Читать книгу Goldhorus - Sabine Wassermann - Страница 10
3.
ОглавлениеUnter Hajabilus wachsamen Blicken säuberte er sich im Hof von Apheks ausgedehntem Anwesen, das sich am anderen Ende der Stadt befand. Soeben schwangen die Torflügel auf, und die Sänfte des Händlers, der offenbar irgendwo in der Stadt seinen Geschäften nachgegangen war, kündigte sich mit feinem Glöckchengeklingel an. Der Sommer hatte den Lehmboden rissig werden lassen und den mageren Pflanzenbewuchs braun gefärbt. Das trübe Wasser, mit dem sich Amunhotep wusch, hatte er aus einem den Hof durchziehenden Bach schöpfen müssen. Es roch streng. Daheim in Theben hätte er es nicht angerührt, jetzt trank er es sogar. Als er fertig war, fühlte er sich keineswegs sauber. Ein von der Last der Jahre gebeugter Diener brachte ihm einen groben Leinenschurz und einen scharfen Obsidiansplitter, mit dem er sich rasieren konnte. In seinem ganzen bisherigen Leben hatte er sich nicht ein einziges Mal eigenhändig rasiert, und so plagte er sich lange damit ab.
»In deinem wohlriechenden Palast in Ägypten hast du sicher zehn Diener, die eigens dafür da sind, dich zu waschen und anzukleiden«, sagte Hajabilu spöttisch.
»Nein, bloß zwei«, entgegnete Amunhotep. »Du neigst zu Übertreibungen. Ich bin schließlich nicht der Gott.«
»Na, dann wirst du mit deiner Unterkunft sicher zufrieden sein.« Hajabilu wies auf den Diener, der die Waschschüssel, das jetzt triefnasse Handtuch und den Rasiersplitter an sich nahm. »Er wird dir zeigen, wo du zukünftig schlafen und essen wirst. Aber erst«, er streckte die Hand vor, auf die der alte Diener einen schmalen, kupfernen Armreif legte, »wirst du Apheks Zeichen anlegen.«
Auffordernd drehte er den Reif in den Fingern. »Er ist ein bisschen eng, aber es wird schon gehen. Die Zeit in Hannzumiraschs Gewahrsam hat deinen Körper ein wenig ausgezehrt. Wenn du wieder zu Kräften gekommen bist, wird er geweitet werden.«
Amunhotep nahm den Kupferreif und hielt ihn hoch. Ein fremdartiges Zeichen war darin eingeritzt. »Das trage ich nicht«, er warf ihn mit einer Geste des Abscheus von sich. »Die Zeichen, mit denen ich meine Arme schmücke, sind der Geier, die Kobra und die Gans!«
»Bei El, dem Herrn des Himmels.« Hajabilu rang die Hände. »Erst gebärdest du dich, als tätest du mir einen Gefallen, dass ich dich vom Pfahl retten darf. Und nun fühlt sich dein Körper von einem Armreif geschändet. Mach weiter so, und du kommst dorthin zurück, wo ich dich auflas!«
Amunhotep atmete heftig und starrte Apheks Gehilfen wütend an. Inzwischen war das Glöckchengeklingel nähergekommen. Apheks Träger ließen die Tragstöcke sinken, dennoch thronte der Händler in geradezu königlicher Haltung und blickte auf Amunhotep herab. Er strich langsam über die Perlenreihen in seinem Bart und schürzte die vollen Lippen.
»Das ist der Kerl, den du mir angepriesen hast wie ein dampfendes Stück Kuchen, Hajabilu?« Der Händler besaß eine helle Stimme, die zu seinem fetten Äußeren passte. Aber seine Augen wirkten bei weitem nicht so träge wie sein Körper. »Ich dachte, Hadjet hätte sich einen Spaß mit dir erlaubt, als sie dir sagte, er hielte sich für den Kronprinzen. Soll ich mich mit dem da blamieren, wenn ich mit dem ägyptischen Händler spreche? Es geht um wichtige Geschäfte, die ich mir wegen so einem verrückten Hitzkopf nicht verderben lassen will. Du«, sagte er zu Amunhotep, »hast du das verstanden?«
»Ja«, sagte Amunhotep zähneknirschend.
»Ja, Herr«, ergänzte Aphek.
Nun erst löste Amunhotep den Blick von Hajabilu und wandte sich dem über ihm thronenden Aphek zu. »Verlange nicht zu viel.«
Aphek schnalzte mit der Zunge. »Du weißt, dass ich dich dorthin zurückschicken kann, wo ich dich erworben habe – wie Hajabilu es dir ja bereits gesagt hat. Also, Großer, du wirst jetzt mein Zeichen anlegen und meinem Gehilfen in allem gehorchen, was er dir aufträgt. Und du wirst aufhören, mit deiner albernen Geschichte hausieren zu gehen. Irgendjemand findet sich immer, der so etwas glaubt, und wenn es das Bauernmädchen Hadjet ist. Überhaupt …«, er verlagerte ächzend sein Gewicht und zupfte die Falten seines schillernden Gewandes zurecht. »Du solltest froh über dein Schicksal sein, es gibt Schlimmeres. Amunhotep ist tot, mögen seine Götter ihm das ewige Leben gewähren.«
Amunhotep schwieg, aber er machte keine Anstalten, den Armreif aufzuheben. Aphek seufzte gereizt.
»Pharao Thutmosis der Große hat seinen Sohn zu Grabe getragen: vor einigen Wochen, am ersten Tag des Monats, den man in Ägypten Athyr nennt. Ich sehe, du zweifelst?« Er lächelte kühl. »Nun, weshalb sollte ich dich belügen? Ich erfuhr es von meinem Boten, den ich zu dem Händler Sethnacht schickte. Ganz Theben hat an den Trauerfeierlichkeiten teilgenommen, so berichtete Sethnacht. Der Duft des Weihrauchs, der zu Amunhoteps Ehren verbrannt wurde, war selbst in der Wüste noch zu riechen. Ihr Ägypter habt einen Sinn für pompöse Bestattungen.« Er lächelte mit sichtlicher Genugtuung. »Nun, ich hoffe, damit ist dieses unsinnige Thema vom Tisch. Und jetzt nimm den Armreif!«
Langsam bückte sich Amunhotep nach dem Kupferreif. Er wollte Aphek anschreien, ihn der Lüge bezichtigen, ihn notfalls von seiner Sänfte zerren, damit er diese fürchterliche Lüge zurücknahm. Er tat es nicht, denn insgeheim ahnte er, dass Aphek die Wahrheit gesprochen hatte. Aber es war eine Wahrheit, die er nicht verstand. Er war hier, er war am Leben, und was sein Vater getan hatte, ließ sich nicht erklären. Eher hätte er erklären können, warum sich Nut, die Göttin des Himmelsgewölbes, dazu entschlossen hatte, die Sonne nach ihrem täglichen Lauf nicht zu verschlucken, sondern auszuspucken.
