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NEOWORLDS

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Die Ankunft am Bremer Hauptbahnhof bestätigte die Vorurteile, die Alexander gegen Bremen hegte. Die Gleishalle und die im Stil der Neorenaissance erhaltene Fassade waren beeindruckend. Alles andere wirkte in hohem Maße ungepflegt und schmutzig, die Bahnsteige waren schmal, die Treppen zugemüllt.

Es war kurz vor Ostern und auf der hinter dem Nordausgang gelegenen Bürgerweide wurde gerade ein Jahrmarkt gefeiert, der tausende Besucher anzog. Laut seiner App musste er den Bahnhof von Gleis 10 aus in die entgegengesetzte Richtung verlassen, was nicht einfach werden würde, da es die Masse eben zum Nordausgang zog.

Alexander verharrte einen Moment auf der letzten Treppenstufe und schaute entsetzt in die völlig überfüllte Halle. Kurz erwog er, der Masse zu folgen und ebenfalls den Nordausgang zu nehmen, um schließlich von außen um das Bahnhofsgebäude herumzugehen, aber das würde ihn wohl eine gute Viertelstunde kosten und da sein Zug Verspätung gehabt hatte, war die Zeit ohnehin schon knapp.

Ein Mitreisender, der nach ihm die Treppe herunterkam, rempelte ihn an, ohne sich zu entschuldigen. Seufzend nahm er seine Laptoptasche auf und versuchte, auf die rechte Seite in Richtung Ausgang zu kommen, quetschte sich dann zwischen lärmenden, kreischenden und auf angetrunkene Weise fröhlichen Menschen hindurch, die schlecht rochen, sich schlecht benahmen, nicht auswichen und mit denen er doch jede Berührung vermeiden wollte.

Zwischen den Pendlern und Besuchern in Feierlaune fielen ihm ein paar Jugendliche auf, die sichtlich auf Beute aus waren, weshalb er Smartphone und Brieftasche tiefer in der Jackentasche vergrub und resolut den Tragegriff seiner Ledertasche umklammerte.

Auf dem Bahnhofsvorplatz traf sich die übliche Klientel, zu der eine Handvoll Obdachloser und Drogendealer gehörten, aber auch hier dominierten jede Menge krakeelende Touristen das Bild, die auf dem österlichen Jahrmarkt vor allem flüssige Nahrung genossen hatten. Vom Bahnhof aus blickte man auf eine hässliche Baugrube, die wohl mal ein Hotel oder ein Einkaufszentrum werden wollte.

Suchend sah er sich nach der Haltestelle der Linie 10 um, die ihm Google Maps als schnellstes Transportmittel vorgeschlagen hatte, um zu NEOWORLDS in die Überseestadt zu gelangen, doch der Rummel ging ihm schon jetzt auf die Nerven, sodass er es vorzog, ein Taxi zu nehmen.

Der Taxifahrer, der das in dieser Branche so typische Gespür für die Stimmungen seiner Fahrgäste hatte, versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und wies ihn auf die wenigen Sehenswürdigkeiten hin, die auf dem Weg lagen, aber außer dem Überseemuseum erblickte Alexander nichts, was ihn interessiert hätte.

Sie fuhren an einer hässlichen Hochstraße entlang, die Straßen und Häuser sahen so trist aus wie der Himmel, und auch als sie endlich in die Nordstraße einbogen, eine öde mehrspurige Autostraße, die sich durch den Bremer Westen bis hin zu den nördlich gelegenen Stadtvierteln zog, hielt sich seine Begeisterung in Grenzen.

Ein letztes Mal versuchte der Fahrer ihn aufzumuntern. „Das ist das Besondere an Bremen“, sagte er, „Sie durchqueren den wilden Westen und kommen in den hohen Norden.“

Alexander antwortete mit einem gequälten Lächeln, dann war endlich Ruhe. Wenige Momente später bogen sie in die neue Überseestadt ein, ein ehemaliges Hafenviertel, das nach dem Zusammenbruch der Bremer Werften nun komplett umgestaltet und als „Standort der Möglichkeiten“ angepriesen wurde.

Und das ist vielleicht der eigentliche Witz, dachte Alexander, dass ausgerechnet hier, wo die Armut ihren Ursprung hat, sich die neuen Reichen einquartieren. So auch der Branchenriese NEOWORLDS, der sich ebenfalls einen Platz im Weser Valley, wie manch einer das Städtebauprojekt spöttisch nannte, gesichert hatte.

Alexander verstand den Hype um dieses Projekt nicht. Er hatte etwas wie die Hamburger Speicherstadt erwartet, aber hier befand sich alles noch im Aufbau und neben einigen wenigen historischen Gebäuden waren überwiegend halb fertige Neubauten, monotone Büro- und Industriegebäude, brach liegende Flächen sowie wild parkende Autos zu sehen.

Der Fahrer steuerte das Taxi schwungvoll auf einen Gehweg und kam vor dem Gebäude von NEOWORLDS zum Halten. „13,50“, sagte er und blickte auffordernd in den Rückspiegel. Alexander kam der Betrag für die kurze Strecke etwas hoch vor, aber da sie mehrfach im Stau gestanden hatten, musste er die verlorene Zeit wohl mitbezahlen. Er gab dem Fahrer einen 20-Euro-Schein.

„Haben Sie es nicht passend?“, fragte der, „ich bin noch nicht dazu gekommen, Wechselgeld zu besorgen.“ Alexander sah auf die Uhr, noch fünf Minuten, er musste sich sputen. „Stimmt so“, sagte er leicht verärgert und stieg dann hastig aus dem stickigen Wagen.

Nach allem, was er bisher gesehen hatte, war das Gebäude, in dem NEOWORLDS sich niedergelassen hatte, besonders beeindruckend. Die kubische Bauweise wurde von einer interessanten Mischung aus Sandstein und großzügig angelegten Glasfassaden mit metallenen Einfassungen dominiert, das Dach war üppig begrünt.

Durch die offenstehende Eingangstür gelangte er in ein helles Atrium, in dem sich modern ausgestattete Schreibtische befanden, aber auch gemütliche Sitzecken und eine kleine Teeküche waren vorhanden. Alles wirkte frisch, hell, jung – für den Besucher allerdings ein wenig unstrukturiert.

