Читать книгу Windheart - Sam Finch - Страница 2
ОглавлениеKapitel 1
Was erwartet ein Lebewesen nach dem Tod? - Diese Frage stellte ich mir immer wieder, nachdem man mir mitgeteilt hatte, dass mein Körper unheilbar an Krebs erkrankt war.
Jetzt befand ich mich hoch am Himmel und meine Wahrnehmung konzentrierte sich auf ein großes Tal direkt unter mir. Der Anblick des unberührten, riesigen Waldes mit seinen Bächen, magischen Pflanzen und den zahlreichen Bewohnern war prächtig.
Nach einer Weile bemerkte ich zwei Wesen mit Flügeln, die sich mir näherten.
Die unerwartete Verkettung von schlichtweg unmöglich erscheinenden Ereignissen hatte mir meine ganz persönliche Antwort auf diese Frage geliefert.
Plötzlichwurde ich wach und blickte in mein dunkles Zimmer. Ein merkwürdiger Traum hatte mich gequält, in dem der Tod eine Rolle spielte. Darin war rotes Blut über eine nasse Straße geflossen und zwei Grabsteine ragend drohend aus der Finsternis empor. Woher stammten die schrecklichen Schreie, welche mir jetzt noch in den Ohren gellten?
Rückblickend konnte man sowohl diesen Traum als auch meine innere Anspannung sicherlich als böse Vorahnung deuten.
Der Wecker zeigte 6: 00 Uhr an.
Unerwartet klingelte es an der Wohnungstür. Ein Besucher um diese Zeit?
Nach einer kurzen Weile wunderte ich mich, dass meine Eltern nicht auf das Klingeln reagierten. Beunruhigt stand ich auf und zog meine Hausschuhe an. Langsam tappten meine Füße durch den Flur, die kleine Lampe auf dem Garderobentisch brannte noch.
Als ich am offenen Schlafzimmer meiner Eltern vorbeiging, stockte mir kurz der Atem. Das Bett meiner Eltern stand unbenutzt da.
Waren sie noch gar nicht wieder zu Hause?
Eigentlich wollten Mama und Papa bloß einen Freund besuchen und nicht dort übernachten. Vorsichtig linste ich durch den Spion in der Tür und erblickte zu meiner Überraschung Onkel Hans. Seine besorgte Miene verriet deutlich, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung sein konnte. Mit einem Anflug von Bauchschmerzen öffnete ich rasch die Tür und begrüßte ihn.
„Guten Morgen Onkel Hans, ist alles in Ordnung? Was machst du so früh hier?“, fragte ich.
„Hallo Peggy, darf ich bitte reinkommen?“, entgegnete er nur, ohne mich direkt anzublicken.
Verunsichert ließ ich ihn ein und wir schlenderten schweigend in die Küche.
„Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?“ Ohne die Antwort abzuwarten, drückte ich auf den Lichtschalter, griff selbst in den Kühlschrank und holte mir die Orangensaftpackung heraus. Mit kalten Fingern goss ich ein Glas ein, während mein Onkel dankend ablehnte. Er war in der Tür zur Küche stehen geblieben und immer noch nach passenden Worten für das nun Folgende zu suchen. Um meine Nerven zu beruhigen, nahm ich einen Schluck des süßen Saftes und ließ mich auf einen Stuhl sinken. Erwartungsvoll blickten meine Augen zu dem Mann vor mir auf.
„Peggy, es geht um deine Eltern. Du musst jetzt sehr stark sein. Deine Mutter und dein Vater sind gestern ums Leben gekommen“, platze dieser schließlich mit seiner Hiobsbotschaft heraus.
Ich ließ seine Äußerung langsam auf mich wirken. Der Griff meiner Hand um das Saftglas löste sich. Wie in Zeitlupe zerplatze es am Boden, ohne, dass ich einen Laut hören konnte. Scherben und Saft bildeten ein chaotisches Mosaik auf dem Linoleum, auf das ich blicklos starrte. Der Saft schnürte mir plötzlich die Kehle zu. Meine Gedanken rasten und die Bilder meines letzten Traums kamen wieder hoch. Es dauerte eine Weile, bis meine Zunge eine Frage hervorbringen konnte:
„Bist du sicher? Vielleicht ist das ein Irrtum.“ In meiner Stimme lag ein flehentliches Betteln.
„Es tut mir sehr leid. Daran besteht keinerlei Zweifel“, entgegnete Hans und seufzte.
Nun herrschte eine unangenehme Stille im Raum. Langsam kroch Eiseskälte in mir hoch und ließ meinen gesamten Körper erstarren. So fühlte sich also ein Schock an.
Der Schmerz sollte erst viel später kommen und ebenso die Panik. Onkel Hans hatte sich irgendwann, ich wusste nicht genau wann, neben mich gesetzt und ungeschickt meine Hand ergriffen. Der Körperkontakt traf mich wie ein Schlag und das Bedürfnis zu fliehen, einfach vor dem Schrecken davon zu laufen, riss mich auf die Füße.
„Nein! Nein! Warum?“, schrie ich endlich fassungslos und hoffte, aus diesem Alptraum zu erwachen. Hastig kratzten meine Fingernägel über Unterarme, den Hals, das Gesicht, aber die Situation blieb. Dumpf brach ich auf dem Küchenboden inmitten von Scherben und Saft zusammen und begann bitterlich und haltlos zu weinen. Unerbittlich wurde mein ganzer Körper von Gefühlswellen überrollt. Es war, als würde ich gerade innerlich in Flammen aufgehen. So musste es sich anfühlen, wenn einem das Herz aus der Brust gerissen wurde. Dieser Schmerz war unerträglich und schwer in Worte zu fassen.
Es verstrichen einige Tage, bis ich mental in der Lage war, mich mit dem Tod meiner Eltern zu beschäftigen. Ich hatte so viel geweint, dass sich mein Körper wund und leer anfühlte. Eine erdrückende Last quetschte jegliche Lebenskraft aus mir heraus und ich kam mir so schwer vor, wie ein schwarzer, kalter Felsen, allein im Meer.