»Das alles ist falsch«, murmelte er, während er zögerlich die Finger seiner linken Hand durch den Reif steckte. Und wenn ich nun tatsächlich tot bin?, überlegte er. Vielleicht war er ja doch in der Schlacht gefallen und lag immer noch dort: ein Leichnam, der sich zersetzte und kein Heim für seine Ka- und Ba-Seelen bieten konnte. Und deshalb irren sie jetzt umher.
Er schob den Armreif über den Ellbogen. Es hieß, der Ka und der Ba müssten in ewiger Verdammnis durch die Wüste streifen, wenn sie den dazugehörigen Chet, den Körper, nicht mehr fanden. Und das, was er bisher erlebt hatte, schien der Verdammnis recht nahe zu kommen, jedenfalls konnte er sich nicht vorstellen, was dies nun noch übertreffen sollte.
Eine Tänzerin, in bunte Lagen von Tüchern gehüllt, gab einen wilden Tanz zum Besten. Amunhotep wunderte sich darüber, dass sie im Lauf ihrer Darbietung kein einziges dieser Tücher fallenließ und Aphek sich trotzdem an ihr erregte. Bei den allwöchentlichen Festbanketts in Thebens Residenz pflegten die Tänzerinnen fast nichts zu tragen. Er hätte nicht gedacht, dass er den Anblick eines mit weißen Lotosblüten bestreuten Bodens, den Luftzug eines Federnfächers oder das Gefühl warmen Öls, das seinen Nacken herunterrann, während der wächserne Duftkegel auf seinem Kopf schmolz, so sehr vermissen würde.
Manchmal pflegte Schischwa auf den königlichen Banketts zu singen und auf ihrer Schulterharfe zu spielen. Sie hatte keine sehr feine, aber dafür klare und kräftige Stimme. Am liebsten hörte er ihr zu, wenn sie Lieder aus ihrer hurritischen Heimat sang, denn er mochte ihren fremdartigen Klang.
Was würde sie sagen, wenn sie ihn hier sitzen sähe? Sie glaubt, dass ich tot bin, dachte er, und eine plötzliche Qual überfiel ihn. Er legte die Hand auf den Kupferreif, als müsse er ihn vor ihr, vor den Göttern, wem auch immer, verbergen.
Er hatte Aphek folgen müssen, kaum dass dieser erfrischt und hungrig in seinem ausgedehnten Speisesaal gesessen und sich dampfende Wildstücke hatte vorlegen lassen. Nun kniete er wie ein folgsamer Diener neben seinem Herrn und wartete auf das Ende des üppigen Mahls. Aphek zog einen seiner zehn Ringe ab und warf ihn der Tänzerin zu, die sich geschmeidig danach bückte und mit heftig atmender Brust am anderen Ende des Saals auf ein Kissen sank. Er zog die Schale mit den eingelegten Fruchtstücken näher zu sich heran und winkte einem Diener, seinen Kelch zu füllen.
»So«, sagte er zu Amunhotep, nachdem er getrunken hatte. »Ich möchte gerne einiges über dich erfahren, bevor ich das Wagnis eingehe, dich zu dem ägyptischen Händler mitzunehmen.«
»Alles ist bereits gesagt.«
»Ach ja? Bis jetzt weiß ich nicht einmal deinen Namen.«
»Mein Name ist …« Nein, nicht Amunhotep-heqa-waset und was der verschlungenen Beinamen sonst noch war – das hatte er nicht sagen wollen. Ihm lag irgendein Name auf der Zunge, aber das schien ihm mit einem Mal keine gute Idee zu sein. Denn er wollte die Götter und seine Seelen nicht noch mehr verwirren, indem er seinem Körper einen anderen Namen zuordnete. »Ich bin doch nur der niedrigste Diener in deinem Haus«, sagte er unwillkürlich lächelnd, »was brauchst du da meinen Namen?«
Aphek ließ die Frucht sinken, die er bereits zum Mund geführt hatte. »Deine plötzliche Untertänigkeit verblüfft mich, Ägypter. Ich sollte ihr jedoch nicht trauen. Nun, dann berichte mir von der Schlacht. Niqmepa sagte, er hätte dich im Staub liegend gefunden.«
»Ich sitze doch nicht etwa hier, weil du einen Geschichtenerzähler brauchst? Dazu tauge ich nicht.«
»Hm. Aber du sprichst meine Sprache sehr gut. Zu gut für einen, der sie angeblich in einem Grenzfort aufgeschnappt hat. Und woher hattest du diese goldene Halskette?« Aphek schob sich den Bissen zwischen die Lippen und kicherte. »Hadjet hat das Gold nicht mir, sondern meinem Gehilfen angeboten, damit er mich überredet, dich zu retten. Ah, sie ist schlau, die kleine Ägypterin. Sie wusste genau, dass ich es genommen hätte, ohne mich um dich zu kümmern.«
Da Amunhotep nichts erwiderte, richtete sich Aphek auf seinen Kissen auf und faltete die Hände vor dem Bauch. »Ich handle mit hochwertigen Gewürzen und Arzneien, und das weiß man in Dimaschka ebenso wie in den Küstenstädten entlang des großen Meeres. Selbst in Mitanni, dem Land der Hurriter, wissen die Ärzte meine Ware zu schätzen. Es heißt, nirgends sei die Medizin so kunstreich wie in deinem Land, also wird es Zeit, meine Fühler nach Ägypten auszustrecken. Der mächtige Thutmosis hat einen großen Harem, Hunderte von Hofbeamten, Dienern und Sklaven.«
»Wahrscheinlich Tausende«, sagte Amunhotep säuerlich.
»Meinetwegen. Es heißt, seine Residenz sei wie eine eigene Stadt, eine Stätte der Wohlgerüche, der Myrrhe und des Weihrauchs. An einem solchen Ort leben gewiss viele Ärzte, die besten seines Reiches.«
»Woher soll ich das wohl wissen?«
»Richtig. Hör zu: Wir werden in ein paar Tagen in Richtung Südwesten aufbrechen und unterwegs auf eine Karawane treffen, in der ein äußerst wohlhabender ägyptischer Händler reist. Er heißt Sethnacht. Ich beherrsche zwar ein wenig Ägyptisch, aber es ist eine mehr als holprige Angelegenheit. Ich werde ihm tüchtig schmeicheln müssen, und dabei sollst du mir helfen. Und Gnade dir Baal, wenn du es nicht gewissenhaft tust! Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
Aphek kniff ein Auge zusammen und sah ihn an. »Es heißt: ja, Herr. Habe ich dir das noch nicht erklärt?«
Amunhotep erwiderte den Blick mit düster zusammengezogenen Brauen. Verlang das noch einmal von mir, dachte er, und ich reiße einen der Schals vom Gesäß der Tänzerin und lege ihn um deinen fetten Hals.
