Читать книгу Windheart - Sam Finch - Страница 3

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Kapitel 2

Die goldenen Strahlen des Sonnenaufgangs weckten Lena an diesem Morgen.

Sie stand auf und trat mit federnden Schritten ans Fenster. Der Ausblick war wie immer friedlich und bestach durch die Schönheit der Natur, denn Lenas Haus befand sich mitten in Candelia, dem Land der Einhörner.

Die Heimat der behuften Zauberwesen lag inmitten einer ringförmig verlaufenden Gebirgskette und bildete ein weitläufiges, vor Stürmen geschütztes Tal.

Was außerhalb des mächtigen Steinmassivs existierte, das war ein gut gehütetes Geheimnis.

Lena genoss den sich ihr bietenden Anblick ausgiebig. Ihr Heim lag an einem besonders malerischen Hang, umgeben von lichten Wäldchen und glitzernden Bächen.

Vor einiger Zeit hatte das Mädchen zu einer Bewohnerin Candelias werden dürfen und dieses Zuhause bekommen. Nach seiner Ansicht waren vor allem die Bäume im Land der Einhörner schöner als jeder Wald in der Menschenwelt. Sie wirkten majestätisch und nahezu magisch. Hier war die Natur noch völlig unberührt. Keine Autos, keine lärmenden Menschen störten den Frieden, nur der Wind zauberte ein sanftes Rauschen in die tiefgrünen Wipfel.

Diese Ruhe mochte Lena sehr und sicherlich hätte sie die Szenerie noch weiter betrachtet, doch der Tag brachte einige sehr wichtige Aufgaben mit sich.

Nach dem Frühstück und dem Zähneputzen zog es das Menschenkind nach draußen. Ein schwacher Luftstrom spielte mit seinen Haaren und Lena genoss das Gefühl einen Moment lang.

Sie schaute sich nach ihrem Freund Ventus um und erblickte ihn ganz in der Nähe.

Als das geflügelte Einhorn seine Freundin bemerkte, hörte es auf zu grasen und tänzelte zur Veranda des Hauses herüber. Zur Begrüßung umarmte Lena den Hengst herzlich und streichelte sanft über die glänzend schwarze Mähne.


Sie fühlte sich jedes Mal so weich an! Ausgiebig kraute Lena Ventus hinter den aufgestellten Ohren und drückte ihre Stirn anschließend zärtlich gegen seine. Die morgendliche Streicheleinheit war ein Ritual zwischen ihr und dem Pferdewesen. Sie tat beiden gut und zeigte deutlich die innige Freundschaft der ungleichen Freunde. Während Lena gedankenverloren durch Ventus seidiges Fell wuschelte, erinnerte sich das Mädchen an die dunklen Zeiten, in denen das geflügelte Pferd sie vor dem inneren Abgrund bewahrt hatte.

Es war ein Tag vor Heiligabend. Die Einhörner hatten zwar keinen Bezug zu dem christlichen Fest, doch den wenigen menschlichen Bewohnern in Candelia wurde es gestattet, diesen Tag zu feiern. Das galt als Geste der Gastfreundschaft und des Verständnisses. Lena verließ am späten Nachmittag ihr Domizil und wollte einen Spaziergang machen.

Die Erinnerung an den Verlust seiner Mutter trieb das Mädchen um und es hoffte, durch etwas Bewegung auf andere Gedanken zu kommen. Der Himmel begann bereits zu dunkeln und einige Sterne blinkten zaghaft am Himmel. Es war still.

Unerwartet landete ihr Freund Ventus direkt vor Lena und schnaubte zur Begrüßung.

Sie lächelte ihn an, empfand aber keine echte Fröhlichkeit. Ihre Melancholie hatte in den letzten Tagen stark zugenommen. Sie überwog mittlerweile alle Lebensfreude und ließ sogar den Glanz der Heiligen Nacht verblassen. Ruhig trat der geflügelte Hengst auf das Mädchen zu.

„Lena, ich möchte dir ein schönes Geschenk machen, um deinen Kummer zu lindern“, begann Ventus mit seiner herzenswarmen Stimme. Er blickte sie aus grauen Augen ernst an.

„Es ist etwas Besonderes. Dazu muss ich dich aber erst noch etwas wissen lassen. Es geht dabei um unsere Freundschaft.“

Lenas Augen wurden größer und Neugier schimmerte in ihnen.

