Читать книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 4
Ein neuer Weg
ОглавлениеIch schiebe mich schwerfällig aus dem hohen Gras unter der alten Eiche und schultere meine tonnenschwere Schultasche.
Marcel muss gleich zur Arbeit … und da er nicht ahnt, dass ich von seiner neuen Flamme Sabrina weiß, wird er sich in Sicherheit wiegen.
Ein Blick in sein Handy hatte mir gezeigt, dass Marcel sich erneut nur zu leicht auf ein Spielchen mit einem anderen Mädchen einlässt.
Für mich heißt das, dass zwischen uns alles vorbei ist.
Ich beschließe, als nächsten Schritt eine Bushaltestelle zu suchen und zu seiner Wohnung zurückzukehren. Dort werde ich mir das Nötigste holen und nach Hause fahren. Diese Nacht werde ich in meinem Bett bei meinen Eltern verbringen.
Ich bin vom stundenlangen Laufen müde und muss mir einen neuen Weg suchen, der mich zu einer Bushaltestelle bringt. Es dauert noch mehr als eine Stunde, als ich wieder auf eine Bushaltestelle treffe, von der aus ich nach Bramsche zurückfahren kann.
Es ist kurz vor zwei, als ich völlig fertig bei dem Haus von Marcels Großonkel ankomme, in dem er die Einliegerwohnung bewohnt.
Der Golf ist weg, wie ich erleichtert feststelle. Doch unser kleiner Kater Diego sitzt draußen vor der Eingangstür und putzt sich zufrieden.
„Hey Kleiner, was machst du denn hier draußen?“, frage ich verwirrt, als er sich stolz umdreht und ins Haus verschwindet. Ich starre auf die wippende Katzenklappe, die die weniger schöne alte Haustür schmückt. Jetzt fallen mir auch die Holzspänne auf, die vom Einbau noch hier und da zurückgeblieben sind.
Also war Marcel gestern deswegen bei seinem Großonkel gewesen. Da hatte er ein volles Programm - diese Sabrina treffen und seinen Großonkel wegen der Katzenklappe fragen, und heute hat er sogar schon eine gekauft und eingebaut. Ich sollte eigentlich stolz auf ihn sein, bei dem, was er so alles neben seiner Arbeit meistert.
Diego schiebt sich wieder durch die Klappe, irritiert, wo ich denn bleibe.
Ich schließe auf und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Meine Tasche abstellend, gehe ich zum Sofa und lasse mich auf das weiche Polster fallen. Ich bin viel zu müde und niedergeschlagen zu irgendwas und schließe die Augen, während der Kater zu mir auf das Sofa springt.
„Kleiner, ich kann nicht bei dir bleiben. Wir ruhen uns jetzt ein bisschen aus und dann gehe ich.“ Meine Worte zu dem schnurrenden Fellknäul und der Gedanke daran, dass ich wirklich für immer gehen werde, drücken schon wieder auf meine Tränendrüse. Ich schließe die Augen und versuche mich zu beruhigen.
Ich habe ein bisschen Zeit, um mich auszuruhen. Dann erst werde ich mich mit der Umstrukturierung meines Lebens beschäftigen.
Es ist halb vier, als ich wach werde. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, obwohl ich nicht weiß, warum.
Ich stehe auf und überlege, was ich alles mitnehmen möchte. Aber ich habe schon viel zu viel, was ich mitschleppen müsste. Wäre doch Tim heute schon da. Er könnte mich und meine Sachen nach Hause bringen. Aber er hat erst ab morgen zwei Tage frei. Es ist nur eine kleine Verschnaufpause von seiner Musicaltournee, die noch einige Wochen geht und für die er durch ganz Deutschland tingelt. Ihm wurde in dem Orchester der Pianopart anvertraut, obwohl er erst neunzehn ist.
Mir wird klar, dass ich meinen Plan ändern muss. Ich nehme nur meine Schulsachen, mein Geld und meinen Hausschlüssel für zu Hause mit. Für Marcel lasse ich es so aussehen, als gäbe es den Entschluss zu gehen noch gar nicht.
Ich streichele den Kater und sofort wollen mich die Tränen wieder übermannen. Schnell verlasse ich das Haus und schließe ab. Ich fahre besser erst mal nach Hause.
Am Bahnhof muss ich noch einige Zeit auf einen Bus warten. Der Zug würde mich nach Bersenbrück bringen, und das wäre zu weit zum Laufen.
Mein Handy aus der Tasche kramend, stelle ich es an und gebe den Pin ein. Ich muss Ellen schreiben, die sich bestimmt Sorgen macht und Marcel, dass ich heute bei meinen Eltern bleibe.
Eine Flut von Anrufversuchen und SMSen rauscht über mich hinweg, angefangen mit Tim, der nicht verstehen kann, warum er mich ausgerechnet einen Tag, bevor er kommen will, nicht erreicht. Dann die von Ellen, die mich vergebens an der Bushaltestelle erwartet hatte und in jeder Pause versuchte, mich zu erreichen. Ihre SMSen, die zusätzlich mein Handy überfluten, werden von morgendlichen Wutanfällen bis hin zu nachmittäglichem Flehen, mich doch endlich zu melden, immer länger. Während sie morgens nur wütend schrieb: „Wo bist du? Kannst du dich nicht abmelden, wenn du nicht zur Schule kommen willst?“, schreibt sie nachmittags ganze Texte von wegen, ich könne mit allem zu ihr kommen und sie wäre doch immer für mich da.
Tim schrieb mittags erneut, ob alles in Ordnung ist und ich solle mich unbedingt melden.
Ich schreibe ihm zurück, dass er mich morgen anrufen soll, wenn er da ist und dass wir uns dann treffen.
Ellen schreibe ich, dass sie sich keine Sorgen machen soll und ich mich später noch bei ihr melde.
Marcel schreibe ich besser erst später. Er soll nicht genug Zeit zum Nachdenken haben.
Mein Bus kommt und ich steige ein, eine SMS von Erik ignorierend, die auch noch wartet, als mein Handy in meiner Hand vibriert. Ich lasse es fast fallen, weil ich mich so erschrecke.
Mich auf den nächstbesten Sitz werfend, sehe ich auf das Display. Es ist Ellen2. Also ein Anruf von Erik.
Fast panisch drücke ich das Handy aus. Den kann ich jetzt nicht verkraften. Außerdem ist er der Einzige, der es immer wieder schafft, mich dahin zu bringen, wo ich gar nicht hinwill. Bestimmt hat Ellen ihm gesagt, dass ich nicht in der Schule war und auch, dass sie mich den ganzen Tag nicht erreichen konnte.
Ich sehe seinen Blick vor mir, als ich ihn in seinem Mustang vor dem Bahnhof zurückließ. Er wirkte tatsächlich so, als mache ihm mein schneller Abgang etwas aus. Das ist nicht der alte Erik. Mir ist lieber, er ist wütend auf mich. Das passt besser zu ihm.
Als ich an meiner Bushaltestelle aussteige, habe ich erneut einen langen Weg vor mir. Aber als mich das ländliche Idyll umfängt, atme ich auf. Hier finden mich zumindest die Geister aus meiner Osnabrücker Welt nicht. Weder Ellen noch Erik wissen, wo ich hier zu finden bin. Das ist mein kleiner Ort der Zuflucht.
Als ich endlich bei unserem Haus ankomme, bin ich völlig verschwitzt und müde. Ich schließe die Haustür auf und werde von der Kühle des Hauses empfangen. Sofort gehe ich in mein Zimmer hoch, betrete mein mir so vertrautes Reich und schließe die Tür zur Außenwelt. Ein wenig kann ich nachvollziehen, wie es Erik geht, wenn er seine Paniktür hinter sich schließen kann.
Das hier ist mein Panikraum. Leider habe ich keine Paniktür, die nur ich wieder öffnen kann.
Ich lasse mich auf mein Sofa fallen. Wenn ich bei Marcel ausziehen möchte, muss ich hier wieder einziehen. Das behagt mir gar nicht.
Aber wird Marcel mich überhaupt gehen lassen?
Bestimmt, jetzt wo er diese Sabrina hat.
Es tut weh, den Gedanken an eine Trennung unabänderlich ins Auge zu fassen. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig, jetzt, wo er sich sowieso schon einen Ersatz gesucht hat.
Ich komme gar nicht drüber weg, dass ihn so eine Tussi wirklich nur mit einer SMS rumkriegt. Außerdem muss ich zugeben, dass es auch bei mir nicht so weitergehen kann. Ich darf bei Marcel nicht bleiben, weil das falsch wäre.
Mittlerweile habe ich dreimal mit Erik geschlafen und es lässt sich da gar nichts mehr schönreden. Ich gehe fremd. Massiv fremd. Und das heißt doch nur, dass da etwas nicht stimmt. Aber warum hänge ich dann noch so an Marcel?
Erneut laufen mir Tränen über das Gesicht und ich weiß, wenn ich jetzt nicht aufhöre zu heulen, dann werden meine Eltern später sofort sehen, dass etwas nicht stimmt und ich darf mir unnötig viele dumme Fragen anhören. Was werden sie überhaupt sagen, dass schon wieder Schluss ist?
Mein Vater wird unendlich enttäuscht sein. Aber er kann ja trotzdem mit Marcel zum Fußball gehen … und Sabrina wird das neue Maskottchen.
So sehr ich es hasste, wenn Marcel durch die Ränge lief, um mich vor allen zu küssen, so sehr hasse ich den Gedanken, dass er das mit einer anderen tut.
Ich hieve mich vom Sofa und beschließe erst mal zu duschen. Vielleicht sehe ich dann auch nicht mehr so fertig und verweint aus.
Als ich aus dem Badezimmer komme und geduscht, gut duftend und mit geföhnten Haaren mich wieder wie ein Mensch fühle, steht meine Mutter in der Tür.
„Carolin!“, ruft sie erschrocken. „Du hast mich erschreckt! Ich dachte schon, wir hätten Einbrecher im Haus.“
„Ich wollte mit euch über Freitag sprechen und schauen, ob Post für mich gekommen ist. Außerdem dachte ich mir, ich schlafe heute Nacht hier.“
„Okay“, raunt meine Mutter mit unsicherem Blick. „Ist was mit dir und Marcel?“
„Ne, passt schon“, antworte ich wage. Ich will das erst mit Marcel klären, bevor ich meinen Eltern wieder unter den Rock krieche.
Ich helfe meiner Mutter beim Essen machen und frage sie wie nebenbei, ob es überhaupt möglich ist, dass ich Julian besuche und ob ich auch zu der Verhandlung muss.
Meine Mutter druckst herum und sagt dann entschieden, dass ich auf alle Fälle Julian besuchen kann und meine schriftliche Aussage vor Gericht reicht.
Ich bin verwirrt und verunsichert. Also werde ich es Freitag tatsächlich darauf ankommen lassen müssen.
Mein Vater ist auch vollkommen überrascht, mich zu Hause vorzufinden und fragt auch sofort, ob zwischen mir und Marcel alles in Ordnung ist.
„Sicher, Papa“, raune ich nur und schiebe meine Hausaufgaben vor, um mich zurückziehen zu können.
In meinem Zimmer werfe ich mich auf mein Sofa und mache mir leise Musik an. Ich nehme mein Handy und schalte es ein. Sofort laufen mehrere SMSen ein.
Tim hat zurückgeschrieben: „Alles klar! Ich freue mich auf morgen und melde mich dann bei dir.“
Ellen schrieb: „Ich mache mir aber Sorgen. Was ist los? Was ist passiert?“
Ich schreibe ihr zurück: „Es geht mir gut. Ich bin nur ein wenig angeschlagen und schlafe heute Nacht bei meinen Eltern. Ich komme morgen nicht zur Schule. Sag bitte im Sekretariat Bescheid. Danke. Ich melde mich morgen noch mal.“
Die mittlerweile angehäuften SMSen von Erik beunruhigen mich. Ich will sie nicht öffnen. Aber natürlich tue ich es doch.
„Ruf mich bitte an.“
„Carolin, warum drückst du mich weg? Was ist los?“
Die dritte klingt aufgebracht.
„Verdammt, melde dich jetzt gefälligst. Ich drehe sonst durch!“
Ich schreibe Erik mit zittrigen Händen zurück.
„Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen. Ich brauche nur eine Auszeit … von allem.“
Das muss für Erik reichen.
Außerdem muss ich Marcel noch schreiben, werde aber panisch, weil ich weiß, dass Erik mich gleich bestimmt erneut anzurufen versucht, jetzt, wo er weiß, dass ich mein Handy anhabe.
Ich schalte das Handy lieber schnell wieder aus.
Es klopft an der Tür und meine Mutter schaut herein. „Ist wirklich alles in Ordnung? Du kannst mit mir reden, wenn du Probleme hast“, sagt sie und lächelt verlegen.
Ich kann mit ihr Probleme besprechen? Das ist mir neu.
„Ich will nur meine Ruhe haben. Mehr nicht“, antworte ich ihr und sie sieht mich traurig an und geht wieder. Ich habe jeglichen Bezug zu meinen Eltern verloren. Außerdem habe ich Angst vor ihrer Reaktion, wenn sie erfahren, dass zwischen mir und Marcel wieder Schluss ist.
Ich mache die Musik aus und den Fernseher an. Ich versuche durch die Probleme anderer, wie es die Serien offerieren, meine zu vergessen. Aber das gelingt nicht. Auf meinem Sofa sitzend, ziehe ich die Beine dicht an meinen Körper und schlinge die Arme darum, um dann über mein verpfuschtes Dasein nachzudenken. Irgendwann lasse ich mich zur Seite fallen und ziehe die Decke über meinen kalten Körper.
Ich werde wach, als meine Mutter in mein Zimmer kommt. „Carolin? Willst du nicht ins Bett gehen?“
Es ist dunkel draußen und im Fernseher läuft ein Krimi. Ich schaue verschlafen auf die Uhr und schrecke hoch. Es ist gleich halb elf. Marcel ist bestimmt schon zu Hause. Verdammt!
Ich nicke meiner Mutter zu und wünsche ihr eine gute Nacht. Dann zücke ich mein Handy und schalte es ein. Wieder SMSen. Ich ignoriere alle, bis auf die von Marcel. „Schatz, wo bist du? Hast du den Zug verpasst? Soll ich dich holen kommen?“
Oh, mein Gott! Mein Herz zieht sich zusammen. Was soll ich nur tun? Ihm schreiben? Ihn anrufen?
Ich wähle seine Nummer und warte bis er abnimmt. Ein verunsichertes: „Carolin?“, dringt an mein Ohr. Seine Stimme versetzt mir einen Stich und eine Sekunde denke ich, dass ich ihm das nicht antun kann. Nur der Gedanke an seine schnelle Reaktion auf eine SMS von einem fremden Mädel lässt es mich doch durchziehen.
„Marcel, ich bin bei meinen Eltern. Ich habe noch ein bisschen mit ihnen gequatscht und werde heute Nacht hierbleiben.“
Es ist einige Zeit still in der Leitung und dann folgt etwas völlig Unerwartetes. Marcel brummt aufgebracht: „Du bist bei deinen Eltern?“
„Ja.“
„Und das soll ich dir glauben? Bei wem bist du wirklich?“
Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. „Ich bin wirklich bei meinen Eltern.“
Keine Sekunde hatte ich damit gerechnet, dass er das in Frage stellen könnte.
Wut flackert in seiner Stimme auf, als er brummt: „Und wo warst du den ganzen Tag? Auch bei deinen Eltern?“ Er versucht seiner Stimme ein Stück Ironie beizumischen, was seine Worte nur noch bissiger klingen lässt.