Sehr lange glaubte ich, dass der Schmerz nie abnehmen würde. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis dieses Brennen endlich zumindest ein wenig abebbte. Darum lag ich die meiste Zeit des Tages auf meinem Bett und starrte die Decke an.
Anfänglich besuchten mich meine Freundinnen, um mir Trost zu spenden, doch konnte ich mich dem nicht wirklich öffnen. Am liebsten blieb ich allein im Zimmer, denn nichts anderes war ich schließlich: Allein und verlassen.
Zur Schule musste ich immerhin nicht. Der Direktor hatte mich temporär vom Unterricht befreit. Mein Kopf wäre allerdings auch gar nicht in der Lage gewesen, etwas zu lernen.
Onkel Hans, den ich eigentlich nicht leiden konnte, war in unser Haus gezogen und kümmerte sich anscheinend um den Haushalt. Das sollte sicherlich eine fürsorgliche Geste sein. Mein Herz war allerdings nicht in der Lage, etwas anderes als Trauer und Verzweiflung zu empfinden.
Besonders schwer war der Tag der Beerdigung, an dem mein Onkel mich vom Grab meiner Eltern wegziehen musste. Dort lag meine Mutter, so nah und doch unerreichbar für mich.
Von da an besuchte ich mehrmals im Monat das Grab meiner Eltern. Diese Besuche halfen ein wenig dabei, meine Trauer zu verarbeiten.
Das erste Weihnachten ohne die beiden kam wie ein schlecht gespieltes Theaterstück. All der Glanz und Glitter kamen mir blass und falsch vor. Ständig flogen meine Gedanken in die Vergangenheit zurück, zu früheren und schöneren Momenten. Sie waren verloren.
Und wie sollte es überhaupt mit mir weitergehen?
Sorgen um die Zukunft hielten mich nachts wach. Ich war mir sicher, dass mein Onkel nicht auf Dauer hier wohnen bleiben wollte. Unsere Stadt sei ihm zu klein und für seine Arbeit müsse er eigentlich eine Stelle in der Großstadt suchen. Das hatte er bereits früher betont.
Und diese Vorstellung gefiel mir überhaupt nicht. Was sollte ich noch alles verlieren?
Außerdem quälte mich die Frage, ob ich den Tod meiner Eltern hätte verhindern können. Wenn sie bloß zu Hause geblieben wären … wenn ich vielleicht krank gewesen wäre und Mutter mich hätte pflegen wollen … wenn, wenn, wenn! Es war zum Verrückt werden.
Schließlich gehörte es zu meiner täglichen Routine, das Familienalbum mit meinen Kinderfotos durchzublättern. Hier fand ich ein wenig Trost:
Bilder von mir, wie ich Fabelwesen malte, denn das hatte ich immer sehr gern getan. Ein kleines Schmunzeln flog über mein Gesicht, als ich die ungelenken Einhörner sah, welche ich schon vor Jahren gemalt hatte. Mutter war immer begeistert von ihnen gewesen, auch wenn sie nicht wirklich etwas taugten. Mittlerweile malte ich besser, doch im Moment fehlte mir jede Kraft für dieses Hobby. Und es gab Fotos von mir zu Karneval. Stets hatte ich Tierkostüme getragen, sehr zum Amüsement meiner lieben vor langer Zeit verstorbenen Oma.
Die Zuneigung zu Tieren half mir dann schließlich auch dabei, endlich wieder einen Bezug zur Gegenwart zu finden. Jeden Tag ging ich zu einem nahen Tierheim und half dort aus. Langsam wich das Eis aus meinem Herzen.
Onkel Hans war der einzige noch lebende Verwandte von mir. Darum bekam er das Sorgerecht und ich musste fortan bei ihm wohnen. Das Ganze entschied sich ein paar Wochen nach dem Tod meiner Eltern.
Gemeinsam verließen wir an einem verregneten Tag mein Elternhaus. Es war ein unendlich schmerzlicher Abschied für mich, denn hier ruhten so viele Erinnerungen an meine Kindheit. Bald würden andere Menschen in diesem Gebäude leben und niemand wüsste dann mehr von uns. Der Gedanke an sich war schon bitter, die Wohnung meines Onkels entpuppte sich allerdings sogar als noch trostloser. Lange hatte ich ihn nicht mehr besucht und umgekehrt war es genauso gewesen. Ich wusste von meiner Mutter, dass Hans sich ihr gegenüber oftmals eifersüchtig verhalten hatte. Immerhin lebte sie mit ihrer Familie und er war alleinstehend. Seine generelle Körpersprache verriet mir, dass er sich mit der Gesamtsituation ebenso unwohl fühlte, wie ich. Wir waren wie zwei Scherben von verschiedenen Vasen, allein und doch nicht zueinander passend. Er versuchte freundlicherweise, sein Unbehagen vor mir zu verbergen. Jedoch waren seine nonverbalen Signale für mich eindeutig. Immerhin lag die Wohnung nicht zu weit von meiner alten Schule entfernt und nicht alles änderte sich.
Ich versuchte, das Positive in meiner Lage zu sehen. Das hatte ich von meiner lieben Oma gelernt und versuchte es jetzt mit aller Kraft, die eine dreizehn Jahre Alte Teenagerin zustande bringen konnte. Ohne die Erinnerung an meine Oma wäre ich vielleicht doch noch in Depressionen verfallen, doch Dank ihr und der Tiere im Tierheim, das zum Glück ebenfalls nahe genug bei meiner neuen Bleibe lag, konnte ich nach neun Monaten endlich wieder normal leben. Es musste für mich weiter gehen.
Ich fuhr gerade mit dem Bus zu meinen neuen zu Hause und fühlte mich nach einer geschriebenen Schularbeit etwas müde. Mittlerweile besuchte ich meine Schule wieder regelmäßig und auch das lenkte mich ein wenig ab, zumindest vormittags. Als ich vor der Haustür stand und sie mit dem Schlüssel aufschließen wollte, ahnte mein Herz bereits, was mich gleich erwarten würde. Und tatsächlich, in der leeren Küche lag wie erwartet ein Geldschein und daneben befand sich ein Zettel. Die hastig und lieblos hingekritzelte Botschaft für mich lautete: „Hier ist Geld für das Abendessen. Heute werde ich sehr spät nach Hause kommen. Dein Onkel Hans.“
So lief es beinahe jeden Tag ab. Ich bekam ihn innerhalb der Woche nur sehr selten zu Gesicht. Das galt ebenso für das Wochenende. Eigentlich war das gar nicht so schlimm, immerhin mochte ich meinen Onkel auch nicht sonderlich. Allerdings fehlte mir mit der Zeit die Fürsorge und das Interesse eines Erwachsenen an meinem Leben. Herrje, er las ja nicht einmal die Elternbriefe, welche er für mich unterschrieb.