Noch während Alexander sich nach der Rezeption umschaute, kam eine lächelnde junge Frau auf ihn zu, die ihn herzlich begrüßte und sich ihm als Melania vorstellte.

„Schön, dass du da bist“, sagte Melania höflich, die bereits auf den Bewerber gewartet hatte, und führte ihn zum Vorzimmer der Vorstandsfrau von NEOWORLDS, die, wie er gelesen hatte, alle nur die Präsidentin nannten. Als er Melania im Aufzug danach fragte, bestätigte sie dies lachend.

„Ist nur Spaß“, sagte sie, „wir scherzen und spotten hier halt auch gern mal. Aber die Arbeit ist cool und alle sind total entspannt.“ Sie zeigte ihm, wo er sich setzen konnte, und ließ ihn dann allein. Alexander zupfte heimlich sein Atemspray aus der Tasche und besserte den unvermeidlichen Geruch, der mit jedem Atemzug verbunden war, durch einen kräftigen Stoß Menthol auf. Er hatte nicht erwartet, dass er so aufgeregt sein würde.

Er war 38 Jahre alt, hatte den Ruf, ein selbstverliebter arroganter Streber oder doch zumindest ein unsympathischer Einzelgänger zu sein, was er für gewöhnlich mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nahm. Dennoch saß er jetzt wie ein Schuljunge, der wegen eines dummen Streichs zum Direktor zitiert worden war, in diesem kühlen Vorzimmer und fürchtete, nicht gut genug zu sein.

Die Gestaltung des Vorzimmers gefiel ihm nicht, Mintgrün und Weiß als Farben der Corporate Identity schienen ihm eher zu Hygieneartikeln mit Öko-Label zu passen als zu einem der bedeutendsten Hersteller digitaler Technologien und VR-Brillen, aber sicher hatte man sich etwas dabei gedacht.

Die weichen Ledersessel waren bequem, immerhin, er hatte Mühe, nicht darin zu versinken und wie ein Häuflein Unglück zu wirken. Statt Bildern hingen gerahmte Motivationssprüche an den Wänden, aus dem Zusammenhang gerissene Weisheiten wie die von Seneca:

„Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen!“

Die Tür ging auf und Alexander zuckte zusammen. Die administrative Assistentin namens Jessika, wie er an ihrem Namensschild ablesen konnte, begrüßte ihn so herzlich wie lässig und fragte ihn, ob er etwas zu trinken wünsche. Augenblicklich begann sein Hirn zu ticken. War die Frage schon Teil des Tests? Würde es den ersten Punkt oder den ersten Punktabzug dafür geben, ob und was er erbat? Ach, was hatte er in anderen Vorstellungsgesprächen schon alles an unsinnigen Prüfungen hinter sich bringen müssen!

Statt nach einem Glas Wasser fragte er daher nach einem Ginger Ale – es schien ihm am besten, die Ansprüche nicht zu niedrig anzusetzen. Einen Moment später goss ihm Jessika mit der Perfektion einer gelernten Servicekraft etwas Flüssigkeit aus einer milchig-transparenten Glasflasche in ein bauchiges Glas und wollte ihn dann mit einem reizenden wie unpersönlichen Lächeln seinem Schicksal überlassen.

„Die Präsidentin wird gleich bei dir sein“, ließ sie ihn noch wissen. Alexander zuckte zusammen, weil auch sie ihn wie Melania ganz selbstverständlich duzte. Sie lächelte erneut gekonnt.

„Wir alle duzen uns hier“, sagte sie. „Also, außer die Präsidentin natürlich. Du wirst dich rasch daran gewöhnen.“ Alexander hatte nichts dagegen, wenngleich er einen solchen Tonfall von Dionysos Optik nicht gewohnt war. Aber genau deshalb hatte er sich ja bei NEOWORLDS beworben. Und schon jetzt mochte er Jessikas professionelle, unpersönliche Freundlichkeit.

Er schätzte Profis, auch dann, wenn sie sich unangemessen und launisch verhielten. Aber am besten war es natürlich, auf einer gleichmäßig freundlichen Ebene kommunizieren zu können.

Jessika sortierte auf dem Schreibtisch einige Dokumente, unter denen auch seine Bewerbungsunterlagen waren. Sie wusste, dass sie es heute wieder nicht schaffen würde, Janine pünktlich von der Krippe abzuholen, doch zum Glück konnte ihre Mutter wochentags einspringen. Sie warf einen Blick auf Alexander, dessen Bewerbung sie auf die Liste derer gesetzt hatte, die in die engere Wahl kamen.

Sie hatte ihn sich anders vorgestellt, irgendwie selbstbewusster. Aber sie wusste aus eigener Erfahrung, dass es anfangs einschüchternd sein konnte, wenn man in die heiligen Hallen von NEOWORLDS geladen wurde.

Jessika verließ das Zimmer, um ihre Mutter per SMS zu informieren, dass es wieder einmal länger dauern würde, und kurz darauf trat endlich die Präsidentin ein. Erneut war Alexander überrascht und bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Die Präsidentin entsprach so gar nicht dem Typ Frau, den er erwartet hatte.

Doch wen hatte er erwartet? Eine dezent geschminkte Mittvierzigerin vielleicht. Bluse, Businessrock, diskreter Schmuck, eine Perlenkette und eine goldene Uhr. Perfekt blondiertes Haar, eine gerade Haltung und ein distanziertes Auftreten. Jemanden wie Fräulein Meyer, bemerkte er und musste über sich und seine kleine Vorstellungswelt lachen.

Die Frau, die nun das Zimmer betrat, erinnerte ihn dagegen an seine Mutter. Sie war klein und unauffällig gekleidet, trug Blazer und Jeans, und statt einer Kette hatte sie ein seidenes Tuch in den Unternehmensfarben um den Hals gelegt, das nachlässig geknotet war.

Er schätzte sie auf Mitte Fünfzig, das brünette Haar zeigte eine erste Neigung zum Grauton und anscheinend tat sie nichts, um dies zu kaschieren. Statt der erwarteten Rolex schmückte eine Smartwatch ihr Handgelenk – mit einem dieser billigen Kunststoffarmbänder.