»Entferne dich«, Aphek wedelte mit der Hand. »Hajabilu soll dich in die Unterkünfte der Dienerschaft bringen; und wehe, du verlässt sie ohne seine Erlaubnis.«
Amunhotep stapfte aus dem Saal; hinter ihm sprang die Tänzerin von ihrem Ruhekissen hoch und begann erneut ihre Runden zu drehen. Hajabilu, der vor der Tür gewartet hatte, ging voraus und führte ihn in die hinteren Räume des Anwesens, wo die Gänge allesamt im Dunkeln lagen, denn die Dienerschaft befand sich entweder im Saal oder in der Küche, um Apheks gewaltigem Hunger abzuhelfen. Wortlos öffnete er die Tür zu einer kleinen Kammer, in der vier Schlafmatten lagen, von Kisten abgetrennt, die wohl die Habseligkeiten der Bewohner enthielten. Amunhotep ging hinein, und sofort fiel die Tür hinter ihm zu. Eine der Matten war zusammengerollt, dies war vermutlich seine. Er warf einen Blick aus dem einzigen Fenster, sah aber nur Buschwerk, dunkle Schatten vor der Schwärze der Nacht.
Er ließ einige lange Augenblicke verstreichen, bevor er wieder die Tür öffnete. Fackelschein näherte sich. Bedächtig schloss er die Tür bis auf einen Spalt und wartete, bis das Licht verschwunden war, dann trat er hinaus auf den Gang und tastete sich zum Hof vor. Auch hier war nichts verriegelt, aber unter dem großen Hoftor entdeckte er zwei Wachtposten. Um von hier zu fliehen, musste er sie entweder überwältigen oder heimlich über die Mauer steigen.
Und was tue ich dann? Sollte er durch Dimaschka laufen, um das Ganze noch einmal zu wiederholen, nämlich am Stadttor? Sollte er in die Wüste, allein und ohne Ausrüstung? Das jedoch hätte er schon vor zwei Monaten tun können. Doch er kannte ja nicht einmal den Weg zum nächsten ägyptischen Vorposten.
Er ging zurück und legte die Hand auf die Tür zu der Schlafkammer. Aber es gefiel ihm nicht, sich so einfach zu fügen. Vor ihm tauchte wieder das Licht auf: Eine Dienerin war damit beschäftigt, die Öllampen an den Wänden zu entzünden. Sie zuckte zusammen, als sie ihn bemerkte. Es war Hadjet, das ägyptische Bauernmädchen.
»Du hast dich umgesehen und festgestellt, dass du bleiben musst, nicht wahr?« Hadjet hob die Fackel vor sein Gesicht.
»Ich muss keineswegs bleiben.«
»Doch, du musst. Und warum solltest du auch nicht? Im Gegensatz zu dir bin ich frei und kann jederzeit gehen, aber ich tue es nicht, denn es gibt schlechtere Orte als diesen hier, und schlimmere Herren als Aphek. Auch für einen Sklaven.« Sie warf in einer verlegenen Geste ihre dichten Locken zurück. »Ich träume ab und zu davon, dass es mich in die reichen Küstenstädte verschlägt, aber das ist bloß eine dumme Angewohnheit, mehr nicht. Wer sollte mich schon dorthin mitnehmen? Vielleicht du, wenn du nach Ägypten fliehst, zu den sagenhaften Palästen, in denen es nach Weihrauch riecht und das Auge vom Gold geblendet wird?« Ein wenig zaghaft streckte sie die Hand nach ihm aus. »Aber sei nicht so töricht, hörst du? Ich habe dir nicht geholfen, damit du noch eine Dummheit begehst.«
Amunhotep wischte ihre Hand beiseite, sodass sie erschrocken zurücksprang. Die Fackelflammen knisterten. »Hör auf, ich will von deinem Geschwätz nichts hören. Du kannst ja meinetwegen hier bleiben, wenn es dir so gut gefällt. Aber ich bleibe keine Ewigkeit hier, keine Millionen Jahre, nicht, solange das Per-Ao steht!«
Hadjet machte große Augen. »Jetzt redest du wieder solche seltsamen Dinge, die kein Mensch versteht. Was ist denn das Per-Ao?«
»Du bist eine Ägypterin und weißt es nicht?«
»Nein! Mein Vater war ein ägyptischer Soldat, der irgendwann vor sechzehn oder siebzehn Jahren bei meiner Mutter auftauchte. Sie besaß einen kleinen Hof und bewirtschaftete einen Acker unten am Fluss. Er nistete sich mit seiner Einheit eine Zeitlang bei ihr ein und verschwand dann wieder in Richtung Westen. Meine Mutter gab den Hof auf, weil sie sagte, es gäbe noch viele Jahre Krieg zwischen Ägypten und Syrien, bis der Pharao es endlich erobert habe, und sie wolle nicht noch ein weiteres Kind von einem fremden Soldaten.« Trotzig presste sie die Lippen zusammen. »Oh, ich weiß, dich interessiert das gar nicht, du angeblicher Prinz.«
»Das tut es auch nicht.« Amunhotep stieß die Kammertür auf. »Das Per-Ao ist das Haus des Pharao.«
»Warte!« Wieder streckte sie die Hand vor. »Ich habe gehört, was Aphek zu dir sagte, nämlich dass Thutmosis seinen Sohn begraben hat. Nun …«, sie blickte auf ihre Fußspitzen. »Warum wartest du nicht einfach den Tag ab, wenn Aphek dich zu diesem Händler mitnimmt? Die Karawane, mit der Sethnacht reist, kommt geradewegs aus Theben. Vielleicht erfährst du ja dort Genaueres über diese Sache.«
Amunhotep stieß hart den Atem aus. »Die Karawane kommt aus Theben? Davon wusste ich bisher nichts.«
»Dann weißt du es eben jetzt. Ich hörte, wie Aphek mit Hajabilu darüber sprach.«
»Du hörst wohl viel, was du nicht hören sollst«, sagte er.
»Manchmal«, sie lächelte. »Er sagte, es seien Hurriter, adlige Gesandte, die bisher am Hof von Theben gelebt haben und nun nach Mitanni zurückkehren. Jemand aus ihrer Mitte starb, irgendeine bedeutende Größe, und die bringen sie nun in ihr Heimatland zurück, um sie dort zu bestatten.«
»Was soll denn das für eine bedeutende Größe sein, derentwegen die hurritischen Gesandten die Residenz verlassen? Na, was ist? Das hast du offenbar nicht gehört, wie?«
Hadjet schüttelte den Kopf. »Aphek weiß es selber nicht, aber das ist ja auch nicht wichtig.« Sie zuckte mit den Achseln und ging weiter.
Nein, es dürfte kaum wichtig sein. Es lebten so viele hurritische Edle am Hof, dass er sie nicht alle kannte. Aber er musste sich eingestehen, dass Hadjets Vorschlag vernünftig klang. Eine andere Wahl hatte er ohnehin nicht. Aber wie sollte er an die Hurriter herankommen, um sie nach den Geschehnissen in der Residenz zu befragen? Aphek dürfte ihn kaum freiwillig gehen lassen. Würden sie ihn überhaupt sofort erkennen? Oder würden sie die Karawanenwächter rufen, bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte? Ja, vermutlich werden sie genau das tun.