Ich weiß nicht, was die Frage soll. Marcel kann unmöglich wissen, dass ich nicht in der Schule war.
Da ich nicht antworte, knurrt er: „Deine Ellen hat mir heute Mittag eine SMS geschickt, dass sie dich nicht erreichen kann und sich Sorgen macht. Also, wo warst du? Und erzähl mir keinen Scheiß!“ Seine Worte klingen wütend und kalt.
Ich bin entsetzt. Ellen hatte ihm geschrieben? Woher hat sie seine Nummer? Als sie ihn an dem Drogensamstag anrief, da hatte sie das von meinem Handy aus gemacht und ich habe ihr niemals seine Nummer gegeben. Extra nicht.
„Ich war nirgends“, antworte ich leise und versuche noch den richtigen Weg zu finden. Aber es gibt nur einen.
„Carolin!“, raunt Marcel mit dumpfer, wütender Stimme. „Du sagst mir sofort, wo du warst … und bei wem!“
Ich atme tief durch und antworte, meine Hand auf meinen Magen drückend: „Ich bin heute Morgen in Wallenhorst wieder ausgestiegen und bin einfach nur gelaufen. Ich musste darüber nachdenken, wie ich damit umgehen soll, dass du bei einer SMS von irgendeiner Tussi gleich anspringst und dich mit ihr triffst“, raune ich. „Wow! Super süß! Natürlich können wir uns treffen …, fällt dir dazu etwas ein?“
Ich spüre regelrecht wie Marcel erstarrt. Damit hatte er keine Sekunde gerechnet.
Als er wieder fähig zum Sprechen ist, stammelt er: „Süße, das war nicht so, wie du denkst!“
„Es ist ja nie wie ich denke“, raune ich nur resigniert. „Aber ich glaube, langsam kapiere ich es auch mal. Also erzähl mir nichts und lass mich einfach in Ruhe. Ich muss wirklich erst mal einiges analysieren.“
Eriks Spruch. Es versetzt mir einen Stich.
„Carolin bitte! Das ist nicht so …“
„Marcel!“, fahre ich ihn an. „Lass es einfach. Wir reden morgen. Und lass dir nicht einfallen, hier aufzukreuzen.“ Damit lege ich auf. Ich kann nicht mehr. Es fühlt sich alles falsch an. Vor allem mein Moralapostelgehabe.
Ich schalte das Handy wieder aus, gehe zu meinem Bett und lasse mich in meine weiche Matratze fallen. Ich spüre Marcels Entsetzen und Traurigkeit, als wäre er bei mir und ich würde es live sehen. Aber vielleicht ist das der einzige Weg für ihn, es auch ertragen zu können. Wenn er erfahren würde, was ich mit Tim gemacht habe und vor allem mit Erik … wäre das nicht viel schlimmer für ihn?
Ich rede mir das ein, weil es für mich so erträglicher ist. Wahrscheinlich wird mir mein schlechtes Gewissen deshalb eine unruhige Nacht bescheren.
Aber ich schlafe dann doch besser, als ich dachte.
Meinen Eltern tische ich am nächsten Morgen auf, dass ich erst zur dritten Stunde Schule habe und sie glauben es mir, ohne das weiter zu Hinterfragen. Das ist für sie schließlich auch ein erklärlicher Grund, warum ich überhaupt bei ihnen schlafen konnte. Damit fahren sie dann auch beruhigt zur Arbeit.
Ich fahre allerdings nicht zur Schule. Tim schreibe ich kurz vor Mittag, dass er mich bei meinen Eltern treffen soll. Eine Stunde später rollt der schwarze Mercedes auf den Hof und er springt gut gelaunt und fröhlich aus dem Auto.
Ich sehe das, weil ich schon eine gefühlte Ewigkeit am Fenster stehe. Langsam gehe ich die Treppe hinunter zur Tür, an der er schon sturmklingelt. Als ich die Tür öffne, steht er grinsend davor.
„Hi, Tim“, raune ich.
„Carolin!“ Er zieht mich in seine Arme und mir schießen augenblicklich die Tränen in die Augen …
Wenig später sitzen wir auf der Terrasse in der Sonne und Tim hört mir einfach nur zu.
Ich erzähle ihm von den Fußballspielen, die ich nicht mag, von meinen Osnabrücker Ausflügen, die Marcel nicht mag, von meinen Osnabrücker Freunden, die Tim ja auch schon kennengelernt hat und die Marcel auch nicht mag und von den SMSen von dieser Sabrina. Alles erzähle ich ihm. Außer das von Erik und mir. Ich stelle Erik nur als Ellens Bruder hin, der es nicht gut findet, dass Marcel den Umgang mit ihnen nicht gerne duldet.
Tim lässt sich daraufhin noch mal die Geschichte von meinem Drogensamstag erzählen und wie ich an Diego und den Verlobungsring kam. Ich erzähle ihm auch, wie Marcel mit mir und Diego zu meinen Eltern gefahren ist und dafür plädiert hat, dass ich zu ihm ziehen darf.
Die Erinnerung zerreißt mich fast. Ich weiß oft nicht, ob ich es ohne Marcel überhaupt schaffen kann.
Tim sagt nicht viel. Er kam hier so glücklich an und hat erneut ein Wrack vor sich sitzen, das um Marcel und die zerstörte Liebe zu ihm trauert. Er weiß nicht, dass ich vor allen damit nicht fertig werde, dass ich es bin, die Marcel betrogen hat. Wenn er ahnt, dass irgendwas aus der Richtung mit meinem momentanen Gefühlsinferno zu tun hat, dann glaubt er höchstens, ich bin wieder dem Fluch, und somit ihm verfallen.
Davon fühle ich nicht viel. Was da in meinem Bauch rumort ist eher die Python, die sich an meiner Trauer, Wut und meinem Gefühlschaos dick frisst. Ich habe mir alles selbst zerstört. Marcel war sich gestern Abend sogar sicher gewesen, dass ich mich mit jemand anderem treffe. Das hatte er mir ganz klar zu verstehen gegeben. Dass ich ihn mit dieser Sabrina ausstechen konnte, ahnte er da ja noch nicht.
„Und was hast du jetzt vor?“, fragt Tim und nimmt meine Hand. Er küsst meine Fingerspitzen. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“
Ich weiß, was er für mich tun kann.
„Können wir später meine Sachen aus Marcels Wohnung holen?“
„Natürlich! Und wo willst du hin? Ziehst du wieder hier ein?“
Ich sehe mich um, als sähe ich das hier zum ersten Mal. „Muss ich wohl.“
Tim lässt meine Hand los und steht auf. „Ich hole meine Zigaretten eben aus dem Auto“, raunt er und geht.
Ich sehe ihm überrascht hinterher. Mich in dem Stuhl zurücklehnend, bin ich erstaunt, wie ruhig er ist und wie geduldig er sich alles angehört hat. Er hatte sich bestimmt etwas anderes für seine freien Tage gewünscht.
Als er wieder um die Ecke kommt, sieht er mich mit leuchtenden Augen an, setzt sich und nimmt eine Zigarette aus der Schachtel, zündet sie an und gibt sie mir. Dann zündet er sich selbst eine an, inhaliert den Rauch und sagt: „Ich habe vielleicht eine Lösung, für den Fall, dass du nicht bei deinen Eltern unterkriechen möchtest.“
Mein Blick läuft fragend in sein Gesicht.
Tim hält mir seine geschlossene Hand hin. „Ich denke, dass ist Vorsehung, dass ich heute hierhergekommen bin“, raunt er.
Ich halte ihm meine geöffnete Hand hin, unsicher was er meint und er legt mir etwas hinein.
Ich starre auf den Schlüssel in meiner Hand.
„Mein Wohnungsschlüssel. Ich rufe nachher den Vermieter an und sage Bescheid, dass meine Schwester da einzieht, bis ich im Dezember wiederkomme. Ihm wird es recht sein und die Miete wird eh bezahlt, ob ich nun da bin oder nicht.“
Ich kann es nicht fassen. Ich kann in Tims Wohnung ziehen, die weder Marcel noch sonst jemand kennt.
Plötzlich sehe ich Licht am Horizont. Das wird meine Panikwohnung.
Aus dem Stuhl springend, falle ich Tim um den Hals, der seine Zigarette fallen lässt und mich mit beiden Armen umschlingt. Er zieht mich auf seinen Schoß und bevor ich auch nur reagieren kann, legen sich seine Lippen auf meine und er küsst mich ungestüm.
Völlig überwältigt von meinem neuen Wohnsitz erwidere ich seinen Kuss. Ich bin jetzt ein freier Mensch und kann tun und lassen, was ich will.
Meine Gefühle ignoriere ich, und mein Gewissen, das kurz den Zeigfinger hebt, um auf sich aufmerksam zu machen.
Freiheit! So fühlt sie sich an. Mit einer eigenen Wohnung. Und ich kann küssen, wen ich will.
Aber der Kuss hinterlässt nur einen bitteren Nachgeschmack und ich knurre in mich hinein: Nur noch One-Night-Stands und keine Liebe mehr. Ich bin frei und will frei bleiben und wenn ich mich dazu zwingen muss.
„Danke Tim. Wenn ich dich nicht hätte“, flüstere ich und sehe in seine schwarzen Augen. Ich schiebe mich von seinem Schoß. „Lass uns meine Sachen holen.“
Wir schaffen meine Schultasche und alles, was ich mitnehmen möchte, aus meinem Zimmer in sein Auto. Meinen Fernseher lasse ich da, weil Tim alles noch in seiner Wohnung hat, wie er mir erklärt.
Tim dreht die Musik auf und lässt das Verdeck aufklappen, als wir nach Bramsche fahren.
Ich bin so überwältigt von dem Gefühl, eine eigene Bleibe zu haben und mein Leben plötzlich wieder in eine ertragbare Richtung laufen zu sehen, dass ich fast schon gute Laune bekomme. Niemals hätte ich gedacht, dass mich der Umstand, dass ich mit Tims Wohnung mir ein Stück Freiheit erkaufe, so aufbaut. Vielleicht hat mich Marcel mit seiner Heimchen-Nummer doch überfordert?
Gut, wäre die Wohnung in Osnabrück, wäre ich noch glücklicher. Aber hier draußen kann mich keiner finden, wenn ich es nicht will. Und ich will es definitiv nicht.
Nur noch One-Night-Stands und keine Liebe mehr. Das soll mein neuer Lebensstil sein.
Marcel ist, wie ich erwartete, nicht da. Er muss arbeiten und geht wohl davon aus, dass ich in der Schule bin. Oder interessiert ihn das vielleicht auch gar nicht mehr, weil er seine Sabrina hat? Vielleicht geht es ihm wie mir und er ist eigentlich froh, wieder frei zu sein.
Diego springt uns entgegen und ich werde doch wieder traurig. Ich nehme den Kater auf den Arm und drücke ihn an mich. „Unser Scheidungskind“, murmele ich, gebe ihm einen Kuss in sein haariges Gesicht und setze ihn auf den Boden zurück.
Er läuft sofort in die Küche und ich folge ihm, um ihm Futter zu geben. Es ist das letzte Mal und ich möchte ihm noch etwas Gutes tun, egal ob er schon zu fressen hatte oder nicht.
„Das war Marcels Absicht“, murrt Tim.
„Was?“, frage ich und sehe ihn im Türrahmen stehen, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Das mit dem Kater. Er dachte, du gehst dann auf keinen Fall.“
„Er hat sich geirrt“, raune ich nur und versuche nicht daran zu denken, was ich hier eigentlich gerade tue.
Ich gehe alle Räume ab und suche meine Sachen zusammen. Das meiste stopfe ich einfach in einen großen Müllsack.
„Mein Fernseh- und Internetanschluss läuft noch. Ich hatte ihn vergessen abzumelden. Jetzt brauchen wir ihn wieder. Wozu Vergesslichkeit alles gut sein kann.“ Tim grinst mich aufmunternd an.
„Ich bezahle dir das alles. Nächste Woche suche ich mir einen Job. Ich habe ein Cafe gesehen, das Aushilfen sucht“, sage ich und spreche aus, was mir schon länger im Kopf herumschwirrt.
Tim nimmt mir den Sack mit der Wäsche ab und stellt ihn auf den Boden. Vor mich tretend, raunt er, eine Hand in meinen Nacken schiebend. „Ich nehme kein Geld von dir. Mir reicht, wenn du mich beherbergst, wenn ich mal in der Nähe bin.“ Seine dunklen Augen leuchten erwartungsvoll auf und ich weiß, was er damit sagen will.
„Das ist deine Wohnung und du kannst da schlafen, wann immer du willst“, raune ich und mir ist klar, was das eigentlich für mich heißt. Aber er nimmt halt kein Geld von mir.
Meine Zuhälter. Einer sieht wie einer aus - mit seiner Karre, und der andere lässt mich auf die Art bezahlen. Heute und hier macht mir das nichts. Das ist mir meine Freiheit wert - und meine Unabhängigkeit, die ich haben werde, sobald Tim wieder weg ist. Und da ich keine Gefühle mehr dulde, ist es okay, wenn alles nur noch Geschäft ist. Ich fühle mich irgendwie erwachsen, eiskalt und berechnend. Genau das, was ich in nächster Zeit nur noch fühlen will.
„Komm, lass uns weitermachen. Ich will hier schnell weg“, sage ich, weil mir Erik einfällt, und dass er hier jederzeit auflaufen könnte, genauso wie Marcel, wenn er sich erneut krankmeldet.
Tim nickt und lässt mich los. Er will auch nur noch weg … und mich in seiner Wohnung unterbringen. Mir entgeht sein zufriedener Gesichtsausdruck nicht.
Als wir alles in seinem Auto verstaut haben, überkommt mich erneut die Traurigkeit. Ich nehme einen Zettel von meinem Schreibtisch und schreibe: „Marcel, es ist besser, wir trennen uns erst mal eine Zeit lang, bis jeder weiß, was er wirklich will. Such mich nicht. Mach dir keine Sorgen um mich. Und sag meinen Eltern nichts. Die flippen aus, wenn sie erfahren, dass ich wieder wegen einem Mädel gehen musste.“
Ich wähle den letzten Satz mit bedacht, weil meine Eltern von meiner neuen Freiheit nichts wissen dürfen. Schließlich bin ich noch nicht volljährig. Auch wenn es nun für Marcel so aussehen muss, als wäre das mit dem Mädel der einzige Grund für mich zu gehen. Ich weiß, es gibt auch noch andere.
Diego sehe ich nicht und beschließe, ihn auch nicht zu suchen. Das würde mir nur unnötig das Herz schwermachen.
Ich lasse die Tür ins Schloss fallen und werfe mit Schwung den Haustürschlüssel durch die Katzenklappe in den Flur. Weder gestern noch heute Mittag hätte ich gedacht, dass ich so konsequent mit meinem alten Leben abschließe.
Als wir im Auto sitzen und Tim den Mercedes auf die Straße lenkt, sagt er: „Es gibt eine Bedingung, was die Wohnung angeht.“
Ich sehe ihn an, verunsichert darauf wartend, was nun folgen wird. „Ja?“, frage ich nach, als er seinen Satz nicht sofort beendet.
„Keine Männerbesuche“, sagt er und sieht mich herausfordernd an.
Ich grinse. „Außer dir, nehme ich an.“
„Außer mir natürlich“, meint er und sein Gesichtsausdruck wirkt ernst und entschlossen.
Ich schlucke. „Kein Problem. Ich habe nicht vor, mich in nächster Zeit in irgendein Abenteuer zu stürzen. Ich habe die Schnauze gestrichen voll“, murmele ich.