Genervt seufzte ich, steckte mir das Geld ein, pfefferte den Rucksack in eine Ecke und verließ möglichst rasch die ungastliche und trostlose Wohnung.
Ob meine Freundinnen wohl einen Rat für mich wussten? Daniela, Elisabeth, Kati und ich kannten einander schon seit dem Kindergarten. Sie waren jetzt meine Familie. Oft trafen wir uns bei Daniela zu Hause, da ihre Eltern ein großes Haus besaßen. Eine kurze Nachricht in unserer Gruppe genügte und wir alle zogen los zum inoffiziellen Hauptquartier.
Ohne große Umschweife begann ich, als wir es uns kurz darauf im Wohnzimmer bequem gemacht hatten, mit meiner kleinen Ansprache:„ Ich muss mit euch über meinen Onkel Hans reden. Es lastet schon eine halbe Ewigkeit auf meiner Seele. Er mag mich nicht und ich kann ihn auch nicht leiden. Habt ihr eine Idee, was ich machen kann? Es ist unheimlich nervig, nie jemanden zu haben, der für einen da ist.“
Zunächst herrschte Stille im Raum. Die drei guckten sich an und anscheinend wollte keiner von ihnen als erstes etwas dazu sagen. Was war hier los?
Entgeistert blickte ich von einer Freundin zu anderen. Wollten sie mir keinen Trost spenden? Doch jetzt brach ein wahres Gewitter los und stürzte auf mich ein.
„Ach jetzt komm schon!“, platzte Elisabeth schließlich als Erste heraus.
„Erst die Sache mit deinen Eltern und jetzt das! Gut, du bist Waise und wir haben dich lange getröstet. Aber das reicht jetzt wirklich und dein ewiges Gejammere nervt! Peggy, es interessiert mich nicht, was mit deinem Onkel ist“, ergänzte sie mit wütendem Funkeln in den Augen. Ich starrte sie nur sprachlos an.
„Es stört mich auch, dass es immer nur um dich und den Tod geht. Wir sind doch nicht in einer Seifenoper oder so einem Dramaschinken. Ich will mich ehrlich gesagt auch endlich wieder über schöne Dinge unterhalten“, murmelte Kati verlegen.
„Genau, endlich sagt’s mal einer. Immer nur das Negative! Du solltest viel lieber froh sein, dass du nicht bei einer Pflegefamilie wohnen musst. Auf solche Dinge habe ich keinen Bock. Ich wollte mit euch jetzt ein bisschen Spaß haben, etwas über Jungs reden und über die Zicken aus der Parallelklasse lästern“, schloss sich Daniela den beiden anderen an.
In diesem Augenblick fiel mir nichts ein, was ich dazu hätte sagen können. Schweigend stand ich auf, schnappte mit den Tränen ringend meine Jacke und verließ grußlos das Haus. Gerade noch verkniff ich es mir, die Tür ins Haus zu knallen, immerhin konnten Danielas Eltern nichts für ihre Tochter. Eltern … verstanden die drei es denn wirklich nicht? Sie hatten ihre Eltern noch und ich hatte niemanden. Ein dicker Kloß saß mir im Hals und völlig am Boden kehrte ich zu Hans‘ Wohnung zurück, wo ich mich in meinem Bett vergrub.
Vielleicht hatten die Mädchen ja recht. Ich war lange Zeit für nichts zu gebrauchen gewesen. Doch was sollte ich bitteschön machen? Wie sollte eine Person in meiner Lage den unbeschwerten Teenager spielen? Sollten Freunde nicht auch in schweren Zeiten Geduld mit einem haben? Würde ich mich nicht auch so verhalten, wenn es ihnen schlecht ginge?
Bis in die Nacht hinein ging die Grübelei weiter. Ich hätte nach der Sache mit Elisabeth, Kati und Daniela nicht vermutet, dass es überhaupt noch schlimmer kommen könnte. Mein persönlicher Tiefpunkt sollte aber erst noch folgen.
Zwei Jahre später zu Beginn des Frühlings:
Mein Onkel und ich befanden uns in der Praxis jenes Onkologen, der mit meinen Eltern befreundet gewesen war. Mama hatte mir damals erklärt, was Onkologie bedeutete. Daher wusste ich, worauf dieser Arzt spezialisiert war: auf Krebs.
In der letzten Zeit hatte ich ziemlich ungewöhnliche Beschwerden gehabt. Etwas stimmte einfach nicht mit meinem Körper. Ich wurde mittlerweile regelmäßig von Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Gleichgewichtsstörungen gequält. Mein Kinderarzt hatte mich nach einigen Untersuchungen kurzerhand hierhergeschickt und ich hatte eine Heidenangst.
Als der Doktor den Behandlungsraum betrat, trug der Mann in Weiß einige CT-Bilder in der Hand und legte sie auf seinem Tisch ab. Er setzte sich und nickte mir zu. Einem Bauchgefühl folgend, wandte ich mich an meinen Onkel: „Ich möchte, dass du raus gehst.“
„Warum das denn?“, entgegnete er verblüfft. „Falls das Ergebnis nicht gut ausfallen sollte, brauchst du bestimmt jemanden, der dir beisteht.“ Ich schüttelte beharrlich den Kopf.
Das hier ging nur mich etwas an. Alle, die mich wirklich liebten, waren gestorben. Also brauchte ich keinen falschen Beistand neben mir.
Unerwartet veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Ich hatte den bizarren Eindruck, als stünde der Bruder meiner Mutter plötzlich unter einer Art Bann. Ohne weitere Einwände verließ der schlaksige Mann das Zimmer und ließ mich mit dem Vertrauten meiner Eltern allein.
