendem Herzen öffne ich die erste.
„Hallo Marcel. Du kennst mich wahrscheinlich nicht. Ich kenne dich aber. Ich bin bei jedem Fußballspiel dabei und ein absoluter Fußballfanatiker - wegen dir! Magst du dich mal mit mir treffen? Sabrina.“
Das haut mich fast um. Wie abgebrüht ist das denn?
Ich öffne die nächste.
„Schade! Aber was heißt das schon … eine Freundin. Vielleicht entgeht dir etwas, wenn du dich nur an eine klammerst. Überlege es dir. Man weiß nie, ob sie nicht auch in fremden Teichen fischt.“
Die lässt mich aufatmen. Marcel hat sie abgeblockt. Aber dennoch scheint das Mädel nicht locker lassen zu wollen und arbeitet sogar mit unlauteren Mitteln. Sie deutet an, dass ich untreu sein könnte. Allerhand!
Ich öffne die dritte.
„Das hört sich schon besser an. Ich melde mich noch. Warte darauf.“
Mir stockt erneut der Atem. Verdammt!
Ich gehe in die Gesendeten und lese Marcels letzte SMS.
„Vielleicht hast du recht. Das Leben ist zu kurz und undurchsichtig. Schickst du mir ein Bild von dir? Ich möchte gerne wissen, mit wem ich es zu tun habe.“
Ich starre auf die SMS von Marcel. Er lässt sich tatsächlich ein Bild zuschicken? Was soll das werden? Und dann ist er auch noch so blöd und löscht das Zeug nicht.
Tief durchatmend verlasse ich das Badezimmer und lege das Handy mit der Fernsehzeitung zusammen unauffällig auf meinen Schreibtisch, während die Männer völlig resigniert auf ihren Sitzen herumrutschen und den Blick nicht von dem Spiel wenden können.
Ich sehe Marcel an und kann es nicht fassen.
Sein Blick begegnet plötzlich meinem und er fragt erneut: „Kommst du jetzt? Die spielen ganz schlecht. Vielleicht hilft es, wenn du mitguckst?“
Die anderen lachen und ich gehe zwischen ihren langen Beinen hindurch und quetsche mich zwischen Marcel und Mike aufs Sofa. Marcel legt sofort den Arm um mich und zieht mich zu sich heran.
Tatsächlich hilft da nichts. Es bleibt null zu null. Marcel ist schrecklich enttäuscht. Da half auch nicht das Bier, das ich für alle holte und auch nicht das Popcorn, das ich in der Mikrowelle machte. Für Marcel ist das eine Katastrophe und ich weiß, ich muss ihn trösten und bin doch wie befangen. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass er so leidet, weil sein Verein kein Tor geschossen hat. Diese Sabrina hat da bestimmt mehr Verständnis und der Gedanke macht mir Angst.
Ich schaffe es, noch am gleichen Abend erneut in sein Handy zu schauen. Aber es ist noch keine weitere SMS von diesem Mädchen eingegangen. Vielleicht ist sie zu hässlich, um ihm wirklich ein Bild von sich zu schicken.
Am Montagmorgen stehe ich wieder allein auf. Marcel lasse ich weiterschlafen, weil er erst mittags zur Arbeit muss.
Im Bus ruft mich Tim an und ist so unglaublich glücklich, dass wir uns noch diese Woche sehen werden, dass ich mich schon wieder überfordert fühle. Seine ganze Hoffnung ist in seiner Stimme zu hören, die er in diese kurze Zeit unseres Wiedersehens setzt.
Ich weiß nicht, wie ich diese Hoffnung dämpfen soll, ohne ihm wehzutun und ich weiß auch gar nicht, wie ich wirklich reagieren werde, wenn er vor mir steht. Ich kann mich nicht mehr einschätzen. Meine Gefühlswelt ist völlig auf den Kopf gestellt. Wer weiß da schon, wie ich bei Tim ticken werde?
Als ich aus dem Bus steige, immer noch das Handy an meinem Ohr und in Ellens Gesicht sehe, geht es mir besser. Sie grinst mich an und ich grinse zurück. „Okay Tim, ich muss jetzt Schluss machen und wünsche dir noch einen schönen Tag. Bis morgen!“
Ich beiße mir auf die Lippe. Der letzte Satz war mir so rausgerutscht.
Tim haucht noch einen Luftkuss ins Telefon und wir legen auf.
„Wie bis morgen? Weißt du schon, dass er morgen wieder anruft?“, brummt Ellen, ohne mir einen Guten Morgen zu wünschen.
„Naja …, sicher!“, sage ich ausweichend.
„Also ist er das immer morgens und nicht Marcel. Ich dachte mir das schon“, knurrt sie verbissen.
„Marcel ruft mich auch schon mal an … oder meine Eltern“, versuche ich mich zu verteidigen.
„Und wann kommt er?“
Stimmt, ich hatte Ellen gesagt, dass Tim diese Woche vorbeikommen wird.
„Mittwoch“, raune ich und weiß nicht, ob es gut ist, dass sie das weiß.
„Und was habt ihr vor?“
„Schauen wir mal. Vielleicht habt ihr Lust, was mit uns zu unternehmen?“, frage ich sie.
„Wen meinst du? Die Mädels? Daniel? Vielleicht Erik?“, brummt sie ungehalten.
Ich schüttele den Kopf. „Wenn du meinst, ich sollte besser nicht mit ihm allein sein, dann lass dir doch was einfallen. Da seid ihr Zeiss-Clarkson doch ganz groß drin“, brumme ich zurück.
Ellen grinst, aber ihre Augen blitzen ernst. „Warte, was passiert, wenn Erik erfährt, dass Tim erneut hier aufläuft.“
„Sag´s ihm einfach nicht“, antworte ich nur mürrisch. Mir ist bei dem Gedanken auch nicht wohl.
Wir sind bei der Schule und die anderen empfangen uns überdreht und erzählen von Samstagabend und ihrer Alandotour.
Ich sehe Ellen überrascht an. Sie hatte mir nicht erzählt, dass sie Samstag auf Tour waren.
„Du wolltest schließlich nicht mit. Die anderen aber schon“, sagt sie nur lachend.
Ich bin etwas traurig, dass sie mir nichts davon gesagt hatte. Fast kommt es mir so vor, als wollten sie mich gar nicht mithaben. Meine alte Angst, den Anschluss an meine Klassenkameraden zu verlieren, kriecht wieder in mir hoch. Das darf auf gar keinen Fall wieder passieren.
Als wir am Nachmittag aus der großen Eingangstür der Schule treten, machen mich Michaelas leuchtenden Augen auf die zwei an der Straße wartenden Autos aufmerksam.
Verdammt!
Ellen lacht. „Hey, was ist das denn heute?“ Sie geht schnurstracks auf den BMW zu und küsst Daniel, der lässig an seinem Auto lehnt und nur Augen für sie hat.
Unsere Mädels sehen sich den anderen Typen an, der mit verschränkten Armen am Mustang lehnt und nur Sabine und Michaela wissen, dass das Ellens Bruder ist.
Mein Herz droht bei Eriks Anblick auszusetzen. Er hat ein schwarzes T-Shirt an, das ungewöhnlich eng für seine Verhältnisse sitzt und seinen unglaublich gutgebauten Oberkörper betont. Seine verwaschene Jeans mit dem Riss auf dem Oberschenkel sieht verboten verwegen aus und ich weiß, was der Inhalt verspricht, hält er auch. Dazu glänzen seine blonden Locken in der Sonne.
Ich drehe mich um und denke mir, es ist besser ich gehe noch mal in die Schule zurück und tue so, als müsse ich noch mal auf Toilette oder etwas holen, das ich vergessen habe. Schon wegen Michaela möchte ich nicht, dass Erik mich anspricht oder sonst irgendetwas macht, das den Anschein erweckt, wir hätten mehr miteinander zu tun. Schließlich war sie auch schon eine von Eriks Betthupfern gewesen und leidet immer noch schwer an seiner anschließenden Abfuhr.
Ich höre Ellen meinen Namen rufen und laufe durch die Tür in den kühlen Flur der Schule zurück. Vielleicht gibt es auch einen Hinterausgang oder ich komme erst raus, wenn alle weg sind. Ich kann unmöglich vor allen in Eriks Auto steigen. Das überlebt die arme Michaela, und wer weiß wer sonst noch alles, nicht. Und ich auch nicht.
„Hey, wartest du wohl?“, höre ich plötzlich Eriks wütende Stimme durch den Flur schallen und laufe an den letzten Nachzüglern vorbei, die aus einem der Klassenzimmer kommen.
Erschrocken und resigniert verdrehe ich die Augen. Das kann doch jetzt nicht wahr sein? Wieso folgt er mir auch noch?
Ich will nicht wegrennen. Also muss ich ein normales Tempo beibehalten, damit es nicht so aussieht, als wäre ich auf der Flucht. Es soll schließlich so aussehen, als hätte ich noch irgendwas vergessen.
„Wartest du wohl?“, brummt es neben mir und ich werde am Arm festgehalten. Erik sieht mich verdrossen an. „Du kannst doch nicht einfach abhauen“, knurrt er aufgebracht.