Tim sieht mich nur an. Als er nickt, weiß ich nicht, ob er sich miteingeschlossen fühlt.
Keine zehn Minuten später fährt er den Mercedes in seine Garage und wir steigen aus. Ich klemme mir unter den Arm, was ich tragen kann und Tim nimmt den Rest.
Als wir die Haustür aufschließen, müssen wir noch eine Treppe bewältigen. Die nächste Tür führt in mein neues Reich. Ich erkenne alles sofort wieder.
„Wir müssen lüften und später noch einiges einkaufen“, meint Tim und bringt den Sack mit meiner Wäsche in das Schlafzimmer. „Der Schrank steht dir fast komplett zur Verfügung. Ich habe kaum noch Sachen von mir hier.“
Tim macht alle Fenster auf und geht in die Küche, um den Kühlschrank anzustellen.
„So, der läuft auch schon mal. Dann las uns schauen, ob auch die Musikanlage noch funktioniert und der Fernseher.“
Tim probiert alles aus, lässt aber nur die Musik laufen.
Ich sehe ihn durch die Wohnung eilen und sich um alles kümmern und die Freude, dass er mir sein Reich überlässt und sich so sehr um alles bemüht, wird übermächtig. Hier werde ich das erste Mal machen können, was ich will und Marcel und Erik müssen dafür Geschichte werden. Keiner der beiden darf jemals wieder mein Leben bestimmen und alle Gefühle für sie muss ich abtöten. Für immer. Und ich weiß schon wie. Ich fühle für Tim nichts weiter außer Dankbarkeit. Um alle anderen Gefühle in mir niederzudrücken, möchte ich sie mit dem wenigen, was ich für ihn fühle, überdecken. Eiskalt und berechnend.
Der dumpfe Schmerz in meinem Inneren lässt überraschender Weise etwas nach.
Als Tim an mir vorbeirauscht, um im Badezimmer nach dem Rechten zu sehen, greife ich nach seinem Arm.
Er bleibt stehen und sieht mich an.
Ich packe ihn mit beiden Händen am Kragen seines Hemdes und ziehe ihn langsam hinter mir her ins Schlafzimmer.
Er hält den Atem an und sein Blick wirkt verunsichert. Als ich das Bett hinter mir weiß, bleibe ich stehen und ziehe ihn an mich. Ich lege meine Hände um sein Gesicht und ziehe ihn zu mir runter, um ihn zu küssen.
Sofort schlingt er seine Arme um mich und drängt mich weiter.
Ich falle in sein Bett und er lässt sich auf mich fallen. Beide Hände neben meinem Kopf abstützend, fragt er: „Was wird das?“, und seine schwarzen Augen sehen mich herausfordernd an.
„Mietvorschuss“, erkläre ich grinsend.
Den Schmerz in meinem Herzen, der wie ein Feuer auflodert und gleichzeitig wie Eis meine Gefühle erstarren lässt, verdränge ich. Erik drängt sich in meinen Kopf und ich muss ihn wieder loswerden … und auch die Sehnsucht nach seinem Körper, die mich plötzlich überfällt wie ein hungriger Löwe.
Vorbei.
Ich verdränge den Gedanken an ihn. Es gibt nur noch One-Night-Stands und keine Liebe und Gefühle mehr.
Ich schließe die Augen und versuche die Erinnerung an das, was Erik in mir auslöste, wegzudrängen. Aber sofort schiebt sich Marcel in meine Gedanken.
Ich schüttele unwillig den Kopf und verdränge auch ihn daraus … und aus meinem Herzen.
Auch vorbei.
Tim ist einen Moment irritiert und sieht mir skeptisch in die Augen. Doch dann scheint ihm egal zu sein, wie ich das hier nennen will und er küsst mich gierig, seinen Körper auf meinen pressend.
Ich erwidere seinen Kuss und lege meine Arme um ihn. Es ist nicht wie vor zwei Wochen, als er das letzte Mal da war. Es ist gar nichts da, außer diesem Schmerz, der mich niederdrücken will.
Aber der Aspekt, dass ich meine Freiheit bezahle und mir das alles als einziger Weg erscheint, um alle Gefühle abzutöten und ich kein schlechtes Gewissen mehr haben muss, reicht, um es mir erträglich zu machen. Ich denke, vielleicht werde ich auch noch ein Freund von One-Night-Stands. Etwas anderes wird es für mich auf jeden Fall nicht mehr geben. Das schwöre ich mir in diesem Augenblick. Und wer weiß? Vielleicht gefällt es mir auch irgendwann.
Es ist schon nach fünf, als Tim den Mercedes aus der Garage fährt. Er besteht darauf, dass wir einen Großeinkauf machen, weil er mich einfach für die nächste Zeit versorgt wissen will. Er ist so angetan von der Situation, dass er mir am liebsten die Welt zu Füßen legen möchte.
Ich füge mich dem, mir klar darüber, dass ich auch das wieder irgendwie abzahlen muss.
Eine Stunde später tragen wir Getränke und tütenweise Essen ins Haus. Tim kennt sich mit Schnellkost aus. Wir haben Dosen mit Ravioli, Nasigoreng, Eintöpfe, Gulaschsuppe und dergleichen gekauft. Der Kühlschrank ist voll mit Aufschnitt, Paprika, Gurken und Tomaten, sowie verschiedene Marmeladesorten. Das kleine Gefrierfach füllen wir bis zum Bersten mit Pizzen, Brot und Buttergemüse.
Tim zieht mich in seinen Arm. „So, nun bin ich beruhigter. Du bist schon dünn genug. Wenn ich nach der Tour wieder da bin, werde ich dafür sorgen, dass du etwas auf die Rippen bekommst.“
Wenn er nach der Tour wieder da ist?
Mit meinem Einzug in seine Wohnung geht Tim davon aus, dass er mich fest für sich hat. Ich lasse ihn in dem Glauben, beruhigt darüber, dass er bald wieder gehen muss.
Tim beschließt, abends mit mir Essen zu gehen. Er möchte mich unbedingt ausführen und ich räume meine Kleidung in den Schrank ein, gehe duschen und mache mich schick. Als ich ausgehfertig im Schlafzimmer erscheine, wo er auf dem Bett liegend sich eine Fernsehsendung anschaut und auf mich wartet, kann er sich ein zufriedenes: „Wow, hast du dich für mich so aufgebrezelt?“, nicht verkneifen.
„Escortdamen machen das so“, erwidere ich und grinse ihn an.
Er runzelt die Stirn, während er sich aus dem Bett hievt. „Als was wolltest du dein Geld verdienen?“, fragt er verunsichert. „Ich hoffe, dass mit dem Cafe stimmt.“
Ich lache, vor allem über seinen ernsten Gesichtsausdruck. „Natürlich! Ich habe nicht vor auch an andere meinen Körper zu verkaufen.“
Tim zieht hörbar die Luft ein und baut sich vor mir auf. „Was soll das? Du tust so, als wäre das zwischen uns nur gekaufte Liebe“, knurrt er mit aufsteigender Wut.
Ich halte es für besser, ihn zu beruhigen, auch wenn mir das Ganze durchaus diesen Eindruck macht. Sex ohne Liebe. Denn frage ich mein Herz, für wen es schlägt, dann ist das nicht Tim. Das wurde mir klar, als ich mit ihm schlief.
„Ich mache doch nur Spaß. Komm, sei froh, dass ich nicht wieder so durchhänge wie letztes Mal. Vergiss nicht, ich habe mich erneut von Marcel getrennt“, raune ich.
Er nickt. „Weiß ich. Aber deine Reaktion diesmal beruhigt mich auch nicht gerade. Zumal ich nicht da sein werde, um ein Auge auf dich zu haben.“
Ich schenke ihm ein beruhigendes Lächeln. „Ich habe in den letzten Wochen viel gelernt und auch viele Erfahrungen gesammelt und sehe mich durchaus in der Lage, mein Leben zu meistern. Und das wieder dank dir.“ Ich schiebe mich an ihn heran und schlinge meine Arme um seine Hüfte. „Und ich schlafe mit niemandem, mit dem ich nicht schlafen will.“
Tims Blick zeugt nicht gerade von Vertrauen in die Sache. Aber er sagt nichts, auch wenn ihm offenbar klar wird, dass ich wirklich nicht mehr dieselbe wie vor zwei Monaten bin. Und er sieht nicht so aus, als würde ihn das irgendwie beruhigen.
Ich lasse ihn los und gehe durch die Küche in den Flur, nicht abwartend, ob er mir folgt. Er wird schon kommen.
An der Wohnungstür ist er dann hinter mir und wir verlassen die Wohnung. Mich überfällt erneut ein Anflug von Traurigkeit und Angst, dass ich meinem Gefühlschaos doch nicht so leicht entkommen kann, wie ich vorgebe.
Wir fahren nach Osnabrück und im Auto kann ich meine Gedanken nicht im Zaum halten. Als wir an Bramsche vorbeifahren, packen mich erneut die Zweifel. Kann ich überhaupt ohne Marcel klarkommen? Er fehlt mir.
Leise schleicht sich die Angst durch meine Eingeweide, weil ich beschlossen habe, mein Leben ohne ihn zu leben. Das erscheint mir fast unmöglich. Und was wird er tun, wenn er heute Abend meinen Zettel findet und sieht, dass ich alle meine Sachen aus der Wohnung geholt habe?
„Nah, so schweigsam“, raunt Tim und hantiert an seinem Autoradio. „Möchtest du zu einem bestimmten Lokal oder kann ich aussuchen?“
„Du kannst aussuchen. Aber bitte nichts, wo ich Ellen und so treffe.“
Ellen wäre erträglich …. Erik nicht. Der Gedanke an ihn reißt mich noch tiefer in einen Abgrund als der an Marcel.
Tim wirft mir einen schnellen Blick zu. „Das habe ich auch nicht vor, obwohl die kleine Stammkneipe von euch ja ganz schön ist. Aber ich möchte essen gehen und dich heute mal für mich allein haben.“
Ich denke nur: Das hast du ja schließlich auch bezahlt.
Mein Nuttendenken verwirrt mich. Wahrscheinlich sind das meine überdrehten Nerven und der verzweifelte Versuch, mein Handeln irgendwie vor mir selbst zu rechtfertigen.
Plötzlich kommt mir alles falsch vor und die Angst schleicht sich in meinen Kopf, dass ich mich selbst am meisten mit diesem Handeln verletze.
Als wir durch Osnabrück fahren, klaube ich mir eine Sonnenbrille von Tim von der Ablage und setze sie mir auf.
„Blendet es dich?“, fragt Tim besorgt.
„Meine Augen sind heute etwas empfindlich“, antworte ich. Aber mir geht es in erster Linie darum, dass ich keinem begegnen möchte, der mich kennt. Vor allem keinen dunkelgrünen BMW oder schwarzen Mustang.
Wir fahren durch die Stadt hindurch, auf die andere Stadtseite, die ich vom Durchfahren mit Erik kenne. Dort lenkt Tim den Mercedes auf den Parkplatz eines griechischen Restaurants.
„Hier war ich mal mit meinem Vater und seiner Familie. Da kann man wirklich gut essen.“
Wir steigen aus und ich lasse mich von ihm an der Hand ins Lokal führen. Aber mir ist nicht nach Essen. Mir ist nach nichts.
Ich sehe Tim an, der vor mir geht. Morgen reist er wieder ab und ich werde allein sein. Auch nichts, was mich im Moment beruhigt.
Statt meine Gefühle im Griff zu haben, schlagen sie immer größere Kapriolen und ich bin froh, dass Tim den ganzen Abend nicht mehr über Gefühle oder uns spricht, sondern von seiner Tour erzählt.
Ich schaffe es tatsächlich, zumindest so zu tun, als interessiere mich sein Leben. Er wirkt glücklich und zufrieden und ich spüre auch dahingehend etwas Genugtuung, ihm dieses Gefühl zu vermitteln und meine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wenn er wieder weg sein wird, werde ich sie mit aller Macht bekämpfen.
Tim ist neben mir eingeschlafen. Ich schiebe mich aus seinem Arm und lege mich auf den Rücken. Erneut mit Tim zu schlafen, zeigte mir, dass ich bei ihm einfach nichts fühle. Ich rede mir ein, dass es an der Situation liegt. Alles andere macht mir zu viel Angst. Was ist, wenn mein Körper einfach nicht mehr will? Vielleicht habe ich etwas in ihm zerstört? Dass er zu lieben fähig ist, hatte er mir doch zu genüge bei Erik gezeigt. Und auch meistens bei Marcel. Warum klappt es bei Tim nicht?
Er ist zu schnell, zu hektisch und ab einem bestimmten Punkt nur noch auf sich fixiert. Das wird sich wohl nie ändern. Aber ist das nicht auch besser so? Schließlich wäre es ernsthaft erschreckend, wenn ich nach den letzten zwei Tagen auch noch mit Tim ins Bett springen würde und alles wäre bestens.
Aber zumindest kann ich stolz verkünden, dass ich eine gute schauspielerische Leistung hingelegt habe. Ich weiß, wie es sich bei Erik angefühlt hat und es fiel mir nicht schwer, das einigermaßen wiederzugeben. Dennoch reißt mich genau dieser Aspekt in ein Tief. Ich sehne mich nach den Gefühlen, die ich in den letzten zwei Wochen so geballt erfahren durfte.
Tim ist glücklich und zufrieden sofort eingeschlafen. Ich bin unglaublich froh darüber. Er hat sich verändert. Er kann neben mir schlafen – ein Umstand, den er bei unserem ersten Zusammensein überhaupt nicht im Griff hatte. Ich atme deswegen erleichtert auf. In meinem Kopf hatte sich schon die Angst breitgemacht, dass Tim die ganze Nacht über mich herfallen will, erneut von dieser erschreckenden Unruhe geplagt. Aber scheinbar hat er sich etwas mehr im Griff oder er ist sich meiner jetzt wirklich sicher.
Morgenmittag fährt er wieder. Er muss diesmal zu einem neuen Auftritt nach Stuttgart und fährt einige Stunden. Wir haben beschlossen, dass ich noch einen Tag die Schule schwänze.
Einen Augenblick überlege ich, ob ich aufstehen soll, um mein Handy anzuschalten. Aber ich habe Angst davor. Angst vor der Welt, die da draußen wahrscheinlich wütend herumtobt, weil ich mich den ganzen Tag bei niemandem gemeldet habe.
So beschließe ich, es nicht zu tun. Wenn Tim morgen weg ist, werde ich mich der Welt wieder stellen.
Ein dumpfer Schmerz beginnt sich in mir auszubreiten und ich muss mit aller Kraft die Sehnsucht unterdrücken, die mich immer wieder packt, wenn ich nicht von Tim abgelenkt werde. In mir baut sich eine schleichende Angst auf, was mit mir passiert, wenn er nicht mehr da ist und ich auf mich allein gestellt sein werde.
Ich will lieber nicht darüber nachdenken.
Am Morgen werde ich von Tims meinen Körper erkundenden Händen und Lippen geweckt. „Guten Morgen, meine Sonne“, flüstert er und ich weiß erst gar nicht, was los ist. Ich sehe erst Tim verwirrt an und dann das Zimmer, in dem ich liege.
Mir fällt ein, dass ich gestern mein Leben geändert habe. Und zwar von Grund auf.
Fassungslos schließe ich die Augen.
Marcel fehlt mir plötzlich so unglaublich, dass mir die Luft wegbleibt. Ich muss mir ins Gedächtnis rufen, dass er nun seine Sabrina hat und ich ihn sowieso ständig nur betrogen habe. Also nichts, was eine weitere Zukunft möglich macht. Und bei dem Gedanken an Betrügen baut sich Erik vor mir auf und ich spüre die gleiche Sehnsucht in mir hochkriechen und muss mir vor Augen halten, dass er ein Leben in trauter Zweisamkeit nicht will.