An einem Nachmittag fünf Tage später schaukelte Aphek auf seiner Sänfte wie ein König durch das Stadttor von Dimaschka, wo die Leiche Djehutis noch immer in der Sonne dorrte, aufrecht auf dem Pfahl. Ein bunter Baldachin wippte über des Händlers Kopf; seine Dienerschaft umringte ihn mit Körben und Kistchen, um ihm jederzeit alle Bequemlichkeiten zu bieten. Auch Amunhotep trug auf der Schulter einen Kasten, aus dem der süßliche Duft von Apheks Lieblingsnaschwerk drang. Das Marschieren machte ihm nichts aus, aber er fand die Vorstellung abwegig, die enorme Strecke bis nach Megiddo zu Fuß zurücklegen zu müssen. Nur Apheks Leibwache flankierte auf Pferden die Reisegruppe. Es waren vier schwarzhäutige Nubier, die Amunhotep mit verächtlichen Blicken bedachten, denn auch die nubischen Völker hatten sich Ägypten beugen müssen.
Sie liefen die Nacht hindurch und schliefen unter aufgespannten Sonnensegeln in der Mittagshitze. Am Abend des zweiten Tages tauchten tausende Lichtpunkte in der Ferne auf, wo sich der Weg mit der Weststraße kreuzte, die zum Antilibanon führte, dessen ferne Gipfel fahl schimmerten. Die hurritische Karawane war ein endloses, träges Band, bewacht von hurritischen und ägyptischen Soldaten. Aphek und sein Gefolge mussten in das steinige Feld ausweichen; ohne ihnen auch nur einen Blick zu widmen, trottete ein Wald von Sänften an ihnen vorbei. Sämtliche Vorhänge waren geschlossen, sodass Amunhotep keine Gelegenheit hatte, nach einem bekannten Gesicht Ausschau zu halten. Dieser Teil der Karawane war dunkel und schweigsam, nur das Waffengeklirr und die Gleichschritte der Soldaten störten die Trauer der Hurriter. Bald folgte jedoch das bunte Durcheinander des Händlertrosses. Aphek wartete, bis sein Trüppchen sich lagerte, dann schickte er Hajabilu, um den ägyptischen Händler ausfindig zu machen.
Amunhotep setzte den Kasten ab, aber einer der berittenen Nubier schien seine Gedanken vorauszuahnen, denn er baute sich auf seinem Pferd vor ihm auf und befahl ihm barsch, sich nicht von der Stelle zu rühren. Amunhotep versuchte mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Ein wenig Leben war auch in den hurritischen Teil der Karawane gekommen, denn die Edlen stiegen aus ihren Sänften in rasch aufgebaute Zelte. Im Kern des hurritischen Lagers flammten Fackeln auf, und er sah in ihrer Mitte ein großes Zelt in die Höhe wachsen, zweifellos der Ruheort des Toten. Er hatte keine Zeit, sich zu fragen, um wen es sich handeln mochte, denn der rasch zurückgekehrte Hajabilu rief nach ihm. Aphek war damit beschäftigt, sich von einem Sklaven mit Hennaduft einstäuben zu lassen, dann zischte er einen Befehl, und sein Tragstuhl glitt in die Höhe.
»Ich sage es dir noch einmal, Ägypter«, brummte er, »benimm dich und sprich nur, wenn ich dich dazu auffordere. Dies ist deine einzige Gelegenheit, mir zu beweisen, dass ich mich nicht umsonst deiner annahm. Falls du das nicht schaffst, muss sich eben einer der Sklavenhändler in Megiddo den Kopf darüber zerbrechen, was er mit dir anfangen soll.«
Es war ein denkbar kurzer Weg, den die Sänfte zurücklegte; schon wurde Aphek wieder abgesetzt. Sethnacht hatte vor seinem Zelt eine Plane aufspannen lassen, zum Schutz vor dem Wind. Außerhalb des Lichtkreises einer größeren Feuerstelle lagerten seine Güter, dazwischen soffen die Packpferde aus Wasserschläuchen. Überall gab es solche in sich abgegrenzten Lagerstellen, und die Weite des Tals schien förmlich übersät. Aphek wuchtete sich ächzend aus seiner Sänfte und verneigte sich vor Sethnacht, der ihm eine bequeme Sitzgelegenheit aus Decken und Teppichen anbot. Amunhotep nahm hinter Aphek Aufstellung und musterte den Ägypter. Sethnacht war klein, besaß die weiche Statur eines Schreibers und sprach mit leiser Stimme. Er winkte einem Sklaven, der vor Aphek ein Tablett mit Wein und getrockneten Früchten abstellte. Der Syrer griff sofort zu, während Sethnacht die Hände auf den Schenkeln liegen ließ und mit unbeteiligter Miene wartete, bis sich sein Gast gestärkt hatte.
Aphek begann sogleich mit einer blumigen Aufzählung seiner Handelsbeziehungen und äußerte seinen Wunsch, mit den Ägyptern ins Geschäft zu kommen. Sein Ägyptisch war in der Tat recht holprig; ab und zu schnippte er auffordernd mit den Fingern, damit Amunhotep ihm half. Da Sethnacht zurückhaltend blieb, flocht Aphek Schmeicheleien und Lobreden ein, die Ägypten galten, dem Pharao und den Göttern. Sethnacht lächelte unverbindlich und umfasste bei der Nennung von Thutmosis’ Namen sein goldenes Thot-Amulett.
»Der Horusfalke ist dein Herr so gut wie meiner«, erwiderte er. »Darum tust du gut daran, seinen Namen demütig in den Mund zu nehmen.« Er deutete auf Amunhotep. »Wie kommt es, dass du einen Landsmann von mir in deinen Diensten hast?«
»Er überlebte die Schlacht und kam zu mir; ich gab Arbeit.«
Das hast du sehr freundlich ausgedrückt, dachte Amunhotep säuerlich.
»Du sprichst von der Schlacht gegen die Rebellen Hannzumiraschs.« Sethnacht machte eine bedächtige Geste in Richtung des schwarzen Himmels. »Eine dunkle Stunde für den Falken, aber sie sind nur wie ein Skorpionstich in seine Sandale, und er wird sie zertreten.«
»Sie sind … wie?«
»Wie ein Skorpionstich in deinen Hintern«, erläuterte Amunhotep. Aphek warf ihm einen verwirrten Blick zu.
»Hannzumirasch soll der Fluch Baals treffen«, murmelte der Händler auf Syrisch in seinen Bart. Mit gespielter Inbrunst holperte er weiter: »Er zieht Zorn von Pharao auf unser Volk, das will nur Frieden. Für Syrien großer Segen, unter Schwingen von, äh, Horus …«
» … des Horusfalken«, ergänzte Amunhotep.
»Ja, unter den Schwingen des Horusfalken zu leben.«
Sethnacht lächelte noch immer unverbindlich. »Für Syrien und für alle Völker des Erdkreises. Der Tod des Kronprinzen hat ihn zweifellos in tiefe Trauer gestürzt, aber er wird seinen wachsamen Blick nicht von deinem Land wenden.« Er senkte in einer Trauergeste den Kopf und nahm zum ersten Mal einen Schluck Wein zu sich.
Apheks feierliche Geste schien auszudrücken, dass der Verstorbene zu den Sternen gehen möge. »Wie konnte böse Nachricht Falke so schnell …«
»Erreichen?«, half Sethnacht aus.
