Читать книгу Objektiv - Sabine Walther - Страница 4
Der Bedrohung so nah
ОглавлениеJessika hatte Alexander eigentlich zu seinem Hotel am Bahnhof bringen sollen, der aber zog es vor, zu Fuß zu gehen, denn er brauchte dringend frische Luft und ein wenig Distanz zu diesen Menschen, die nun tatsächlich in Zukunft seine neuen Kollegen sein würden. So sehr er sich darüber freute, so sehr bedrückte ihn der Gedanke, dass man sich bei NEOWORLDS als eine Art Familie verstand.
Zusammen arbeiten, diskutieren, lernen und Neues schaffen – ja, das lag ihm im Blut. Aber auf keinen Fall wollte er persönliche Beziehungen mit Kollegen eingehen und Small Talks über sein Privatleben führen.
Als hätte sie nur darauf gewartet, dass er dem Zauber des Moments endlich entkam, meldete sich seine naturgegebene Skepsis zurück. Alles ging zu schnell, lief zu glatt, war zu perfekt. Warum wollten sie ausgerechnet ihn?
Es war keine falsche Bescheidenheit, die ihn misstrauisch stimmte, eher eine realistische Selbsteinschätzung. Seine Erfahrungen, die er im Bereich Bioelektronik mitbrachte und die zu ersten
Ergebnissen in der hirngesteuerten Drohnenlenkung geführt hatten, waren hier sicher ausschlaggebend. Aber letztlich war er nicht der Einzige, der sich auf diesem Gebiet umfangreiches Wissen angeeignet hatte. Und wie stets waren ihnen die Chinesen, und speziell die Entwickler von CHINA Smart, um Längen voraus.
Aber letztlich konnte es ihm auch egal sein, was der Grund dafür war, dass man ihn angestellt hatte. Ein einziges Mal meinte das Schicksal es richtig gut mit ihm. Wen interessierte es, warum?
Am neuen Wesertower, dessen Konturen von leuchtenden LED-Streifen geprägt wurden, so hatte Jessika ihm erklärt, konnte er direkt in Richtung Weser weitergehen. Er hatte sich trotz des leichten Nieselregens dafür entschieden, den etwas längeren Weg entlang der Weser zu wählen. Denn wenn ihm etwas den Umzug erleichterte, dann der Gedanke daran, in einer Großstadt und nah am Wasser leben zu können. Beides gab ihm ein Gefühl von Freiheit und die – wenngleich auch trügerische – Gewissheit, jederzeit entkommen zu können.
Alexander passierte ein Varieté-Theater, dessen Programm ihm akzeptabel erschien, und genoss kurz darauf den Anblick kleiner Yachten, die sich im Takt leicht schwappender Wellen, die ein vorbeifahrendes Binnenschiff erzeugte, wiegten.
An der Bürgermeister-Smidt-Brücke musste er sich entscheiden, ob er direkt zum Hotel gehen oder an der Schlachte, einer Flaniermeile mit zahlreichen Kneipen und Restaurants, zu Abend essen wollte. Er entschied sich fürs Hotel und ärgerte sich schon bald darüber, denn obwohl der Weg ihn nah am Zentrum vorbeiführte, gab es kaum etwas anderes zu sehen, als dunkle Parkhäuser und Verwaltungsgebäude.
Erst als er den parkartig angelegten alten Stadtwall erreichte, lockerten sich die Wolken auf. Alexander folgte dem Verlauf des kleinen krummen Gewässers, das die Anlagen durchzog, und ließ sich von der Navigations-App schließlich in Richtung Bahnhof weiterführen.
Zu blöde, dass Google Glass in Deutschland nicht verfügbar ist, dachte er, als er dort feststellen musste, dass die App ihn nicht zum Hotel, sondern nur in die Nähe der breiten Hochstraße geführt hatte, an der er vor Kurzem mit dem Taxi gestartet war.
Wenn es um Kriegsgeräte ging, konnte den Deutschen keine Entwicklung innovativ genug sein, aber wehe, man erleichterte sich den Alltag durch technische Neuerungen, dann versetzten die Datenschützer sofort die gesamte Nation in Alarmbereitschaft.