„Hey, alles klar?“, fragt Tim und schiebt sich dichter an mich heran. „Du wirkst verwirrt und so unglaublich erotisch. Schenkst du mir noch einen Augenblick, bevor wir uns ein schönes Frühstück gönnen?“
Er wartet gar nicht erst eine Antwort ab und schiebt sich auf mich. Sein heißer Körper auf meinem und seine Küsse lassen mich nicht völlig kalt. Für mich ist es ein Weg, noch einige Zeit der unvermeidlichen Gedankenflut zu entkommen, die mich schon wieder zu erdrücken droht.
Ich lege meine Arme um ihn und lasse meine Fingerspitzen über seinen Rücken laufen. Meine Beine um seine Hüfte schlingend, gebe ich ihm nur die Möglichkeit, sich zu bewegen, wenn ich es will und ich flehe meinen Körper an, mir zu zeigen, dass er mit der neuen Situation einverstanden ist.
Seine Küsse werden drängender und als ich ihm wieder Bewegungsfreiheit lasse, schwört er mir ewige Liebe und das mir alles gehört, was ihm gehört.
Ich denke mir verdutzt … so leicht ist das? Was hat man für eine Macht! Ich war mir dessen nie bewusst und nun habe ich eine mietfreie Wohnung mit allem Drum und Dran.
Trotz dem schalen Nachgeschmack, den Tim hinterlässt, als er sich keuchend von mir runterwälzt, versuche ich wenigstens darin einen Wert zu sehen. Aber unweigerlich drängt sich mir ein Satz auf - Sex ist nichts ohne Liebe.
Ich lege mich auf die Seite, streiche Tim durchs Gesicht und schenke ihm ein Lächeln, das ihm zeigen soll, dass ich ihn mag. Irgendwo regen sich zumindest dahingehend einige kleinere Gefühlsregungen, die mich aufatmen lassen.
Ich bin innerlich noch nicht so tot, wie ich befürchtete.
Beim Frühstück erzählt Tim erneut von seiner Tour und natürlich auch, dass er es nicht abwarten kann, das nächste Mal zu mir zu kommen.
„Ich bin so froh, dass ich die Wohnung behalten habe. Wenn du irgendetwas brauchst, rufst du mich an. Ich kann dir auch dein Handy schicken. Ich habe es immer noch. Oder willst du einen Festnetzanschluss? Den kann ich dir einrichten lassen. Du könntest auch mit dem Führerschein anfangen. Dann hast du ihn bald. Dann kaufen wir dir einen kleinen Wagen und du brauchst nicht mehr mit dem Bus fahren.“
Ich sehe ihn fassungslos an. „Tim, bitte! Es reicht, dass ich die nächsten zwei Monate ein Dach über dem Kopf habe und um alles andere kümmere ich mich schon. Ich brauche keinen Festnetzanschluss. Ich habe mein Handy und du weißt, wann du mich erreichen kannst. Ansonsten schreib mir eine SMS, wann ich dich anrufen soll oder du mich anrufen willst. Und meinen Führerschein mache ich, wenn ich das Geld dafür zusammen habe. Jetzt mache ich erst mal die Schule weiter und fertig. Bitte mach dir um mich keine Gedanken.“
Er sieht mich bestürzt an. „Lass mich dir doch helfen. Ich verdiene genug!“
Meinen Kopf schief legend, sehe ich ihn verächtlich an. „Und wann soll ich das alles abarbeiten?“
Das rutschte mir einfach über die Lippen und war eher zur Belustigung gedacht.
Tims Augen verdunkeln sich und er brummt: „Rede nicht so daher. Das mache ich nicht, um dich ins Bett zu kriegen.“
Das: „Ach, nein?“, liegt mir auf der Zunge.
„Carolin, du weißt, dass du alles für mich bist. Ich will einfach nur, dass es dir gut geht.“
„Es geht mir gut. Ich habe eine Wohnung, in der mich keiner findet und meine Freiheit wieder, die ich jetzt endlich genießen will.“
Sein Blick sagt mir, dass die Sache mit der Freiheit und deren Genuss ihn etwas verwirrt. „Freiheit? Frei von was?“, fragt er.
Ich weiß sofort die Antwort. Aber soll ich sie aussprechen? Ich entschließe mich dazu, es zu tun. „Ich brauche keinem mehr Rede und Antwort stehen, mich bei keinem ab oder anmelden. Ich kann machen, was ich will, gehen, wohin ich will und wann ich will und ich kann endlich ein richtiges Sololeben führen.“
„Ein Sololeben ist dir wichtig?“, fragt Tim ungläubig.
Ich kann ihn verstehen. Ich hatte mit Marcel gleich das komplette Gegenteil gefahren, dass man mir nicht zutraut, eigentlich etwas ganz anderes zu wollen.
Ich nicke. „Ja, ich will einfach meine Freiheit genießen.“
Tim steht auf und holt uns noch einen Kaffee. Als er sich wieder setzt, sieht er mich herausfordernd an. „Gut, die Solonummer ist okay. Aber verspreche mir bitte, wenn ich wieder da bin gibst du dein Sololeben auf.“
„Zu meiner Freiheit gehört auch, dass ich niemandem etwas versprechen muss“, erwidere ich und grinse ihn frech an, obwohl mir in meinem tiefsten Inneren nicht danach zumute ist. „Ich weiß nicht, was in zwei Monaten sein wird. Ich will jetzt einfach nur Abstand zu allen Männern halten“, sage ich ernst.
Tim greift nach seinen Zigaretten. Er steckt sich eine zwischen die Lippen und zündet sie sich an. „Abstand zu allen Männern halten! Das hört sich in meinen Ohren wirklich vernünftig an.“ Er hält mir die Schachtel hin.
Ich ziehe eine Zigarette heraus und stecke sie mir zwischen die Lippen. „Stimmt, finde ich auch. Und schließt dich das nicht auch mit ein?“, frage ich ein wenig zu bissig.
„Nein, ich habe Sonderrechte“, knurrt er und seine schwarzen Augen funkeln aufgebracht.
„Sonderrechte? Die gibt es nicht“, murmele ich und ziehe lasziv an meiner Zigarette.
Einen Moment sieht er mich verunsichert an. Doch dann wird sein Blick noch dunkler und er raunt: „Gut! Keine Sonderrechte also?“
Ich schüttele den Kopf.
„Hm, dann muss ich doch eine Mietzahlung fordern. Eine wöchentliche. Zu zahlen, wenn ich wieder freihabe. Und die Wochen dazwischen stunde ich dir nur … mit einem 100%tigen Zinsaufschlag und wenn du die Zahlung verweigerst, kommen sofort 100% Zinsen dazu.“ Er grinst mich auf seine alte Art an, die ich schon fast bei ihm vermisst habe.
„Wow, dann ist das aber eine teure Wohnung“, brumme ich und muss doch schmunzeln, weil ich glaube, er macht nur Spaß.
„Pass auf, dass ich nicht noch die Nebenkosten in Rechnung stelle“, sagt er und lacht.
Ich lache auch auf. „Das kann ich dann nicht mal in einem ganzen Leben abarbeiten.“
Tim wird ernst. „Das ist gut. Der Gedanke gefällt mir. So sollten wir es machen.“
Ich schüttele nur den Kopf. „Vergiss nicht, warum ich hier bin. Sololeben! Freiheit! Vor niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen! Ich glaube, da laufen unsere Wünsche gerade völlig aneinander vorbei.“
„Sind sie das nicht immer schon irgendwie?“, raunt er und sein Blick versetzt mir einen Stich. Aber natürlich hat er recht.
Um zwei am Nachmittag schafft Tim es endlich, sich von mir loszueisen und wir gehen zu seinem Auto. Ihm fiel noch so viel ein, was er für mich noch alles tun wollte, nachdem er mich erneut in sein Bett gezerrt hatte.
Ich versuchte ihn zu beruhigen und ihm klarzumachen, dass ich schon zurechtkomme. Aber er war trotzdem nervös und fahrig und zog mich immer wieder an sich, um sich regelrecht an mich zu klammern.
Nun brennen seine sehnsuchtsvollen Küsse immer noch auf meiner Haut, als wir endlich durch die Haustür auf den Hof treten.
Vor seinem Auto zieht er mich ein letztes Mal in seine Arme und küsst mich.
Ich bin sogar etwas traurig, dass er fahren muss. Wenn mich seine Liebe auch oft erdrückt, so ist er zumindest immer bedingungslos für mich da und seine Anwesenheit hatte mir ein wenig meines Kummers genommen, der nun schon übermächtig auf mich lauert.
„Ich rufe dich an, wenn ich angekommen bin. Bitte mach dein Handy an. Außerdem schicke ich dir auf alle Fälle das andere zu. Falls du Marcel wieder abblocken musst.“
„Mach das“, raune ich nur.
Er steigt in sein Auto und fährt aus der Garage in den Sonnenschein hinaus.
Ich winke ihm nach.
Als sein schwarzer Mercedes um die nächste Straßenecke biegt, überfällt mich sofort das komische Gefühl der Einsamkeit. Ein ungewohntes Gefühl.
Langsam gehe ich in die Wohnung zurück und schließe die Tür hinter mir ab.
Ich will erst mal duschen und die Wohnung für mich wohnlich einrichten. Aber als erstes stelle ich meinen Laptop an, um mir Musik anzumachen. Tim hatte mir das Kabel für die Musikanlage und das Internetkabel angeschlossen.
Im Internet finde ich einige Musikzusammenstellungen, die mit den dazugehörigen Videos laufen. Ich schiebe den Küchentisch an die Wand zum Schlafzimmer, um keinen Kabelsalat mitten durch den Raum zu haben und setze mich mit dem Stuhl davor. Die ungeahnten Möglichkeiten an Musik faszinieren mich und nun habe ich endlich mal Zeit, diese ganz genau zu studieren.
Mein Freiheitsgefühl überwältigt mich wieder und verdrängt das stetig anklopfende Gefühl der Einsamkeit und Traurigkeit.
Die Musik laut aufdrehend, gehe ich ins Badezimmer und dusche. Ich spüle die letzten Reste eines Mannes von mir runter. Mein Leben soll sich nun nur noch um mich drehen und wenn ich einen Menschen in mein Leben lasse, dann nur kurz. Höchstens zwei-drei Stunden. Mehr will ich keinen ertragen.
Ich stehe traurig lächelnd unter der Dusche. Erik hat mir viel in kürzester Zeit beigebracht.
Mich abtrocknend und von oben bis unten eincremend wird mir klar, dass ich Zeit schinde. Mein Haar föhne ich mir mit ganz viel Geduld trocken. Ein Blick in den Spiegel sagt mir, dass ich immer noch ziemlich mitgenommen wirke. Vielleicht wird es besser, wenn ich mich endlich der Welt da draußen gestellt habe.
Ich hole mein Handy und setze mich auf das Sofa. Doch bevor ich es anstelle, stehe ich wieder auf und hole mir eine Zigarette. Tim hatte mir drei Schachteln dagelassen. Ich soll schließlich keinen Notstand erleiden.
Mit der Zigarette zwischen den Lippen wage ich es endlich das Handy anzuschalten. Aber ich lasse es sofort neben mir aufs Sofa fallen. Es springt mir fast vom Polster.
Endlich reißt die Flut von SMSen ab.
Mein Anrufspeicher ist voll, mein Anrufbeantworter glüht und die SMSen kann ich gar nicht alle auf meinem Display erfassen. Mir wird übel. Wie soll ich damit umgehen?
Ich nehme mir als erstes Ellens SMSen vor. Sie ist alles … wütend, traurig, verängstigt, erschüttert, entsetzt und was man sonst noch so sein kann. Aber sie hat auch den Hauptteil an Anrufen und SMSen und ich beschließe, ihr sofort zurückzuschreiben.
„Es geht mir wieder gut. Ich bin bei Marcel ausgezogen und beginne nun ein neues Leben. Morgen komme ich wieder in die Schule. Dann erzähle ich dir mehr. Bitte gib mir noch diesen Nachmittag für mich und beruhige bitte alle, die beruhigt werden müssen.“ Ich denke dabei an Erik.
Die nächsten Berge an SMSen und Anrufen stammt von Marcel und von Erik. Ich lese erst die von Marcel. Er ist verzweifelt und hätte nie gedacht, dass ich einfach ausziehe. Er fleht mich an, mit ihm zu reden. Es wäre nicht so, wie ich denke und ich könne doch nicht einfach alles hinwerfen. Die letzte SMS heute Mittag klingt dann nur noch wütend. Er weiß nicht, wo ich bin. Niemand weiß das. Wenn ich mich nicht bald melde, ruft er meine Eltern an oder die Polizei.
Ich schreibe auch ihm eine SMS.
„Hallo Marcel. Ich kann das alles nicht noch mal ertragen. Lass mir doch einfach etwas Zeit für mich. Mir passiert nichts. Ich melde mich Samstag bei dir. Versprochen.“
Mir ist klar, dass ich bis dahin schon weiß, was ich wirklich will und ich kann mir so ein kleines Fenster offenhalten, falls ich es gar nicht ohne ihn aushalte. Dieses kleine Fenster beruhigt mich ein wenig.
Als nächstes muss ich Eriks SMS-Flut in Angriff nehmen. Mich ihm zu widmen fällt mir am schwersten, weil ich bei ihm Angst habe, dass er mich erneut irgendwie manipuliert. Dabei hatte ich ihm doch gesagt, dass ich ihn diese Woche nicht mehr sehen will. Hätte ich Anrufe und SMSen hinzufügen müssen?
Seine SMSen verwirren mich, aber anders als erwartet. Er schreibt, er weiß, wie sich das anfühlt, wenn man gerade nicht weiß, wo einem der Kopf steht. Er fragt in einer SMS, ob er mich retten soll, wie ich ihn gerettet habe. In einer anderen bietet er mir wieder die Wohnung an. Er bittet mich, mich wenigstens einmal bei ihm zu melden. Er droht sogar einmal, zu Marcel zu fahren. Aber ansonsten lese ich kein böses Wort von ihm. Aber viele nette. Und das nach meinem Abgang am Montag.
Ich bin seltsam davon berührt, denke mir aber, meine Mitteilung an Ellen reicht für ihn. Als ich auch die letzten von ihm lesen will, klingelt mein Handy und ich erschrecke. Es ist mein Vater und ich nehme ab.
„Carolin? Ich rufe wegen morgen an.“
Oh Mann, der Besuch bei Julian.
„Weißt du, deine Mutter wollte es mit der Brechstange versuchen, wie immer. Aber es bringt nichts, wenn du mitfährst. Sie werden dich nicht zu ihm lassen. Er ist Täter und du das Opfer. Da gibt es klare Vorgaben. Ich weiß nicht mal, ob sie einen Brief von ihm an dich gestatten würden. Aber du kennst ja deine Mutter.“
Ich bin wie vor den Kopf gestoßen.
„Also fahrt ihr morgen alleine?“, frage ich verwirrt.
„Ja, außer du möchtest trotzdem mit.“
„Nicht, wenn ich sowieso nicht zu Julian gelassen werde.“
„Nein, das werden sie nicht zulassen. Unser Anwalt sagte das schon. Und den Termin zur Verhandlung haben sie auf den fünfzehnten Oktober verschoben. Heute ist eine Vorladung für dich gekommen. Deine Mutter weiß noch nichts davon. Sie wird heute Abend aus allen Wolken fallen.“
„Eine Vorladung?“, frage ich entsetzt.