Amunhotep gab in Gedanken die Antwort: Der Falke pflegte die Zeit der größten Sommerhitze im Delta zu verbringen, außerdem konnte er von dort aus Syrien besser im Auge behalten. Allerdings hat er über seine Entscheidung, mich für tot zu erklären, wahrhaftig nicht lange nachgedacht.
»Der Pharao hielt sich an der Küste auf.« Sethnacht winkte seinem Sklaven, der Apheks Kelch füllte. »Ja, hoffentlich gedenken die Götter Amunhoteps. In den Straßen von Theben geht das Gerücht um, der Falke habe gar nicht seinen Sohn beigesetzt, sondern den Körper eines Fremden, den er mit Amunhoteps Namen versah. Amunhoteps Leiche verwese irgendwo in der Steinwüste, sodass seine Seelen keine Wohnung mehr haben und eigentlich verloren sind.«
»Ach?« Apheks Finger strichen über sein feistes Kinn; er hatte offenbar Mühe, diese Worte zu verstehen. »Erstaunlich.«
Das war nicht nur erstaunlich, das war verrückt. Ich bin also tot, dachte Amunhotep. Wie einfach es doch sein kann, zu sterben, ohne es zu spüren.
»Falls das stimmt, wäre es ein Verstoß gegen die Maat«, fuhr Sethnacht fort, »und könnte genau das Gegenteil bewirken, nämlich dass die Götter den Namen nicht anerkennen werden. Auf jeden Fall muss er Amunhoteps Namen viele Dutzend Male in Stein meißeln, um die Hoffnung auf sein ewiges Leben zu wahren. Es ist nun einmal eine heikle Angelegenheit.«
Warum, bei Seths heißem Atem, hatte sein Vater die Hoffnung so schnell aufgegeben, er könne noch am Leben sein? In Amunhoteps Magen ballte sich ein düsteres Gefühl. Er musste so bald wie möglich nach Theben zurück, um seinen Körper wieder mit seinem Namen zu vereinen.
Die beiden Händler bemerkten nichts von seiner Bestürzung; Sethnacht sprach leidenschaftslos weiter, während er einige von Apheks Lederbeuteln öffnete. »… doppeltes Unglück traf den Falken, denn auch die Nichte Parsasatars, des Königs von Mitanni, verließ sein Land – sie ist die Verstorbene, in deren Schutz wir reisen. Für mich wie auch andere Händler kam die rasche Aufstellung der Karawane indes gelegen, denn ich ziehe den Landweg dem zur See vor.«
»Eine Tote aus Mitanni?«, fragte Aphek ohne sonderliches Interesse.
»Ja, ihr Name war Schischwa, und sie war die Frau des Kronprinzen. Sie starb, als er sich auf dem Weg nach Syrien befand.« Sethnacht schüttelte einige blauglänzende Körnchen auf ein Tuch. »Dies sind also die begehrten Tränen der Ischtar? Sie duften sehr stark nach Lavendel.«
Amunhotep stieß hart den Atem aus und sprang so heftig auf, dass er mit dem Fuß gegen Apheks Kelch stieß und den roten Wein verspritzte. Aphek fuhr ihn zornig an. »Kannst du nicht aufpassen? Was fällt dir überhaupt ein, aufzustehen?« Er wandte sich an seinen neuen Handelspartner. »Verzeih, edler Sethnacht«, stotterte er in seinem ungelenken Ägyptisch, »aber der Mann ist … «
»Aufsässig«, warf Amunhotep ein, »halsstarrig, ungehorsam.«
»Ja«, rief Aphek in seiner eigenen Sprache, »genau diese Worte hatte ich gesucht! Setz dich wieder hin!«
Amunhotep riss ein Holzscheit aus dem Feuer und hielt es unter Apheks Nase.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Sethnacht mit einer Stimme, die lediglich verwundert klang. Er zog bedächtig den Lederbeutel zu und legte ihn beiseite.
»Er ist verrückt, er ist verrückt!«, quiekte Aphek und schielte ängstlich nach dem glühenden Holz. »Er hält sich für Kronprinz!«
»Das ist doch albern«, sagte Sethnacht ein wenig unruhig. »Sieh zu, dass du ihn dazu bringst, sich wieder zu setzen, sonst muss ich meine Wachtposten rufen.«
»Ihr haltet beide den Mund!«, zischte Amunhotep und deutete mit dem Holz warnend auf Sethnacht, der abwehrend die Hände hob. Für einen kurzen Augenblick breitete sich Schweigen aus; Aphek keuchte verhalten, und das Feuer knisterte.
Amunhotep betrachtete die erbärmliche Waffe in seiner Hand und die Schweißperlen auf Sethnachts jetzt bleich gewordener Stirn. Er wollte, dass Sethnacht diese ungeheuerliche Lüge zurücknahm. Schischwa war nicht tot, ganz gleich, was der Händler gesagt hatte. Er selbst war am Leben, obwohl allem Anschein nach die ganze Welt das Gegenteil behauptete, weshalb sollte das mit Schischwa nicht auch so sein? Doch was erreichte er, wenn er Sethnacht bedrohte? Er schleuderte das Scheit zurück ins Feuer.
»Das wirst du bereuen!«, rief Aphek hinter ihm her, als er in die Dunkelheit rannte. Er warf einen Blick zurück und sah, wie sich der Syrer ächzend aufrappelte und nach seinen nubischen Wächtern schrie, die sogleich das Zelt umringten, mit den Händen an den Schwertgriffen.
Die Furcht, Sethnacht könne die Wahrheit gesagt haben, trieb ihn mit langen Schritten auf das große dunkle Zelt im Bereich der Hurriter zu, aus dessen Leinwandspalten schmale Lichtstreifen drangen. Er gab niemandem Gelegenheit, ihn aufzuhalten; erst als er vor dem Zelt stand, atmete er tief ein und aus. Zwei Wachen standen unaufmerksam da, lässig auf ihre Speere gestützt. »Wer liegt dort drinnen?«, fragte er, während er auf sie zuging. Es waren Hurriter, ihre Worte ein schwerfälliger Dialekt, den er nicht verstand. Als er dicht vor ihnen stand, hoben sie abwehrend ihre Speere. Er duckte sich unter einem Speerschaft hinweg und riss einen der Dolche an sich, die an ihren Gürteln hingen. Sein Körper schien allein zu handeln, denn seine Gedanken waren unklar. Aber langjährige Übung im Kampf machte seine Bewegungen geschickt und tödlich: Die beiden verschlafenen Wächter sanken zu Boden, ohne noch einen Laut von sich gegeben zu haben.
Fahrig riss er die Zeltklappe auf.
Er fand nur einen einzigen großen Raum vor, an den Wänden mit kleinen Öllampen spärlich beleuchtet. Die Luft roch nach Weihrauch. In der Mitte, in einem von der Zeltdecke fallenden Lichtkegel, stand ein Sarkophag auf einem Traggestell. Es war ein Kasten aus dunklem Holz, an den Seiten mit Szenenfolgen aus dem Leben der Toten weiß bemalt. Der Deckel des Kastens zeigte die Umrisse einer Frau, ihre Züge waren eindeutig die einer Hurriterin. Aber wer war sie? Seine Finger strichen über das Holz. Die Bilder an den Seiten zeigten sie beim Opfern, bei häuslichen Tätigkeiten, auf einer Nilfahrt. Diese schlichten Szenen hätten aus dem Leben einer jeden Frau stammen können. Doch dann fand er am Kopfende, was er suchte: die Namenshieroglyphe.