Rasch zog er seinen Ärmel über das goldene Armband seiner eigenen Smartwatch, die er sich extra für dieses Gespräch angeschafft hatte. Welche Chefin würde es ertragen, wenn ihre Angestellten sich teurere Accessoires leisteten als sie selbst? Er verfluchte sich dafür, dass er sich nicht besser vorbereitet hatte.

Die Präsidentin registrierte seine Verunsicherung und reichte ihm mit einem herzlichen Lächeln die Hand. „Dr. Margarethe York“, stellte sie sich vor, „guten Tag, Alexander.“

Er war, wie es sich in seinen Kreisen noch stets gehörte, aufgestanden, als sie ihm die Hand gab. Sie strahlte ihn an, ihr Händedruck war fest, warm, einen Tick zu lang.

„Gehen wir nach nebenan“, sagte sie und lenkte ihn durch die Tür in den angrenzenden Besprechungsraum, in dem sie an einem weißen Konferenztisch Platz nahmen, auf dem mit Nüssen und Obst gefüllte Porzellanschälchen standen, auf die ihre langen, schmalen und gut gepflegten Hände nun deuteten. „Mögen Sie?“

Obwohl sein Magen knurrte, lehnte er ab. Er wollte nicht das Risiko eingehen, dass sich während des Vorstellungsgesprächs ein Essensrest in seine von Natur aus zu breiten Zahnzwischenstände schob. Oder dass er einen Hustenanfall bekäme, weil ihm eine Nuss im Hals stecken blieb.

„Gut“, fuhr sie dann fort, „ich sehe schon, Alexander, Sie sind ungeduldig. Sie wollen lieber rasch auf den Punkt kommen, statt lange Vorgespräche zu führen. Das gefällt mir. Ich mag Menschen, die sich wirklich für ihre Arbeit interessieren. Und nach all dem, was ich über Sie gehört habe, sind Sie vor allem an Ihrer Arbeit interessiert und weniger an sozialen Kontakten und Betriebsfeiern.“

Da war sie, die erste Patt-Situation. Alexander wusste, sie war schlau, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sofort ins Schwarze zielen würde. Was konnte er entgegnen?

Würde er bestätigen, hieße das, dass er ein armseliger Workaholic ohne soziale Beziehungen war, was zwar ziemlich genau den Punkt traf, aber sicher keinen guten Eindruck erzeugte. Würde er widersprechen, bedeutete das, dass er ihre Aussagen oder die, die irgendein ehemaliger Vorgesetzter über ihn getroffen hatte, Lügen strafte.

Die Präsidentin registrierte sein Zögern und ihre Augen, die ihn eben noch prüfend fixiert hatten, nahmen nun wieder einen warmen und herzlichen Ausdruck an. Jedes Vorstellungsgespräch verlief anders, aber es galt den Moment zu genießen, in dem der Bewerber bereit war, alles zu tun, um ihre Gunst zu erwirken.

Fast wie bei einem Blind Date, dachte sie, bei dem einer der Beteiligten souverän das Gespräch anführt. Schon bald aber würde sich diese besondere Aufmerksamkeit, die er ihr heute entgegenbrachte, verflüchtigen, sie würden einander auf eine sachliche Weise vertraut werden. Warum also nicht den Moment auskosten?

„Keine Sorge, Alexander“, sagte sie. „Ich weiß, was es bedeutet, sich etwas aufzubauen. Wer pünktlich um 16:00 Uhr sein Feierabendbierchen öffnen oder mit den Kindern auf den Spielplatz will, wird vielleicht glücklicher im Leben als Sie oder ich. Aber er wird niemals wissen, wie es ist, etwas zu bewegen in der Welt, nicht wahr?

Zudem“, sie blätterte in den Unterlagen, „Sie haben hervorragende Referenzen, auch wenn es bei Dionysos Optik wohl weniger gut lief. Aber ich kenne Schumacher – ich kann mir vorstellen, dass es schwer für Sie gewesen sein muss, es dort so lange auszuhalten. Das bleibt aber bitte unter uns,“ fügte sie komplizenhaft lächelnd hinzu.

„Danke, Frau Dr. York“, sagte Alexander artig.

„Um Himmels willen, lassen Sie bloß den albernen Titel weg“, entgegnete sie. „Im Grunde sind es nur Formalitäten, die wir klären müssen, und ich bin bereit, Ihnen den Vorrang vor 300 weiteren Kandidaten zu geben, die irgendwo da draußen auf ihre Chance warten, bei NEOWORLDS einsteigen zu können. Was halten Sie davon?“

„Was ich davon halte? Sie scherzen, oder?“

„Nein, Alexander. Es versteht sich von selbst, dass wir Ihre Bewerbung und Ihren Lebenslauf gründlich gecheckt haben. Sie sind der richtige Kandidat, um die neue Neogaze 3000 weiterzuentwickeln. Sie werden NEOWOLRDS voranbringen. Und wir bringen Sie voran – Deal?“

„Deal“, antwortete er, so leichthin er konnte, obwohl ihn ein leichtes Unwohlsein befiel, denn ihre Art erschien ihm ein wenig zu jovial für ein Vorstellungsgespräch. Auch gefiel es ihm nicht, dass sie ihn wie selbstverständlich beim Vornamen nannte. Aber verdammt, schalt er sich, gerade nach einer solchen Leichtigkeit im Umgang hatte er sich im dumpfen Büroalltag von Dionysos Optik doch gesehnt.

„Haben Sie mein Motivationsschreiben gelesen?“, fragte er, um selbst endlich einmal die Initiative zu ergreifen.

„Natürlich, Alexander. Deshalb sind Sie doch hier. Es ist nur so, dass ich die Entscheidung nicht allein treffe. Wir arbeiten bei NEOWORLDS ausschließlich in Teams und denken nicht in Hierarchien. Daher führen wir jetzt einfach noch ein klitzekleines Gespräch, sodass Sie auch gleich Gelegenheit haben, Ihre Projektpartner kennenzulernen. Einen Moment, bitte.“

Sie führte ihren Arm in Richtung Mund und sprach in das Mikrofon, das an ihrer Smartwatch angebracht war. „Jessika, würdest du bitte Jan und Marvin hereinschicken?“

Jessika bejahte und drückte auf den Summer, der die elektronisch verriegelte Tür öffnete. Jan de Vormeer und Marvin Pollacks betraten den Raum, zwei hoch aufgeschossene Mittdreißiger in dezenter, aber offensichtlich teurer Businesskleidung.