„Ja, was das noch genau für dich heißt, werden wir mit dem Anwalt noch klären.“
Marcel hatte mich gewarnt und doch trifft es mich siedend heiß. Ich bitte meinen Vater darum, dass er sich noch einmal meldet, wenn er Genaueres erfährt und wir verabschieden uns.
Ich brauche zwar nicht zu Julian, aber die Vorladung beunruhigt mich. Aber es gibt zumindest einen Aufschub von vier Wochen. Ob Marcel und Tim auch eine Vorladung bekommen haben?
Auf einmal möchte ich wieder bei Marcel unterkriechen und mich bei ihm verstecken.
Doch dann schüttele ich den Kopf. Nein, ich werde ihm auf keinen Fall hinterherkriechen.
Ich hole mir ein Alster aus dem Kühlschrank und setze mich vor meinen Laptop. Im Internet forste ich nach neuer Musik und finde Blueneck mit dem Lied Lilitu und das Video dazu. Mich zurücksetzend, starre ich auf den Bildschirm und lasse die Musik über mich hinwegrieseln, in die Gedanken verstrickt, die dieses Video aufleben lässt.
Erik und seine Welt …
Als das Lied zu Ende ist, höre ich mir noch einige andere Lieder von Blueneck an und finde die Musik wieder, die Erik an dem Nachmittag laufen hatte, an dem er mich zu sich ließ, während allen anderen der Eingang verwehrt blieb.
Ich lasse die Musik weiterspielen und beginne das Bett neu zu beziehen, die Waschmaschine zu befüllen, Staub zu putzen, das Badezimmer zu schruppen und die Fußböden zu wischen. Ich muss einfach etwas tun - und mir mein eigenes Reich herzurichten beruhigt mich. Das hier ist meine Zufluchtsstätte für die nächste Zeit. Eine Zufluchtsstätte, die keiner kennt.
Es ist erst neun, als ich ins Bett krieche. Ich kann aber nicht einschlafen und fühle mich einsam. Abermals kommen mir Bedenken, ob ich das Richtige getan habe und nehme mir mein Handy vor. Ich will noch einmal die SMSen lesen.
Wie unter Zwang öffne ich nicht die von Marcel, sondern die von Erik.
„Carolin, dich nicht erreichen zu können macht uns ganz fertig. Aber ich weiß wie es sich anfühlt, wenn man den Boden unter den Füßen verliert, wenn man nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht oder wie es weitergehen kann und man sich nur noch verkriechen will. Ich kenne das Gefühl. Wenn du uns brauchst, dann melde dich bei uns. Erik.“
Mir steigen Tränen in die Augen und ich öffne die nächste, in der er mich bittet, mich retten zu dürfen.
Ich putze mir die Tränen von der Wange und öffne die letzte, die ich am Nachmittag noch gelesen hatte, bevor mein Vater mich anrief.
„Ich habe eine Wohnung für dich, in die du einziehen kannst. Sie kostet dich nichts und ich werde dich auch in Ruhe lassen. Bitte sag mir nur wo du bist und ich sage Daniel, er soll dich holen. Bitte!“
Erik klingt verzweifelt und würde mich sogar in Ruhe lassen, nur damit ich wieder in ihre Obhut komme.
Jetzt tut mir leid, dass ich ihm am Nachmittag nicht geschrieben habe. Aber da hatte ich diese SMSen von ihm weniger emotional gesehen.
Ich öffne die SMSen, die ich noch nicht gelesen habe.
„Was machst du bloß? Wo bist du hin? Wir sind alle wirklich besorgt. Aber ich verstehe, wenn du dich ausklingst, um deinen Weg zu finden. Ich musste das auch schon oft, aber es gelang mir nicht immer. Wenn du einen Wegbereiter brauchst, bin ich da.“
Ich schüttele nur den Kopf. Das ist doch nicht der Erik, wie ihn alle kennen …, der Erik, der jemanden krankenhausreif schlug und als Drogendealer mit den wildesten Typen der Stadt zu tun hat.
Ich verdränge das Gefühl, das mir durch die Adern schleicht und die Sehnsucht nach ihm. Es wird keinen Erik mehr in meinem Leben geben, keinen Marcel und keinen Tim. Ich muss allein klarkommen.
Die letzte SMS muss er heute Morgen geschrieben haben.
„Ich habe keine gute Nacht gehabt. Wenn man eine Freundschaft eingeht, sollte man bedenken, dass man jemanden in sein Leben lässt, der Freud und Leid mit einem teilen will und sich sorgt. Du hast mich in dein Leben gelassen. Vergiss das nicht.“
Ich mache das Handy aus und ziehe mir den Bezug der Decke bis zu den Augen, um meine Tränen abwischen zu können, die sich schon wieder über meine Wangen stehlen. Eriks SMSen machen mich fertig.
Ich rolle mich zusammen und weine mich in den Schlaf.
Irgendwann wache ich auf, quäle ich mich aus dem Bett und mache mich für den Tag fertig.
Ich muss ein gutes Stück laufen, um an die Bushaltestelle zu kommen und finde auf meinem Handy eine SMS von Tim, in der er mir letzte Nacht noch mitgeteilt hatte, dass er gut angekommen war und mich über alles lieben würde. Ich will sie gerade beantworten, als es klingelt und er am Apparat ist. „Hey, meine Sonne. Geht es dir gut? Hast du gut geschlafen?“ Er klingt besorgt.
Ich seufze auf und erkläre ihm, dass ich am vergangenen Abend sofort eingeschlafen war und deshalb seine SMS nicht gesehen habe.
Der Bus kommt und ich steige ein.
„Tim, ich bin im Bus. Es ist wirklich alles in Ordnung und mir geht es, dank dir, gut. Mach dir keine Sorgen. Ich komme jetzt gut klar“, versichere ich ihm.
Tim scheint beruhigt zu sein und erzählt mir von seinem tollen Hotel mit Blick auf das Theater, wo sie ihre Aufführung haben werden. Er muss schnell frühstücken gehen und zu den Proben aufbrechen und hat daher nicht viel Zeit.
Ich wünsche ihm einen schönen Tag und einen gelungenen Auftritt. Ich will wirklich, dass es ihm gut geht … weit weg von mir.
Als ich an der Bushaltestelle in Osnabrück aus dem Bus steige, fällt Ellen mir um den Hals. „Carolin, du Verrückte! Wie kannst du einfach ein paar Tage verschwinden?“, ruft sie aufgebracht.
„Es musste sein“, raune ich nur und bin gerührt, dass sie sich so freut, mich wiederzusehen.
Der Bus fährt weg und Ellen schaut zur anderen Straßenseite und winkt kurz.
Ich drehe mich um und sehe den Mustang langsam wegfahren. Erik?
Auf meinen fragenden Blick antwortet sie nur: „Der wollte nur schauen, ob du auch wirklich auftauchst. Der hat sich halt auch Sorgen gemacht. Und Daniel auch. Die beiden waren ganz komisch, als ich ihnen sagte, dass du bei Marcel ausgezogen bist. Aber nun erzähl. Was war denn los?“
Wir schlagen den Weg zur Schule ein.
„Ach“, seufze ich. „Ich kam einfach nicht mehr klar.“
„Mit was?“ Ellen schaut mich groß an.
„Mit allem. So eine Tussi schreibt Marcel und der springt sofort darauf an und trifft sich mit ihr … während ich mit deinem Bruder … Ach Ellen, das taugt halt alles nicht mehr. Und dann auch noch Tim dazwischen. Das war mir halt alles zu viel. Langsam glaube ich, ich habe mit Erik mehr gemein, als du dir vorstellen kannst.“
Ellen raunt betroffen: „Wie? Was meinst du damit?“
„Beziehungsunfähig. Dabei liebe ich Marcel eigentlich! Zumindest war ich mir da immer sicher … mehr oder weniger. Aber dann hätte das mit deinem Bruder nicht passieren dürfen. Und mit Tim.“
„Wie … mit Tim? War der denn jetzt da?“
Ich nicke. „Er hat mir geholfen, meine Sachen aus Marcels Wohnung zu holen. Erneut entpuppte er sich als mein Retter in der Not. Aber das ist auch nicht gut. Nicht für mich und schon gar nicht für ihn.“
Wir kommen an der Schule an und Ellen zieht mich an die Seite, bevor wir den Schulhof betreten, um sich mit mir noch etwas ungestört unterhalten zu können.
„Ihr seid doch nicht … du bist doch jetzt nicht mit ihm zusammen, oder?“
„Nein, er weiß, wie ich über alles denke und was mein fester Entschluss ist.“
„Dein fester Entschluss?“ Ellen wirkt langsam ungehalten.
„Ich werde es in Zukunft wie Erik halten. Keine Beziehung! Keine Liebe! Am besten gar keine Männer mehr. Höchstens mal für eine Nacht und Tschüss.“
Ellen greift in ihre Tasche und zieht eine Zigarettenpackung hervor. Sie gibt mir eine und nimmt sich auch eine. „Poor, Carolin!“, sagt sie dabei. „Langsam machst du mich fertig! Woher willst du wissen, dass es bei Erik immer noch so ist?“
Ich sehe sie verwirrt an. „Ellen, es geht nicht um Erik! Wenn er sich jetzt entschließt, doch mit irgendeiner Tussi eine Beziehung eingehen zu wollen, dann soll er das in Gottes Namen tun. Ich rede hier von mir! Die letzten zwei Tage habe ich nur damit verbracht, mir mein neues Leben aufzubauen. Ich brauche niemanden.“
Ellen brummt: „So, du brauchst niemanden! Und bei deinen Eltern unterzukriechen bringt´s, oder was? Erik sagte mir, er hätte dir die Wohnung bei Daniel angeboten.“
Also kennt Ellen die Wohnung.
„Ich brauche die nicht. Für die nächsten Monate habe ich ein Dach über dem Kopf und das ist nicht das meiner Eltern.“
Ellen lässt fast die Zigarette fallen. „Wie? Du wohnst nicht bei deinen Eltern? Wo denn?“
„Ich habe mir meinen eigenen Panikraum geschaffen und niemand weiß, wo der ist. Ich werde es auch niemandem sagen“, verkünde ich, um das sofort unmissverständlich klarzustellen.
Ellen schüttelt den Kopf, dass ihre Locken wirbeln. Sie tritt ihre Zigarette aus. „Mein Gott, Erik hat echt abgefärbt. Und wo ist die Wohnung?“
Ich sehe Ellen fassungslos an. „Hörst du mir gar nicht zu? Ich werde niemandem sagen, wo die ist.“
Ellen grinst. „Niemandem - außer mir.“
Ich schüttele nur den Kopf und ihr Gesichtsausdruck schwenkt von überheblich zu schrecklich beleidigt um, als es klingelt.
„Komm, ich muss noch mit unserer Klassenlehrerin sprechen“, raune ich und gehe einfach los. Ellen wird mir schon folgen.
Aber sie würdigt mich keines Blickes, als unsere Wege sich trennen.
Ich finde meine Klassenlehrerin im Lehrerzimmer und bitte sie um ein Gespräch. Ich erkläre ihr, dass ich mich von meinem Freund getrennt habe und mich deshalb nicht in der Lage sah, die letzten drei Tage die Schule zu besuchen. Natürlich spiele ich die völlig am Boden Zerstörte und denke mir, wenn die wüsste. Aber das bringt zumindest, dass sie mein Fehlen entschuldigt und ich sogar das Gefühl habe, dass sie es gut findet, dass ich mit ihr so ehrlich darüber gesprochen habe.
Sie kommt direkt mit mir in die Klasse und alle sehen uns verwirrt an. Keiner weiß, was los ist und Ellen scheint nur Schmollen zu wollen.
Mich auf meinen Platz werfend, danke ich Tim für die Idee, mich meiner Lehrerin anzuvertrauen. Er hatte mir das vorgeschlagen und sein Vorschlag hat auch wirklich gut funktioniert. Ich bin froh darüber, weil ich so einem Verweis entgehe.
Als es zur ersten Pause klingelt, bleibe ich erst sitzen, unsicher, ob Ellen nun wieder mit mir sprechen will. Doch sie bleibt hart und unerbittlich.
So stehe ich irgendwann auf und gehe auf die Toilette. Ich bin verunsichert. Dass Ellen so wütend ist, weil ich ihr nicht sagen will, wo sich mein neues Domizil befindet, damit habe ich nicht gerechnet. Aber ich kann auch herumzicken. Da ich sowieso schon mit allem gebrochen habe, was mir bisher etwas bedeutete, so kann ich es auch mit ihr tun.
Als ich wieder ins Klassenzimmer komme, ist sie allerdings weichgekocht. Während ich mich neben sie auf meinen Stuhl setze, raunt sie: „Nah gut, wenn du es im Moment nicht sagen willst, dann akzeptiere ich das. Aber irgendwann …“
Ich sehe sie nur grinsend an und bin erleichtert: „Danke! Du weißt, was du weißt, wissen auch gleich alle anderen.“
Ellen setzt sich auf und brummt: „Wie - alle anderen? Ich würde doch nie …“
Ich lächele sie beruhigen an und mache eine wegwerfende Handbewegung. „Ist doch egal.“
„Nein, ist es nicht“, brummt sie und ist wieder gekränkt.
Ich erkläre ihr meine Unterstellung damit: „Du hast Marcel auch geschrieben, dass ich nicht in der Schule war.“
„Ich habe mir Sorgen gemacht“, verteidigt sie sich.
„Und die Nummer? Woher hattest du die? Von mir nicht.“
Ellen sieht mich nachdenklich an und brummt: „Die hat Erik mir gegeben. Er hat sich halt auch Sorgen gemacht.“
Ich starre sie an.
„Woher hat Erik die Nummer von Marcel?“, frage ich verdattert.
„Frag ihn selbst! Das weiß ich doch nicht.“
Da unsere Lehrerin den Raum betritt, ist das Gespräch beendet.
Ich beschließe nach zwei Stunden, in denen ich mich kaum auf den Unterricht konzentrieren konnte, Erik nicht zu fragen. Wie auch immer er an die Nummer gekommen ist, es ist egal. Seine Stalkerneigungen sind mir schließlich hinreichend bekannt. Und da ich nicht mehr mit Marcel zusammen bin, und Erik auch nicht wiedersehen werde, hake ich das Thema ab. Mein Entschluss, mich wenigstens die nächsten zwei Monate allein durchzuschlagen und meine Freiheit zu genießen, ist in meinem Kopf verankert.
Aber mein Herz spielt nicht mit. Von ihm geht der Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit aus, und es schreit nach Marcel.
Wenn es das gerade nicht tut, dann will es tiefe Gefühle und Leidenschaft, und schreit nach Erik.
Ich spreche meinem Herzen alles Mitspracherecht ab.
In der nächsten Pause gehen Ellen und ich wieder gemeinsam nach draußen und sie fragt vorsichtig: „Und was machst du am Wochenende? Es ist das letzte Wochenende, wo meine Eltern nicht zu Hause sind. Komm doch einfach heute mit zu uns und bleib, solange du willst. Wir können das ganze Wochenende Party machen und du das mit Marcel vergessen.“
Ich schüttele den Kopf. „Danke, das ist lieb. Aber zu meinen guten Vorsätzen für die nächste Zeit zählt auch, deinem Bruder aus dem Weg zu gehen.“
„Warum?“ Ellen ist erschüttert.
„Keine Männer mehr!“, erinnere ich sie an meinen Vorsatz.
„Und deshalb kommst du nicht mit zu mir?“
„Genau! Ich werde euer Haus nicht mehr betreten und ihn sein Leben leben lassen.“
Ellen lacht auf. „Und du glaubst, dass Erik damit einverstanden ist?“ Sie schüttelt den Kopf, als könne sie meine Naivität nicht verstehen.