„Was möchtest du mir denn schenken? Das klingt aber sehr geheimnisvoll!“

Ventus' Blick wanderte zum Himmel. Der sonst so ruhige Alicornhengst wirkte etwas angespannt und sein Schweif zuckte nervös. Lena runzelte die Stirn. So kannte sie ihren Freund gar nicht. Nach einigen Augenblicken begann dieser erneut zu sprechen:

„Seit einer Weile spüre und sehe ich, wie sehr du deine Mutter vermisst. Es macht dich furchtbar traurig. Obwohl ich alles Mögliche versuchte, um dich aufzuheitern, konnte ich dir nicht wirklich helfen. Dich so leiden zu sehen, ist für mich schwer zu ertragen.“

Das geflügelte Zauberwesen zögerte und sprach schließlich weiter. „Ich erfuhr, dass man deine Mutter temporär aus der Heimat der Seelen holen könnte. Dazu muss man jedoch bereit sein, einen hohen Preis zu zahlen.“

Lena fühlte sich mittlerweile wie eine gespannte Bogensehne. Ventus‘ Stimme klang irgendwie hohl und düster. Worauf wollte er hinaus?

„Was für ein Preis soll das sein?“, hakte sie mit einem Zittern in der Stimme nach.

„Ich hätte ursprünglich die Hälfte meiner eigenen Lebenszeit hergeben müssen, um deine Mutter für einen Tag zu dir ins Diesseits zu holen.“

Schockiert lachte Lena auf. Was für ein absurd hoher Preis! Das würde doch kein Lebewesen auf sich nehmen. Lächerlich! Ventus stand steif und still da wie eine Statue und dem Mädchen verging das Lachen mit einem Mal. Das Verständnis rieselte langsam wie scharfkantige Eiskristalle in sein Bewusstsein hinein. Von einer grausigen Angst ergriffen, starrte Lena das magische Wesen vor sich an. „Ventus, was soll das? Du hast doch nicht etwa eingewilligt? Bist du bescheuert?!“

Der Alicornhengst trabte zu Lena, legte seinen Hals auf ihre Schulter und schmiegte sich zutraulich an sie. Die Wärme, welche von ihm ausging, war ein Symbol seiner Liebe zu ihr.

Dem Mädchen traten die Tränen in die Augen und es lauschte mit angsterfülltem Herzen seinen Worten. „Damals in der Menschenwelt hast du mich gepflegt, als es mir sehr schlecht ging. Dafür bin ich dir immer noch sehr dankbar. Du bist meine beste Freundin und dein Glück liegt mir mehr am Herzen als mein eigenes Leben. Zunächst zögerte ich, was den Preis betraf, willigte dann aber schließlich ein. Mein Opfer erschien mir angemessen für die Freundschaft, welche uns beide verbindet. Aber, sei jetzt nicht zu schockiert. Denn die Geschichte endet glücklich. Als der Verantwortliche meine Entscheidung hörte, muss er die Stärke unserer Verbindung dermaßen beeindruckt haben, dass er mir die Bitte ohne das Bezahlen eines Preises gewährte. Ich darf dir allerdings nicht verraten, mit wem ich sprach und wie genau die Reise deiner Mutter von statten geht.“

Lena hatte schweigend zugehört und schluckte mehrere Male.

„Uff … da bin ich beruhigt. Aber, Ventus, hättest du wirklich dieses gewaltige Opfer auf dich genommen … für mich?“, fragte sie äußerst bewegt und ihre Augen füllten sich mit Tränen der Rührung. Ventus schnaubte und schüttelte verlegen seine glänzende Mähne.

„Ja, ich hätte das tatsächlich für dich getan. Der Wert unserer Freundschaft lässt sich mit nichts in der Welt aufwiegen.“ Er zog den Hals zurück und zwinkerte seine Freundin verschmitzt an. „Allerdings ist es mir so natürlich lieber.“

Lena lachte erleichtert auf und umarmte ihren tierischen Freund fest. Ein Damm schien zu brechen und sie begann heftig zu weinen. Dabei wich der lange auf ihm ruhende Seelenschmerz langsam aus dem Mädchen heraus.

„Ich werde dir immer dankbar sein. Du bist mein bester Freund und ich werde dieses Weihnachtsgeschenk niemals vergessen!“, schluchzte sie glücklich.

Eine Weile standen beide so da und genossen die stille Zweisamkeit. Als keine Tränen mehr flossen, löste Lena schließlich ihre Umarmung. Und Weihnachten kam über die Welt, auch über die Welt der Einhörner.