Immerhin, sein Schrittzähler blinkte freudig auf, er hatte sein Pensum für heute mehr als erfüllt. Er checkte noch einmal Google Maps; das Hotel, das Jessika für ihn gebucht hatte, lag etwas nach Westen hin ausgerichtet.
Der kleine Lebensmittelladen, dem er sich nun näherte, war bei Google Maps nicht verzeichnet. Er beschloss, dort ein paar Zeitschriften und etwas Obst zu kaufen, denn schon beim Gedanken daran, sich noch einmal durch die Bahnhofshalle quetschen zu müssen, in der es größere Geschäfte gab, wurde ihm übel.
Als er sich dem Laden näherte, leuchteten ihm in roten Buchstaben die Wörter „Nazis raus!“ entgegen, die jemand an die verdunkelte Schaufensterscheibe gesprüht hatte. Um eine Bank, die neben dem Eingang stand, scharte sich eine kleine Gruppe Jugendlicher, von denen ihn einer um einen Euro anbettelte. Alexander versuchte, ihn zu ignorieren.
„Nicht? Na gut, dann eben zwei!“, rief der Junge. Alexander wusste nicht, ob er lachen oder sich bedroht fühlen sollte. Unsinn, dachte er, damit wirst du jetzt halt leben müssen. Auch in Bielefeld gibt es solche Leute, sie sind dort nur weniger sichtbar.
Im Geschäft bediente ihn eine freundliche, leicht fahrig agierende ältere Dame. Sie trug die für ältere Frauen typische kurze Dauerwellenfrisur, ihre Haut schimmerte hell und weich. Die altmodische Kleidung war von hoher Qualität, aber sichtlich oft getragen. Ihm fiel auf, dass sie etwas durch und durch Hanseatisches, fast schon Adliges an sich hatte, gleichzeitig jedoch müde, erschöpft, überarbeitet und vor allem seltsam deplatziert wirkte.
Die Dame blickte enttäuscht, als er nach einer Zeitung fragte, die sie nicht führte, und vom Obst, an dem sich die Eintagsfliegen labten, dann doch lieber die Finger ließ. Er fragte sich, welches Schicksal sie wohl hierher geführt hatte, und kaufte aus Mitleid etwas Schokolade. Als er ihr den Fünfzig-Euro-Schein über die Ladentheke schob, sah sie zuerst ihn, dann den Schein misstrauisch an, blickte, als sie die Kasse öffnete, zur Ladentür, als wollte sie sich überzeugen, dass in diesem Moment niemand hereinkäme, und zählte ihm dann eine Menge Kleingeld als Wechselgeld in die Hand.
„Tut mir leid“, sagte sie in leicht nasalem Tonfall, „anders kann ich leider nicht herausgeben.“
„Schon gut“, erwiderte Alexander, denn erneut beschlich ihn das Gefühl einer Bedrohung, die er nicht länger von sich würde fernhalten können, wenn er den Laden nicht augenblicklich verließ.
Hastig griff er nach der Schokolade, schenkte sie draußen dem jungen Mann, der ihn nach Geld gefragt hatte, und bekam gerade noch mit, wie die Ladentür abgeschlossen und die Rollläden heruntergelassen wurden. Es war 19:20 Uhr, also eigentlich keine typische Ladenschlusszeit. Aber er befand, dass es ihn nichts anging, und machte sich auf den Weg zum Hotel, das gut 100 Meter entfernt lag.
Nachdem er eingecheckt und sein Zimmer gründlich auf Mängel geprüft hatte, versuchte er das große Fenster zu öffnen. Zu seinem Leidwesen ließ es sich nur auf Kipp bringen. Aus dem gegenüberliegenden Kino kamen vergnügte junge Leute, Pärchen und kleine Gruppen, die noch kurz vor dem Gebäude posierten, um Selfies zu machen.
Ihm fiel auf, dass er selbst niemals auf diese Weise vergnügt gewesen war, Heiterkeit lag ihm einfach nicht. Viel wichtiger war es ihm ohnehin, dass es beruflich nun noch einmal voranging. Steck dir dein Stundenkonto sonst wo hin – dachte er und verabschiedete sich in Gedanken damit auf ewig von Dr. Schumacher.