„Das wird er wohl müssen“, brumme ich nur.
Nach Schulende sieht es allerdings anders aus. Als wir aus dem Schulgebäude treten, steht der Mustang an der Straße und ich frage mich, woher Erik weiß, wann wir Schulschluss haben. Es fällt die letzte Stunde aus, weil eine Lehrerin krank ist und dennoch steht er passend da und wartet.
Ich werfe Ellen einen bösen Blick zu, die den geflissentlich ignoriert.
Da ich weiß, was Erik tun wird, wenn ich die Flucht ergreife, setze ich auf Angriff. Das half bisher bei ihm immer am besten. Ich gehe zu ihm und sehe, wie er aus dem Wagen steigt.
„Hallo Erik!“, murre ich, als ich bei ihm ankomme und tue so, als wäre ich jetzt schon genervt. Aber ein Blick in sein Gesicht und ich drohe schon einzubrechen.
„Hey, alles wieder in Ordnung?“, fragt er mit viel zu weicher Stimme und bringt mich damit noch mehr aus der Fassung. Ich hasse es, dass er das immer wieder schafft.
„Ja, ist es. Und nur damit du Bescheid weißt … ich habe mich von Marcel getrennt und habe beschlossen, mich auch von allem anderen aus meiner Vergangenheit zu trennen. Dich eingeschlossen.“ Den letzten Satz schleudere ich ihm regelrecht entgegen.
Erik müsste zufrieden sein, dass ich jetzt nicht voller Erwartung vor ihm stehe und von ihm fordere, was er sowieso nie geben wollte.
Der lacht aber nur auf. „Gut, wenn du meinst. Aber zu so einer Entscheidung gehören bekanntlich zwei.“ Damit macht er einen Schritt auf mich zu und baut sich vor mir auf.
Ich kann seinen Zedernholzduft riechen und alles von mir drängt in seine Richtung. Ich brauche nur die Hände ausstrecken …
Ich reiße mich zusammen und sehe nur kurz auf.
Sein Blick durchdringt mich. Das ist nicht die Reaktion, die ich von ihm erwartet habe. Sollte ich ihm nicht völlig egal sein? Bisher waren ihm das alle anderen auch … wenn er sie erst mal in seinem Bett hatte.
Ich muss das hier beenden.
„In dem Fall reicht meine Entscheidung“, brumme ich nur, drehe mich schnell von ihm weg und gehe. Mein Weg führt mich direkt zur Bushaltestelle, an der die Busse in die Stadt fahren.
Ellen ist auf einmal neben mir. „Hey, was ist los? Wo willst du hin?“
„Ich fahre in die Stadt“, sage ich.
„Und warum kann Erik uns nicht mitnehmen? Ich bin gleich mit Daniel verabredet, und er wollte mich da absetzen.“
„Er kann dich doch mitnehmen. Ich fahre mit dem Bus.“
Ellen bleibt stehen.
Ich ignoriere das und gehe weiter zur Bushaltestelle. Zu meinem Glück kommt sofort ein Bus und ich springe hinein, mich aufatmend in einen Sitz werfend. Dass ich es tatsächlich bis in den Bus geschafft habe, ohne dass Erik mich einfach packte und in sein Auto zerrte, kann ich fast nicht glauben. Ich hatte damit gerechnet, dass Ellen ihn auf mich hetzt, wie einen Kampfhund. Schließlich hassen die beiden es, wenn es nicht nach ihrer Nase geht und ich hatte mich doch schon drei Tage aus ihrem Zugriffsbereich gestohlen. Aber ich sitze im Bus und kann es nicht fassen. Und in meinem tiefsten Inneren wütet etwas, das enttäuscht schmerzt. Das wars dann wohl mit Erik.
„Carolin!“, höre ich Sabine rufen und sehe sie bei den anderen aus meiner Klasse sitzen. Sie waren wohl hinten in den Bus eingestiegen, während ich vorne reingesprungen war.
Ich stehe auf und gehe in den hinteren Teil des Busses, wo mich Sabine, Michaela, Susanne und Andrea empfangen. Sie werden mich hoffentlich von diesen Gefühlen ablenken, die mich niederzudrücken versuchen.
Ich werfe mich zu Sabine in den Sitz.
„Geht es dir wieder besser? Ellen sagte, du hättest die Grippe.“
Ach echt?
„Naja, ich war halt etwas angeschlagen“, antworte ich wage.
„Und, mit deiner kleinen Familie alles in Ordnung? Hat Marcel wenigstes einen brauchbaren Krankenpfleger abgegeben?“, fragt Andrea, deren braune Rehaugen mich aus ihrem runden Gesicht anstrahlen. Sie wartet erneut auf eine romantische Geschichte mit Blümchen und Herzchen und so.
Kurz überlege ich, was ich sagen soll. Ich entschließe mich für einen Teil der Wahrheit. „Nicht wirklich. Er trifft sich lieber mit irgendwelchen Tussis und ich habe vorgestern meine Sachen gepackt und mir eine eigene Bleibe gesucht.“
Allen fällt die Kinnlade runter. Andrea sieht ihren romantischen Liebeshimmel schon wieder völlig zerstört. „Aber ihr seid doch das Traumpaar!“
„Blödsinn! Siehste doch. Wir waren alles andere als ein Traumpaar“, knurre ich aufgebracht. Doch meine aufgewühlten Gefühle gelten nicht Marcel und seiner Neuen, sondern Erik, der mich mit seinem Auftauchen wieder ins Chaos gestürzt hatte. Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen … und vor allem weit weg von mir bleiben?
„Und nun?“, fragt Michaela und ich höre eine unausgesprochene Frage in ihrer Stimme. Sie fragt sich bestimmt, was es mit Eriks Auftritt am Montag auf sich hatte, als er mich aus der Schule trug.
„Ich habe beschlossen, wenigstens zwei Monate solo zu bleiben.“
Susanne raunt nur ungläubig: „Das möchte ich sehen. Hattest du nicht so etwas auch behauptet, als die Schule anfing?“
Die anderen Stimmen ihr zu.
„Das war etwas anderes. Diesmal weiß ich, dass ich das durchziehen muss. Fragt mich aber bitte nicht, warum. Ich möchte über den ganzen Scheiß nicht reden. Ich bin fürs erste fertig mit Männern.“
Michaela kann es sich einfach nicht verkneifen. „Was war Montag mit Ellens Bruder? Warum bist du abgehauen und wieso hat er dich ins Auto getragen?“
Ich muss schnell schalten, weil keiner etwas davon wissen soll, was zwischen mir und Erik bisher alles gelaufen war. „Ach, die wollten auf eine Rennstrecke und ich hatte vorher eine große Klappe gehabt und wollte dann doch nicht mehr mit. Aber es war halt so abgemacht, dass Ellen bei Daniel mitfährt und ich bei Erik. Das war alles.“ Ich versuche das Ganze völlig harmlos klingen zu lassen.
Sabine grinst: „Oh Mann! Mit der Karre auf einer Rennstrecke? Da wäre ich auch geflüchtet.“
„Ich nicht!“, seufzt Michaela sehnsuchtsvoll und ich weiß, sie würde alles dafür geben, mit Erik noch einmal Zeit verbringen zu dürfen. Aber nachdem sie sein Schlafzimmer verlassen hatte, wollte er von ihr nichts mehr wissen. Wie bei allen anderen zuvor.
Wir kommen am Neumarkt an und steigen aus.
„Was machst du heute Abend?“, fragt Susanne.
Ich hebe nur unwissend die Schultern. „Keine Ahnung. Mal sehen. Vielleicht gehe ich mal wieder in den Hyde Park.“
„Oh ne, in den Schuppen kriegen mich keine zehn Pferde“, raunt Sabine, und Michaela und Andrea sagen lieber nichts. Ich hatte damit gerechnet und es auch ein wenig geplant. Ich muss mich erst erholen, bevor ich wieder losziehe.
„Ich schau mal. Vielleicht bleibe ich auch zu Hause.“
„Wenn du bei Marcel ausgezogen bist, wo wohnst du denn dann jetzt?“, fragt Michaela.
Was soll ich ihnen antworten? Ich will keine langen Erklärungen abgeben.
„In Tims Wohnung. Er hat sie mir überblassen.“ Da keiner weiß, wo die ist, besteht auch nicht die Gefahr, dass sie mein Domizil verraten.
Michaela und Sabine sehen sich grinsend an. „Ach, in Tims Wohnung! Sieh an.“ Sabine lacht. „So viel zu - keine Männer mehr.“
„Ich wohne nur in seiner Wohnung. Mehr nicht.“
Andrea raunt: „Tim? Nicht dein Ex, oder?“
„Oh doch!“, säuselt Sabine. „Der ist noch schwer hinter ihr her. Ihr hättet an Ellens Geburtstag dabei sein sollen. Was für eine Show! Und dann die Story von dem Fluch!“
„So Mädels, ich muss weiter“, sage ich schnell. Ich will nicht, dass die Geschichte jetzt auf den Plan kommt.
„Wohin willst du denn?“, fragt Susanne.
„Ich gehe mir jetzt einen Job suchen“, antworte ich nur und eile in die Unterführung, die mich zur Fußgängerzone bringt. Die anderen sehen mir perplex hinterher.
Froh, ihnen entronnen zu sein, gehe ich durch die Fußgängerzone und überlege, was ich jetzt machen soll.
Als erstes kaufe ich mir eine Kugel Pfefferminzeis. Das ist für meine angeschlagene Psyche. Dann schlendere ich weiter, schaue mir ganz in Ruhe die Schaufenster an und genieße, dass ich tun und lassen kann, was ich will. Es gibt weder eine Ellen, die mich von A nach B zerrt, noch einen Marcel, der erwartet, dass ich pünktlich zu Hause bin.
Wow! Ungewohnt! Aber durchaus angenehm. Noch nie konnte ich mir so ausgiebig und in Ruhe die Auslagen der unzähligen Geschäfte anschauen.
Ich beschließe, die ganze Fußgängerzone hinaufzuschlendern, bis ich an das kleine Cafe komme, dass einen Zettel im Fenster hängen hat, dass dort Aushilfen gesucht werden.
Erst habe ich Schwierigkeiten, es wiederzufinden. Es ist in einer kleinen Nebenstraße in der Altstadt und ich hatte es nur durch Zufall gesehen, als wir an Ellens Geburtstag zu einer der Kneipe gegangen waren.
Ich bin ziemlich nervös, als ich das Cafe betrete. Aber ich möchte es wenigstens versuchen.
Eine Frau mittleren Alters, mit langen schwarzen Haaren, braunen Augen und braun gebrannter Haut, sieht mir freundlich entgegen und bringt zwei Männern, die an einem der vielen Tische sitzen, Kaffee.
Ich stelle mich an den Tresen und warte bis sie zurückkommt.
„Guten Tag!“, grüßt sie und ich antworte ihr: „Hallo, mein Name ist Carolin Maddisheim und ich wollte fragen, ob sie noch eine Aushilfe suchen.“
Die Frau wirkt überrascht und sieht mich von oben bis unten an. Dann lächelt sie und antwortet: „Ja, schon. Hast du denn so etwas schon mal gemacht?“
Ich schüttele verlegen den Kopf.
„Was für Arbeitszeiten stellst du dir denn vor?“
„Ich kann jeden Tag ab fünfzehn Uhr“, antworte ich schnell und Hoffnung steigt in mir auf.
„Oh, jeden Tag. Das hört sich gut an. Die meisten können nur bestimmte Tage oder zu Zeiten, wo ich niemanden gebrauche.“
„Ich arbeite, wenn ich gebraucht werde. Aber bis halb drei habe ich immer Schule.“
„Schule? Auf welche Schule gehst du denn?“
„In die Hauswirtschaftsschule in Haste.“
Die Frau lacht. „Das ist gut. Da war meine Tochter auch.“
Da noch keine weiteren Gäste da sind, unterhalten wir uns über die Lehrer und wie das jetzt in der Schule läuft. Ich fühle mich sofort wohl und scheinbar mag mich die Frau, die sich als Alessia vorstellte. Ihr gehört das Cafe, dass sie eigentlich allein betreibt. Aber da sie auch Oma ist und für ihre Enkel etwas mehr Zeit haben will, sucht sie jemanden, die ihr hilft.
Als erneut Gäste kommen, schiebt sie mich hinter den Tresen und zeigt mir alles. Sie geht zu den zwei Pärchen und fragt, was sie wünschen und gibt ihnen die Karte.
Ich schaue mir in der Zwischenzeit die Kühltheke mit den verschiedenen Kuchen an. Natürlich erkenne ich viele, weil wir einige davon in der Schule schon selbst gebacken haben. Und auch die Kaffeesorten kann ich benennen und weiß, wie sie hergestellt werden. Hier macht das allerdings eine Maschine, die auf Knopfdruck alles liefert.
Alessia kommt zur Theke zurück und zeigt mir, wie sie die Kuchen auf die Teller stellt, Kuchengabeln gekonnt in die Kuchenstücke steckt, dass sie halb auf dem Teller liegen, aber trotzdem nicht durch die Gegend purzeln. Dann stellt sie die Unterteller und Kaffeetassen auf kleine Tabletts, legt Zucker und Milch dazu und stellt an jede Tasse ein Glas kaltes Leitungswasser. Dann zeigt sie mir die Bedienung der Kaffeemaschine.
Die Gäste möchten zwei Cafe latte Macchiato und zwei Cappuccino. Ich sehe Alessia zu, wie sie alles zubereitet und zu dem Tisch bringt. Dann geht sie zu den anderen Gästen, die bezahlen wollen. Als sie wieder an den Tresen kommt und ich dem Pärchen zusehe, wie es sich von den Stühlen erhebt und er ihr in die Jacke hilft und sogar die Tür aufhält und uns ein freundliches: „Bis bald!“, zuruft, lächele ich Alessia an. „Die sind aber nett.“
Sie schmunzelt und um ihre braunen Augen ziehen sich unzählige kleine Fältchen. „Die kommen jeden Nachmittag.“
Ich gehe zu dem kleinen Tisch und hole die zwei Kaffeetassen an die Theke. Alessia putzt den Tisch ab.
„Meinst du, du hättest Lust hier zu arbeiten?“, fragt sie mich nach meinem ersten Eindruck und ich nicke.
„Magst du heute schon hierbleiben und weiter zuschauen?“
„Ja, gerne“, sage ich begeistert.
So vergeht der Nachmittag wie im Flug. Ich darf schon einige Café Macchiato caldo, Café Latte Macchiato und Cappuccino mit Milchschaumverzierungen machen, und alle Kuchensorten kann ich bald aus dem FF.
Alessia freut sich über meine Wissbegierde und hält mich für ein Coffeemaker-Talent. Außerdem gefällt ihr, wie ich mit den Gästen umgehe, die mir alle sehr freundlich begegnen. Sie sagt, dass nicht jeder die Ausstrahlung hat und den Leuten ein Lächeln auf die Gesichter zaubert. Dann erzählt sie mir von ihrer Heimat Italien und den sonnigen Gemütern dort.
Als wir um halb acht alles sauber haben und sie hinter uns die Tür abschließt, freue ich mich schon auf den nächsten Nachmittag, an dem ich kommen darf.
„Wie ist es mit Montag?“, fragt sie.
„Ich komme gerne“, freue ich mich über meinen Job und bin richtig glücklich.