Alexander kannte sie nicht persönlich, erkannte sie jedoch sofort, denn sie waren geschätzte Interviewpartner bedeutender Managermagazine und auf fast jedem Barcamp zu den Themen Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Virtual Reality als Speaker geladen.

Margarethe York stellte ihm Jan als Senior Manager Development und Head of Digital sowie Marvin als CIO IT Vision vor.

Beide begrüßten ihn freundlich per Handschlag und nahmen dann zu seinem Erstaunen nicht ihm gegenüber Platz, sondern setzen sich links und rechts von ihm an den Konferenztisch. Er fühlte sich eingeengt und schob nervös seine Brille zurück, die fast schon bis zur Nasenspitze gerutscht war.

„Ein Augenproblem?“, fragte die Präsidentin. „Das haben Sie gar nicht erwähnt.“ Sie blickte ihn an, als hätte sie ihn bei einer groben Nachlässigkeit erwischt.

„Nein“, entgegnete er rasch, „kein Problem. Nur ein modisches Utensil. Ich habe Brillen schon immer geliebt, aber meine Augen haben mir nie Anlass gegeben, eine tragen zu müssen.“

„Ja“, sagte die Präsidentin, die selbst wohl farbige Kontaktlinsen trug, denn ein solch strahlendes Grün, wie ihre Augen es zeigten, hatte er im Leben noch nicht gesehen, „und ein guter Schutz dazu, nicht wahr? So kommt nichts ins Auge hinein, was es gefährden könnte.“

Jan unterbrach, freundlich, aber mit einem gewissen Drängen in der Stimme. Er wusste, wenn er Margarethe die Zeit dazu ließe, würde sich dieses Gespräch ewig hinziehen.

„Sollen wir beginnen? Ich will nicht drängeln, aber wir haben heute Abend noch das Meeting mit den neuen Auftraggebern von ePlanet green.“

„Gut“, sagte die Präsidentin, „dann legt mal los“. Sie lehnte sich zurück und sah ihre kleine Crew erwartungsvoll an. Jan erklärte Alexander kurz, für welche Abteilungen und Aufgaben er und Marvin bei NEOWORLDS zuständig waren und griff dann nach seinen Bewerbungsunterlagen. Dabei war Alexander ziemlich sicher, dass alle Anwesenden sie längst gründlich studiert hatten.

Jan stellte ein paar Fragen zu seinen bisherigen Tätigkeiten, um dann auf das Problem einzugehen, das er für NEOWORLDS lösen sollte.

„Was wir machen, brauche ich dir wohl nicht lang und breit zu erklären“, begann er.

„Sicher ist dir bekannt, dass wir von NEOWORLDS weltweit die besten Verkaufszahlen, speziell von VR- und Gamer-Brillen haben. Da brauchen wir uns nicht zu verstecken. Aber der Markt stagniert, ist insgesamt noch zu klein. Dafür gibt es drei Gründe.

Zum Ersten sind unsere Produkte noch zu teuer. In China beispielsweise sind die Leute verrückt nach unseren VR-Brillen, aber wir bedienen bisher nur die Upper Class, weil sich der Durchschnittsverdiener keine Neogaze VR leisten kann.

Zum Zweiten müssen wir mehr Kaufanreize schaffen, also unsere Brillen deutlich optimieren. Die Leute müssen vergessen, dass sie überhaupt eine VR-Brille aufhaben, wenn sie in die Welten eintauchen, die wir ihnen präsentieren. Ganz egal, ob sie ein Spiel spielen oder ob sie eine Dokumentation anschauen.

Womit wir bei Punkt drei wären: mangelnde Akzeptanz. Das betrifft insbesondere den deutschen und europäischen Markt. Wir haben speziell bei gut gebildeten Menschen noch zu sehr ein Schmuddel-Image, sodass viele Eltern und Pädagogen es ablehnen, unsere Produkte zu kaufen.

An diese drei Probleme müssen wir also ran, und zwar so rasch wie möglich, daher haben wir ein Dreistufenkonzept erarbeitet, das wir kurz OMI nennen: Optimierung, Marketing, Imageverbesserung.“

Marvin unterbrach ihn, indem er kurz die Hand hob. Alexander spürte seinen Blick wie einen Messerstich, als er ihn fragte: „Dir ist schon klar, dass alles, was wir hier heute besprechen, strengster Geheimhaltung unterliegt, oder?“

Jan lächelte. Fast hätte Alexander losgelacht, denn ihr Spiel, das ihn an good cop, bad cop erinnerte, war leicht zu durchschauen.

„Selbstverständlich“, antwortete er, „ich kann auch gern ein entsprechendes Papier unterzeichnen.“

„Alles gut“, nahm Jan das Gespräch wieder auf.

„Also, wo waren wir, ach ja, das Dreistufenkonzept. Also, wir rollen OMI von hinten auf. Im ersten Schritt wird es darum gehen, mehr Akzeptanz für unsere Produkte zu gewinnen, indem wir unser Image beziehungsweise das unserer Produkte verbessern.

Wir wollen vor allem an junge Leute ran und das heißt, wir gehen dorthin, wo sie sich den ganzen Tag aufhalten, in die Schulen. Das kann allerdings nur gelingen, wenn wir ein Produkt anzubieten haben, das Eltern und Pädagogen gleichermaßen mögen.

Dieses Produkt soll die Neogaze Empathy 3000 sein, eine VR-Brille, die es ermöglicht, die Welt aus Sicht eines anderen zu erleben. Du kennst das Prinzip: Du versetzt dich in einen Avatar und lernst die Welt durch dessen Augen kennen.