Schischwa.
Schischwa … Amunhotep beugte sich über das gemalte Gesicht. Lächelnd blickte es ihn an, umrahmt von einem Schwall aus schwarzen Locken. Nein, nein, es war völlig unmöglich … Er presste die Augen zusammen, drängte eine aufkommende Flut von Tränen und Verzweiflung zurück. Seine Zehen stießen gegen einen Kasten, der unter dem Sarkophag stand. Amunhotep ging in die Hocke und zog ihn hervor.
Die elfenbeinerne Einlegearbeit auf dem Zedernholzdeckel zeigte eine hurritische Gottheit; die Ränder waren eine barbarisch einfache Anordnung kupferner Nieten. Er kannte diesen Kasten, denn seine Frau pflegte ihn stets in der Nähe ihres Bettes aufzubewahren. Ungläubig hob er den Deckel und erblickte eine Ansammlung von Kleinodien: Schmuck, Amulette, kleine Figuren von Isis, jener Göttin, die Schischwa von allen ägyptischen Göttern am liebsten verehrte. Er wühlte darin herum, und tatsächlich waren all dies Dinge, die er kannte. Er fand auch einige ihrer bevorzugten Kleider und Umhänge. In einem kleinen Kästchen lagen Papyrusrollen; vorsichtig entnahm er sie, obwohl er ihren Inhalt kannte. Es waren ihre Lieblingshymnen für Isis und Amun, einige Gedichte und Lieder.
Und da lag eines ihrer Instrumente, eine Harfe. Als er sie berührte, kamen machtvoll die Erinnerungen. Er sah ihre Finger, wie sie über die Saiten huschten, und glaubte ihre klare Stimme zu hören. Er betastete die Stücke, jedes einzelne beschwor Schischwas Gegenwart herauf, eine Zeit, die – was ihm noch immer unglaublich schien – für ewig beendet war. Tief auf dem Grund des Kastens entdeckte er einen Stoffballen, den er nun heraushob. Vorsichtig wickelte er die Lagen auseinander. Was er fand, war die Figur eines Horusfalken. Sie war beinahe so groß wie ein lebender Falke, mit einer kleinen Doppelkrone auf dem Kopf. Und sie war schwer, sie schien aus massivem Gold zu bestehen. Verwundert drehte er sie in den Händen und überlegte, wo er eine solche Figur schon einmal gesehen haben könnte. Sicher, die Darstellung des Gottes Horus, sei es seine menschliche oder seine tierische Gestalt, fand sich häufig im Palast. Jedoch nicht unbedingt aus Gold, und Schischwa hatte seines Wissens so etwas nicht besessen. Warum auch? Es war eine heilige Figur, die sich eigentlich nur im persönlichen Besitz des Pharao fand, oder in einem Tempelschatz.
Ein leises Geräusch ließ ihn zusammenfahren, und er sah auf. An der Wand saß ein Mann, ein Sem-Priester, und musterte ihn fragend. Der Priester hatte offenbar auf einem Stuhl geschlafen, jetzt stand er mit müder Miene auf und richtete seinen Schurz.
»Dieser Kasten enthält ihre Grabbeigaben«, sagte er, zwar freundlich, aber misstrauisch. »Mir scheint, du hast diese Frau gekannt? Ich bedaure, dass du jetzt leiden musst, aber sie hat die für sie festgesetzte Zeit gehabt.«
Amunhotep legte den Goldfalken zurück zu den anderen Dingen und schob den Kasten wieder an seinen Platz, bevor er sich aufrichtete. »Du redest Unsinn. Ihre Zeit war nicht zu Ende, noch lange nicht.«
Der Sem-Priester nickte verständnisinnig. »Sie war jung. Es ist natürlich schwer …«
»Wann ist sie gestorben?«
»Vor etwa fünfzig Tagen. Sie liegt noch im Salz.«
»Öffne den Sarkophag!«, befahl Amunhotep und trat einen Schritt zurück. Der Priester zuckte unter seinem herrischen Ton zusammen, rührte sich jedoch nicht. Amunhotep hob den Deckel an und schob ihn herunter. Eine weißglitzernde Schicht Natron kam zum Vorschein. Dieser Sarkophag war nicht für die Ewigkeit bestimmt. Wahrscheinlich würde seine Frau in ihrer Heimat nach den dortigen Bräuchen weiterbehandelt werden. Er musste sich eingestehen, dass er von diesen Bräuchen gar nichts wusste.
Der Sem-Priester trat an den Sarkophag und betrachtete das weiße, leicht wellige Salzfeld. »Sie bleibt im Salz, bis sie in Wassuganni ist. Was hättest du denn davon, wenn du sie noch einmal sehen könntest? Sie ist kein schöner Anblick mehr.«
Amunhotep beachtete ihn nicht. Er tastete die Wände des Kastens ab, da er nicht annahm, dass man ihn wie eine Fuhre Dung umkippen würde, um die Tote herauszuholen. An der Stirnseite fand er eine Holzplatte; er setzte den Dolch an und entfernte sie, sodass das Salz ein dahinterliegendes Türchen aufdrückte und in Klumpen herausbröckelte. Der Priester stieß einen leisen Schrei aus, als er sah, wie die Salzoberfläche zum Leben erwachte. Die feuchtharten Wellen verschoben sich, zeigten Risse und sanken, dann erschienen langsam eine Nasenspitze, die erhöhten Wangenknochen, das Kinn und die Brusthügel.
Das Gesicht war eingefallen, ledrig. Alle Feuchtigkeit war in das Salz gewandert, sodass es jetzt einer alten Frau zu gehören schien. Aber Amunhotep erkannte die Krümmung des Nasenrückens, den im Tod lächelnden Bogen des Mundes, die großen Augen. Mit einem gequälten Aufschrei wandte er sich ab. Bis zu diesem Augenblick hatte er ihren Tod nicht anerkennen wollen, hatte gehofft, irgendjemanden unter der Natronschicht vorzufinden, nicht jedoch Schischwa. Er fiel hart auf die Knie, schlug die Handfläche gegen die Holzwand und öffnete den Mund zu einem Schrei, aber es kam nur ein gequältes Stöhnen.
»Schischwa … Amun, warum …?«, stieß er hervor. Amun, warum?
Über ihm fluchte der Priester und mühte sich ab, die Öffnung wieder zu verschließen. Der Mann kniete sich hin und fegte mit den Händen das Salz zusammen, wich aber erschrocken zurück, als Amunhotep ihn am Arm packte und gegen den Sarkophag stieß.