„Was willst du hier?“, zische ich und gehe weiter.
Erik lacht auf und ich sehe ihn verdutzt an.
„Du bist so leicht zu durchschauen und so berechenbar. Es ist herrlich!“, sagt er belustigt.
Ich bleibe völlig verwirrt stehen.
„Vergessen? Meine kleine Rache. Ich habe lange überlegt, was dich wirklich trifft, ohne dich zu verletzen. Und dann fiel mir ein, was du bei deinem Typen nicht magst und dachte mir, dass kann ich auch.“
„Was?“, brumme ich noch irritierter.
„Und du schenkst mir die ganze Bandbreite mit deinem dummen Fluchtversuch“, raunt er grinsend.
Bevor ich etwas erwidern kann, packt er mich, wirft mich über seine Schulter, als wäre ich nur ein Zementsack, und greift mit der anderen Hand nach meiner Tasche, die ich erschrocken fallen ließ.
Ich versuche mich aus seinem Griff zu winden und er tut so, als wenn er mich hintenüberfallen lässt. „Gibst du jetzt Ruhe?“, brummt er dabei, als ich aufschreie.
Ich wage mich nicht mehr zu rühren und klammere mich kopfüber an seinem Gürtel fest. „Bitte, Erik. Ich gehe auch brav mit. Aber lass mich runter“, flehe ich ihn völlig verzweifelt an.
„Vergiss es. Das wird jetzt richtig peinlich für dich. Das ist meine kleine Rache. Du wirst nicht mehr einfach vor mir abhauen und mir auch nicht wiedersprechen“, meint er zufrieden.
Wir kommen durch die Tür, auf die jeder starrt, der Erik in Windeseile hineinschlüpfen gesehen hatte und sich wunderte, warum. Dass er jetzt wieder rauskommt und mich locker über seiner Schulter zum Auto trägt, verursacht bei vielen der um uns stehenden Gelächter. Ich möchte nicht Michaelas Gesicht sehen, die vielleicht eine Sekunde die Hoffnung hatte, dass er wegen ihr hier ist … oder andere Mädels, die dem gleichen Irrtum erlagen.
„Erik, ich hasse dich!“, fauche ich und er stellt mich bei seinem Auto auf die Füße.
Ellen und Daniel grinsen mich an, als ich aufgebracht meine Haare aus dem Gesicht streiche und ihnen einen wütenden Blick zuwerfe. Dann trifft mein Blick wieder Erik und ich fauche: „Verdammt, warum machst du das? Du bist doch wohl vollkommen übergeschnappt!“
„Steig ein“, raunt Erik nur und ignoriert mein Gezeter.
„Und wenn ich nicht will!“
„Glaub mir, dann wird es noch peinlicher für dich“, brummt er und seine Augen brennen sich in meine. „Aber mach ruhig. Ich freue mich darauf.“
Ich greife nach meiner Tasche, reiße sie ihm aus der Hand und gehe um den Mustang herum, um mich auf den Beifahrersitz zu werfen. „Was muss ich noch alles ertragen?“, murre ich dabei wütend.
Erik winkt Ellen und Daniel zu und steigt auch ein. Er lächelt mich an. „Du kannst auch ganz brav sein, sehe ich.“
Ihn keines Blickes würdigend, sehe ich aus dem Seitenfenster.
Wir fahren mit tief brummenden Motoren los und ich seufze auf. Wie soll ich meine Gefühlswelt in den Griff bekommen, wenn Erik mich jeden Tag auf die eine oder andere Weise belagert? Und dann dieser peinliche Auftritt! Der schafft es noch, dass ich mich nicht mal mehr in der Schule blicken lassen kann.
Wir fahren quer durch die Stadt. Bei den Ampeln kommt Daniels BMW oftmals auf unsere Höhe oder er überholt uns bei einem Kavalierstart und setzt sich vor uns. Es ist ein beständiges Spiel der beiden Autos und ihrer Fahrer. Ich kann mich nicht dagegen wehren, dass meine Laune sich bessert, als mir die ausgelassene Stimmung von Erik immer bewusster wird. Er ist wie ein Kind, das sein Lieblingsspiel spielen darf und wenn ich Daniel und Ellen sehe, die strahlend und verrückte Grimassen schneidend ihren Teil dazu beitragen, sobald wir auf eine Höhe kommen, so kann ich mich dem nicht entziehen.
Erik grinst mich immer wieder an, während gute Musik läuft und um uns herum das Auto bei jedem Anfahren seine unbändige Kraft zeigt.
Als wir auf der anderen Seite der Stadt in den Stadtteil Voxtrup einfahren, sehe ich Erik verständnislos an. „Wo fahren wir hin?“, frage ich ihn, weil mir dieser Teil der Stadt überhaupt nicht geläufig ist.
„Wir? Wir machen eine kleine Spritztour. Mein Racheakt ist noch nicht zu Ende. Lehn dich noch nicht zurück.“ Er grinst mich frech an.
Ich beschwere mich: „Hey, dass an der Schule war schon schlimm genug, dass es für die nächsten Jahre im Voraus reicht.“
Erik lacht auf. „So lange willst du es mit mir aushalten?“
„Will?“, antworte ich ihm aufgebracht: „Als wenn ich bei irgendwas eine Wahl habe.“
„Stimmt, die hast du auch schon verspielt“, sagt er gut gelaunt und zwinkert mir mit funkelnden Augen zu.
Daniel und Ellen ziehen an uns vorbei, als wir Voxtrup verlassen und eine breite Straße hinabfahren. Der BMW setzt sich erneut vor uns.
Ellen winkt und ich winke zurück.
„Was hast du vor?“, frage ich Erik und schaue dem BMW hinterher.
„Ich sagte doch, wir machen eine kleine Spritztour.“
„Und das soll eine Strafe sein?“, frage ich ungläubig.
„Wir sprechen uns in ein paar Minuten noch mal wieder“, raunt Erik und ich überlege angestrengt, was er machen könnte, was mir dann wirklich wie eine Strafe erscheint. Das hier ist einfach nur Spaß pur.
Wir fahren durch einen kleinen Ort, der sich auf seinem Eingangsschild als Bissendorf präsentiert und in dem der Mustang sofort Aufsehen erregt.
Das ist nichts, was ich wirklich mag und ich krame meine Schultasche vom Rücksitz und wühle in einer Seitentasche meine Sonnenbrille hervor, die ich nicht oft aufsetze.
„Versteckst du dich?“ Erik grinst spitzbübisch. „Du magst es überhaupt nicht, wenn du die Aufmerksamkeit auf dich ziehst und doch bist du wie ein Magnet, dass alle Energie an sich zieht.“
Ich sehe ihn verständnislos an und er erklärt nach einem Blick aus ernsten Augen: „Ist dir noch nicht aufgefallen, dass du immer die Aufmerksamkeit auf dich ziehst, wenn du irgendwo erscheinst? Wenn du in eine Disco gehst, sind immer welche da, die sich sofort von dir angezogen fühlen und wenn du durch die Stadt gehst, sind immer welche da, die dich ganz unverhohlen anstarren. Ich wette mit dir, es gibt viele Menschen, die gerne mit dir befreundet wären und viele Männer, die gerne mit dir zusammen wären.“
„Quatsch! Ich ziehe nicht mehr Aufmerksamkeit auf mich als alle anderen Menschen. Aber ich mag es wirklich nicht besonders, wenn ich bei irgendwas im Mittelpunkt stehe“, gebe ich zu, von seinen Worten seltsam berührt.
„Das weiß ich seit vorletztem Sonntag“, sagt Erik ernst. „Ich habe es fast körperlich gespürt, wie unangenehm dir das ganze theatralische Gehabe mit dieser Fußballmannschaft war und als dein Typ dich vor allen abschleckte.“
Ich fühle mich gezwungen ihm die Situation zu erklären. „Das war das zweite Spiel, zu dem ich mitgegangen bin und die halten mich für ihren Glücksbringer, weil sie noch nie so gut gespielt haben. Vor allem Marcel war noch nie so gut“, sage ich gerade mal so laut, dass die Musik es nicht ganz verschluckt und Erik dreht sie leiser. Er runzelt die Stirn und zieht in einem Kreisel in die nächste Seitenstraße ein, obwohl ich den BMW weiterfahren sehe. Ich will ihn darauf aufmerksam machen, aber an seinem Blick sehe ich, dass ihm das auch bewusst ist.
„Sein Glücksbringer …“, raunt er mehr zu sich selbst.
Mir wird die erdrückende Stimmung bewusst, die das Gespräch auslöst und ich lege meine Hand in seinen Nacken und schiebe sie in seinen Haaransatz. „Lass uns nicht davon sprechen. Sag mir lieber, warum wir woanders herfahren, als Daniel und Ellen.“
Erik nickt und legt den Kopf etwas schief und drückt seine Wange an meinen Arm. Dabei gibt er Gas, obwohl wir durch ein paar nicht ganz seichte Kurven ziehen.