Du kannst heute ein Nigerianer in Deutschland, Mexikanerin in Kalifornien oder eine unverschleierte Frau in Dubai sein, die zum ersten Mal ein Auto steuert. Du kannst dich aber auch in ein Lämmchen kurz vor der Schlachtung hineinversetzen oder in eine Pflanze, die mit giftigen Pestiziden bespritzt wird.

Der Punkt ist, dass wir ein Schlachtschiff an Empathie und Political Correctness erschaffen müssen, von dem alle, die in der Bildungsgesellschaft etwas zu sagen haben, begeistert sein werden.“

Jan musste an Alexanders Mimik erkannt haben, dass ihn etwas an seinen Ausführungen irritierte und sah ihn fragend an.

„Es ist nur der Begriff Empathie“, stotterte Alexander, wohl wissend, dass ihn jede falsche Bemerkung die Aussicht auf den Job kosten könnte, aber Zurückhaltung lag ihm nun mal nicht besonders.

„Immer, wenn ich Empathie höre, muss ich an Eichmann denken. An so eine Art billiges Mitgefühl, das in vorauseilenden Gehorsam übergeht. Versteht ihr?“

Marvin lachte laut los, Jan und die Präsidentin tauschten einen Blick, den er nicht deuten konnte. Hatte er einen Bock geschossen?

„Klar, da ist was dran“, sagte Jan. „Kennst du Tobias Mindernickel von Thomas Mann?“ Alexander verneinte.

„Musst du unbedingt mal lesen, wenn du dich für die negative Seite des Mitleids interessierst. Aber jetzt mal eben zurück zur Sache. Also, letztlich geht es uns eben nicht nur darum, das Image unserer Produkte aufzupolieren. Wir wollen weg vom reinen Entertainment und hin zu einem Produkt, das kommuniziert, dass wir als Unternehmen Verantwortung für die Gesellschaft und die Erziehung der Jugend übernehmen.

Unser Ansatz ist, dass wir mit der VR-Brille Neogaze Empathy Brücken zwischen verschiedenen Gruppierungen bauen, die einander bisher verständnislos gegenüberstehen. Wir fördern Empathie und damit den Zusammenhalt in der Gesellschaft – oder nenne es meinetwegen Mitgefühl und Toleranz.

Das Problem ist nur, und damit bin ich beim Punkt Optimierung, dass wir hierfür auch die technische Umsetzung revolutionieren müssen. Alles muss noch viel realistischer werden. Solange die Probanden bemerken, dass sie eine Brille tragen, dass alles nur Realität auf Zeit ist, lässt sich die gewünschte Wirkung nicht erzielen. Man könnte sie dann ebenso gut ein Buch lesen lassen oder ihnen einen Film zeigen.

Nein, die Leute müssen das Gefühl haben, dass sie wirklich hautnah neue Erfahrungen machen, und sie müssen bereit sein, sich davon ergreifen und verändern zu lassen.

Beides zusammen soll dann die Verkaufszahlen erhöhen, sodass wir auch die Produktionskosten verringern und den wirtschaftlichen Vorteil wieder an unsere Kunden weitergeben können. Das gilt dann natürlich für die Neogaze Gaming und für die Neogaze Empathy.“

„Verstehe", sagte Alexander, "aber lass mich noch mal eben kurz zusammenfassen. Ihr wollt eine VR-Brille samt Zubehör entwickeln, die es ermöglicht, in fremde Identitäten zu schlüpfen. Sodass beispielsweise Straftäter fühlen, wie es ihren Opfern ergeht, und darüber Mitleid empfinden lernen.

Das Gerät muss so beschaffen sein, dass der Nutzer vergisst, dass er es überhaupt trägt. Auf diese Weise käme NEOWORLDS weg von dem Image, nur unnütze Luxusprodukte für Gamer zu entwickeln. Mit der Akzeptanz steigen die Verkaufszahlen, mit steigendem Absatz sinken die Produktionskosten.“

„Ja, Alexander, und dafür brauchen wir Sie“, mischte die Präsidentin sich ein. „Denn wir wollen nicht einfach nur eine optimierte Version der Neogaze 2900 schaffen. Wir brauchen eine kleine technische Revolution, die dazu führt, dass wir ein Modell auf den Markt bringen können, das so fein, leicht und perfekt ist, dass man es beim Tragen gar nicht mehr bemerkt.

Wie wir hörten, haben Sie bei Dionysos Optik bereits hervorragende Projekte auf dem Gebiet der digitalen Kriegsführung durchgeführt. Wäre es nicht wunderbar, dieses Wissen jetzt für etwas Positives einsetzen zu können? Für Instrumente, die Menschen verbinden, statt sie aufeinander zu hetzen?“

„Verstehe“, sagte Alexander erneut und versuchte hinter einem sachlichen Auftreten zu verbergen, dass er gerade von einer überschäumenden freudigen Erregung erfasst wurde. „Natürlich darf ich über meine Arbeit bei DO ebenfalls nicht sprechen.“

„Kein Problem“, sagte Marvin. „Hauptsache, die Erfahrungen sind da. Und dass du an der Entwicklung einer neuen Mind-Control-Drohne erheblichen Anteil hattest, ist in der Fachwelt ja kein Geheimnis. Auch wenn Dr. Schumacher so tut, als sei die Drohne, die über die elektrische Aktivität des Gehirns und Augenbewegungen gesteuert wird, auf seinem Mist gewachsen.“

Ja, dachte Alexander, der sich über Marvins Detailkenntnisse wunderte, denn er hatte bei Dionysos Optik unterschreiben müssen, dass er darauf verzichtete, als Entwickler öffentlich genannt zu werden.

„Sehen Sie, Alexander, und genau deshalb sind Sie heute hier. Weil Sie Fantastisches geleistet haben, ohne bisher die gewünschte Anerkennung dafür bekommen zu haben, stimmt’s?“

Sie beugte sich leicht vor und sah ihm in die Augen, als wollte sie etwas darin erforschen. Er war froh, die Brille aufgesetzt zu haben.