»Du bist doch an ihrer Seite, seit sie ins Salz gelegt wurde, oder nicht? Sag mir alles, was du weißt. Woran starb sie?«
Der Sem-Priester wirkte eingeschüchtert. Er erhob sich wieder und wischte die Körner von seinen Knien, dann trat er zurück an die Zeltwand. »Sie litt an einer schweren Krankheit.«
»Aber sie war gesund und stark. Was soll denn das für eine Krankheit gewesen sein?«
»Ich verstehe davon nichts, nur ein Arzt kann dir sagen, was du wissen willst. Etwas wuchs in ihrem Kopf und raubte ihrem Hirn den Platz; es bereitete ihr Kopfschmerzen und Übelkeit. Man hat den Schädel geöffnet, um das böse Gewächs zu entfernen, und das hat sie nicht überlebt. Aber sie wäre ohnehin bald gestorben, unter schlimmen Qualen. Mehr weiß ich darüber nicht.«
Schlimme Qualen, dachte Amunhotep, sind das, was ich jetzt empfinde …
Er sank der Länge nach auf den Lehmboden und presste die Handflächen auf die Erde. Der Boden kühlte sein erhitztes Gesicht. Amun, warum?, fragte er zum wievielten Mal, aber die Antwort würde nun gar nicht kommen, nicht nach diesem verwirrenden Bericht des Priesters. Alles war falsch, entsetzlich falsch. Er spannte seine Schultermuskeln und schrie in die Erde, grub die Finger hinein und überließ sich dem Schmerz; ihn zu ertragen war alles, was er tun konnte. Körperlich litt er, wie unter einer Folter, der er sich bereitwillig hingab, als sei sie eine Bezahlung für seine Sorglosigkeit, während Schischwa längst unter dem Trepanationsmesser des Arztes gelegen hatte. Amun, warum? Konnte ein derartiges Gewächs innerhalb weniger Wochen wachsen und zum Tod führen? War das möglich? Amun, war es die Wahrheit?
Rufe und Schritte erklangen von der anderen Seite der Leinwände. Die Zeltklappe wurde aufgerissen, bewaffnete Hurriter stürmten herein, umringten ihn. Er tauchte aus seinem dämmrigen Schmerzzustand erst auf, als eine Speerspitze in seinen Rücken gedrückt wurde. Sie packten ihn an den Haaren und zerrten ihn auf die Knie. Fünf hurritische Soldaten standen zwischen ihm und Aphek, dessen eindrucksvolle Gestalt den Zelteingang beherrschte.
»Das ist er«, sagte der Händler. »Hat er irgendwelchen Schaden angerichtet?«
Einer der Wächter sah sich um; der Sem-Priester deutete anklagend auf den geöffneten Sarkophag, aber das schien den Mann nicht zu beeindrucken. »Hier drinnen nicht, aber er hat die Wächter getötet. Du bist sein Herr, also wirst du für den Schaden aufkommen.«
»Damit habe ich nichts zu tun. Diese Männer riskieren täglich ihr Leben, das gehört zu ihrer Arbeit.« Apheks feiste Wangen bebten, als er entschieden den Kopf schüttelte; sodann entspann sich ein heftiges Wortgefecht, das der Händler rasch für sich entschied. Er verließ das Zelt, und Amunhotep wurde auf die Füße gezwungen. Draußen übergab man ihn den Söldnern des Händlers.
Er nahm alles hin, wie es kam, und stolperte den Männern willenlos hinterher. Aphek ließ sich mühsam in seinen Tragstuhl fallen, dann trat die seltsame Gruppe den Weg zurück zu den Händlerzelten an. Amunhotep musste ein kaltes, irres Gelächter unterdrücken, als er sich den Irrsinn des Geschehenen vor Augen führte. Schischwa war tot, gestorben an einer Krankheit, die er an ihr hätte bemerken müssen. Er selbst war ebenfalls tot, so hatte es sein Vater verkündet; und was dem Händler folgte, war in der Tat sein leerer Körper, eine Hülle, von seinen Seelen verschmäht.
Vor kurzem war er noch der geehrte Sohn des Horusfalken gewesen. Der Thronfolger, der Befehlshaber der Bogentruppe, ein glänzender Wagenlenker und Bogenschütze, gefürchtet von den unterlegenen Völkern. Alle hatten ihm zu Füßen gelegen und das Glück Ägyptens gepriesen … Für einen Augenblick wünschte er seiner geliebten Frau in die Finsternis des Amentit zu folgen, denn es schien ihm widernatürlich, an seinem falschen Leben festzuhalten. Zweifellos war es seine Bestimmung gewesen, in der Schlacht zu sterben oder doch wenigstens in der Wüste zu verdursten; das Auftauchen Niqmepas hatte den Ablauf des göttlichen Plans durcheinandergebracht. Und so wäre es nur richtig, den geraden Weg des Schicksals wieder zu betreten.
Zurück im Lager des Händlers, abseits der Karawane, befahlen ihm die Söldner, sich auf den Boden zu hocken. Amunhotep verspürte das unpassende Bedürfnis, sich zu waschen. In seinem Gesicht klebte die salzige Feuchtigkeit der Tränen, Speichel und Blut, denn er hatte sich die Lippen blutig gebissen. In seinen Mundwinkeln klebte Erde. Aphek kletterte aus seiner Sänfte und baute sich über ihm auf.
Der Händler schnäuzte in ein Tuch, betrachtete den Inhalt und faltete es mit einem Grunzen zusammen. »Du siehst widerlich aus«, sagte er schließlich. »Baal soll mich dafür schlagen, dass ich für einen Sturkopf wie dich so viel Geduld aufbrachte, aber nun habe ich deine Mätzchen satt. An und für sich bin ich ja kein Sklavenhändler, aber bei dir muss ich eine Ausnahme machen. Mag sich in Megiddo ein anderer mit dir abplagen.« Er winkte zweien seiner nubischen Söldner. »Bindet ihn an einen Pflock und lasst ihn allein. Er soll vor morgen früh nichts zu trinken bekommen.«
Die Nubier brachten einen Strick und einen Pflock, den sie tief in die Erde schlugen. Amunhotep musste davor kauern und die Hände auf den Rücken legen. Widerstandslos ließ er es geschehen, fühlte die Fesseln schmerzhaft seine Handgelenke umschließen. Die beiden Söldner brummten verächtlich und trotteten zu ihren Kameraden zurück, die ein wenig abseits des Zeltes ihre Sättel und Decken ausbreiteten. Aphek war bereits in den Lichtkreis seines Zeltes gewankt, wo er sich schnaufend auf seiner Liege niederließ. Schnell legte sich die Geschäftigkeit in den Zelten der Händler, niemand schenkte Amunhotep Beachtung. Ein Gefangener, ein Sklave, war schließlich nichts Besonderes.
Amunhotep bemühte sich um eine bequemere Sitzhaltung. Da hockte er, der zukünftige Pharao von Ägypten, und begann allmählich zu frieren. Es war kühl, aber vielleicht war es nur die Verzweiflung, die ihn zittern ließ. Er sah zu, wie nacheinander die Lichter verloschen, abgesehen die der Fackeln zwischen den Zelten. Er suchte das große Zelt, aber es war zu weit entfernt. Dort irgendwo, inmitten des Dunkels, lag seine Frau. Wie war es ihr ergangen, als sie starb? Hatte sie an ihn gedacht? War sie eines klaren Gedankens überhaupt noch fähig gewesen, oder hatte das bösartige Gewächs alles verdrängt, bis auf den Schmerz? Es hieß, der Sitz der Gedanken sei das Herz, aber viele Menschen glaubten, es sei der Kopf.