Die Erinnerungen verschwammen und gaben das Mädchen frei. Es blinzelte kurz und gab dem Alicornhengst ein kleines Küsschen auf die pelzige Wange.

„Wie geht es dir, Ventus? Hast du gut geschlafen? Ich hatte einen wunderschönen Traum!“ Lenas Hand streichelte sanft über die weichen Nüstern des Hengstes. Er schnaubte erfreut.

„Ich bin wohlauf und meine Träume waren ebenfalls angenehm, danke. Wollen wir jetzt schon zum Gnadenhof fliegen?“ Ventus stupste seine Freundin gegen die Schulter und schaute sie mit einem unternehmungslustigen Leuchten in den Augen an. Diese grübelte kurz und nickte schließlich zustimmend.

„Ja, wir machen uns am besten sofort auf den Weg.“

Lena ergriff einige Büschel von Ventus kräftiger Mähne, um sich so auf seinen Rücken zu ziehen. Ihr Freund breitete die eleganten Flügel aus, spannte die kräftigen Muskeln an und sprang mit einem freudigen Wiehern in die Höhe.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sich beide hoch in der Luft befanden.

Zunächst war das Flugtempo gemütlich. Das nutzte Lena, um Candelias Schönheit ausgiebig aus der Vogelperspektive zu genießen. Es gab tiefgrüne Mischwälder, weitläufige Wiesen, die über und über mit Blumen bedeckt waren, gewundene Bäche und klare, beinahe kreisrunde Seen. Das Land der Einhörner bestach durch seine Schönheit und friedliche Anmut. Nirgendwo wucherten Dornenbüsche und von überall leuchteten Lena die fröhlichsten Farben entgegen. Auch beobachtete sie mit großer Freude die vielen Einhörner unter ihr, welche grasten, Wasser tranken, galoppierten oder sich unterhielten. Eine friedliche Stimmung herrschte in Candelia.

Ventus drehte ab und nahm Kurs auf den zart schimmernden Schutzschild, welcher den Himmel der Außenwelt vom Land der Einhörner trennte. Per Magie erkannte diese Bedeckung sofort ohne Zweifel, wer ein Freund oder ein Verbündeter der Einhornwelt war und wer eine Gefahr darstellte. Dahinter begann die Menschenwelt und das Mädchen registrierte vom Rücken seines Freundes aus, dass die Farben hier ein wenig blasser zu sein schienen. Hier fehlte es einfach an Magie.

Nach einer Weile landete der geflügelte Einhornhengst auf einer Lichtung und verwandelte sich in seine Pferdegestalt. Mitten am Tag wäre das Risiko zu groß, beim Fliegen von Fremden gesehen zu werden. Also setzten die ungleichen Freunde ab hier den Weg am Boden fort. Ventus trabte mal auf sandigen, dann wieder auf mit Laub bedeckten Waldwegen dahin und Lena plauderte dabei vergnügt mit ihm. Es dauerte eine ganze Weile, bis beide ihr Ziel erreichten. Schließlich wich der Wald zu Gunsten eines größeren Anwesens zurück und der getarnte Hengst verfiel in einen kurzen Galopp.

Lena jauchzte vor Freude und ließ sich den Wind um die Ohren Pfeifen. Sie liebte die Geschwindigkeit.

Erst kurz vor dem Haupthaus hielt das Duo an. Sie waren mit der Aufgabe betreut worden, von dort ein Mädchen namens Windheart abzuholen. Dieses hatte unglaublichen Mut bewiesen und zwei verzweifelte Einhörner vor Jägern gerettet. Zum Dank durfte es nun drei Tage lang in der Einhornwelt leben und über seinen weiteren Lebensweg entscheiden.

Weil die zwei Mädchen sich bereits begegnet waren, und Lena Windheart ziemlich sympathisch fand, hatte sie sich dazu bereit erklärt, die Gastgeberin zu spielen. Nach einer raschen aber herzlichen Begrüßung nahmen beide auf Ventus starkem Rücken Platz und gemeinsam ging es wieder zurück in die Einhornwelt.

Nun saßen die zwei etwa gleichaltrigen Mädchen einträchtig nebeneinander auf der Veranda von Lenas Haus und unterhielten sich angeregt.

„Mir ist gestern während meines ersten Kurzausflugs in die Einhornwelt aufgefallen, dass es ja sogar in Candelia einen Gnadenhof gibt. Wie ist das bloß möglich?“, wollte Windheart in diesem Moment wissen.