Da ich das Ergebnis erfahren wollte, zuckte ich nur mit den Schultern und wandte mich dem Mann im weißen Kittel zu. Seine Mimik verriet, dass er keine guten Nachrichten für mich hatte. Das unangenehme Schweigen dehnte sich aus und zehrte zusätzlich an meinen Nerven.
Ich beugte mich etwas auf meinem Stuhl vor und blickte ihm direkt in die Augen.
„Das soll nun nicht abgehoben klingen, aber ich habe genug Arztserien gesehen, um zu wissen, wie das läuft. Du siehst nicht glücklich aus und weißt nicht, wie du mir die schlechte Nachricht vermitteln sollst. Aber die Ungewissheit quält mich viel mehr. Also sag mir bitte einfach, was du zu sagen hast.“
Mein Gegenüber nickte stumm und ich registrierte ein überraschtes Aufflackern in seinen warmen, braunen Augen. Damit hatte er wohl nicht gerechnet.
Mit leiser Stimme begann der Doktor zu sprechen: „Peggy, meine Befürchtungen haben sich leider bestätigt. Du bist an einem Ponsgliom erkrankt. Das ist ein Hirntumor und eine Operation kommt leider bei dieser Art von Wucherung nicht in Frage.“
Der Blick des Onkologen deutete an, dass er mir lieber eine bessere Nachricht mitgeteilt hätte.
Seine Worte ließ ich lange auf mich wirken, bevor eine Reaktion von mir kam.
„Und wie schlimm ist das? Ist der Krebs bösartig und hat er schon gestreut? Könntest du dich geirrt haben? So etwas hört man ja häufig“, suchte mein Gehirn fieberhaft nach einem Ausweg. Es konnte einfach nicht wahr sein. So viel Unglück konnte doch ein Mensch allein nicht haben. Ich kam mir vor, als hätte man mich ohne Vorwarnung in einen Horrorfilm ohne Happy End geworfen. „Ich habe die CT-Bilder nochmals überprüft. Leider ist kein Irrtum möglich. Es tut mir sehr leid.“ Ich sah ihm an und merkte, dass er es ehrlich meinte. Irgendwie tröstete mich das zumindest ein wenig. „Wie lange habe ich noch zu leben?“, hakte ich mit einem Zittern in der Stimme nach. Selbst diese Frage kam mir vor, als würde ich gerade in einer Filmszene mitspielen. Konnte es hier wirklich um mich gehen? Das war doch alles nicht möglich. Die Stimme des Arztes riss mich aus meinem Gedankensturm.
„Du hast wahrscheinlich noch ein Jahr. Aber genau können wir Ärzte das leider oder zum Glück nicht sagen. Versuche bitte erst einmal, die Nachricht sacken zu lassen. In diesem Moment können wir nicht entscheiden, wie es weitergehen soll. Geh erst einmal nach Hause und ruhe dich aus. Morgen legen wir dann eine Strategie fest und beschließen, ob wir es mit einer Bestrahlung oder einer Chemotherapie versuchen wollen. Versteh mich bitte nicht falsch, auch mit ihnen stehen die Chancen auf eine Heilung mehr als schlecht. Aber sie können deine Lebensqualität etwas verbessern und den Prozess verlangsamen.“
Ich wollte auf andere Gedanken kommen und warf einen Blick aus dem Fenster nach draußen. Dabei bemerkte ich einen Raben, der von außen auf der Fensterbank hockte. Als ich ihn entdeckte, zuckte der Vogel zusammen und flog weg. Merkwürdig. Schweigend gab ich dem Arzt die Hand und verließ mit Onkel Hans die Praxis. Während der Autofahrt erklärte ich ihm mit heiserer Stimme: „Wenn wir Zuhause sind, sage ich dir, was Sache ist.“
Onkel Hans reagierte wie immer nicht wirklich mit ganzem Herzen. Der Bruder meiner Mutter versuchte vergeblich, emotional betroffen zu wirken. Er legte zögerlich einen Arm um mich und meinte in einem bemüht aufrichtigen Tonfall zu mir: „Peggy, das ist ja schrecklich. Es tut mir wirklich leid für dich. So eine Krankheit hast du nicht verdient.“
Ungelenk versuchte er bei diesen Worten mich richtig in den Arm zu nehmen.
Eigentlich hätte ich ihm für den Versuch dankbar sein müssen. Allerdings ahnte ich, was sich in seinem Gehirn abspielte. Es war ihm sicherlich unangenehm, nun ein weiteres Problem zu haben, das seinen geregelten Tagesablauf belastete. Vielleicht rechnete er sich gedanklich bereits aus, wie oft er nicht würde zur Arbeit gehen können, weil ich Pflege brauchte.
Da kam es auch schon: „Vielleicht sollten wir über eine passende Einrichtung für dich nachdenken?“ Wütend machte ich mich von meinem Vormund los. Er dachte doch auch nur an sich. Ich wollte seinen falschen Trost nicht. Am liebsten hätte ich ihm nun eine Szene gemacht und ihm alles an den Kopf geworfen, was er in seinem Leben und speziell im Umgang mit mir falsch gemacht hatte. Aber das würde ja auch nichts ändern.
Ohne Worte verschwand ich in mein Zimmer, knallte die Tür laut zu und schmiss mich auf mein Bett. Sehr viele Tränen flossen meine Wangen herab.
„Warum musste es mich treffen?“, schrie ich verzweifelt und hieb mit einer Hand mehrmals auf ein Kissen. Niemand antwortete mir und ich boxte weiter, bis ich vor Erschöpfung keuchend innehalten musste.
Als die Nacht kam, blieb ich lange wach. Es fiel mehr sehr schwer zu akzeptieren, dass ich bald sterben würde. Was hatte ich bisher schon vom Leben gehabt?
Am nächsten Tag unterhielten Onkel Hans und ich uns in der Küche über den erneuten Besuch beim Onkologen.
„Ich bin der Meinung, dass du eine Chemotherapie machen solltest. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung“, schlug er vor und gestikulierte vage.
„Nach der Besprechung mit dem Doktor werde ich mich entscheiden, was zu tun ist“, gähnte ich. Mein Schlaf war sehr bescheiden ausgefallen.