„Du hast recht. Das ist geplant. Und du solltest besser deine Hand von meinem Körper nehmen, wenn du das, was jetzt kommt, überleben willst“, sagt er und ich ziehe meine Hand erschrocken zurück, auf die nächste Kurve starrend, die sich vor uns auftut.
Erik dreht die Musik lauter, als gerade ein Lied mit deutschem Text beginnt. Ich kenne die Gruppe von der letzten Klassenfahrt, wo dieses Lied mehrmals im Bus lief. SDP ist eine Berliner Duogruppe und der Text nimmt mich vom ersten Wort an gefangen. Von der Art her könnte das Erik sein und der Text könnte nicht besser auf mich und Erik zutreffen, wenn Erik in der Lage wäre, so zu fühlen wie der Sänger. Schon der Anfang irritiert mich. „Reißen wir uns gegenseitig raus oder reiten wir uns rein, hältst du mich lang genug aus oder bin ich bald wieder allein?“
Der Sänger schildert seine Liebe, wie sie von Erik zu mir sein könnte … und wie ich es mir tief in meinem Inneren von ihm wünsche. Das spüre ich in diesem Augenblick erschreckend heftig und bin verwirrt.
Der zweite Sänger singt davon, dass sein Kumpel niemals so ein Liebeslied singen wollte und er den Proleten vermisst, den sein Kumpel sonst verkörperte. Und als der erste Sänger für sein Mädel singt: „Du weißt, dass ich immer da bin, dir gehört mein Gentleman Charme, hängt dich an meinen Oberarm, versteck dich hinter mir, mach dein Herz auf, bevor ich dir etwas tue reiße ich mir meins raus“ …, schlucke ich schwer. Dann folgen weitere Liebeserklärungen in einer Gangstermanier, die mich hier und heute echt umhauen.
Ich werfe Erik einen schnellen Blick zu, der den schweren Wagen durch eine enge Straße mit tiefen Abgründen und Kurven einen Berg hinaufziehen lässt, dass es mir fast einen Herzimpfakt beschert. Aber nur fast, denn das Lied hält mich viel zu sehr in seinem Bann.
Es ist eine traumhaft schöne Landschaft und links von uns erscheint ein kleiner Ort, an dem wir vorbeirauschen, der Hauptstraße immer weiter folgend.
Mir müssten bei der mörderischen Fahrt alle meine Nerven brennen, aber ich lausche nur gebannt auf das Lied und die Gefühle, die es auslöst.
Eriks Laune steigt offensichtlich mit jeder Kurve und dem tiefen Brummen des starken Motors. Er grinst mich an und ich versuche die Coole zu spielen. Das gelingt mir nur, weil das Lied endlich zu Ende ist.
„Keine Angst?“, fragt er.
„Nein, ich vertraue dir vollkommen“, raune ich und spiele die Gelassene, aber mich erfüllt eine seichte Sehnsucht, dass er auch mal für mich so empfinden könnte, wie der Sänger für das Mädchen, für das er das Lied sang.
„Wow, du vertraust mir also auf einmal?“
Wie er das sagt, lässt mich ihn ansehen. Sein Gesicht ist ernst und seine braunen Augen blitzen auf.
„Ja, tue ich“, sage ich ehrlich. In diesem Augenblick tue ich das wirklich.
Wir kommen oben auf dem Berg an, auf dem ein Wendeplatz die verschiedenen Fahrmöglichkeiten freigibt. Erik lässt den Mustang an die Seite gleiten und den Motor ausgehen.
Ich werfe ihm einen beunruhigten Blick zu. Was hat er vor? Hätte ich ihm besser nicht sagen sollen, dass ich ihm vertraue? Geht ihm das zu weit?
Er reißt seine Tür auf und steigt aus.
Ich sehe ihn um das Auto laufen und bei meiner Tür erscheinen. Er reißt auch die auf und hält mir mit durchdringendem Blick seine Hand hin. „Komm, steig aus“, raunt er mit rauer Stimme und zieht mich ungeduldig vom Sitz.
Ich sehe ihn nur irritiert und erschrocken an. Was ist plötzlich los?
Er wirft mit todernstem Blick die Tür zu, was mich zusammenschrecken lässt.
Sofort packt er meine Oberarme und schiebt mich an sein Auto. Er drängt sich an mich und küsst mich.
Ich bin völlig überrascht von seinem unvorhergesehenen Übergriff, sehe mich aber außer Stande, mich auch nur annähernd zu beschweren. Ich lasse meine Hände in seine Haare gleiten und erwidere seinen Kuss erleichtert, weil er mich immer noch will. Das setzt alle meine Gefühle frei, die ich eigentlich tief in mir verschlossen halten müsste. Aber ich bin viel zu glücklich, dass er meine Nähe braucht.
Wir drängen uns aneinander und er hebt mich hoch.
Ich schlinge meine Beine um seine Hüfte und unsere Küsse werden drängender. Wenig später spüre ich die Kühlerhaube unter meinem Rücken und seinen Körper auf meinem, während seine Küsse mir den Atem zu nehmen drohen.
Plötzlich lässt er von mir ab und schiebt meine Bluse hoch. Ich spüre jetzt erst die Hitze, die sich auf meinem Rücken ausbreitet.
„Das ist heiß!“, sage ich, als er meine Bluse aufknöpft und seine Lippen auf meinem Bauch versenkt.
„Ja!“, haucht er seufzend.
„Aua Erik, dein Auto ist heiß!“, rufe ich etwas lauter und er sieht auf.
„Oh!“ Er zieht mich schnell von der Kühlerhaube und lacht. „Sorry! Habe ich nicht bedacht.“
Er dreht mich um, streift mir die Bluse über die Arme und schaut sich meinen Rücken an. „Nichts passiert“, stellt er erleichtert fest und schlingt seine Arme von hinten um mich, um seine Lippen auf meinem Nacken zu versenken.
Mir wird bewusst, dass hier jederzeit ein Auto herfahren kann und ich raune: „Erik bitte, gib mir meine Bluse wieder. Ich kriege sonst noch eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.“
Er lacht erneut auf und lässt mich los.
Ich drehe mich um und halte ihm fordernd meine Hand hin.
Seine Augen wandern über meinen BH und sprühen vor Verlangen. Sein Gesichtsausdruck versetzt mir einen Stich in den Unterleib. Mein Kopf schreit „nein“ und mein Körper seufzt „ja“.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu und schiebe meine Hand in seinen Nacken und ziehe ihn zu mir runter, um ihn zu küssen. Ich will ihn hier und jetzt. Ich kann mich dem nicht entziehen.
Erik drängt mich erneut an sein Auto und ich spüre seine Erektion, angefacht von dem Umstand, dass ich es bin, die ihn will.
Tatsächlich zieht ein alter klappriger Mercedes an uns vorbei und wir werden uns der Welt um uns herum wieder bewusst.
„Komm!“, raunt Erik und zieht mich hinter sich her eine Böschung hoch.
Ich folge ihm bereitwillig. Oben angelangt, sieht er sich kurz um und drängt mich auf ein weniger bewuchertes Fleckchen mit einigen Büschen, die die Böschung von dem angrenzenden Feld trennen. Er sieht sich zufrieden um und zieht mich in seine Arme. Seine Lippen treffen wieder meine und seine Zunge erobert mich wie im Fieber.
Ich sehe mich nicht mal um. Ich will ihn nur auf meinem Körper spüren und mir ist egal, wo und wie …
Wir steigen ins Auto ein und Erik raunt: „Gönnst du mir eine Zigarettenpause, bevor es weitergeht?“
„Natürlich!“, antworte ich und sehe ihn verunsichert an. Ich weiß nicht, was los ist und wie er jetzt drauf ist. War es jetzt das eine Mal, nach dem er keine Lust mehr auf mich hat? Vielleicht hatte ich nur einen etwas größeren Aufschub als alle anderen?
Diesmal war alles anders. Erik und ich hatten uns fast die Klamotten von Leib gerissen und er hatte mich zu Boden gezogen, wollte aber, dass ich oben blieb.
Das war mir recht, weil ich ihn so besser sehen kann und ich es liebe, ihn betrachten zu können. Allerdings rechnete ich damit, dass es erneut ein ewig dauerndes Liebesspiel werden würde und ließ mir Zeit, ihn immer wieder küssend und mich langsam auf ihm bewegend. Nur wenige Male setzte ich mich ganz auf und ließ mich heftiger auf ihm nieder, um ihn tief aufzunehmen und spannte die Bauchmuskulatur an. Ich war darin geübt genug und wusste, was mich anmacht und wie ich mich bewegen muss. Aber als ich mich wieder zu ihm hinunterbeugte, um ihm erneut meine Zunge zwischen die Lippen zu schieben, um mich schon mal in den Himmel zu befördern, und mein Unterleib eine Explosion durch meinen Körper schickte, die fast schon schmerzhaft war, bäumte er sich mit einem lauten Aufstöhnen unter mir auf. Er ließ meine Brüste los, um seine Hände um meine Hüfte zu legen und mich festzuhalten. „Verdammt Carolin, was machst du?“, hatte er dabei aufgebracht gezischt.