„Wie ich schon sagte, Alexander, ist NEO- WORLDS kein inhabergeführtes Unternehmen, in dem der Chef entscheidet, was produziert wird und was nicht. Im Gegenteil, wir legen sehr viel Wert darauf, dass unsere Mitarbeiter alle Freiheiten haben, auch eigene Visionen zu entwickeln. Deshab meine Frage an Sie: Wenn wir Ihnen völlig freie Hand ließen, in welche Richtung würden Sie die Neogaze Empathy weiterentwickeln?"

Alexander nahm Haltung an. Endlich hatte er das Gefühl, auch einmal punkten zu können. All dieses sinnlose Geplänkel, das andere Vorstellungsgespräche bestimmt hatte, all diese dummen Fangfragen und Tests hatten ihn immer davon abgehalten, sich ins Zeug zu legen, seine Ideen motiviert zu präsentieren.

Hier war es anders, das spürte man sofort. Hier saß die Crème de la Crème der deutschen Business-Intelligenz vor ihm. Hier hatte er eine reelle Chance, sich beruflich entwickeln zu können.

Und so begann er zu sprechen, zögerlich zunächst, von seiner Idee, das Auge selbst zu nutzen, um virtuelle Welten erfahrbar zu machen und diese nach und nach in eine Augmented Reality übergehen zu lassen, die der Nutzer selbst steuern konnte.

„Ja,“ sagte er, „wo fange ich an. Beginnen wir mit den Empathie-Studien, die es schon gibt. An der Columbia University beispielsweise wurden dazu bereits diverse Versuche durchgeführt, aber alle mit demselben vernichtenden Ergebnis. Lässt man einen Menschen, der bereits über eine hohe Empathie-Fähigkeit verfügt, an dem Erleben eines anderen, der Gewalt, Leid oder Hass erfährt, teilhaben, so verstärkt das sein Mitgefühl. Versucht man dagegen, einen Gewalttäter oder Extremisten auf diese Weise zu therapieren, bleibt das gewünschte Ergebnis aus.

Kein einziger Gewalttäter oder Extremist wurde bisher dadurch geläutert, dass man ihn über einen Avatar nachempfinden ließ, wie sich seine Opfer fühlen. Ich habe mir die Ergebnisse sehr genau angesehen. Und ich denke auch, das Problem ist, wie Jan ja bereits anmerkte, dass die Probanden trotz des Eintauchens in die virtuelle Realität noch zu distanziert sind.

Sie werden von dem, was sie sehen, nicht wirklich berührt, es verändert sie nicht, es verstärkt nur, was schon vorhanden ist. Wer bereits über ein gewisses Mitgefühl verfügt, wird von dem, was er über so ein Empathie-Programm erlebt, berührt. Ist dies nicht der Fall, nutzt auch das Eintauchen in virtuelle Welten nichts.“

„Okay,“ sagte Marvin ungeduldig, „aber ich sehe derzeit keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern.“

„Ich denke, das Grundproblem ist“, fuhr Alexander unbeirrt fort, „dass die Probanden wissen, dass sie an einem Versuch teilnehmen. Und in der Regel dürfte die Initiative nicht von ihnen selbst ausgegangen sein. Das ist, als wolltest du jemanden hypnotisieren, der sich dem innerlich widersetzt. Es kann funktionieren, dürfte in den meisten Fällen aber nicht zielführend sein. Unsere erste Herausforderung besteht also darin, die Bereitschaft der Probanden zu stärken, sich auf das Experiment einzulassen. Sie müssen das Gefühl haben, dass die Aktivität von ihnen selbst ausgeht.“

Jan richtete sich auf, begeistert davon, wie rasch Alexander die wesentlichen Fragen begriff, die sich auch ihnen schon lange stellten. „Genau in diese Richtung haben wir auch schon gedacht“, sagte er anerkennend.

„Die Technologie an sich ist nicht das Problem, die ist weit genug fortgeschritten. Wir können sogar Blinden das Sehen wieder ermöglichen, indem wir per Laserstrahler die Vorgänge auf der Hornhaut simulieren. Blind sein bedeutet ja in den wenigsten Fällen, nichts zu sehen. Es bedeutet, aus dem, was man wahrnimmt, kein klares Bild formen zu können. Umgekehrt glauben wir oft genug, Dinge zu sehen, die so nicht existieren."

„Ist jetzt aber auch nichts wirklich Neues“, knurrte Marvin. „Haben die in Essen da nicht schon Studien zu laufen? Aber worin besteht der Zusammenhang zur Empathie?“, fragte er skeptisch nach.

„Das war ja erst einmal unser Ausgangspunkt. Was ich auf einem Bildschirm sehe, kann ich nicht fühlen oder begreifen. Es verstärkt, wie du sagtest, normalerweise nur irgendetwas, was ohnehin schon in mir ist.

Wie könnten wir also über eine VR-Brille die menschliche Wahrnehmung steuern und beispielsweise einen Gewalttäter zu einem besseren, im Sinne von mitfühlendem Wesen machen? Wie lehren wir Leute das Gute und Richtige sehen, die nur im übertragenen Sinne blind sind?“

„Gute Frage“, entgegnete Alexander, „es handelt sich um ein komplexes Zusammenspiel. Aber alles, was wir benötigen, ist längst vorhanden.Wir können den Sehvorgang simulieren, virtuelle Räume und Bilderwelten schaffen, Gedanken steuern. Es ist sogar möglich, durch elektronische Impulse Emotionen auszulösen. Wir müssen das alles eigentlich nur in einer Technologie zusammenbringen.

Das Entscheidende aber wird sein, dass der Proband wirklich das Gefühl hat, dass er selbst das Geschehen steuert. Die Aktivität muss von ihm selbst ausgehen. Und da wir ihn kaum dazu zwingen können, müssen wir ihm einerseits besondere Anreize setzen. So dass er einen Nutzen darin erkennt, Empathie zu entwickeln. Und wir müssen seine Eigenaktivität stärken. Das meine ich, wenn ich sage, wir setzen am Auge selbst an.

„Aber welche Anreize können wir schaffen? Die in Columbia haben ja auch schon einiges versucht. Wie bekommt man einen Nazi dazu, dass er von sich aus zustimmt, sich, wie soll ich sagen, läutern zu lassen? Wie bringt man einen Schwerkriminellen dazu, mit seinen Opfern zu fühlen?“

Alexander sah ihn an, sein Blick hatte sich verdüstert. „Tja“, sagte er, „durch Waffengewalt und Strafen jedenfalls nicht. Und auch Therapien helfen selten.“ Alexander nahm seinen ganzen Mut zusammen.