„Deine Mutter hätte sicher gewollt, dass du kämpfst. Das liegt in unserer Familie. Vielleicht verlängert sich deine Lebenszeit dadurch. Außerdem können Ärzte ja nicht in die Zukunft sehen“, ereiferte sich mein Onkel mit einer erstaunlichen Vehemenz für das Thema.
Sein plötzlicher Familiensinn verwunderte mich etwas. Woher das wohl kam?
Was er über meine Mutter und unserer Familie behauptete, stimmte jedenfalls.
Eher zufällig fiel mein Blick zur offenen Balkontür und überrascht stellte ich fest, dass dort ein Rabe auf Betonplatten hockte. Es schien beinahe so, als ob das Tier unser Gespräch belauscht hätte. Von mir entdeckt, verdünnisierte sich der heimliche Beobachter mit einem leisen Krächzen. Ob das der Rabe von gestern gewesen war? Diese Vermutung verwarf ich jedoch sofort wieder. Der Zufall wäre doch zu groß.
Nach der zweiten Unterhaltung mit dem Doktor, an der mein Onkel teilnahm, entschied ich mich für eine Chemotherapie. Sie sollte zumindest ein bisschen mein Leben verlängern. Mit mehr dürfe ich allerdings nicht rechnen. Doch das wusste ich ja bereits. Als mein Vormund gab Hans dem Arzt die Erlaubnis für dieses Vorhaben und die Chemotherapie lief bereits weniger Tage später an.
Rückblickend erinnere ich mich nur sehr vage an diese Zeit: unzählige Krankenhausaufenthalte bei Regenwetter, so kam es mir zumindest vor, Tage voller Schmerzen im Bett und das allgegenwärtige Gefühl der Schwäche. So flossen die Wochen dahin, ohne eine wirkliche Veränderung mit sich zu bringen.
Nach mehreren Monaten galt ich schlussendlich als austherapiert.
Der Ausfall meiner roten langen Haare als eine Nebenwirkung der Chemotherapie war dabei besonders schwer für mich zu ertragen. So erkannte jeder gleich auf den ersten Blick, dass ich eine schlimme Krankheit in mir trug.
Im Sommer und nach dem Absetzen der Chemotherapie kamen meine Haare langsam wieder. Noch nie hatte ich mich so über den roten Glanz meiner noch kurzen Mähne gefreut.
Es gab weitere gute Nachrichten. Mein Tumor war nicht weitergewachsen, was nicht nur mich, sondern auch den Arzt sehr erstaunte. Auch die Beschwerden tauchten immer seltener auf. Eigentlich müsste ich mittlerweile so schwach sein, dass eine medizinische Behandlung und ein Rollstuhl von Nöten wären oder sogar eine Verlegung ins Hospiz.
Dennoch fühlte ich mich gut. Raffte mein Körper vielleicht jetzt seine letzten Kräfte zusammen, bevor er eines nahen Tages tot umfiel?
Ich versuchte, die Entwicklung einigermaßen positiv zu nehmen und freute mich über jeden Tag, der frei von Schmerzen war. Wieder einmal hatte ich die Schule lange Zeit nicht besucht und das wollte man mir auch nicht mehr zumuten.
Dennoch fehlte mir der Kontakt zu Gleichaltrigen. Nach dem großen Krach damals mit Elisabeth, Kati und Daniela hatte ich mich sehr am Riemen gerissen und versucht, die Risse in unserer Freundschaft zu kitten. Dennoch war unser Verhältnis eher abgekühlt und meine Krebserkrankung half dabei auch nicht wirklich weiter. Witterten die Mädchen doch die Probleme und Umstände, welche eine totkranke Freundin mit sich bringen konnte.
Ob ich mich auch so verhalten würde? Sicher nicht!
Aber Einsamkeit war wirklich kein schönes Gefühl. Und darum suchte ich trotzdem immer noch den Kontakt mit den dreien. Denn die Zeit zum Schließen völlig neuer Freundschaften hatte ich bestimmt nicht mehr.
An einem sonnigen Nachmittag griff ich zum Telefon und versuchte erneut einen Vorstoß, um etwas mit meinen Freundinnen zu unternehmen.
Mit einer gewissen Nervosität rief ich bei Daniela an.
„Guten Tag Daniela, ich bin es.“
„Hallo Peggy“, drang eine zögernde Stimme aus der Hörmuschel. Begeisterung klang anders. Dennoch ließ ich mich nicht entmutigen.
„Ich wollte fragen, ob wir uns heute verabreden können. Wir könnten uns bei der Eisdiele treffen.“ Ein erneutes Schweigen zog sich in die Länge wie ein alter Kaugummi.
„Heute geht das leider nicht. Ich habe einen Arzttermin“, antwortete Daniela schließlich. Mich beschlich das Gefühl, dass sie am liebsten sofort aufgelegt hätte.
„Wie sieht es morgen aus?“, hakte ich nach.
„Ähm … da sieht es auch schlecht aus. Ich habe dann Nachhilfe und muss etwas für meine Schulnoten tun.“ In Danielas Stimme schwang ein abwehrender Unterton mit. Es wurde immer offensichtlicher, dass sie mir auswich.
„Das ist schade.“ Mutlos sank mir der Kopf auf die Brust.
„Falls ich wieder Luft habe, werde ich dich anrufen.“
Schon klickte es in der Leitung und Daniela hatte aufgelegt. Ich starrte ins Leere und hielt den Hörer in der Hand. Am liebsten hätte ich geweint. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Es hätte durchaus möglich sein können, dass Daniela zum Arzt musste. Sie hasste Ärzte zwar, aber auch das war keine Garantie für ständige Gesundheit. Aber Nachhilfe? Nie im Leben würde eine faule Nuss wie Daniela Nachhilfe akzeptieren. Ihr abweisendes Verhalten und ihre Lügen machten mich wütend und traurig zugleich.
Anschließend versuchte ich es noch bei Elisabeth und Kati. Doch keine von ihnen wollte sich mit mir treffen. Irgendwie musste es mir gelingen, die drei zu stellen. Ich hatte es wenigstens verdient, dass diese fiesen Ziegen mir die Wahrheit sagten und das von Angesicht zu Angesicht. Doch wie konnte ich sie treffen? Ich war so lange aus der Schule raus gewesen, dass ich nicht einmal mehr die aktuellen Stundenpläne kannte. Verflixt!