Was war passiert?
Ich sah ihn nur fragend an, von seinem wütenden Ausspruch erschrocken.
Er zog mich auf sich und schlang seine Arme um mich, um mich auf seiner Brust zu fixieren. Es war, als wolle er mich weder ansehen noch mir die Möglichkeit geben, ihn weiter anfassen zu können. Und er sagte nichts mehr.
Ich hatte ein ungutes Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Zumindest ließen seine Worte das vermuten. Aber ich wusste nicht, was es war und hatte eine unbeschreibliche Angst, dass, wenn wir uns voreinander lösen, alles zwischen uns vorbei sein wird.
Als er seinen Griff lockerte, setzte ich mich verunsichert auf. „Alles klar?“, fragte ich ihn und sah in seine braunen Augen, die mich seltsam musterten. Antworten wollte er offensichtlich nicht darauf.
Dann standen wir auf, zogen uns an und kehrten zu seinem Auto zurück, in dem er mich gerade um die Zigarettenpause bat.
Wir zünden uns jeder eine Zigarette an und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ist Erik sauer? War der Sex für ihn scheiße, weil es so schnell ging und er ist bedient? Ich war so auf mich fixiert gewesen, dass ich vielleicht etwas nicht mitbekommen habe, was ihn betraf.
Vielleicht war`s das jetzt wirklich? Vielleicht ist alles vorbei?
Der Gedanke daran versetzt mir einen Stich in die Magengrube. Mit leicht zittrigen Fingern rauche ich meine Zigarette und verfluche mich in Gedanken, weil ich scheinbar wirklich gedacht habe, dass ich für Erik mehr sein könnte.
Wir scheinen beide in unsere Gedanken gefangen zu sein und ich versuche ruhig zu bleiben. Aber mir wird schnell klar, dass mich das Glücksgefühl, Erik zu besitzen, jetzt in einer Talfahrt direkt in die Hölle schickt. Er hatte mich so böse zusammengestaucht und ich weiß einfach nicht warum.
Als er seine Zigarette aufgeraucht hat und sie in seinem Aschenbecher ausdrückt fragt er, mir einen ernsten Blick zuwerfend: „Bist du jetzt wieder wütend auf mich?“
Ich sehe ihn verdutzt an. „Nein, warum sollte ich? Ich dachte eher, du bist sauer auf mich.“
Erik schüttelt verwirrt den Kopf. „Warum meinst du das?“, fragt er mürrisch.
„Weil du mich so angefahren hast. Du hast wirklich böse geklungen“, murmele ich leise und kämpfe mit einer aufsteigenden Traurigkeit, die mich zu übermannen droht.
Erik schüttelt den Kopf und scheint mich nicht zu verstehen.
Ich erkläre unsicher: „Du hast geflucht … verdammt, was machst du? … oder so. Und es klang wirklich wütend.“
Ich spüre immer noch die Angst, die seine Worte in mir ausgelöst hatten und in mir das Gefühl aufkommen ließen, dass nun alles vorbei ist. Ich hoffe auf eine Erklärung, die mich beruhigt.
Erik lässt kopfschüttelnd den Motor des Mustangs aufheulen, als würde das eine Antwort unnötig machen.
Ich sehe ihn nur verwirrt an und mein Magen zieht sich weiter zusammen.
Er zieht den schweren Wagen auf eine Straße, die den Berg hinabführt und ich sehe die vor uns liegende Serpentine. Mir stockt der Atem.
„Ich war nicht wütend auf dich, sondern auf mich“, raunt er, dreht die Musik auf, die New Years Day von U2 anlaufen lässt und lenkt den schweren Wagen mit schwindelerregender Geschwindigkeit durch die Kurven, dass ich blass werde.
Ich frage nicht weiter nach, um ihn nicht abzulenken. Die Strecke ist mörderisch.
Geschmeidig zieht der Mustang die Straße hinunter und Erik grinst zufrieden. „Angst?“, ruft er mir durch die laute Musik zu und ich antworte ihm mit ernstem Blick, aber nicht laut genug, dass er es verstehen kann: „Nur, dass nun alles vorbei ist.“ Um meinen Magen lässt die Hand, die ihn zusammendrückt, etwas locker, jetzt wo ich meine Gedanken ausgesprochen habe.
Erik konnte mich nicht verstehen und grinst immer noch wie ein Kind bei seinem Lieblingsspiel.
Ich sehe aus dem Seitenfenster und mir ist zum Heulen.
Als der Berg überstanden ist, werden wir von einem langsam fahrenden Fiat ausgebremst. Erik macht ein verdrossenes Gesicht und schimpft.
Ich sehe weiter aus dem Seitenfenster und kämpfe immer noch mit der Niedergeschlagenheit, weil mir klar wird, dass ich es kaum ertrage, wenn Erik mich nicht mehr will.
„Carolin? Alles in Ordnung?“, fragt der plötzlich und macht die Musik leiser. „Ist dir nicht gut?“
Ich nicke nur und schlucke. Wie kann mich etwas so treffen, dass sowieso nicht sein soll und darf?
Erik fährt an den Straßenrand und umfasst mein Kinn, sich in seinem Sitz zu mir herüberbeugend. „Hey, ist dir schlecht?“, fragt er mit so sanfter Stimme, dass ich schlucken muss, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Ich schüttele den Kopf.
„Was ist es dann?“, fragt Erik und sieht mich verunsichert an. „Ist es, weil wir wieder miteinander geschlafen haben?“
Ich nicke und er macht ein betroffenes Gesicht. Aber mir ist klar, dass ich etwas anderes meine als er. „Warum hast du mich beschimpft?“, frage ich leise. Ich habe Angst vor seiner Antwort.
Er lässt mein Kinn los und setzt sich zurück, mich ungläubig anstarrend. „Ich sagte doch, ich habe dich nicht beschimpft“, raunt er. Scheinbar sagt ihm mein Blick, dass ich das anders sehe und er sieht auf seine verletzte Hand, die er auf das Lenkrad des Mustangs legt.
„Tut mir leid. Ich meinte das nicht so“, murmelt er verlegen. „Ich war nur so irritiert …“
Da ich wohl immer noch so aussehe, als würde ich gleich aussteigen, setzt er nach, so leise, dass ich ihn nur schwer verstehen kann: „Das ist so anders!“ Er sieht aus dem Frontfenster und das Brummen des Motors überspielt fast die Musik. „Es ist immer so ein Kampf, wenn ich einen dieser One-Night-Stands eingehe. Bei dir ist alles so leicht. Du bringst mich sofort hoch und ich brauche nichts zu tun … es überkommt mich einfach. Das ist echt verwirrend.“
Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was er da sagt. Aber es muss damit zu tun haben, dass es diesmal keinen langen Stand-by-Modus gab. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. So aufgebracht wie er war, wohl eher schlecht. Seine Worte jetzt lassen mich aber diesbezüglich unsicher werden.
Da ich nichts sage und ihn immer noch verunsichert ansehe, murmelt er: „Vielleicht, wenn ich das alles etwas analysiert habe, kann ich dir sagen, was los ist.“
Analysiert? Oh Mann. Sein Psychodenken. Dann soll er das mal analysieren.
Er zieht den Wagen erneut auf die Straße und dreht die Musik etwas lauter. Aber ich komme nicht aus dem Loch heraus, in das mich sein Wutanfall auf dem Berg geworfen hat. Und dass es mich so trifft, dass ich Erik nicht wirklich haben kann, das erschreckt mich zutiefst. Was ist mit mir und Marcel? Was mit meiner Liebe zu ihm?
Erik merkt das und strengt sich an, die lockere Stimmung wieder heraufzubeschwören. Er macht Witze und wirkt gar nicht so, als würde ihn etwas bedrücken. Aber warum soll ihn auch etwas bekümmern, was nicht viel Bedeutung für ihn hat?
Mich quält das Ganze aber, und noch mehr der Gedanke, dass ich nicht weiß, was nun wirklich los ist … mit mir … mit ihm … mit diesem seltsamen, unwirklichen, unerträglichen Arrangement.
Zu meiner Überraschung kommen wir an einem Gasthaus an, vor dem Daniels BMW steht.
Ich sehe Erik fragend an und er lächelt wissend. „Die sind schon da! Hoppla! Unser Abstecher ins Grüne hat mich meinen Sieg gekostet.“ Er lacht leise und steigt aus.
Ich steige auch aus. Ich bin froh, gleich Ellen zu sehen. Sie muss mich auf andere Gedanken bringen, sonst drehe ich noch durch.
Erik kommt zu mir und nimmt meine Hand. Mit einem seltsamen Blick zieht er mich hinter sich her. Ich kann den nicht deuten. Aber er lässt meine Hand nicht los, als wir durch den Gang in den Gastraum gehen und auf die Theke zusteuern, an der Daniel und Ellen uns grinsend entgegensehen.
Aus einer Gewohnheit heraus will ich meine Hand zurückziehen, aber Erik hält sie eisern fest. Ich sehe ihn verwirrt an.