Unschlüssig, was jetzt zu tun war, erwog er, einfach wieder auszuchecken und nach Bielefeld zurückzufahren. Er würde seine neue Heimat noch früh genug kennenlernen. Aber es wäre ihm peinlich vor dem Hotelpersonal, er hatte keine Lust, Fragen zu beantworten, und er spürte auch keine Sehnsucht nach seinem Apartment, in dem er auf die gleiche, nur vertrautere Weise einsam wäre.
Auch ein Besuch bei Annett, mit der er auf eine unverfängliche Weise liiert war, würde ihn jetzt nicht wirklich aufmuntern, denn vermutlich würde sie trotz aller geleisteten Schwüre, dass sie kein Paar sein und nicht aneinander kleben wollten, ein paar Tränen vergießen oder ihm irgendwelche Versprechen abringen, die zu geben, er nicht bereit war.
Schließlich übernahm sein Magen die Führung und er bestellte sich das vegane Menü und eine Flasche Wasser aufs Zimmer, schaltete den Fernseher ein und gegen jede Gewohnheit das Smartphone aus und nahm sich vor, sich so lange berieseln zu lassen, bis es draußen dunkel würde und er guten Gewissens schlafen gehen konnte.
Doch statt ruhig einzuschlafen, hörte Alexander schon bald Drohnen heransurren und im Gleichschritt näherte sich ihm eine Cyborg-Armee. Gehetzt lief er durch die langen, dunklen Gänge des Gebäudes, verfolgt von einer unheimlichen Gestalt, die mit schwerem Schuhwerk und schnaufend hinter ihm her stapfte. Der Mann fuchtelte mit etwas, was wie eine Sense aussah, sich dann aber in einen Joystick verwandelte.
Der Ausgang war verriegelt, Alexander flüchtete zum Aufzug, dessen Türen weit geöffnet waren. Im letzten Moment entdeckte er, dass der Aufzug demontiert worden war, einen Schritt weiter und er wäre in den tiefen, leeren Schacht gestürzt. Die furchteinflößende Gestalt kam näher, da vernahm er aus dem Augenwinkel eine Hand, die sich ihm entgegenstreckte.
Jessika winkte ihn zu sich und erleichtert rannte er in ihre Richtung. Jessika führte ihn durch ein geheimes Labyrinth in eine Art Bunker, in dem sie sich vor dem Monster versteckten. Die schweren Schritte eilten direkt an ihnen vorbei, er konnte den schwitzenden Hass riechen, der von seinem Verfolger ausging. Wenig später zog Jessika oder eine andere Frau, er war sich nicht sicher, ihn weiter mit sich fort.
„Komm“, flüsterte sie, „ich zeige dir, wie es wirklich ist.“ Schweigend betraten sie eine große Halle, in der tausende LED-Kerzen brannten. An den Wänden hingen Fotografien und auf einem Display lief wie in einem Abspann eine lange Liste von Namen. Er erschrak, als sein eigener Name und die seiner Vorfahren auftauchten.
Weinberg, Alexander
Ahrends, Samuel
Ahrends, Charlotte
Zuckermann, Daniel
Jedes Mal, wenn ein neuer Name auf dem Bildschirm erschien, wurde das zugehörige Bild an der Wand kurz erleuchtet. Alexander erstarrte, die junge Frau, die er anfangs für Jessika gehalten hatte, sah ihn mitleidig an, dann verwandelte sich ihr Gesicht in eine Fratze, ein höhnisches Lachen erklang und er musste entsetzt feststellen, dass sie keine Augen mehr hatte, dass sie ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte …
Der laute Ton, mit dem Feuerwehr, Krankenwagen und Polizei sich dem Hotel näherten, holten ihn aus dem Albtraum zurück. Irgendwann zwischen der Nachricht, dass die private Drohnennutzung in Zukunft starken gesetzlichen Einschränkungen unterliegen sollte, und einer Dokumentation über die neue Cyber-Armee, die Ursula von der Leyen einberufen wollte, musste er wohl doch eingenickt sein.