„Haltet mich bitte nicht für verrückt oder für einen spinnerten Romantiker“, sagte er, „aber es gibt nur einen Zugang zum seelischen Erleben des Menschen. Und der führt über das Auge, denn das Auge“, fuhr er mit leiser Stimme fort, „ist das Fenster der Seele.“

Entgeistert starrten die anderen ihn an, aber Alexander bemerkte es kaum noch, sprach und schaute, als würde er dem Gedankengang eines imaginären Gegenübers folgen.

„Natürlich“, sagte er dann, als würde er diesem zustimmen, „wir müssen nicht verändern, was sie sehen. Wir müssen beeinflussen, wie sie es tun.“

„Würden Sie uns an Ihren Gedanken teilhaben lassen, Alexander?“, fragte Margarethe York leise, als wollte sie ihn nicht stören.

Alexanders Blick tauchte wieder in ihre Gegenwart ein und richtete sich auf die Anwesenden. „Habt ihr, haben Sie schon einmal etwas von Charles Russ gehört?“, fragte er. Sie verneinten.

„Sie können ruhig ‚ihr‘ sagen, wenn Sie uns gemeinsam ansprechen“, sagte Margarethe York.

„Okay, dann lasst es mich kurz erklären. Russ hat in den 1920er Jahren eine Apparatur entwickelt, mit der sich nachweisen ließ, dass das menschliche Auge in der Lage ist, Energie auf eine Drahtspule zu übertragen und diese in Bewegung zu versetzen oder zu stoppen. Ohne irgendeinen operativen Eingriff.

Basierend auf seinen Forschungen wurde eine Reihe dummer und unhaltbarer Thesen aufgestellt, die vor allem Esoteriker beschäftigten. Deshalb hat man die Experimente irgendwann wieder auf Eis gelegt.

Heute jedoch wissen wir: Ja, es gibt sie, diese Energie. Hinlänglich bekannt ist, dass zwischen vorderem und hinterem Augenbereich ein Spannungsunterschied besteht, den man sich in der Medizin bereits zunutze macht. Und auch für die Entwicklung der mindgesteuerten Drohne war dieses Wissen entscheidend. Warum sollten nicht auch wir Verfahren und Instrumente entwickeln, um damit arbeiten zu können?

Was mir vorschwebt, würde ich so beschreiben: Wir müssen es hinbekommen, dass die Aktivität des Probanden von seinem Auge selbst ausgeht. Erst dadurch verbindet sich der Betrachter ganz konkret mit dem Gesehenen.

Und erst auf diese Weise kann es sein Fenster zur Seele passieren. Er schaut nicht mehr passiv zu, sondern bringt sich aktiv ein und hat das Gefühl, das Geschehen zu steuern. Diese Erfahrung wird umso realer für ihn, je weniger er spürt, dass er überhaupt eine Technologie verwendet.

Während des Vorgangs wird sein Blick dann sozusagen von dem, was er sieht, geentert. Er kann sich dem Geschehen, das er selbst angestoßen hat, nicht entziehen.

Kurz und gut, wir müssen den Blick selbst digitalisieren, nicht die Bilder, die das Auge zu sehen bekommt. Über ein Brain-Machine-Interface behalten wir zudem die Kontrolle darüber, was er fühlt, denkt, in welcher mentalen oder psychischen Verfassung er sich befindet und können dies von außen bei Bedarf steuern.

Die Voraussetzung allerdings wäre, dass es uns gelingt, seine Augen zu elektrifizieren, sodass er“, er malte Anführungsstriche in die Luft, „die 'Spule' bewegen kann, ohne dass eine weitere Technologie zum Einsatz kommen muss. Denkbar wäre natürlich auch, dass man mit Kontaktlinsen arbeitet, aber das sind schon Detailfragen, da müsste man die Techniker hinzuziehen", kam er zum Schluss.

„Fantastisch“, sagte Jan anerkennend, dann schwiegen die vier Menschen, die über den Austausch ihrer Gedanken und eine innere Erregtheit im Laufe des Gesprächs fast schon miteinander eins geworden waren, schwiegen erschöpft, aber glücklich wie nach einem ausgeprägten Liebesspiel.

Alexander goss sich selbst von dem Ginger Ale nach und genoss den Moment, da sich seine trockene Kehle mit dem köstlichen Nass benetzte. Endlich traute er sich auch, nach einer Mandarine zu greifen und sie in Ermangelung eines Obstmessers einfach mit der Hand zu schälen.

Er fühlte sich, als wäre er nach langer Zeit in das Haus eines sehnsüchtig vermissten Freundes zurückgekehrt. Dabei saß er völlig fremden Menschen gegenüber, denen er normalerweise keinen Zentimeter über den Weg trauen würde, seit er wusste, wozu Menschen fähig sind. Fremde Menschen genauso wie Nachbarn, Bekannte, Freunde oder zufällige Sitznachbarn in der Straßenbahn.

Er nahm seine Brille ab, die er tatsächlich nicht aus modischen Gründen trug, sondern weil das dünne Fensterglas wie ein Schutzschild wirkte und seinen Blick davon abhielt, Kontakt mit etwas oder jemandem aufnehmen zu müssen. Die Präsidentin, die damit beschäftigt gewesen war, etwas in ihr Tablet zu notieren, sah ihn in genau diesem Moment an.

„Vielen Dank für diese spannenden und lehrreichen Ausführungen, Alexander“, sagte sie. „Eine Frage hätte ich allerdings noch, nein, eigentlich sind es zwei. Zunächst frage ich mich, was Ihr persönliches Motiv ist, an einer solchen Digitalisierung des Blickes, wie Sie es nennen, arbeiten zu wollen. Die zweite Frage geht auch in eure Richtung“, sagte sie zu Jan und Marvin.