Daniel und Ellen entgeht diese Geste der Zusammengehörigkeit nicht und Ellen zwinkert Daniel zu. Ich bin froh, dass sie keine anzügliche Bemerkung macht.
„Hey Alter, was war los? Ist dir dein Mustang unterwegs verreckt?“, fragt Daniel und lacht.
Erik lächelt zurückhaltend und schiebt mich auf einen Hocker neben Ellen. Er bestellt für uns beide einen Cappuccino. Daniel und Ellen haben ihre schon vor sich stehe.
Statt sich selbst auf einen Hocker zu setzen, bleibt er hinter mir stehen und lässt einen Arm um meine Hüfte gleiten. Wieder eine Geste, die mich verunsichert und Ellen und Daniel bestimmt nicht entgeht.
Ich bin einen Augenblick versucht, seinen Arm wegzuschieben, nur um den Anschein zu wahren, dass da nichts zwischen uns ist. Aber ich kann es nicht. Diese kleinen Gesten rühren mein Herz und beruhigen es. Es hat die letzten Minuten so gelitten, dass Eriks zur Schau gestellte Zuneigung es aus der Untiefe, in die es versunken war, langsam wieder ans Licht befördert.
Ich trinke meinen Cappuccino und versuche Ellen zuzuhören, die mir von der tollen Gegend erzählt, die sie gerade durchfahren haben und die nun vor uns liegt, wie ich erfahre. Scheinbar fahren Ellen und Daniel jetzt unsere Strecke zurück und wir ihre. Aber Eriks Arm um meinen Bauch zieht meine ganze Aufmerksamkeit auf sich und brennt an den Berührungspunkten wie heißes Eisen.
„Nah, viel Spaß“, raune ich nur, um etwas den Anschein zu geben, etwas von dem mitzubekommen, was geredet wird.
Erik verstärkt den Druck auf meine Hüfte und schiebt seine Hand auf meinen Oberschenkel, um sie dort liegen zu lassen. Dabei sagt er: „Oben auf dem Berg ist ein schönes Plätzchen. Lohnt sich anzuhalten.“ Er legt seine Hand erneut auf meinen Bauch und drückt mich kurz an sich und dabei schenkt er mir ein schelmisches Lächeln.
Ich kann nur hoffen, dass ich nicht rot werde.
„Du willst nur, dass du diesmal gewinnst“, antwortet Daniel und ich denke mir: „Hast du eine Ahnung.“
Mir wird klar, wie leichtfertig Erik seinen Sieg verschenkte und er scheint es nicht eine Sekunde zu bereuen.
Ich werde ruhiger und in mir steigt das Gefühl der Sicherheit hoch, dass alles zwischen uns doch noch in Ordnung ist.
Zwischen uns … aber nicht in meinem Leben. Was mache ich hier überhaupt?
Mir wird plötzlich klar, dass ich mich wirklich auf Erik mit all seinen Verrücktheiten, seiner durchgeknallten Art, seinem Kampf mit seiner Vergangenheit, seinen Drogengeschäften, seinem Drogenkonsum und seiner seltsamen Art der Zuneigung einlasse. Was ist mit Marcel? Was mit Tim? Was mit dem Fluch des Alchemisten? Erik passt noch weniger ins Bild als Marcel.
Ich beschließe, dass ich einige Zeit brauche, um mir über alles klar zu werden. Wenn ich Erik doch nur dazu bringen könnte, mir diese Zeit einmal zu lassen.
Als wir wieder in den Mustang steigen und Ellen mit Daniel davonfährt, sehe ich Erik an. Sofort spüre ich ein warmes Rauschen in meinem Körper und muss mir eingestehen, dass ich ihn wirklich süß finde und sein Anblick mich einfach in meinem Inneren trifft. Habe ich mich etwa in ihn verliebt?
Bitte nicht, flehe ich und weiß doch, dass die Traurigkeit, die mich auf der Fahrt vom Berg hierher überwältigt hatte, eigentlich alles sagt.
Ich brauche eine Auszeit, um meine Gefühle wieder in die richtige Richtung zu lenken und um mir klar zu werden, wie es weitergehen kann … in meinem völlig aus der Bahn geratenen Leben.
„Geht es wieder?“, fragt Erik und ich nicke. Aber ich würde ihm am liebsten bitten, mich nach Hause zu fahren und mich einfach für ein paar Tage in Ruhe zu lassen. Aber ich bringe nur hervor: „Ich muss aber auch mal nach Hause.“
„Warum?“, fragt Erik irritiert. „Dein Typ hat Spätschicht, hast du gesagt. Also hast du Zeit.“
Resigniert sehe ich aus dem Fenster. Erik passt schon auf, dass ich ihm nicht entgleite, solange er das nicht will. Diese Entscheidung ist scheinbar ihm allein vorbehalten. Zumindest hatte Ellen sich diesbezüglich so geäußert, dass er den Tritt in den Hintern gibt und nicht andersherum. Ich habe noch nie einen so hartnäckigen Menschen wie ihn getroffen, der so bestimmend ist.
Hätte Tim damals auch nur ein Quäntchen von ihm gehabt, dann wäre ich heute mit ihm statt Marcel zusammen.
Wir fahren eine andere Strecke und ich kann Ellen nur zustimmen. Es ist wirklich schön hier. Seichte Hügel ziehen sich durchs Land und mit guter Musik und dem dumpfen Brummen des Mustangs, sowie dem Sonnenschein, sollte doch alles in meinem Leben in Ordnung sein. Aber ich bin tief in meine Gedanken verstrickt, die mir klarzumachen versuchen, was ich mit meinem Leben angestellt habe.
Erik bemüht sich immer wieder, mich aufzumuntern. Eigentlich ist es schön, dass er aus seinem Tief herausgefunden hat. Es wäre schön, wenn ich das für mich auch behaupten könnte. Ich habe mich heute erst richtig hineinfallen lassen, als ich dachte, es wäre alles mit Erik vorbei. Zu erkennen, dass dies für mich unerträglich wäre, das verunsichert und überfordert mich. Wie konnte ich mich, trotz Marcel und meiner Liebe zu ihm, so auf Erik einlassen?
„Was ist los?“, höre ich ihn verunsichert fragen. Er ist so groß und stark … aber ich musste heute mehrmals feststellen, dass er schnell aus der Fassung gerät, wenn er glaubt, dass etwas mit mir nicht stimmt. Was beunruhigt ihn? Er hat doch alles, was er will.
Ich sehe mich nicht in der Lage, ihm gute Laune vorzuspielen und damit zu beruhigen, weil ich mich nicht mal selbst beruhigen kann.
Mein Telefon klingelt in meiner Tasche und ich ziehe sie auf meinen Schoß, um es herauszuholen. Damit entgehe ich einer Antwort auf Eriks Frage.
Ich sehe auf dem Display die Nummer meiner Eltern und melde mich. „Ja!“
„Hallo Carolin, Liebes. Wie geht es dir? Du hast dich am Wochenende gar nicht mehr gemeldet“, höre ich meine Mutter vorwurfsvoll sagen.
„Ja, sorry. Aber ich musste mich etwas auskurieren und hatte viel Schulsachen zu erledigen.“
„Warst du krank?“, fragt sie besorgt.
„Wohl ein kleiner Anflug einer Erkältung. Geht aber schon wieder.“
„Und wie läuft die Schule?“
„Ich habe schon meine zweite Eins“, sage ich und schaue Erik an, der mich kurz angrinst. Aber seine Augen fragen, wer da am Apparat ist.
Erklärend sage ich zu ihm: „Meine Mutter“, und er nickt.
„Ist Marcel bei dir? Seid ihr unterwegs?“
Mir ist klar, dass meine Mutter wohl nicht erkennt, dass das Motorgeräusch wohl kaum vom Golf kommt. „Nein, der ist arbeiten.“
„Oh, ach so. Und ist bei euch beiden alles in Ordnung?“
„Ja, Mama“, sage ich etwas genervt.
Erik sieht mich an. Er weiß, dass wir von Marcel sprechen.
„Ich wollte eigentlich auch nur sagen, dass wir Freitag zu Julian fahren. Wir würden dich gerne mitnehmen. Wir dachten, wir fahren zum späten Nachmittag. Da hast du doch bestimmt Zeit?“
Schwer schluckend streiche ich mir durchs Haar. Verdammt. Auch das noch.
„Carolin?“
„Ja, ist gut. Ruft mich Donnerstag einfach noch mal an, wann ihr genau loswollt“, raune ich mit belegter Stimme und fühle mich von allem völlig überfahren.
„Ist gut Schatz. Ich bin so froh, dass du mitfährst. Julian wird sich bestimmt freuen.“
Ich bin mir da nicht so sicher … und Marcel wird ausflippen … und Tim darf das erst gar nicht erfahren. Und Erik?
Ich werfe ihm einen Blick zu, den er sofort erwidert. Spürt er, dass ich erneut in ein Gefühlschaos abrutsche?
„Dann bis Donnerstag“, meint meine Mutter noch und ich lege auf.
„Was ist los?“, fragt Erik sofort. Für ihn scheint es absolut normal zu sein, dass ich alles vor ihm ausbreite.