Mein Blick war auf das Fenster meines Zimmers konzentriert. Auf der Fensterbank hockte ein Rabe, der sofort verschwand, als er sich meiner Aufmerksamkeit gewahr wurde. Irritiert blinzelte ich. Wie seltsam! Dieser Vogel schien mich wirklich zu beobachten. Oder wurde ich aufgrund des Hirntumors lediglich langsam verrückt?
Am nächsten Tag hatte ich keine Ahnung, wo sich die drei Verräterinnen aufhalten könnten. Als ich die Wohnung nachmittags verließ, krächzte über mir ein Rabe. Verblüfft blickte ich nach oben und fragte mich, ob das wohl „mein“ Rabe sein könnte. Immerhin war ein solches Tier in den vergangenen Monaten immer wieder einmal in meiner Nähe aufgetaucht und hatte sich äußerst merkwürdig verhalten. Der Vogel zog über mir mehrmals enge Kreise. Das konnte einfach kein normales Tier sein!
„Soll ich dir folgen?“ Seinen neuerlichen Ruf verstanden meine Ohren als Zustimmung.
Neugierig und irgendwie aufgeregt folgte ich dem Tier über mir. Das Ganze kam mir nicht absonderlicher vor, als all die Schicksalsschläge, welche bisher so gnadenlos auf mich eingeprasselt waren. Und was hatte ich schon noch zu verlieren?
Unser Ziel war der Stadtpark.
Dort angekommen, erblickte ich zu meiner großen Verwunderung die drei Lügnerinnen auf einer Parkbank sitzen. So viel zum Thema Nachhilfe.
Ich marschierte zu ihnen und starrte sie sauer an. Ihre übertrieben geschminkten Gesichter konnten die innere Hässlichkeit nicht verstecken. Mit einem ziemlichen Widerwillen schauten sie mir entgegen. Jetzt würde ich ihnen die Meinung sagen und das würde nicht schön werden. So viel stand fest!
„Aha, so sieht Nachhilfe also aus! In letzter Zeit geht ihr drei mir aus dem Weg. Was ist falsch mit euch?“, fragte ich anklagend in die Runde.
„Wir haben viel zu tun. Was hast du denn für ein Problem?“, entgegnete Daniela genervt.
Die beiden anderen Mädchen nickten zustimmend. „Du bist irgendwie überempfindlich geworden. Natürlich haben wir nicht so viel Freizeit wie du. Wir müssen immerhin noch zur Schule gehen“, ergänzte Elisabeth und warf affektiert ihre lockigen Haare über die Schulter.
„Das wegen der Schule sehe ich auch so. Du bist echt zu beneiden, weil du nicht mehr kommen musst.“ Die letzte Unverschämtheit stammte von Kati, der dritten im Bunde.
Ich starrte die drei ungläubig an und stemmte die Hände in die Hüften.
„Von guten Freunden hätte ich erwartet, dass sie in schlechten Zeiten für mich da sind.
Ich habe Krebs! Versteht ihr das überhaupt? Ich werde in absehbarer Zeit sterben und ihr erzählt mir hier etwas davon, wie gut ich es hätte nicht mehr zur Schule gehen zu müssen.
Wir können ja gerne tauschen.“ Ich schrie mittlerweile. In meinem Innern brodelte der Zorn und ich stand kurz davor handgreiflich zu werden.
„Krieg dich mal wieder ein und mach da nicht so ein Drama draus. Wir müssen alle sterben - die einen früher, die anderen später. Ich habe nun einmal keine Lust, mich von dir runterziehen zu lassen. Warum sollten wir deshalb mit so jemandem unsere Zeit verbringen?“ Die neue Spitze stammte von Daniela und natürlich stimmten die zwei Mitläuferinnen ihr zu.
Gerade wollte ich wirklich aus der Haut fahren und mir Daniela greifen, als ein unerwartetes Bellen aus dem Park mich ablenkte.
Es klang so, als würde jemand gerade einen Hund verprügeln. Oh nein, wie ich solche Menschen verabscheute! Das war wichtiger, als der Streit mit den drei Ziegen.
Wieder hörten meine Ohren das schmerzverzerrte Jaulen des Vierbeiners. Ich schaute mich suchend um und versuchte die Richtung zu bestimmen, aus der es kam. Gerade, als ich dorthin laufen wollte, schrien meine ehemaligen Freundinnen überrascht auf. Was war los?
Es hatte unsinnigerweise ganz nach einem Freudenschrei geklungen.
Ich drehte mich zu ihnen um und erblickte etwas, das einer Szene aus einem Traum glich:
Jede der drei hielt urplötzlich ein beträchtliches Goldstück in den Händen und es lagen noch weitere Brocken in der Nähe der Parkbank auf dem Boden herum. Woher stammte dieses Gold? Es war ja wohl kaum vom Himmel gefallen und niemand befand sich in unserer unmittelbaren Nähe. Handelte es sich um Magie? Verstört schüttelte ich den Kopf.
Daniela jubelte: „Das ist unser Glückstag!“
Die drei Mädchen sammelten das Gold gierig ein, während ein erneutes, jämmerliches Fiepen aus dem nahen Wäldchen herüberwehte. Für den Hund hatten sie gar keine Ohren. Ich schauderte bei dem Anblick, der sich mir bot.
„Ein Hund ist in Not. Wie könnt ihr euch nur für dieses verfluchte Gold interessieren?“, fauchte ich entgeistert.
Daniela kommentierte meine Frage in ihrer überheblichen Art: „Vergiss doch diesen Hund! Was geht der uns an? Durch dieses Goldstück werde ich endlich reich!“
Voller Ekel wandte ich mich ab und lief in Richtung des Hundes los. Hinter mir erklangen die Rufe von Elisabeth und Kati:
„Das ist nicht unser Problem! Mit dem Gold werde ich mir endlich teuren Schmuck kaufen!“
„Soll der Köter doch selbst auf sich aufpassen. Wozu hat er Zähne? Für das Gold bekomme ich die neuesten Klamotten!“
Ich traute meinen Ohren nicht. Und mit diesen Mädchen hatte ich weiterhin befreundet sein wollen. Das kam nun gar nicht mehr in Frage.