„Dann bis Montag.“
Sie geht und ich bleibe unschlüssig stehen und weiß erst nicht, was ich als Nächstes machen möchte. Am liebsten würde ich jemanden anrufen und von meinem neuen Job erzählen. Aber wen? Meine Eltern wage ich nicht anzurufen, weil sie bei Julian waren und bei ihnen die Stimmung bestimmt wieder voll am Boden ist. Marcel fällt auch aus. Tim ist bestimmt mitten in seinen Auftrittsvorbereitungen und Ellen soll noch gar nichts davon wissen. Also gibt es niemanden.
Ich schlendere erneut durch die Fußgängerzone und überlege, ob ich mir ein Hähnchen vom Kochlöffel gönnen soll. Alessia hatte mir zwanzig Euro in die Hand gedrückt, obwohl ich nichts haben wollte. Ab Montag bekomme ich acht Euro die Stunde. Ich freue mich riesig darüber und nehme mir schon mal vor, mich bis dahin noch über alle Kaffeesorten und Kuchen ausführlich schlau zu machen. Ich möchte unseren Gästen etwas bieten.
Ich nehme mir die andere Seite der Geschäfte vor und bestaune die Auslage … und träume auch schon davon, mir mal was kaufen zu können.
Beim Kochlöffel suche ich mir im oberen Stockwerk einen Platz und esse ein halbes Hähnchen. Ich esse es sogar ganz auf. Tim wäre stolz auf mich.
Als ich den Imbiss wieder verlasse, ist es kurz nach acht und ich beschließe nach Hause zu fahren. Auf halbem Weg zum Bahnhof klingelt mein Handy. Es ist Ellen und ich nehme ab. „Hallo Ellen.“
„Hey, wo steckst du? Hast du Lust mit uns heute noch irgendwohin zu gehen? Du darfst auch aussuchen.“ Sie klingt gut gelaunt und in Partystimmung.
Ich würde schon gerne. Aber ich weiß, dass Erik auch da sein wird … oder zumindest durch Ellen erfahren wird, wo er uns findet.
Ich möchte ihn nicht sehen. Schon der Gedanke an ihn lässt mein Herz wehleidig aufseufzen. Sein Lachen und sein Blick hatten mich heute schon genügend verunsichert und ich weiß, sie können mich in meinen Grundfesten erschüttern.
„Ne, lass mal. Ich fahre jetzt nach Hause.“
Einen Augenblick ist es still in der Leitung. Die Ruhe vor dem Sturm.
„Du bist noch in der Stadt? Dann fährst du auf keinen Fall nach Hause. Komm, ich gehe heute auch mit dir ganz allein los. Keiner kommt mit. Nur du und ich. Bitte!“
Wer es glaubt.
„Ellen, dass klappt eh nicht. Das weißt du. Daniel und Erik sind immer überall aufgetaucht, wo wir waren.“
Sie brummt: „Nah und! So schlimm ist das doch nicht. Ich kann denen doch nicht verbieten, auf Partys zu gehen.“
„Das brauchst du auch nicht. Ich fahre jetzt nach Hause und wünsche euch viel Spaß.“
Abermals ist es einige Zeit still in der Leitung, weil Ellen sich bestimmt weitere Argumente einfallen lässt. Doch sie brummt nur: „Wenn du meinst. Aber dann morgen! Morgen bestehe ich drauf, dass du mir wieder etwas von deiner Zeit schenkst.“
„Ich schau mal. Wir telen dann noch. Ich muss mich morgen noch mit Marcel treffen. Ich habe es ihm versprochen. Mal sehen, wie ich dann drauf bin.“
„Aha! Wozu müsst ihr euch treffen?“
„Er will mit mir noch mal über alles reden.“
„Und dich erneut um den Finger wickeln?“, giftet sie.
„Ich glaube nicht, dass ich mich noch von irgendjemandem um den Finger wickeln lasse“, antworte ich nur.
„Okay“, sagt sie und lässt das Thema lieber fallen. „Du lässt dich also nicht erweichen und kommst mit mir mit?“
„Nein“, sage ich nur kurz angebunden, weil etwas in mir mit meiner Antwort nicht zufrieden ist.
„Dann ruf mich bitte morgen an. Oder ich rufe dich besser an. Du machst das eh wieder nicht. Mittlerweile kenne ich dich, wenn du so drauf bist. Also bis morgen. Und solltest du doch noch Lust haben mitzukommen, dann ruf einfach an. Wir holen dich dann ab, egal woher.“
„Danke. Rechnet da aber nicht mit“, sage ich und muss schmunzeln. Ellen kann so schlecht lockerlassen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Wie ihr Bruder.
„Schönen Abend noch“, raune ich und werde doch etwas wehmütig. Etwas drängt mich zuzusagen und ich weiß genau, was es ist. Deshalb gebe ich nicht nach.
„Dir auch, Carolin“, sagt sie und ihre Stimme klingt gar nicht mehr unternehmungslustig und in Partystimmung. Sie denkt sich bestimmt, dass ich jetzt traurig nach Hause schleiche und wegen Marcel und allem Drumherum unglücklich bin. Sie hat natürlich nicht ganz unrecht. Marcel fehlt mir. Und Erik auch.
Ich lege auf, den Bahnhof schon vor mir sehend. Hoffentlich erreiche ich noch den Bus um halb neun.
Ich laufe los und schaffe es gerade noch zum Busbahnhof, als mein Bus vor der Haltestelle hält. Es ist der letzte Bus, der abends noch fährt und mit dem ich bis nach Alfhausen komme. Ich kann dorthin nicht mit dem Zug fahren, wie nach Bramsche. In Alfhausen hält kein Zug.
Ich springe hinein und zeige meine Busfahrkarte.
Der Busfahrer registriert das, schenkt mir aber nicht mal ein Lächeln.
Ich setze mich in den zweiten Sitz und lehne mich zurück. Von Alfhausen komme ich abends auch nicht mehr weg. Ohne Auto ist man da genauso aufgeschmissen, wie bei meinen Eltern zu Hause.
Endlich fährt der Bus los und ich bin froh, dass ich es mir jetzt nicht noch einmal überlegen kann. Das Gefühl, doch lieber in der Stadt bleiben zu wollen, schleicht immer noch durch meine Adern, aber ich versuche das zu ignorieren. Heute nicht mehr … und fertig.
In Alfhausen muss ich noch einige Zeit laufen, bis ich zu dem Haus komme, in dem nun mein neues Wohndomizil liegt. Heute scheinen die anderen Nachbarn auch zu Hause zu sein. Sie haben einen separaten Eingang auf der anderen Hausseite.
Ich schließe die Haustür auf und gehe die Treppe hoch. Als ich die Wohnungstür aufschließe, empfängt mich nichts als leise Einsamkeit.
Ich gehe sofort zu meinem Laptop und fahre ihn noch, um wenigstens das Leise schnell abzustellen.
Als Musik die Wohnung erfüllt und in jedem Zimmer Licht brennt, geht es besser. Mein nächster Weg führt unter die Dusche und danach setze ich mich in mein Handtuch gewickelt wieder vor den Laptop. Im Internet finde ich alles über Kaffee, Kaffeesorten, und auch über die Kuchen und Torten, die in dem Cafe angeboten werden. Zu allem gibt es auch eine Entstehungsgeschichte. Einiges schreibe ich mir heraus und merke gar nicht, wie die Zeit vergeht. Damit ich die Nachbarn nicht störe, höre ich meine Musik über kleine Kopfhörer, die Tim mir aus seinem Auto gegeben hatte … mit dem dazugehörigen MP3 Player, den er für mich gekauft hatte und auf dem noch immer das Lied „Three Words“ ist. Ich war überrascht, was für einen Klang ich mit den kleinen Hörern habe und forsche nun weiter nach allem, was ich in dem kleinen Cafe an Wissen gebrauchen kann.
Es ist nach zwölf, als ich müde die Ohrhörer abnehme und mir aus dem Kühlschrank einen Saft hole. Ich verdünne ihn mit Wasser und will mich gerade wieder an meinen Laptop setzen, als mein Handy von irgendwoher erstickt brummt.
Ich gehe in den kleinen Flur und finde meine Tasche achtlos neben die Tür geworfen. Da meine Jacke auch noch obenauf liegt, klingt das Handy eher als läge es im Sterben.
Ich hebe meine Jacke auf und werfe sie auf einen der Küchenstühle. Meine Schultasche stelle ich auf einen der anderen Stühle und wühle zwischen den Schulbüchern nach dem Handy, das ich nach Ellens Anruf nur achtlos in die Tasche geworfen hatte, um schnell den Bus zu erreichen.
Es hat aufgehört zu klingeln, als ich es herausziehe. Mit Erstaunen sehe ich, dass das nicht der einzige Anruf war und dass auch mehrere SMSen im Laufe des Abends eingegangen sind. Zwei sind von Marcel. Die öffne ich, nachdem ich mich wieder auf den Stuhl warf und die Kopfhörer in die Ohren schob.
„Du fehlst mir. Die Wohnung ist so schrecklich einsam ohne dich und Diego ist unendlich traurig … wie ich“, lese ich die erste.
Oh Mann, mein armer Marcel. Mir schießen Tränen in die Augen.
Die zweite ist noch gar nicht lange her.
„Noch eine Nacht ohne dich. Nicht auszuhalten. Du hast mir versprochen, dass wir uns morgen sehen. Bitte schreib mir oder ruf mich an, wann.“
Mir ist noch mehr zum Heulen. Zumal auch so ein schnulziges Lied läuft, dessen Text ich zwar nicht verstehe, dass aber schrecklich wehmütig klingt.
Ich reiße die Kopfhörer aus den Ohren und schreibe ihm eine SMS zurück. „Hallo Marcel! Du hast morgen Nachmittag Training, nicht vergessen. Ich komme vormittags eben nach Bramsche und melde mich dann bei dir.“
Leider muss ich mich noch den drei anderen SMSen widmen, die ich lieber ignorieren würde, jetzt wo ich Marcels gelesen habe. Seine reichen eigentlich schon für ein mittleres Gefühlschaos. Aber bevor ich sie öffne, klingelt mein Handy wieder. Ich erschrecke fürchterlich, als der Klingelton durch die Wohnung schrillt und sehe auf das Display.
Ellen2.
Es hört nicht auf zu klingeln und ich hebe ab. „Ja!“, brumme ich ins Telefon und kann nicht fassen, dass mein Herz seine Taktzahl erhöht.
„Ich bins, Erik“, höre ich Erik knurren.
„Weiß ich“, antworte ich nur, nicht weniger bissig.
„Sorry, ist mir eigentlich klar. Ich war nur etwas verwirrt, dass du auf einmal rangehst. Ich versuche es schon den ganzen Abend. Hast du meine SMSen nicht gelesen?“ Er klingt wütend.
„Nein, ich habe gerade erst das Handy aus der Tasche geholt, weil Marcel mir geschrieben hat.“
„Ach, den hörst du?“, brummt Erik ungehalten.
„Das war Zufall, weil ich meine Kopfhörer kurz abgesetzt habe.“
Erik fragt leiser und sich scheinbar zur Ruhe zwingend: „Kopfhörer?“
„Ja, damit ich niemanden mitten in der Nacht mit meiner Musik störe.“ Ich wundere mich, dass ich schon wieder so mitteilsam bin. Erik schaltet bei mir scheinbar irgendeinen Knopf an und ich funktioniere, wie er das will.
„Wen kannst du stören? Wohnt noch jemand da, wo du bist?“ Er klingt ein wenig lauernd, obwohl er sich mittlerweile um eine neutrale Stimmlage bemüht.
„Nein, aber ich habe Nachbarn und weiß nicht, wie hellhörig das hier ist.“
„Sagst du mir wenigstens den Ort, in dem du jetzt wohnst?“ Er klingt ein wenig ungehalten, obwohl er auch das zu kaschieren versucht. Scheinbar hat Ellen ihm schon gesagt, dass ich keinem meine neue Adresse geben werde.
Irgendwie drängt es mich, Erik herauszufordern. „Willst du gar nicht die Adresse haben?“, frage ich sarkastisch.
„Doch! Aber ich weiß, du gibst sie mir nicht. Du hast sogar Ellen nicht sagen wollen, wo du jetzt abgeblieben bist. Worauf habe ich da zu hoffen?“
Ich schlucke. So kenne ich Erik nicht. Wo ist seine fordernde Art hin?
„Stimmt!“, murmele ich mit weicher Stimme. Erik so zu hören, macht mich ganz fertig. „Ich kann dir das nicht sagen. Das ist mein Panikraum. Aber ich habe keine so coole Tür. Meine hättest du sofort auf und mein Schutz wäre dahin“, raune ich leise.
„Warum brauchst du einen Schutz vor mir?“, fragt er und auch seine Stimme nimmt einen weicheren Unterton an.
Wir sind da, wo ich auf keinen Fall hinwollte.
„Bitte Erik, lass uns nicht von uns reden.“
„Warum nicht? Das ist mein Lieblingsthema.“
„Aber nicht meins. Ich habe alles in den letzten zwei Tagen verloren und will mich einfach nur erholen und allein durchs Leben schlagen. Das geht nur, wenn du mich in Ruhe lässt.“
„Was ist denn passiert?“, fragt er sanft.
„Auch darüber möchte ich nicht gerne sprechen.“
„Bitte, ich möchte es aber wissen. Wie soll ich sonst einschätzen können, ob ich dich wirklich in Ruhe lassen muss.“
Ich seufze auf. „Es ist so viel in letzter Zeit passiert. Ich glaubte wirklich mal, Marcel ist alles für mich. Aber er kann nicht so viel Bedeutung haben, wenn ich mir nicht mal verkneifen kann, mit anderen ins Bett zu gehen“, zische ich den letzten Satz wütend und frage mich unweigerlich, warum bei mir immer alles so konfus läuft und in einem Chaos endet?
„Anderen?“, fragt Erik verunsichert.
„Ja“, brumme ich, unangenehm überrascht darüber, dass er so gut zuhört.
„Ich war nicht der Einzige?“ Er klingt tatsächlich aufgebracht und gekränkt.
„Doch! Schon! Zumindest während ich mit Marcel zusammen war.“
„Okaayyy!“, raunt er und scheint erst Mal seine aufkommenden Gedanken parieren zu müssen. Dann murrt er und klingt dabei doch ziemlich fassungslos: „Das klären wir ein anderes Mal. Warum hast du also Marcel wirklich verlassen? Bestimmt nicht, weil du die Finger nicht von anderen lassen konntest.“
Ich überlege, was ich ihm noch sagen soll. Möchte ich, dass er weiß, wie Marcel tickt?
„Weißt du, ich hatte schon einmal mit ihm Schluss gemacht, weil ich mir sicher war, dass er eine andere hat. Aber das war da nicht so. Die hatte alles drangesetzt, es so aussehen zu lassen und er war so doof, sich auf ihre Spielchen einzulassen und schnallte gar nicht, dass das alles nur inszeniert war, um uns zu trennen. Und genauso blöd ist er immer noch. Da schreibt ihm irgend so eine Tussi und er springt gleich drauf an. Er muss doch mittlerweile wissen, dass der Schuss nur nach hinten losgehen kann“, murmele ich resigniert.
„Ihm hat eine geschrieben und du machst Schluss?“ Erik klingt wirklich überrascht.
Ich fühle mich genötigt, das zu erklären, als mein Handy brummt. Es ist eine SMS. Die muss warten.
„Er ist gleich drauf angesprungen und wollte sich mit ihr treffen“, raune ich aufgebracht.
„Okay, verstehe! Wollte er sich mit ihr treffen oder hat er sich mit ihr getroffen?“
Ich bin etwas verwirrt, dass Erik das hinterfragt. In meiner Vorstellung gab es bisher nur die eine Variante.