„Eigentlich war es ja bis vor kurzem noch ganz undenkbar, dass wir Menschen in der Einhornwelt leben“, entgegnete Lena und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Das wollte sie sich gar nicht erst vorstellen. Candelia war mittlerweile schon ein Teil von ihr. „Die Einhörner wollten jeden Kontakt mit uns vermeiden. Denn in der Vergangenheit sind viele dieser Zauberwesen außerhalb von Candelia wegen ihrer Hörner gejagt und getötet worden. Daraus entstand die Überzeugung, dass alle Menschen schlecht seien. Die alten Gesetze verbaten Zweibeinern den Aufenthalt in der Einhornwelt. Das änderte sich erst nach den Schreckenstaten des Zauberers Gerlingga, der alle Einhörner töten wollte.

Die Menschenfrau Susan half beim Kampf gegen diese massive Bedrohung. Ihr gehört der Gnadenhof, von dem du sprachst. Am Ende gewann glücklicherweise die Seite der Einhörner. Und als Belohnung für ihre Loyalität durfte Susan fortan die Magie Candelias nutzen, um auch schwer misshandelte Tiere pflegen zu können. Natürlich geht das hier viel besser als in der Menschenwelt. Darum wurde der gesamte Hof per Teleportation hierher versetzt.

Lange ist das noch gar nicht her. Jedenfalls dürfen einige Menschen heutzutage in Candelia wohnen. Und Dank der Zauberkraft unserer Gastgeber verfügen wir sogar über fließendes Wasser, Strom und einigen anderen Komfort“, ergänzte Lena und reckte sich zufrieden.

„Zum Glück! Denn alles andere wäre unheimlich mühsam.“

Windheart hatte ihrer Gastgeberin aufmerksam zugehört. Sie war wild darauf, möglichst viel über dieses wundervolle Land zu erfahren. Neugierig erkundigte das Mädchen sich nach dem Grund für Lenas Aufenthalt bei den Einhörnern. Diese grinste und winkte ab: „So spannend wie bei Susan ist meine Geschichte nicht.“

In Kurzform schilderte die Gastgeberin ihrem Gast, wie sie und Ventus einander kennengelernt hatten und wie ihre Freundschaft gewachsen war. Nachdem der Hengst durch die Brutalität von Menschen ums Leben kam, wäre Lena vor Trauer beinahe selbst gestorben. Doch durch mysteriöse Umstände kehrte Ventus als Alicorn ins Leben zurück und holte seine Freundin nur kurze Zeit später zu sich nach Candelia.

„Leider darf er mir nicht verraten, wie genau es dazu gekommen ist. Hauptsache ist aber, dass wir hier zusammen sein dürfen. Mein altes Leben in der Menschenwelt fehlt mir nämlich kein Stück.“ Lena runzelte die Stirn und blickte etwas finster in die Ferne. Windheart betrachtete das Mädchen nachdenklich von der Seite und dachte sich ihren Teil.

„Wissen deine Eltern, Freunde und Verwandte denn überhaupt, dass du in Candelia bist?“, wollte sie vorsichtig wissen. Die Antwort war ein hartes, bitteres Lachen.

„Meine Eltern sind gestorben, bevor ich eine Bewohnerin von Candelia wurde.“

Ventus, der die Mädchen in Ruhe gelassen und sich etwas abseits zum Grasen postiert hatte, hob seinen Kopf und blickte in diesem Moment zu Lena herüber. Er schien zu spüren, dass Lena ihn brauchte und wieherte fragend. Seine zweibeinige Freundin lächelte als Antwort und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn glätteten sich etwas.

„Er ist mein bester, einziger und wahrer Freund, musst du wissen. Menschen haben mich immer nur schwer enttäuscht.“ Sie seufzte leise bei den unliebsamen Erinnerungen.

„Hast du auch schlechte Erfahrungen mit falschen Freunden machen müssen?“, wollte Lena nun wissen und wandte sich zu ihrem Gast um. Sie schienen einiges gemeinsam zu haben.

„Ja, das musste ich in der Tat. Sehr schmerzhafte sogar“, erwiderte Windheart und blickte bekümmert drein. Beide schwiegen einen Moment, jede in ihren eigenen Gedanken gefangen.

Glücklicherweise riss nur wenig später ein Neuankömmling die Mädchen aus ihren trüben Gedanken. Es war König Sapientia, der geflügelte Herrscher von Candelia, der mit wenigen imposanten Flügelschlägen vom Himmel herabstieß und elegant auf der Wiese landete.

Windheart stockte unvermittelt der Atem vor Ehrfurcht.