Mit einem Kopfschütteln ließ ich die gierigen Lästermäuler hinter mir und kam nur kurze Zeit später in einem kleinen Wäldchen zum Stehen. Am Fuße einer großen Kastanie lag zusammengesunken ein junger Golden Retriever.
Die Augen des Hundes und sein Winseln verrieten mir, dass er sehr starke Schmerzen haben musste. Am Baumstamm hinter ihm klebten viele Blutspritzer. Über die Hälfte der splittrigen Borke war mit der roten Flüssigkeit bedeckt. Ich konnte nur erahnen, wie groß das Leid des armen Tieres sein musste und der Anblick war nur schwer zu ertragen.
Der Tierquäler war anscheinend verschwunden. Zumindest konnte ich niemanden mehr sehen. Das Tier blutete stark aus einer klaffenden Wunde am Bauch. Hier hatte jemand mit einem Messer zugestochen. Was sollte ich nur tun?
Ganz ohne Verbandszeug oder sonstige Kenntnisse blieb mir nichts anderes übrig, als mich neben den Hund zu knien und vorsichtig meinen Kapuzenpullover auf die Wunde am Bauch zu drücken. Schnell sog sich das Gewebe mit Blut voll. So würde ich die Blutung nie stoppen können. Das Leid schnürte mir das Herz zusammen und mit Tränen in den Augen streichelte ich sanft über den Kopf des armen Hundes. Mit heiserer Stimme murmelte ich tröstende Worte und konnte nur mühsam ein Schluchzen unterdrücken.
Mein Herz ahnte, dass er bald sterben würde. Immerhin würde er dabei nicht allein sein.
Mit einem Mal ging eine ungewöhnliche Wärme von dem Tier aus und meine Finger begannen zu kribbeln. Was geschah hier? Ich riss weit die Augen auf vor Erstaunen, denn der Hund begann sich aufzulösen. Stück für Stück wurde er blasser, wedelte noch einmal mit dem Schwanz und war schon verschwunden. Mein Pullover fiel auf den Erdboden und wie erstarrt blieb ich noch eine Weile sitzen. Was war da gerade geschehen?
Langsam stand ich wieder auf und grübelte, was das bloß alles zu bedeuten hatte. In diesem Moment vernahm ich das Jammern und Klagen drei mir leider allzu vertrauter Stimmen und hatte eine Vermutung, was der Grund dafür sein konnte. Falls der Hund nicht real gewesen war, musste das gleichfalls für das Gold gelten. Ich kehrte zu Elisabeth, Kati und Daniela zurück und mein Verdacht bestätigte sich. Die Goldstücke waren verschwunden. In meinen Gedanken tauchte der Rabe auf und ich war plötzlich felsenfest davon überzeugt, dass er uns vier getestet hatte.
Vielleicht gab es ja doch so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit?
Falls dem so wäre, hätte ich mir heute nichts zu Schulden kommen lassen. Für die drei Gierhälse lag der Fall ganz anders. Allerdings hatten sie keinen Krebs im Endstadium.
Schweigend verließ ich den Park und dachte noch auf dem Heimweg über das Erlebte nach. In meinem Zimmer setzte ich mich und blickte auf meine Hände herab. An ihnen hatte Blut geklebt, genauso wie an meinem Hoodie. Doch jetzt waren sie makellos sauber und wirkten irgendwie frischer, kräftiger.
Verblüfft ballte ich sie mehrmals zu Fäusten. Dabei wuchs in mir die fantastische Hoffnung, dass ich doch noch irgendwie geheilt werden könnte.
Einen Tag nach diesem geheimnisvollen Vorfall klingelte es an der Tür. Ich guckte kurz durch den Türspion und legte überrascht den Kopf schief. Dort stand eine Frau mittleren Alters, die mir sehr bekannt vorkam. Ich öffnete die Tür und erkannte, wer sie war.
„Hallo, bist du nicht Patricia Adamson?“, fragte ich vorsichtig.
„Ja, das stimmt.“ Die Frau nickte zur Bestätigung. „Und dein Name lautet Peggy Foster?“
„Genau!“, lächelte ich sie an, „Was für eine Überraschung. Es gibt dich also doch noch!“
Patricia war mit meiner Mutter gut befreundet gewesen. Vor ein paar Jahren erkrankte sie jedoch an Krebs, der ebenfalls unheilbar gewesen war. Daher verblüffte es mich jetzt, die Frau putzmunter vor mir zu sehen. Ich ließ sie hinein und wir gingen ins Wohnzimmer.
Unauffällig musterte ich Patricia dabei. Äußerlich merkte man nicht, dass sie krank sein könnte. Im Gegenteil, sie sah deutlich besser aus, als bei unserem letzten Aufeinandertreffen vor ein paar Jahren. Patricia ließ sich auf dem hellbraunen Sofa nieder und klopfte einladend auf den Platz neben sich.
„Ja, es ist einiges passiert, dass zu meiner Genesung führte“, antwortete sie vielsagend.
Plötzlich wuchs in mir die Hoffnung, dass es mir ähnlich wie Patricia ergehen könnte.
„Bitte erzähl mir davon! Ich habe nämlich auch Krebs und bestenfalls noch ein halbes Jahr zu leben“, brach es aus mir hervor und fast flehentlich ergriffen meine Hände die ihren.
Die Frau blickte mich nachdenklich an. Es überraschte mich, dass sie nicht schockiert von dieser Neuigkeit war. Oder hatte sie bereits davon gewusst? Wieder kam mir der Rabe in den Sinn. War das möglich? Patricia sah sich in der trostlosen Wohnung meines Onkels um und rümpfte die Nase.
„Mein Gefühl sagt mir, dass deine jetzige Wohnsituation überhaupt nicht gut ist. Habe ich recht?“ Ich nickte stumm. Ja, das war wohl unschwer zu erkennen.