Aber was nützte ihm das jetzt? In seinem eigenen Kopf herrschte Verwirrung genug, seine Gedanken waren bestenfalls dazu angetan, seinen Schmerz zu vergrößern. Er sehnte sich danach, zurück in das Zelt zu laufen, sie erneut aus dem Salz zu befreien, um sie zu umarmen. Vielleicht würde er ihren Ka spüren, die Seele, die Lebenskraft spendete.
Vielleicht würde ihr Ka ihm verraten, was wirklich geschehen war. Nein, dachte er, das ist unmöglich. Der Ka gehörte nicht mehr in die Welt der Lebenden; mochte er auch Gebete empfangen, so konnte er jedoch nicht antworten.
Warum zweifelte er an den Worten des Sem-Priesters? Er hatte keinen Grund dazu.
Er beobachtete, wie sich einer der Nubier aus seiner Decke schälte und in die Dunkelheit stiefelte, um sein Wasser abzuschlagen. Der Rest schnarchte vor sich hin, und auch der Nubier war bald wieder eingeschlafen. Stunden vergingen. Amunhotep war nicht müde, aber er verspürte Durst. Da sah er eine Gestalt, die sich am Zelt vorbeischlich und auf ihn zukam. Hadjet setzte bedächtig ihre Schritte und ließ die schlafenden Söldner nicht aus den Augen. Als sie bei ihm war, kauerte sie an seiner Seite und hielt einen Lederschlauch hoch.
»Aphek will dich strafen, vielleicht gibt er dir auch morgen nichts zu trinken«, flüsterte sie und wickelte die Schnur von der Öffnung. »Hier ist auch Brot, das ich aus den Proviantbeuteln der Packpferde gestohlen habe.«
»Und was tut er mit dir, wenn du erwischt wirst? Einer der Nubier hat anscheinend einen leichten Schlaf.«
»Ich bekomme ein paar Stockhiebe, aber wenn du dich vernünftig verhältst, wird niemand aufwachen.« Sie hielt ihm den Wasserschlauch unter die Nase.
»Binde meine Hände los, damit ich selber trinken kann«, forderte er sie auf. Hadjet schüttelte den Kopf.
»Das tue ich nicht. Ich fürchte, dann rennst du in die Dunkelheit.«
»Ja«, sagte er, »genau das will ich tun. Ich nehme mir zwei von den Pferden und reite über den Antilibanon, die Weststraße entlang, bis nach Tyrus. Aber vorher schneide ich Aphek die Kehle durch.«
Hadjet presste unwillig die Lippen zusammen, während sie den Schlauch wieder zuschnürte, und schlich wortlos zurück zum Zelt. Das habe ich nun davon, dachte er, verärgert über sich selbst. Warum konnte er nie den Mund halten?
Doch kurz darauf kehrte sie zurück und streckte ein kleines Brotmesser vor. Er nickte und setzte sich so, dass sie an seine Fesseln herankam. Hadjet begann zu säbeln, wobei sie sich so ungeschickt anstellte, dass sie seine Haut ritzte. Währenddessen beobachtete er jede Regung in Apheks Lager. Mitternacht war längst vorbei, und es herrschte Totenstille, bis auf das leise Knattern der Zeltplanen im Wind. Plötzlich waren seine Hände frei. Sofort war er auf den Beinen und rieb seine Handgelenke.
»Geh zu deinem Schlafplatz«, befahl er ihr, »damit du aus den Füßen bist, wenn jemand aufwacht und es Ärger gibt.« Er zerrte mit einer heftigen Bewegung Apheks Kupferreif vom Arm.
»Nein, ich helfe dir, die Sachen zusammenzutragen, die du brauchst. Komm.« Sie ging auf Zehenspitzen zum Lager, wobei sie die Planen, unter denen die Dienerschaft ruhte, weitläufig umging. Die vier Nubier schliefen fest, denn es gab noch die Karawanenwächter, welche die Gegend im Auge behielten. Jene kümmerten sich jedoch nur um das, was von der Wüste her kommen mochte. Er folgte Hadjet, die bereits begonnen hatte, Decken und Proviantbeutel zu den Pferden zu tragen. Sie ging vollkommen lautlos zu Werke. Amunhotep stahl sich einen Mantel und schlüpfte hinein, während seine Augen an den Nubiern hingen. Keinesfalls konnte er ohne irgendeine Waffe verschwinden, und die bekam er nur, wenn er sie den Söldnern geradewegs aus den schlafenden Händen stahl.
Er band zwei Pferde los und drückte Hadjet die Zügel in die Hand. Dann ging er langsam zu den Nubiern. Zwar bevorzugte er den Bogen, aber er war jetzt nicht wählerisch. Zwei Speere steckten im Boden; einen zog er heraus. Die Männer hatten allesamt ihre Schwerter neben sich liegen, jedoch so, dass er an keines herankam. Er bückte sich nach dem Dolch am Unterarm eines Nubiers und zog ihn langsam heraus. Doch er hatte die Wachsamkeit des Mannes unterschätzt. Der Nubier blinzelte, grunzte überrascht und packte Amunhoteps Handgelenk.
Amunhotep riss sich los und sprang auf, aber der Nubier folgte ihm mit einem Aufschrei und hatte sogleich sein Schwert in der Hand. Amunhotep fluchte lautlos und stieß ihm den Speer in die Brust. Er entrang ihm das Sichelschwert und rannte zu den Pferden. Innerhalb weniger Herzschläge herrschte Tumult im Lager. Die verbliebenen Söldner versuchten ihn zu umringen; die Diener wachten auf und kreischten, da er durch sie hindurchstürmte. Aphek taumelte mit verschlafenen Augen aus seinem Zelt.
»So habe ich mir das nicht vorgestellt«, brummte Amunhotep, nachdem er bei Hadjet angelangt war. »Es war mein eigener Leichtsinn. Aber jetzt gibt es ohnehin kein Zurück.« Er schwang sich auf sein Pferd, und zu seiner Überraschung kletterte Hadjet auf das zweite.
»Was tust du denn da?«
»Dir folgen«, erklärte sie und deutete auf die heranstürmenden Nubier, hinter denen Aphek stand und Verwünschungen ausstieß, »denn ich habe keine Zeit mehr, mir eine Erklärung dafür auszudenken, weshalb ich dir geholfen habe. Wenn ich jetzt bleibe, lande ich an deiner statt auf dem Sklavenmarkt von Megiddo.«
Hadjet lenkte ihr Pferd ungeschickt in die Dunkelheit der Wüste. Amunhotep stieß seiner Stute die Fersen in die Seiten, um den Nubiern den Weg abzuschneiden. Er holte mit dem Sichelschwert aus und zog es dem ersten über die Kehle; dem zweiten stieß er den Fuß vor die Brust und riss so heftig an den Zügeln, dass er für einen Augenblick die Kontrolle über das Pferd verlor. Dann jagte er hinter Hadjet her, auf die Hänge des Antilibanon zu.