Sapientias Erscheinungsbild war sehr königlich und anmutig. Seine Gestalt schien von innen heraus zu strahlen. Er war groß, schlank und Muskeln zeichneten sich deutlich unter dem milchig schimmernden Fell ab. Als ein vorwitziger Sonnenstrahl auf sein goldenes Horn fiel, gleißte dieses wie ein Stern. Selbst die Mähne des Herrschers glitzerte, als hätte sie jemand mit winzigen Diamanten bestäubt. Gelassen faltete der Einhornkönig seine schneeweißen Schwingen zusammen.

Beide Mädchen standen schweigend auf und gingen andächtig auf den König zu. Auch Ventus stieß dazu und die drei verneigten sich ehrfürchtig vor dem Alicornhengst.

„Hallo ihr beiden. Ich wollte dir, Windheart, mitteilen, dass der Hengst Salva bald hier sein wird. Er ist das Einhorn, welches sich mit seiner Gefährtin Elsa Nachwuchs wünscht und dich kennenlernen möchte. Was du mit ihm unternimmst, wird er dir offenbaren.“

Der Herrscher Candelias besaß eine sehr tiefe und ruhige Stimme. Sie drang einem bis ins Innerste und erfüllte das Herz mit Frieden und Zuversicht. Windheart nickte erfreut. Auf diese Nachricht hatte sie gewartet.

Bevor die Mädchen noch etwas dazu sagen konnten, hatte sich der König der Einhörner bereits wieder in die Luft aufgeschwungen. Still blickten die beiden Mädchen seiner anmutigen Gestalt nach.

Auch Lena drehte sich jetzt zu ihrem Gast und entschuldigte sich: „Sorry Süße, aber mein Freund und ich müssen dich nun leider auch alleine lassen. Wir haben wichtige Aufgaben zu erledigen, die einige Stunden dauern können. Mach es dir einfach in der Sonne gemütlich, okay? Salva ist ein schneller Flieger. Lange wirst du bestimmt nicht warten müssen.“

Ermutigend drückte sie Windhearts Hände und schwang sich anschließend mit einer flüssigen Bewegung auf den Rücken ihres Freundes. Sekunden später schossen die beiden in Richtung Horizont davon und verschwanden rasch aus dem Blickfeld der etwas verdatterten Windheart.

Allein gelassen, legte sich Windheart direkt ins weiche Gras und vertrieb sich die Zeit mit Tagträumen. Das Mädchen erinnerte sich daran, wie es sich damals als Kind ein Einhornleben vorgestellt hatte. Diese Vorstellung war ihm mit Abstand immer die liebste gewesen.

Als kleines Einhornfohlen galoppierte Windheart durch einen großen Wald. Sie hatte keine Angst, obwohl dieser Teil des Waldes ihr neu war. Auf einer Lichtung, die von einem kleinen Bach durchströmt und von üppigem weichem Gras bewachsen wurde, hielt das Fohlen an und wieherte glockenhell. Dem Ruf folgend, tauchten einige kleine Waldtiere auf und das Einhorn spielte lange Zeit mit ihnen. Und wenn ein Tier des Waldes verletzt war, heilte Windheart es mit ihrem Horn. Damit konnte sie übrigens auch andere Zaubertricks vollführen und zum Beispiel bunte Funken durch die Luft tanzen lassen.

In ihrer Kinderfantasie war alles leicht und idyllisch gewesen. Ob sie der Wirklichkeit glich?

Windheart wurde durch ein Wiehern aus ihren Träumereien gerissen.

Ein weißes Alicorn landete auf der Wiese. Dieses hatte allerdings eine graue Mähne, einen grauen Schweif und ein silbernes Horn. Wie Windheart dank Lena wusste, waren die meisten Einhörner weiß. Nur ihre Hörner schimmerten häufig silbern. Jedoch zeigten sich in den Mähnen und Schweifen der magischen Wesen deutliche Farbunter schiede.

Etwas schüchtern stand die Einhornanwärterin auf und trat zu dem fremden Hengst hin.

„Hallo, ich bin Windheart“, sagte sie mit klopfendem Herzen.

„Guten Tag Windheart, mein Name ist Salva“, entgegnete der Alicornhengst freundlich.

Seine Stimme klang sympatisch und er lächelte das Mädchen auf eine so einladende Art an, dass es sich in seiner Nähe prompt wohl fühlte.