Ich schüttele den Kopf. „Nichts!“ Dabei sehe ich wieder aus dem Fenster und lasse die schöne Landschaft an mir vorbeiziehen, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
An einem kleinen Wäldchen lenkt Erik den Wagen von der Straße auf den Grünstreifen und macht den Motor aus.
Ich sehe ihn beunruhigt an.
„Komm, wir müssen uns wohl unterhalten“, raunt er und steigt aus.
Ich bleibe sitzen und schließe resigniert die Augen. Worüber unterhalten? Es gibt nichts, worüber ich jetzt sprechen kann. Ich brauche etwas Zeit, um mich selbst in meinen wirren Gefühlen zurechtzufinden.
Erik macht meine Tür auf und beugt sich ins Auto. „Komm, steig aus. Und dann erzählst du mir, was los ist.“
„Du verschenkst schon wieder deinen Sieg, wenn wir nicht weiterfahren“, versuche ich ihn umzustimmen.
Er macht nur eine wegwerfende Handbewegung und brummt: „Scheißegal.“
Ich steige aus und lehne mich neben ihn an den Mustang. Er zündet eine Zigarette an und steckt sie mir zwischen die Lippen, bevor er sich selbst eine nimmt. So stehen wir da und rauchen. Da ich nichts sage, setzt er erneut an.
„Was ist los? Das sollte ein schöner Nachmittag werden, auch wenn ich ihn als Racheakt kaschieren musste, um dich überhaupt mitnehmen zu können.“
Ich sehe ihn verwirrt an. „Um mich mitnehmen zu können? Ich habe nie das Gefühl, dass du auch nur einen Gedanken dran verschwendest, ob etwas richtig oder falsch ist“, raune ich und Erik sieht mich verdattert an. Leise brummt er: „Aber natürlich! Ich will dich doch zu nichts zwingen.“
Er hat schon eine seltsame Art, etwas zu tun und vor sich zu rechtfertigen. Bisher fühle ich mich bei allem, was wir miteinander machten, irgendwie von ihm gezwungen. Und jetzt kommt übermorgen auch noch Tim und Freitag fahre ich zu Julian … dazwischen steht Marcel, der sich vielleicht gerade mit einer Sabrina zu einem Treffen verabredet.
Kurz kommt mir der Gedanke, dass das vielleicht das Beste wäre, auch wenn es mich dann innerlich zerreißt.
Erik tritt dicht an mich heran, legt seine Hand unter mein Kinn und drückt es hoch, damit ich ihn ansehen muss „Was ist los? Immer wenn wir miteinander schlafen stimmt hinterher etwas nicht. Seit wir auf dem Berg waren ist es wieder so.“ Seine Augen funkeln mich entrüstet an und sein Gesicht zeigt erneut diesen harten, angespannten Ausdruck, der mich bisher durchaus verängstigen konnte.
„Ich glaube, ich komme langsam mit dem Ganzen hier nicht mehr klar“, antworte ich resigniert und drücke seine Hand weg. Heute spüre ich keine Angst, nur Ausweglosigkeit.
Erik starrt mich verunsichert an. Es dauert einige Zeit, bis er fragt: „Wie, du kommst nicht mehr klar? Mit was genau kommst du nicht mehr klar?“
Ich überlege, was ich ihm sagen kann. Was ich ihm sagen soll … sagen muss!
„Erik, ich bin mit Marcel zusammen und schlafe mit dir. Ich liebe Marcel wahrscheinlich nicht ganz so, wie ich immer dachte, sonst könnte ich das doch nicht so einfach tun.“ Meine Stimme klingt gequält und so fühle ich mich auch.
Vor mir auf den Boden schauend, flüstere ich fast unhörbar: „Aber es zerreißt mich trotzdem, wenn ich mir vorstelle, ich könnte ihn verlieren. Ich brauche ihn. Er ist mein Halt. Und meine Eltern wollen, dass ich mit ihnen meinen Bruder im Gefängnis besuche und in zwei Wochen hat er seine Verhandlung und wenn er rauskommt weiß ich nicht mal, ob er mir nicht wieder an den Kragen will.“
Wie unter einem Zwang lasse ich meine Hand über die Narbe in meinem Nacken gleiten. „Und dieses ganze Gefühlschaos! Ich packe das einfach nicht mehr.“ Ich muss schlucken und blinzeln, um meine aufsteigenden Tränen zu kontrollieren.
Erik lässt seine Hand sinken, die er um mich legen wollte.
„Ich muss jetzt nach Hause und ich möchte, dass wir uns diese Woche nicht mehr sehen. Ich brauche etwas Abstand von dir, um mich und meine Gefühlswelt in den Griff zu bekommen. Und du … du kannst in Ruhe deine analysieren.“
Ich werfe Erik einen schnellen Blick zu, der mich aber schon wieder in meinen Grundfesten zu erschüttern droht. Schnell sehe ich zur Seite und schlucke krampfhaft.
Erik wirft seine Zigarette weg und starrt mich nur an. Ich nehme das aus dem Augenwinkel wahr und spüre, wie sein Körper sich erneut anspannt und zur bedrohlichen Größe wächst, wie es bei dem alten Erik bisher immer der Fall war.
„Wenn du meinst!“, brummt er und versucht offenbar die aufkeimende Wut zu unterdrücken.
Kurz macht er mir wieder Angst und ich sehe auf. Aber seine Augen wirken nur traurig, und das löst ein neues Chaos in mir aus.
Es reicht. Ich nicke betroffen, drehe mich um, reiße die Wagentür auf und steige ein.
Erik geht um den Wagen herum und ich lasse die Tür zuknallen. Das Geräusch erschreckt mich. Meine Nerven liegen blank.
Er steigt auch ein, lässt den Motor aufheulen und zieht auf die Straße.
Ich schnalle mich an, wage aber nicht, ihn zurechtzuweisen, weil er es nicht tut. Ich sehe aus dem Seitenfenster und fühle mich plötzlich innerlich wie tot. Es ist alles gesagt und ich möchte nur noch nach Hause. Ich halte dieses hin und her sonst nicht mehr aus.
In Osnabrück, durch das wir fahren, ohne auch nur noch ein Wort miteinander zu wechseln, bitte ich ihn, mich zum Bahnhof zu bringen. Kurz will er etwas dagegen sagen, besinnt sich aber und nickt. Kurz darauf hält der Mustang auf einen der Taxiparkplätze, direkt vor dem Eingang des Bahnhofs. Wir fallen auf … mit dem dicken Zuhälterauto.
Ich steige schnell aus, bevor Erik mich zu fassen kriegt. Die Bewegung dazu nahm ich hinter mir wahr. Aber sie verlief ins Leere. Ich beuge mich etwas runter, um ihn ansehen zu können. „Bitte sperre dich nicht wieder ein. Ich kann dich diese Woche nicht retten“, raune ich.
Er sieht mich nur an und seine Hand sinkt ganz auf meinen leeren Sitz.
„Mach´s gut und danke für den Nachmittag“, murmele ich noch und werfe die Autotür zu. Ich gehe über den Platz zu der riesigen Bahnhofstür und sehe mich noch einmal um. Erik sitzt in seinem Auto, dessen Motor einmütig brummelt und sieht mich nur an, scheinbar unfähig wegzufahren.
Ich sage mir, dass er stark ist und mich vorher auch nicht brauchte. Er kommt schon klar … und trete durch die große Bahnhofstür in das Innere des Gebäudes und somit aus seinem Blickfeld.
Im Zug versuche ich nicht daran zu denken, wie zufrieden Erik den Nachmittag über war und wie ich ihm zu guter Letzt von Marcel vorgeschwärmt habe - dass ich ihn brauche und es nicht ertragen könnte, ihn zu verlieren.
Mir wird klar, dass ich Erik vielleicht damit verletzt habe. Er hatte mir gestanden, dass die One-Night-Stands eher eine Qual für ihn sind … und er hatte vor Ellen und Daniel ganz klar zu mir Stellung bezogen und sogar in der Schule, als er mir hinterhergelaufen war und mich in sein Auto trug. Das war für mich zwar peinlich, aber das eine oder andere Mädel hätte sich das gewünscht. Für jeden muss nach diesem Auftritt klar sein, dass er zu mir ein anderes Verhältnis hat als zu jeder anderen bisher. Aber ich wollte ihn nur noch loswerden und habe ihm sogar gesagt, dass ich die ganze Woche nichts mehr von ihm sehen oder hören will.
Jetzt tut es mir schon wieder leid und zu meinem Entsetzen spüre ich, dass ich es gar keine Woche ohne ihn aushalte.
Als ich in Bramsche aussteige, klingelt mein Handy. Ich ziehe es aus meiner Tasche und sehe, dass es Ellen ist. Ich nehme ab.
„Carolin, alle klar bei dir?“ Sie klingt besorgt.
„Ja“, raune ich nur.