Die Wagen kamen in unmittelbarer Nähe des Hotels zum Stehen, die Martinshörner verstummten, drehten sich aber weiter und der blaue Schein streifte ein ums andere Mal das Fenster seines Hotelzimmers, Wagentüren schlugen und hektische Rufe drangen an sein Ohr.
Alexander stand benommen auf und zog die schwere Gardine zurück, um nachzusehen, was draußen geschah. Seine Augen brauchten ein wenig Zeit, um die Situation zu ordnen, dann sah auch er es. Im oberen Teil des gegenüberliegenden Gebäudes hatte sich jemand auf einem Fenstersims platziert und drohte hinunterzuspringen.
Während die Feuerwehrleute hastig das Sprungtuch auseinanderfalteten, hatten die wenigen Polizisten alle Hände voll damit zu tun, eine große Traube von Gaffern zurückzudrängen.
Die völlig überforderten Beamten konnten die Menge kaum in Schach halten, die immer wieder versuchte, die aufgestellten Absperrgitter zu durchbrechen. Die meisten von ihnen hatten ihre Smartphone-Kameras auf den Lebensmüden gerichtet, einige schrien ihm eiskalt Aufforderungen zu wie: „Na los, spring doch!“
Er identifizierte ein Pärchen, die junge Frau drückte sich weinend in die Arme ihres Freundes, konnte es aber nicht lassen, immer wieder zu dem Mann am Fenster hinaufzuschauen und ein Foto zu machen, um sich dann erneut von ihrem Freund trösten und küssen zu lassen.
Endlich gelang es dann einer Person im Inneren des Hauses, den potenziellen Selbstmörder von seinem Vorhaben abzubringen, der daraufhin ängstlich und unsicher versuchte, zurück in einen der Aufenthaltsräume des Kinos zu krabbeln. Er rutschte kurz ab, was die Menge mit einem geeinten Aufschrei kommentierte, wäre fast noch gestürzt, statt zu springen, aber die andere Person konnte ihn zu sich hereinziehen.
Einige Gaffer applaudierten, andere reagierten mit enttäuschten Buhrufen. Schließlich zogen sie sich mehr oder weniger aufgeregt zurück, immerhin, sie alle hatten die Aufnahmen des Tages im Kasten und etwas wirklich Bedeutsames gefilmt, was sich über die Social Media nun wie ein Lauffeuer verbreiten würde.
Aufgewühlt zog sich Alexander vom Fenster zurück. Um sich abzulenken, trug er das schmutzige Geschirr ins Bad, spülte es unter heißem Wasser ab und rubbelte es mit einem Handtuch trocken, als würde er dafür bezahlt. Es half nichts, die Aufregung gewann, die Übelkeit übernahm. Er beugte sich über die Kloschüssel und kotzte sich die Seele aus dem Leib.
Niemals würde er begreifen, was Menschen dazu brachte, einander das Leben zur Hölle zu machen. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, der ihn hierher geführt hatte.
Vielleicht würde es ihnen tatsächlich gelingen, eine Technologie zu entwickeln, die nicht zum Gaffen und Ballern, sondern zur Anteilnahme führte. Er wollte jedenfalls alles in seiner Macht Stehende dafür tun, auch wenn das, was er bisher in dieser Stadt erlebt hatte, ihm wie eine große Mahnung erschien, sich davon fernzuhalten.
Unsinn, versuchte er sich selbst Mut zuzusprechen, lass dich bloß nicht auf diesen alten Aberglauben ein. Es gibt keine Hinweise oder Zeichen, keinen Wink des Schicksals und keinen Jahwe, der den Turmbau zu Babel straft. Nicht gänzlich überzeugt, aber ausreichend erschöpft fiel er erneut in einen traumlosen Schlaf.
Er erwachte erholt und guten Mutes, vermied es jedoch, den Aufzug zu benutzen, und nahm lieber den Weg durchs Treppenhaus, um seine Rechnung zu begleichen und sich von der freundlichen Dame an der Rezeption mit einem besonders herzlichen „Tschüs“ zu verabschieden.