Das war also ihr möglicher Vater. Er wirkte ruhig, kräftig und irgendwie zeitlos jung. Jedoch hatte Windheart das Gefühl, dass Salva bereits einiges erlebt haben musste. Seine ruhige und selbstbewusste Körperhaltung deutete es zumindest an.

„Hat König Sapientia dir von meinem Herzenswunsch berichtet?“, fragte die Einhornanwärterin ihn gespannt.

„Ja, er trug uns dein Anliegen vor. Elsa und ich sind uns jedoch noch unschlüssig, ob wir diesen Weg wirklich beschreiten wollen. Darum baten wir den König, dich kennenlernen zu dürfen. Nur so wird sich herausfinden lassen, ob wir dazu bestimmt sind, eine Familie zu werden.“

Das Mädchen nickte. Diese Vorgehensweise klang logisch. Hoffentlich fand Salva Windheart ebenso sympathisch, wie der Hengst auf das Mädchen wirkte.

„Werde ich Elsa denn heute ebenfalls noch treffen?“, hakte es eifrig nach. Der Hengst zuckte mit den edel geschwungenen Ohren und neigte schließlich einmal den Kopf.

„Das wird sich noch zeigen. Ich schlage dir vor, mich zunächst bei meinen täglichen Aufgaben zu begleiten. Nebenbei kann ich dir alle wichtigen Orte von Candelia zeigen und etwas über sie erzählen.“

Windhearts Augen leuchteten begeistert auf und sie strahlte.

„Heißt das, ich darf auf deinem Rücken reiten und mit dir fliegen?“, vergewisserte sie sich hoffnungsvoll und ballte aufgeregt ihre Hände zu Fäusten. Als Antwort schnaubte der Hengst nur belustigt und drehte ihr einladend seine Flanke zu. Das Mädchen jubelte innerlich.

Mit großer Vorsicht fasste es nach der silbergrauen Mähne, um sich so auf seinen Rücken zu hieven. Wie der Wind galoppierte der Alicornhengst los und erhob sich mit einigen Flügelschlägen in die Lüfte.

Während des Fluges versicherte Salva seiner Reiterin, dass Magie einen Absturz von seinem Rücken verhindern würde. Seine Fürsorge rührte das Mädchen und es lächelte glücklich.

Sein Herz machte einen kleinen Freudensprung.

Nach und nach lockerte Windheart ihren Griff, damit Salvas Mähne keinen Schaden nahm. Dann versuchte die Einhornanwärterin sich vorzustellen, wie sie selbst als Alicorn fliegen würde. Das musste einfach herrlich sein!

Die oft so komplizierte Welt von oben zu betrachten und sie wie einen bunten Flickenteppich unter sich liegen zu sehen, verschaffte dem Mädchen ein Gefühl von Freiheit.

Hier gab es keinen Ballast, keine Sorgen oder Ängste. Es war atemberaubend!

Nachdem es eine Weile die Aussicht genossen hatte, erblickte das Mädchen plötzlich einen weiß im Sonnenlicht leuchtenden Pavillon unter sich.

„Was ist das da für ein Gebäude?“, fragte es und wies mit dem Finger nach unten.

Der Hengst überlegte eine Weile, bevor er bedächtig antwortete:

„Dies ist einer der bedeutsamsten Orte von Candelia. Im Pavillon befindet sich ein sehr kostbares Relikt. Sollte es Schaden nehmen, wären die Folgen für den ganzen Planeten bedrohlich. Die Einhörner würden langsam ihre Zauberkräfte verlieren und sich zu normalen Pferden zurückverwandeln. Und sogar in der Menschenwelt käme es zu Naturkatastrophen, wie auch dem Zusammenbruch der Jahreszeiten.“

Fasziniert blickte Windheart auf die anmutigen Formen des steinernen Bauwerks hinab. Es besaß den Grundriss eines Sterns und verfügte über einen ähnlichen Schimmer. Wüssten die Menschen von dieser Kostbarkeit, würden einige von ihnen bestimmt gerade deswegen versuchen, es zu stehlen. Der größte Teil von ihren Artgenossen hatte einfach keinen Respekt vor der Natur, was die Alicornanwärterin wütend und traurig machte.

„Dürfte ich mir diesen Pavillon später genauer anschauen?“

Salva schüttelte langsam den Kopf und erklärte, dass nur ganz bestimmte Einhörner dieses Heiligtum betreten durften. Das Mädchen seufzte enttäuscht.

„Ist es dir erlaubt diesen Ort zu besuchen?“, fragte es den Hengst vorsichtig.