„Erik ist allein bei Daniel aufgelaufen und er ist gar nicht mehr gut drauf. Habt ihr euch gestritten? War er blöd zu dir, dann kann der was erleben!“
„Nein, Ellen. Erik kann nichts dafür. Er war wirklich unglaublich lieb und süß. Es liegt an mir.“
Oh Mann. Das war fast schon sowas wie eine Liebeserklärung. Aber jetzt, wo er so weit weg von mir ist, fühle ich es so.
Einen Moment ist es still und ich frage mich schon, was Ellen wohl darüber denkt, dass ich ihren Bruder lieb und süß finde, als sie leise sagt: „Und warum bist du dann nicht mehr mit ihm mitgekommen? Er zeigt es nicht, aber der Erik von heute Nachmittag und der jetzt, das sind zwei völlig verschiedene Menschen. Er tut mir fast schon leid. Ich glaube, er hat sich vielleicht verliebt.“
Mir bleibt das Herz fast stehen. Dass Ellen nun ausspricht, was ich in meinem tiefsten Inneren hören will und doch auch wieder nicht, das entsetzt mich doch. Ich bin mit Marcel zusammen und liebe ihn …
Mehr zu meinem Schutz, raune ich: „Erik kann sich nicht verlieben. Schon vergessen? Und er kann sich nicht vorstellen, mit jemand viel Zeit zu verbringen und schon gar nicht zusammenzuleben oder morgens zusammen aufzuwachen. Erik ist nicht für so etwas geschaffen.“
Abermals ist es einige Zeit still in der Leitung und als Ellen mir antwortet, weiß ich, dass sie eine stille Hoffnung treibt. „Was ist aber, wenn sich das jetzt doch geändert hat?“
Ich stoße die Pforte zu unserem Garten auf und gehe durch den kleinen Vorgarten zum Haus. Leise raune ich: „Dann wird er schon die Richtige finden, die das alles mit ihm ausleben kann.“
Schon als ich den Satz sage, bleibt mir die Spuke im Hals stecken. Verdammt, ich könnte das noch nicht einmal ertragen.
In mir kriecht erneut eine Ahnung hoch, die ich mit aller Gewalt wegschieben will. Ich habe mich in Erik ernsthaft verliebt, in seine Art mich zu belagern, seine Geschichte und seine Art mich zu lieben.
Als Ellen nicht antwortet, sage ich nur: „Pass bitte auf ihn auf. Ich muss erst mal für mich sehen, wie ich mein Leben in den Griff bekomme. Freitag muss ich mit meinen Eltern zu meinem Bruder fahren … ich weiß nicht mal, wie ich das überstehen soll. Bitte Ellen, lass mich diese Woche irgendwie überstehen und es wird wieder besser werden. Ich kann einfach nicht mehr.“ Ich kann meine Tränen nicht länger zurückhalten, die sich nun endlich einen Weg suchen und nach außen drängen. Ich schluchze auf und öffne die Haustür. Gut, dass Marcel nicht zu Hause ist.
„Carolin, ist doch schon gut! Fang doch jetzt bitte nicht an zu heulen“, jammert Ellen betroffen. „Ich verstehe dich. Oh Mann, wie können die dich dort hinschleppen? Die wissen doch, was er gemacht hat. Ich würde den nie wiedersehen wollen.“ Ellen klingt völlig außer sich.
„In zwei Wochen ist seine Verhandlung … und wenn er dann … rauskommt …“, stottere ich unter Tränen und sacke auf unser Sofa, aus dem Diego mich ansieht.
Ich ziehe den Kater auf meinen Schoß und trockne meine Tränen an seinem Fell.
„Wir verstecken dich! Du kommst zu uns, ja?“, ruft Ellen aufgebracht ins Handy.
Von Schluchzern geschüttelt, antworte ich ihr mit jämmerlicher Stimme: „Nein, das geht nicht. Ich muss das mit Julian … selbst klären. Vielleicht … hat er sich … verändert?“
„Aber wenn nicht, kommst du zu uns“, sagt Ellen mit Bestimmtheit. „Erik wird dich einfach mit in sein Panikreich nehmen und du bist sicher.“
Mein Gott, ihre Worte rühren mich noch mehr. Ich muss aufhören zu telefonieren, bevor ich mich ganz auflöse.
„Ellen ich muss Schluss machen. Wir sehen uns morgen … in der Schule. Sag Erik, es liegt nicht an ihm.“
Schon das Erwähnen seines Namens lässt mich noch mehr heulen.
„Mache ich. Bitte denk nicht so viel nach. Das macht einen nur fertig. Morgen reden wir weiter, okay? Und ich bin immer für dich da.“
„Danke“, piepse ich. „Bis morgen.“
Ich lege auf, weil ich mich nicht mehr in der Lage sehe, noch mehr Rührseliges zu hören. Das Handy lasse ich zu Boden sinken und rolle mich auf dem Sofa zusammen, dabei Diego in meinen Arm ziehend. Der fängt laut zu schnurren an.
Er ist wirklich ein wenig Trost in dieser Zeit, in der ich nicht weiß, wie alles weitergehen soll.
Marcel weckt mich. Er kniet vor dem Sofa und streicht mir durch die Haare. „Carolin? Was ist los?“
Ich muss schrecklich aussehen, weil ich mich in den Schlaf geweint habe. Jetzt, wo ich Marcels grauen Augen vor mir sehe, die mich völlig verstört mustern, kann ich ihn nur an mich ziehen. Es tut mir alles so leid. Alles was ich ihm angetan habe … alles was ich Erik antue und Tim. Meine Tränenflut hatte alles aus mir herausgespült. Ich habe keinen der drei verdient und jetzt, wo Julian vielleicht bald nach Hause kommt, fühle ich mich auch noch verletzlich wie noch nie.
Marcel schiebt mich hoch und setzt sich neben mich auf das Sofa, mich in seine Arme ziehend. Sein Blick drückt eine Verunsicherung aus, die mir trotz meines maroden Zustands auffällt. In seiner Stimme ist eine zittrige Unsicherheit zu hören, die sie kippen lässt. „Was ist? Ist etwas passiert?“, fragt er leise.
Das verstärkt mein schlechtes Gewissen noch. Spürt Marcel, dass ich nicht mehr zu ihm gehöre?
„Ich fahre Freitag zu Julian“, sage ich, als würde das alles erklären.
„Warum tust du dir das an?“, brummt Marcel, scheint aber seltsamerweise erleichtert zu sein, dass es um Julian geht. „Keiner kann dich dazu zwingen.“
„Ich weiß, aber wenn er vielleicht in zwei Wochen rauskommt, möchte ich vorher wissen, wie er drauf ist.“
Einen Moment lang sagt niemand von uns ein Wort. Dann raunt Marcel plötzlich mürrisch: „Ich kann mir nicht denken, dass sie dich zu ihm lassen. Ist das nicht so etwas wie Beeinflussung von Zeugen? Mich wundert, dass sie dich nicht als Zeuge vorladen … und Tim auch nicht. Bist du dir sicher, dass er schon in zwei Wochen seine Verhandlung hat?“
Ich sehe ihn verunsichert an. „Meine Mutter hat das gesagt.“
„Hm, ich weiß nicht. Schon komisch. Ich meine, du und Tim, ihr könnt von eurem Zeugnisverweigerungsrecht gebraucht machen - weil ihr seine Geschwister seid. Aber dennoch müsst ihr vor Gericht erscheinen. Du hast wirklich noch nichts dafür bekommen?“
Ich schüttele den Kopf und frage verwirrt: „Woher weißt du das alles?“
Marcel sieht mich verlegen an. „Ich war heute Vormittag bei meinem Großonkel und habe mit ihm über alles gesprochen. Naja, eigentlich ging es um ein paar Sachen wegen dem Haus. Aber er hat dann auch nach dir und Julian gefragt, und so haben wir über die anstehende Verhandlung und alles gesprochen“, sagt er ausweichend, als wolle er andere Themen, die sie besprachen, nicht preisgeben.
Verunsichert frage ich: „Und er meint, ich muss auch vor Gericht … und Tim auch?“
„Und ich eigentlich auch … und die Polizisten, die dich mit rausholten. Aber ich habe auch noch nichts bekommen und frage mich, warum nicht? Mein Großonkel ist sich sicher, dass du deinen Bruder gar nicht besuchen kannst.“
Ich atme auf. „Aber warum sagt das niemand meinen Eltern?“
„Wahrscheinlich haben sie dich gar nicht mit angemeldet und denken, sie können mit dir dort so reinmarschieren. Fahr ruhig mit ihnen mit. Sie werden es dann schon sehen.“
Eine unglaubliche Erleichterung packt mich, dass eine Hoffnung besteht, dass ich so tun kann, als wolle ich Julian besuchen und ihn trotzdem nicht treffen muss. Aber andererseits bin ich dann auch nicht schlauer. Ich muss wissen, was in Julian vor sich geht.
Ich lege meine Arme um Marcels Nacken und stütze meinen Kopf an seine Schulter. Das ist mein Marcel. Er bringt meine Welt schnell wieder in Ordnung.
„Ich muss duschen und bin müde“, raunt er und löst meine Arme von seinem Nacken.