„Was ist die Geschäftsidee dahinter? Was bringt es NEOWORLDS an einer solchen Entwicklung zu arbeiten? Also außer einem Imagegewinn?“

Alexander spürte die warme Hand seines Großvaters auf seiner Schulter ruhen. Er kannte ihn nur von Fotografien, von jenen drei Bildern, die Großmutter in einem alten Koffer hatte mitnehmen können, als sie sie schwanger ins Ausland gebracht hatten.

Auf den Bildern sah man die Ähnlichkeit und er hatte sich oft gewünscht, er hätte mit ihm persönlich auch nur eine Stunde sprechen können. Aber er schwieg wie in seinen Träumen, war nur in seinen Gedanken spürbar anwesend.

Jan registrierte feinsinnig Alexanders Stimmungsänderung und versuchte, die Aufmerksamkeit von ihm abzulenken.

„Ich sehe da ein sehr klares Geschäftsmodell“, sagte er und wandte sich Marvin zu, „oder was meinst du?“ Marvin nickte zögerlich, aber zustimmend.

„Wir behalten die Ausrichtung aufs Entertainment natürlich ebenfalls bei“, sagte er.

„Aber ich muss Alexander recht geben. Wenn wir wirklich besser sein wollen als die anderen, müssen wir völlig neue Wege einschlagen. Ich habe zwar noch nicht ganz verstanden, wie das gehen soll. Und ich glaube, du, Alexander, bist dir selbst noch nicht ganz im Klaren darüber. Aber die Grundpfeiler sind klar, oder? Ich habe jedenfalls Folgendes notiert:

1. Die Energieerzeugung geht vom Betrachter selbst aus.

2. Der Proband muss einen Nutzen für sich selbst darin sehen, sich therapieren zu lassen.

3. Die Technologie muss so minimalisiert und die Darstellung so optimiert werden, dass man es gar nicht bemerkt, dass es sich um eine virtuelle Realität handelt.

4. Über ein Interface behalten wir die Kontrolle über die mentale Tätigkeit des Probanden.

Wir hätten einen gewaltigen Imagegewinn, wenn wir daraus Technologien ableiten, mit denen sich unerwünschtes Verhalten korrigieren lässt – auf freiwilliger Basis natürlich. Haben wir die Akzeptanz für unsere Produkte auf diese Weise gestärkt, können wir auch im Entertainmentbereich weiter durchstarten. Wir könnten verschiedene Lösungen als Therapie für Gewalttäter und Extremisten anbieten, außerdem natürlich Lernpakete für die pädagogische Arbeit an Schulen zur Gewaltprävention.

Konkret sagen lässt sich das allerdings erst, wenn wir tatsächlich Ergebnisse haben. Aber allein das Image, das sich darauf aufbauen ließe … Also ich wäre klar für einen Versuch.“

Jan lächelte und nickte zustimmend. Er hatte befürchtet, dass Marvin, der auf neue Mitarbeiter bei NEOWORLDS zumeist reagierte, als müsste er ein Revier verteidigen, sich abfällig gegenüber Alexanders Plänen äußern würde.

Aber so war Marvin eben auch – wenn er erkannte, dass ihm jemand intellektuell überlegen war, wenn es gelang, ihn für ein Projekt zu begeistern, war er ohne Einschränkung bereit, das anzuerkennen. Und genau dafür liebte er ihn – für diese leidenschaftliche Objektivität, die sich über all seine Launen und Skepsis zu erheben wusste.

„Gut“, sagte die Präsidentin. „Dann versuchen wir es. Priorität hat ab sofort die Arbeit an der Neogaze Empathy 3000. Parallel arbeiten wir natürlich weiter an der Neogaze Gaming. Was meinen Sie, Alexander, darf ich Sie in Kürze als unseren neuen Mitarbeiter begrüßen?“

Alexander schluckte einen Mandarinenkern hinunter und musste husten. Alle lachten. Er war ihnen dankbar. Er war glücklich, Menschen gefunden zu haben, die wenigstens ansatzweise verstanden, wovon er überhaupt sprach, und die eine Idee nicht schon deshalb ablehnten, weil sie noch unfertig war.

Er würde endlich an Herausforderungen arbeiten können, die das Potenzial hatten, die Welt und die in ihr lebenden Menschen wirklich zu verändern, statt Kriegsgeräte zu perfektionieren, die das Töten und Hassen nur weiter vorantrieben.

Eine Träne wollte in die Welt, es war ihm peinlich, aber die anderen taten so, als bemerkten sie es nicht. Als er das Salz auf der Zunge schmeckte, wandelte sich seine Stimmung und er begann zu strahlen. Sein Großvater zog sich zurück, aber er wusste, er wäre stolz auf ihn gewesen. Genauso stolz wie seine Eltern es gewesen wären, hätten sie sich nicht bereits vor Jahren gemeinsam das Leben genommen.

Jessika, die eine Flasche Prosecco und Gläser hereintrug, verhinderte, dass er erneut in seine trüben Erinnerungen eintauchten konnte. Sie füllte die Gläser, stellte sie vor ihnen ab und wollte den Raum wieder verlassen, aber Margarethe York hielt sie zurück: „Bleib doch, Jessika“, sagte sie „du gehörst doch schließlich auch zum Team!“

Jessika sah auf die Uhr, sie wusste, ihre Mutter hatte um 20:00 Uhr den Yoga-Kurs, aber einen kleinen Moment konnte sie wohl noch bleiben. Marvin drückte ihr ein Glas in die Hand.

„Stößchen“, sagte er dann zu ihr und nachdem sie alle miteinander angestoßen hatten, küsste er Jan auf den Mund.

Alexander war für einen Moment verwirrt und versuchte daher, das gerade Gesehene zu ignorieren. Sie interessierten ihn als Kollegen, nicht als Freunde. Sollten sie machen, was immer sie für richtig hielten.

„Stößchen“, sagte die Präsidentin, die sich neben ihn gestellt hatte, dann noch einmal zu ihm, „und willkommen im Team, Alexander. Ich darf dich dann ab sofort duzen?“

Es fühlte sich nicht wirklich gut an. Auch nicht, dass Jessika sogleich ein Foto von ihm und der Präsidentin machte und es in die Social Media hochlud. Aber was sollte er dagegen einwenden?

Objektiv

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