Der Hengst warf einen halb belustigten, halb stolzen Blick über die Schulter zu ihr und nickte. Es gefiel ihm anscheinend, wie sehr sie sich für Candelia interessierte.

„Ja, ich dürfte es.“

Das Mädchen musterte den schlanken Kopf des Hengstes und ahnte, dass Salva eine besondere Stellung in der Einhornwelt innehaben musste. Der Respekt vor ihrem möglichen Ziehvater wuchs. Sie flogen weiter und Windheart warf dem Gebäude einen letzten, fast sehnsüchtigen Blick zu, bevor es aus ihrem Blickfeld verschwand.

Um das Thema zu wechseln, erkundigte sie sich nach Salvas Aufgaben. Gerade flogen die zwei eine weite Kurve und überflogen einen größeren See. Der Hengst erklärte geduldig, dass es noch aus alten Zeiten vier Weltentore in Candelia gab. Durch sie war es auch Einhörnern möglich, ihr Heimatland per Huf zu verlassen. Immerhin konnte nicht jeder Bewohner der Einhornwelt fliegen. Und eben jene Portale galt es täglich zu kontrollieren, denn sie seien besonders anfällig für Angriffe von außen.

„Das geht sicher viel schneller, wenn man fliegen kann“, mutmaßte das Mädchen.

„Stimmt. Darum wäre es auch gar nicht schlecht, wenn die Einhornwelt ein weiteres Alicorn bekäme“, lobte Salva die schnelle Auffassungsgabe seiner Reiterin.

Die letzte Bemerkung verunsicherte Windheart etwas. Hatte Salva ihr einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben? Das Mädchen schwieg und dachte über diese Äußerung nach.

Kurze Zeit später landete das Duo zunächst am nördlichen Portal. Zu Gesicht bekam Windheart ein rundes Tor von beeindruckenden Ausmaßen. Problemlos würden zehn ausgewachsene Einhörner gleichzeitig durch den steinernen Rundbogen hindurchschreiten können. Im Moment waren die zwei gewaltigen Flügeltüren jedoch verschlossen.

Das Mädchen betrachtete fasziniert die graue Oberfläche dieses Portals, welches nur von einen Seitenpfeilern, massiven Säulen, gestützt, in der ansonsten freien Landschaft stand.

Schwarze Wellen wanden sich über den gesamten Bogen. Handelte es sich dabei um Symbole für den Wind oder für das Wasser? Unschlüssig zuckte die Besucherin Candelias mit den Schultern. Zu ihrer Verblüffung gab es weder einen Riegel noch einen Griff zum Öffnen des Tors. Eine Art magische Spannung flirrte an diesem Ort und führte dazu, dass Windheart eine Gänsehaut an den Armen bekam.

„Ich steige wohl lieber von dir ab, damit du deine Aufgabe besser durchführen kannst“, erklärte sie vorsichtig und war schon von Salva herabgerutscht, bevor der sie beschwichtigen konnte. Diese Aufgabe musste sehr wichtig sein, daher wollte sie dabei nicht im Weg sein.

Mehrere Minuten lang schritt der Hengst konzentriert das Portal ab und prüfte es zusätzlich mit magischen Funken, die er aus seinem Horn schickt. Seine Begleiterin schwieg andächtig und blickte ihn erwartungsvoll an. Salva schien zufrieden zu sein.

„Ich habe keinen Schaden entdecken können. Weißt du, es kommt häufiger zu Angriffen von außen. Ganz sind wir Einhörner der Aufmerksamkeit der Menschen leider nicht entgangen, obwohl uns die meisten Zweibeiner mittlerweile zum Glück für reine Fantasiewesen halten. Aber einige besonders Gierige versuchen es hartnäckig immer wieder. Und dann müssen wir aufpassen und die Schutzzauber immer wieder von Neuem verstärken.“ Windheart juckte es in den Fingern, das uralte magische Portal einmal zu berühren.

Der Hengst bemerkte ihren Blick und lachte auf. „Na los Kind, berühre das Tor ruhig. Ich sehe doch, dass du so neugierig bist, wie ein Eichhörnchen.“

Windheart grinste. Salva hatte sie erwischt.

Behutsam trat sie vor, legte eine Hand vorsichtig auf eines der Flügeltore und strich sanft darüber. Zu ihrem Erstaunen stellte sich das Material nicht als Stein heraus. Es fühlte sich noch härter an. Erstaunt wandte Windheart sich zu Salva um. „Woraus besteht das Tor?“

Der Hengst schüttelte seine Mähne und legte den Kopf schief. „Die Portale wurden vor so langer Zeit errichtet, dass es niemand mehr so genau weiß.