Ich setze mich auf. „Okay!“ Er hat immerhin schon den ganzen Tag gearbeitet und scheint auch ziemlich müde zu sein. „Ich gehe dann schon mal ins Bett.“
Nicht mal Hausaufgaben habe ich machen können. Was für ein Tag.
Erik rückt in dieser Welt in weite Ferne.
Als ich am nächsten Morgen von meinem Wecker geweckt werde, wird mir klar, dass ich am vergangenen Abend umgefallen sein muss, wie ein Baum. Ich hatte nicht mal mitbekommen, wann Marcel ins Bett gekommen war.
Es geht mir an diesem Morgen trotzdem nicht besser als gestern. Ich fühle mich immer noch überfordert und weiß nicht, wie ich mit allem umgehen soll. Aber es nützt nichts. Ich muss mich der wirren Welt da draußen stellen. Ihr und meinem Berg Problemen.
Ich dusche und ziehe mich an, als ich Marcels Arbeitssachen im Badezimmer liegen sehe. Die Beule in der Hosentasche lässt mich vermuten, dass er sein Handy in der Tasche gelassen hat.
Ich nehme es heraus und schalte die Tastensperre aus. Eigentlich weiß ich, dass ich das besser nicht tun sollte. Aber irgendetwas treibt mich dazu … wie eine unbändige Kraft, die mich zerstören will. Dass es das tun wird, wenn ich etwas finden sollte, steht außer Frage.
Ich finde erneut SMSen von dieser Sabrina. Die drei alten sind auch noch drinnen. Ich öffne die vierte, in der ich das Bild vermute. Tatsächlich schreibt sie: „Du willst wissen, mit wem du es hier zu tun hast? Ein Bild sagt nicht viel. Wann können wir uns treffen?“
Ein ausgesprochen gutaussehendes Mädchen mit langen blonden Haaren in einem Fußballtrikot lacht mir entgegen und mein Herz setzt aus.
Meine Hände zittern, als ich die nächste öffne: „Gut! Ich bin mir sicher, wir passen sehr gut zusammen. Wann und wo?“
Ist das noch zu fassen!
Ich gehe in seine Antworten und lese als Reaktion auf ihr Bild: „Wow, super süß! Natürlich können wir uns treffen.“
Mir wird heiß und mein Magen krampft sich zusammen.
Seine nächste SMS lautet: „Ich habe heute bis eins zeit. Wo finde ich dich? Ruf mich einfach an, wenn du mich treffen kannst.“
Ich gehe in den Telefonspeicher und finde keinen Anruf von ihr. Aber im Ausgang einen Anruf bei ihr von Marcel vom vergangenen Abend, den er gleich nach der Arbeit gemacht hatte.
Ich mache erschüttert das Handy aus und stecke es in seine Hose zurück. Ich weiß nicht, ob die beiden sich getroffen haben. Aber Marcel hatte sie zumindest nach der Arbeit angerufen.
Okay. Es reicht also schon, dass ihm so ein Katjaverschnitt eine SMS schreibt und er springt voll drauf an. In meinem Kopf baut sich die Vorstellung auf, dass die beiden sich vormittags trafen und abends sofort wieder miteinander telefonierten.
Die Python, die durch meinen Bauch schlängelt, nimmt mir die letzte Kraft und die Möglichkeit, die Situation anders zu deuten.
Aufgebracht kämme ich mir die nassen Haare eilig durch, greife meine Schultasche, steige in meine Schuhe und verlasse das Haus, den miauenden Kater ignorierend. Ich will nur noch weg.
Zum Bahnhof laufend, fühle ich mich wie auf der Flucht. Ich fliehe vor mir, meinen Gefühlen und allem, was mir wehtut. Ich will nichts mehr … keinen Marcel, keinen Tim und keinen Erik. Warum habe ich damals nicht auf mich gehört, als ich mich mit keinem männlichen Wesen mehr einlassen wollte?
Ich bin viel zu früh und muss auf den Bus warten. Die Sonne kommt nur quälend langsam zum Vorscheinen und mir ist kalt. Ich bin froh, als der Bus endlich kommt und steige ein. Aber als mir klar wird, dass ich gleich Ellen gegenübertreten muss, da weiß ich, dass ich heute auch das nicht durchstehe.
So muss Erik sich fühlen, wenn er das Gefühl hat, nicht weitermachen zu können, wie Ellen es so schön ausdrückte. Er schließt dann seine Paniktür hinter sich und zieht sich irgendwelche Drogen rein.
In Wallenhorst, einem Ort vor Osnabrück, steige ich aus dem Bus wieder aus. Mein Handy ausschaltend beschließe ich, mich heute niemandem zu stellen außer mir selbst. Ich muss überlegen, wie ich weitermachen soll. Morgen kommt auch noch Tim und will mich sehen.
Ich laufe einfach drauf los. Wohin weiß ich nicht. Ich kenne ein Stück des Ortes durch die Busfahrt … mehr nicht. Während ich einen Schritt vor den anderen setze, laufen Marcels SMSen und die von dieser Sabrina durch meinen Kopf und ich werde unglaublich wütend. Ich sehe wieder vor mir, wie Marcel am vergangenen Abend meine Arme um seinen Nacken gelöst hatte, und das damit begründete, duschen zu wollen. Außerdem war er schon sooo müde! Und dann kam er ins Bett und hat mich nicht wie sonst geweckt, um mir eine gute Nacht zu wünschen.
Die Python in meinem Inneren erreicht einen Moment lang ein Ausmaß, als hätte sie auch noch eine Kuh verschluckt. Und dann platzt sie. Mit der Wut in meinem Bauch wird es zu eng und sie muss weichen. Ich will das alles nicht mehr. Dieses ganze Gefühlschaos. Es muss endlich Schluss sein.
Irgendwann komme ich an einem Gehöft vorbei und mir fällt auf, dass ich längst die Stadt hinter mir gelassen habe. Mein Kopf ist leer vom vielen Denken und in meinem Körper fühlt sich alles wund und verletzt an. Ich habe alle Gedanken ausgedacht, die Marcel betreffen, Erik, Tim und mein völlig verpfuschtes Leben und schaue auf die Uhr. Es ist fast Mittag. Ich bin somit den ganzen Vormittag gelaufen.
Aber ich fühle mich etwas besser. Mein Entschluss steht fest. Ich bin erneut da, wo ich vor sechs Wochen auch schon stand … am Nullpunkt. Mein Leben muss jetzt endlich eine Wendung nehmen, in der ich das Chaos bekämpfe und mir wieder die Möglichkeit zum Atmen gebe.
Ich finde eine Wiese mit einer dicken Eiche mitten drinnen und steuere darauf zu. Ich lasse mich an dem Stamm hinuntersinken und heiße das weiche Gras willkommen.
Ich brauche eine neue Perspektive und überlege, wie die aussehen kann. Tim ist noch bis Dezember weg, was gut ist. Ich nehme mir felsenfest vor, ihm nur meine Freundschaft bis dahin zu bieten. Erik …, mit ihm ist es am Schwierigsten. Bei ihm habe ich nicht das Gefühl, ihm irgendetwas vorschreiben zu können. Aber ich habe die Hoffnung, dass er mich versteht und unser Verhältnis nur noch auf einer emotionslosen Freundschaftsbasis sehen kann. Das sollte doch eigentlich ganz in seinem Sinne sein. Wir können mit Ellen und Daniel zusammen eine Spritztour machen oder mal auf ein Bier gehen und fertig … und Ellen muss akzeptieren, dass ich öfters mit den anderen Mädels losziehe - auch ohne sie. Sie hatte das am Samstag auch getan. Ansonsten muss sie mich mein Leben leben lassen und aufhören, mit ihrem Bruder gegen mich gemeinsame Sache zu machen. Und Marcel? Der soll sich endlich eine dieser Schlampen nehmen und mich in Ruhe lassen. Er wird sich nie ändern und wie Erik schon sagte, er kann sie alle haben. Er braucht mich nicht und ich … ich will ihn nicht mehr. Und wenn Julian wirklich aus dem Gefängnis kommt, werde ich mich ihm stellen.
Diesmal ist niemand da, der mir hilft, aber auch niemand, um den ich mich sorgen muss.
Mir fällt der Traum ein, in dem Julian und Kurt Gräbler Marcel lebendig begraben wollten … und der, als Tim mich aus seinem Bett retten wollte, in dem Marcel mit seiner Katja herumknutschte und Julian mit Kurt Gräbler zusammen mich umbringen wollte.
Ich spüre die Angst immer noch, die diese Träume in meinem tiefsten Inneren auslösten und mir wird klar, warum ich mich an Erik hänge. Er ist der Einzige, der niemals von meiner Vergangenheit bedroht war.
Wie auch immer. Hier unter dieser dicken Eiche sitzend, schwöre ich mir, mein Leben ohne die alle weiterzuführen und der Liebe und allen Gefühlen abzuschwören, bis ich weiß, wie meine Zukunft wirklich aussehen wird.
Das Leben kann nur besser werden, wenn man nicht in einem Strudel aus Beziehungen gefangen ist. So kann Liebe wirklich nicht sein. Mein Weg muss ein anderer werden.