„Keine Ahnung. Das erfahre ich dann wohl morgen. Falls er mir die Wahrheit sagt.“
„Du triffst ihn morgen?“
„Ja, er will mit mir reden.“
„Und dann kommt ihr wieder zusammen, oder was?“, brummt Erik mürrisch.
„Wohl nicht. Ich habe das gleiche Problem wie beim letzten Mal und diesmal gibt es kein zurück“, antworte ich ihm niedergeschlagen.
Erik sagt erst nichts. Dann fragt er lauernd: „Was für ein Problem?“
Ich schlucke. Das ist nicht gerade eins meiner Lieblingsthemen. Aber es tut gut, nun doch alles rauszulassen, auch wenn Erik nicht gerade mein Lieblingstherapeut ist. Aber er ist immerhin der Verursacher meines Elends.
„Ich kann nicht mit ihm neu anfangen, ohne ihm zu sagen, dass ich mit einem anderen geschlafen habe.“
„Stimmt, Ellen erwähnte mal, dass euer letzter Neuanfang dadurch Startschwierigkeiten hatte.“
„Und da konnte ich ihm wenigstens sagen, dass alles nur, nachdem wir Schluss gemacht hatten, war. Diesmal muss ich ihm sagen, dass ich ihn auch noch während unserer Beziehung betrogen habe. Und das geht gar nicht“, murre ich, auf ihn anspielend.
Einige Zeit ist die Leitung wie tot, dann höre ich Erik murmeln: „Nach dem Schluss … auch noch während der Beziehung?“ Seine Worte kommen langsam durch das Handy gekrabbelt, als müsse Erik jedes einzeln überdenken. „Du bist seit zwei Tagen mit ihm auseinander und es hört sich alles so an, als bin ich das während der Beziehung, … und das „nach dem Schluss“ ist wer?“
Ich bin entsetzt, dass er das so genau interpretiert.
„Ist doch egal“, sage ich verlegen und schwenke schnell um, erneut völlig damit überfordert, dass er jedes meiner Worte auf die Goldwaage legt. „Ich habe mich nur dumm ausgedrückt.“
Mir wird bewusst, dass ich mich da gerade in Schwierigkeiten bugsiere, die ich nicht einschätzen kann und ich will das Gespräch lieber schnell beenden. Ich fühle mich dem nicht gewachsen und etwas in mir will nicht, dass Erik über mich und das, was ich mit Tim getan habe, Bescheid weiß. Ich schäme mich plötzlich dafür.
„Warum glaube ich dir das nicht?“, raunt er mit auflodernder Wut in der Stimme, die mich noch mehr erschreckt. „Wenn ich dir doch wenigstens in die Augen sehen könnte. Dann wüsste ich sofort was los ist.“
Ich schlucke und brumme aufgebracht: „Genau deshalb sollst du mich in Ruhe lassen. Ich will einfach von keinem Kerl mehr herumkommandiert werden und tun und lassen dürfen, was ich will, und dass keiner mehr in meinem Leben herumpfuscht. Vielleicht stehe ich auch auf One-Night-Stands? Zwei-drei Stunden jemanden in mein Leben lassen und fertig“, fauche ich wütend, weil ich erkennen muss, dass er mich scheinbar mühelos durchschauen kann, als wäre ich aus Glas.
Erik sagt nichts. Das ist sein Spruch.
Da ich gerade in Fahrt bin und mir etwas Wichtiges einfällt, das den Wunsch noch unterstreicht, dass mir keiner mehr in meinem Leben herumstochern soll, frage ich: „Warum hast du eigentlich die Telefonnummer von Marcel und woher?“
Es ist immer noch still in der Leitung und ich bin mir gar nicht sicher, ob Erik überhaupt noch dran ist.
Plötzlich donnert der los: „Das reicht! Du kannst mir nicht so was an den Kopf hauen, wenn wir uns nicht wenigstens gegenüberstehen. Gib mir deine Adresse und ich sage dir alles, was du wissen willst … Auge in Auge!“ Seine Stimme klingt erschreckend dumpf und wütend.
„Nene!“, antworte ich und lache auf. „Das Spiel hatten wir schon. Und dann nagelst du mich an die Wand“, brumme ich, genau wissend, dass ich dann keine Chance gegen ihn habe.
Er zieht die Luft laut zwischen den Zähnen ein und versucht sich wohl zu beruhigen. Dann lacht er leise auf, was ich aber durchaus hören kann und was mir einen Stich in meinen Bauch versetzt. „Gerne, wann immer du willst!“
Ich meine sogar ein laszives Grinsen in seiner Stimme mitklingen zu hören.
„Vergiss es, ich habe allem körperlichen abgeschworen. Ich zahle nur noch die Wohnung und fertig“, zische ich und mir stockt der Atem. Wut kriecht augenblicklich durch meine Adern. Ich kann nicht fassen, dass er mich manipulieren kann, als wäre ich eine hirnlose Puppe und scheinbar mein Verstand bei ihm völlig aussetzt. Wie konnte ich so blöd sein und ihm das stecken?
Ich lausche, ob Erik etwas aufgefallen ist und hoffe nur, er bringt da jetzt nichts in den passenden Zusammenhang.
Da Erik nichts sagt, füge ich hinzu: „Und jetzt muss ich aufhören zu telen. Wie immer hast du es geschafft, mich dazu zu bringen, mit dir zu sprechen und die Zeiss-Clarkson Inquisition hat mal wieder perfekt funktioniert. Nicht wahr? Du kannst stolz auf dich sein“, füge ich noch mit einer Portion Gehässigkeit hinzu und hoffe, ihn damit schnell loszuwerden, bevor ich mich noch um Kopf und Kragen rede.
Erik raunt fassungslos und mein Gebrabbel ignorierend: „Wie? Du zahlst die Wohnung körperlich? Ich hoffe, ich habe mich da verhört!“ Seine aufsteigende Wut und Fassungslosigkeit sind fast greifbar und mein Herz droht stehen zu bleiben.
Verdammt!
„Du hast dich verhört.“ Ich lache nervös auf. „Ich zahle meine Wohnung wie alle anderen mit Geld.“
„Das du nicht hast“, brummt Erik und seine Stimme klingt wie die eines wütenden Grizzlys. „Wer ist dein Vermieter? Was für ein widerlicher, alter Sack ist das?“
Ich schlucke und verteidige mich: „Natürlich habe ich Geld. Ich habe schließlich einen Job!“
„Seit wann das denn?“, faucht er verächtlich.
„Ich bin heute angefangen.“
„Wer soll dir das glauben? Carolin, wenn du dich an jemanden verkaufst, ist was los!“, brüllt er mir ins Ohr.
Ich weiß nicht, wann ich Erik je so wütend erlebt habe. Er erschreckt mich zutiefst und ich bin froh, dass ich ihn nur am Telefon habe.
„Tue ich nicht“, antworte ich piepsend wie eine Maus. Das sind die Mädels in seinem Drogenmilieu, die so etwas machen müssen … nicht ich.
„Ich will wissen, welches Schwein dir von heute auf morgen die Wohnung vermietet hat. Als Ellen mir das sagte, wusste ich gleich, dass da etwas nicht stimmen kann.“ Eriks Stimme klinkt eisig und ich weiß, ich habe den anderen Erik vor mir. Den, den alle fürchten und der in der Lage ist, jemanden ins Krankenhaus zu befördern.
„Reg dich ab. Die Wohnung stand schon länger frei und ich bewohne sie nur, bis der rechtmäßige Mieter wieder zurückkommt. Und ich zahle gar nichts dafür“, versuche ich ihn zu beruhigen und bin unendlich froh, dass Erik weit weg ist.
Ich höre ihn erneut die Luft einziehen und lostoben: „Verdammte Scheiße, ich kenne solche Penner. Warte nur! Ich kriege raus, wo du wohnst und wer das ist und ich mache den platt.“
Ich bin völlig entsetzt, dass Erik sich so aufregt. Er dreht fast durch.
„Erik, bitte! Das ist nicht so wie du denkst!“, rufe ich entsetzt.
„Dann sag mir, wie es ist. Los! Erkläre es mir!“ Seine Stimme zittert vor Wut und ich bin erschrocken darüber, dass ihn das so gegen mich aufbringt. Da, wo er sich sonst herumtreibt, muss das doch noch als harmlos gelten.
„Okay, ich sage es dir. Aber bitte reg dich nicht auf … und du machst auf keinen Fall irgendwen platt.“ Mir ist klar, dass es bestimmt einen Vermieter für die Wohnung gibt, der sicherlich auch nicht gerade jung ist. Wenn Erik dem je begegnet, wird er ihn ins Krankenhaus befördern, weil er denkt, ich gehe mit ihm ins Bett, um die Wohnung zu bezahlen.
„Ich bin in Tims Wohnung“, sage ich resigniert. „Er war vorgestern hier und hat mit mir alles aus Marcels Wohnung geholt und in seine gebracht. Er hat die Vermieter angerufen und ihnen gesagt, dass ich seine Schwester bin und die Wohnung solange bewohne, bis er wieder da ist. Also bitte, lass die armen Vermieter am Leben.“
Es dauert einige Augenblicke bis Erik knurrt: „Tim? Oh Mann, der Arsch! Ich hätte es mir denken können, dass er wieder seine Finger mit im Spiel hat. Und klar lässt er dich da umsonst drinnen wohnen. Asche hat er schließlich genug. Und ich wette, er hat es sich nicht nehmen lassen, dich nebenbei erneut zu vernaschen. Das tut er offenbar mit Vorliebe! Dass der immer zur Stelle ist, wenn du Marcel verlässt. Als wenn er das riecht!“ Erik klingt jetzt eher fassungslos, als wütend. Aber das es Tim ist, scheint die Lage etwas zu entspannen. Scheinbar ist ihm das lieber, als irgend so ein schmieriger, fetter Vermieter, der jetzt täglich an meiner Tür kratzt.
Ich sage nichts. Was soll ich auch sagen?
„Okay, das reicht“, knurrt Erik schwer atmend, als hätte er gerade einen Bus mit bloßen Händen gestoppt. „Ich habe ein echt großes Problem mit dir und wir werden das noch klären müssen. Warte, bis ich dich in die Finger kriege. Mich hat noch nie jemand so zum Kochen gebracht. Du schockst mich in einer Tour.“ Er klingt völlig fertig.
„Aber ich brauchte doch was, wo ich bleiben kann“, sage ich kleinlaut.
„Ich habe dir eine Wohnung angeboten, verdammt! Auch kostenlos! Und du hättest dafür mit niemandem ins Bett steigen müssen.“
Nun muss ich doch auflachen. Aber ich sage lieber nichts. Scheinbar reicht das aber schon.
„Was soll das jetzt? Glaubst du mir nicht?“, zischt er.
„Hm … lass mich mal nachdenken.“ Ich kann es mir einfach nicht verkneifen. „Ich habe schon für die zwei Einser in meinen Hausaufgaben den gleichen Preis bezahlt.“
Irgendwo knallt etwas und ich fahre erschrocken zusammen.
„Du hast mit mir geschlafen, weil du das wolltest!“, tobt Erik.
Ich will ihn beruhigen. „Stimmt! Ich habe immer mit dir geschlafen, weil ich das wollte. Du bringst mich halt immer dazu, es zu wollen. Aber damit ist jetzt Schluss.“ Nun bin ich es, die völlig fertig klingt. „Und du solltest einfach zufrieden sein. Du hast ganz klar eine Begabung. Immerhin wusstest du, dass ich Marcel und Diego mal verlassen werde. Und zwar wegen dir. Nicht nur - aber auch wegen dir. Und genauso ist es jetzt.“
Als Erik nach einiger Zeit antwortet, klingt er wieder ruhiger. „Ja, ihr passt nicht zusammen. Marcel hat dich nicht im Griff. Keiner hat dich im Griff. Vielleicht Tim, das weiß ich nicht. Du bist eine Aufgabe, der nicht jeder gewachsen ist. Ich glaube, ich melde mich für weitere Psychologiekurse an, um es mit dir aufnehmen zu können.“
Seine Worte und die Art, wie er sie mir niedergeschlagen ins Handy raunt, verwirren mich.
„Nein!“, antworte ich ihm aufrichtig. „Ich bin nur so schrecklich durcheinander und finde meinen Weg nicht. Mehr ist da nicht. Deshalb brauche ich Zeit. Wenn ich wieder klar denken kann, sieht alles anders aus. Ich dachte, dass ich eine klare Linie habe … mit Marcel. Aber Osnabrück, Ellen und du … Ich habe meinen Weg wieder völlig aus dem Blick verloren.“ Dass ich das so zugebe, hätte ich niemals gedacht. Aber Erik bringt mich dazu, Dinge zu sagen, die ich nicht von mir erwarte.
„Wie ich so oft“, meint er betroffen. „Wir sind ziemlich gleich. Darum brauchen wir uns.“
Mir stockt der Atem, und mein Herz macht einen Satz. Erik braucht mich? Er, der niemanden lieben kann und niemanden neben sich duldet. Habe ich richtig gehört?
Ich bin verwirrt und bestürzt. Es reicht. Noch mehr Bekenntnisse dieser Art sind nicht zu ertragen. Ich trete die Notbremse.
„Lass uns jetzt auflegen. Wir unterhalten uns lieber ein anderes Mal weiter. Wenn du so redest, bringst du mich nur noch mehr durcheinander“, raune ich, und sehe alle meine guten Vorsätze davonschwimmen. „Ich wünsche dir eine gute Nacht. Grüß Ellen. Ich lege jetzt auf.“ Ich drücke das Gespräch weg.
Mein Herz ist nur noch ein Brei aus Zellen und Blut. Gar nicht mehr lebensfähig. Erik so reden zu hören verstört mich zutiefst. Das muss aufhören. Unbedingt. Was er mit mir anstellt, ist nicht auszuhalten.
Um mich zu beruhigen und abzulenken, schaue ich, von wem die SMS gekommen war und stolpere über Eriks drei und eine neue, die Tim eben schickte.
Ich öffne die von Erik und überfliege sie. Er versucht mich in einer zu einer Party zu überreden, in der zweiten zu einem Anruf und in der dritten bittet er um eine kurze Nachricht, wann er mich anrufen kann. Auch das muss aufhören.
Ich öffne Tims SMS. „Carolin, hier in Stuttgart ist es unglaublich. Wir haben eine riesige Bühne und eine wahnsinnige Akustik. Ich wünsche mir, du könntest das einmal erleben. Vielleicht kommst du irgendwann mit mir mit? Jetzt weiß ich dich in meinen vier Wänden und es fühlt sich ein wenig so an, als gehörst du zu mir. Ich freue mich auf unser nächstes Wiedersehen und kann es kaum erwarten. Dein Tim.“
Ich denke mir, wie gut es ist, dass er so weit weg ist.
Während ich die SMS noch einmal lese, brummt mein Handy erneut.
Erik!
Ich öffne seine SMS nur mit Widerwillen. „Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich mag nicht, wenn du mich einfach wegdrückst. Aber ich weiß, so bist du halt zu mir. Du hast kein Herz.“
Seine SMS versetzt mir einen Stich. Wenn der wüsste!
Ich schreibe ihm zurück: „Doch, habe ich. Wenn du es nicht gerade in Brei verwandelst. Ich versuche nur zu überleben. Also lass mich bitte in Ruhe.“
Als ich sie verschicke, weiß ich, dass ich ihm ein kleines Türchen zu meinem Inneren aufstoße und mit dem letzten Satz diese Tür wieder vor ihm zuknallen lasse. Aber er muss einsehen und akzeptieren, dass sich nicht alles nur um ihn dreht … und um seine Spielchen.