„Wir haben uns jetzt eine lange Zeit nicht gesehen. Bitte erzähle mir davon, was in den letzten Jahren hier passiert ist.“
Unentschlossen zögerte ich. Sollte diese Frau wirklich von meinen schweren Zeiten erfahren? Dass wir beide Kontakt hatten, lag lange zurück. Und außerdem hatte die Frau sich nach dem tragischen Tod meiner Eltern nicht blicken lassen. Nicht einmal zur Beerdigung war sie erschienen. Andererseits verspürte ich das dringende Bedürfnis, mir allen Kummer von der Seele zu reden. Wer konnte meine Situation besser verstehen als eine Person, die selbst auch schon einmal in einer vergleichbaren Lage gewesen war? Daher entschied ich mich, ihr meine Ängste und Probleme zu schildern. Die Sache mit dem Raben verschwieg ich dabei allerdings. Vielleicht hielt Patricia mich sonst nachher noch für verrückt.
Nachdem die Freundin meiner Mutter mir geduldig zugehört hatte, erklärte sie bestimmt: „Dein Onkel und diese ehemaligen Freundinnen finde ich sehr unsympathisch. In meinen Augen sind sie alle auf die eine oder andere Art schlechte Menschen. Willst du nicht lieber zu mir ziehen? Ich biete dir Folgendes an: Du darfst bei mir auf meinem Gnadenhof kostenlos wohnen und erhältst auch Essen und Trinken. Und falls deine körperliche Verfassung es erlaubt, darfst du mir bei der Arbeit helfen. Na, wie wäre das?“
Ich blickte die Frau vor mir misstrauisch an und suchte nach einem Haken an der Sache. Sie blieb aber gelassen, als ich sie nach dem Grund für ihre Freundlichkeit fragte.
„Du bist die Tochter meiner Freundin und ich weiß, wie du dich gerade fühlst. Mein Herz sagt mir, dass es meine Aufgabe ist, dir jetzt zu helfen.“
Komplett waren meine Zweifel noch nicht ausgeräumt, aber während ich einen Tee kochte, dachte ich über das Angebot nach. Fern von der Stadt und den Menschen bei vielen Tieren zu leben, dieser Gedanke klang sehr reizvoll. Bei mehreren Tassen heißen Rooibos-Tees sprachen wir über die Schwierigkeiten und planten unsere nächsten Schritte. Patricia würde sowohl mit Onkel Hans, als auch mit den Behörden sprechen und alles Nötige regeln.
Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, das nicht nur vom Tee stammte. Endlich kümmerte sich jemand wirklich um mich.
Tatsächlich dauerte es nur zwei Tage, bis ich die Erlaubnis bekam, bei Patricia wohnen zu dürfen. Das erstaunte mich schon. Irgendwie beschlich mich das irrwitzige Gefühl, dass dieser Rabe erneut involviert gewesen sein könnte.
Am selben Tag, an dem die Genehmigung amtlich wurde, klingelte das Telefon. Ich nahm ab und ging mit dem Gerät in mein Zimmer zurück. Mein Onkel befand sich ohnehin auf der Arbeit.
„Guten Tag, hier ist Peggy Foster.“
„Hallo Peggy, hier ist Frau Sturm“, drang eine vertraute tiefe Stimme aus dem Hörer hervor.
Frau Sturm war meine Klassenlehrerin gewesen und die einzige Lehrkraft, welche das gegen mich gerichtete Mobbing ernst genommen hatte. Stets war sie für mich eingetreten und ich empfand sehr viel für diese großherzige und lebenslustige Lehrerin.
Einzig durch sie war der Schulbesuch noch zu ertragen gewesen und jetzt freute ich mich sehr darüber, ihre Stimme wieder zu hören.
„Hi! Was ist der Grund für Ihren Anruf?“, fragte ich neugierig.
Frau Sturm atmete hörbar tief durch und antwortete in einem nachdenklichen Tonfall: „Ich bin mir unsicher, ob du schon vom Unfall deiner drei Freundinnen erfahren hast.“
Unfall? Benommen setzte ich mich auf den Schreibtischstuhl und entgegnete zögernd: „Nein, das habe ich nicht mitbekommen. Was ist passiert?“
In einem sachlichen Ton schilderte mir meine ehemalige Klassenlehrerin, was passiert war. „Meine liebe Peggy, ich möchte dich nicht zu sehr durcheinanderbringen. Aber ich wusste nicht, ob du andernfalls überhaupt davon erfahren hättest. Daniela, Elisabeth und Kati fuhren mit dem Vater von Daniela zu einem Ausflugswochenende. Und auf dem Weg geriet ihr Auto in einen fürchterlichen Unfall. Dabei wurden deine drei Freundinnen leider schwer verletzt. Der Vater erlitt glücklicherweise nur leichte Blessuren. Es sieht ganz danach aus, als würden die drei Mädchen für den Rest ihres Lebens Spuren davon zurückbehalten. Kati kann nicht einmal mehr laufen, so wie es aussieht.“
Mit einem dumpfen Gefühl im Magen bekundete ich mein Beileid und dankte Frau Sturm sehr für ihren Anruf. An für sich hätte ich dieser Frau gerne von meinem baldigen Umzug erzählt, doch das würde kaum in dieses Gespräch passen. Ich verabschiedete mich herzlich von ihr und wünschte ihr für die Zukunft alles Gute. Dann herrschte Stille im Raum.
Die sanfte Stimme von Oma Margaret ertönte in meinem Kopf: „Jeder ist seines Glückes Schmied. Und ein jeder bekommt für seine Entscheidungen das, was er am Ende verdient.“
Ich nickte still vor mich hin. Um ehrlich zu sein, taten mir die Ziegen nicht wirklich leid. Natürlich gönnte man niemandem einen Unfall und bleibende Schäden für das Leben. Vielleicht hatten die drei allerdings aufgrund ihres gierigen Verhaltens irgendeine übergeordnete Macht bestraft. Die Gier hatte die drei blind gemacht.
Zwei weitere Tage verstrichen ereignislos, dann holte mich Patricia endlich mit ihrem Auto ab und gemeinsam fuhren wir zu meinem neuen Zuhause. Meinem alten Leben kehrte ich den Rücken und blickte nach vorne in die weite, unberührte Landschaft. Dort hoffte ich, meine Herzenswünsche verwirklichen zu können.