Mehr kann ich dazu leider nicht sagen.“ Salva schien sich ein bisschen über seine Bildungslücke zu genieren. Er senkte verlegen den Blick und scharrte mit dem Vorderhuf am Boden. Windheart bereute ihre Frage. Ihr möglicher Ziehvater bewies so viel Geduld und hatte bisher alles erklärt. Sie musste ihm ja nun kein Loch in den Bauch fragen. Entschuldigend trat sie auf ihn zu und streichelte über Salvas feines Stirnfell. Der lächelte sie dankbar an und räusperte sich. „Nun gut, unser nächstes Ziel ist das Tor im Süden.“

Dieser Flug benötigte wie erwartet mehr Zeit als der vorherige. Aber das störte Windheart nicht. Sie genoss den erfrischenden Wind auf der Haut und plauderte angeregt mit dem Alicornhengst. Beide entdeckten dabei einige gemeinsame Vorlieben und die Zuneigung des Mädchens für Salva wuchs beständig weiter. Er schwamm sogar gerne. Damit hätte Windheart nie gerechnet, aber es freute sie unheimlich.

Als die zwei sich einige Zeit später in der Landephase befanden, spürte die Einhornanwärterin, dass ihr Begleiter nervös wurde. Die Muskeln des Hengstes spannten sich an und sie glaubte zu bemerken, wie einige Härchen seines Fells sich aufstellten.

Besorgt beugte sie sich vor. Salvas Stimme klang sehr ernst, als er ihr erklärte: „Ich orte eine Bedrohung, die sich ziemlich nahe auf der anderen Seite des Tors befindet.

Wir werden Verstärkung brauchen.“

Salvas Horn leuchtete für Sekundenbruchteile rot auf. Ob er auf diese Weise mit den anderen kommunizierte? Das Mädchen schob den Gedanken beiseite und fragte etwas ängstlich:

„Was machen wir jetzt?“

Beide waren nur noch wenige Flügelschläge vom Ziel entfernt. Obwohl dieses Waldstück ruhig aussah, verriet ihm ein Bauchgefühl, dass der friedliche Anblick trog.

„Wir landen hier und du solltest bitte möglichst viel Abstand zum Tor halten. Es kann ansonsten gefährlich für dich werden.“

Salvas besorgter Blick glich bereits dem eines fürsorglichen Vaters. Das Mädchen schluckte und nickte. Die Lage schien ernst zu sein. „Was ist das für eine Bedrohung?“, fragte Windheart mit raschem klopfendem Herzen.

Salvas Blick war starr auf das Portal gerichtet. Mehr zu sich selbst, als zu seiner Begleitung murmelte der Hengst: „Schwarzer Nebel … eine Herde Einhörner wird von schwarzem Nebel verfolgt. Verdammt. Der darf unter keinen Umständen nach Candelia gelangen.“

Das magische Wesen stampfte entschlossen mit dem Huf auf und blähte seine Nüstern.

Windheart wich etwas weiter in den Schatten der Bäume zurück. Schwarzer Nebel?

Davon hatte sie noch nie etwas gehört. Es klang aber auch wirklich nicht einladend.

Mit zusammengepressten Lippen verfolgte sie den Hengst, der mit der Magie seines Horns das magische Tor zur Menschenwelt öffnete. Die beiden Flügeltüren schwangen in einem erstaunlichen Tempo und beinahe lautlos auseinander.

Vor ihnen lag die Menschen welt. Ein dunkelgrüner, fast finsterer Nadelwald erstreckte sich jenseits des Tores, ganz anders als die lieblichen Mischwälder im Reich der Einhörner.

Aus der Ferne sah die Alicornanwärterin eine größere Anzahl Einhörner, die in einem halsbrecherischen Tempo auf sie zu galoppierten. Hinter ihnen gewahrte Windheart eine schwarze, diffuse Front. Das musste der Nebel sein und er war offenbar lebendig!

Fasziniert und zutiefst verängstigt verfolgte das Mädchen die groteske Szene vor sich.

Aber das sollte noch nicht Gefahr genug sein.

Denn plötzlich hörten Salva und seine Begleiterin weitere Stimmen ganz in ihrer Nähe. Sie klangen unbekümmert und drangen aus dem Waldstück, das hinter ihnen lag. Der Hengst und das Mädchen drehten sich um und stellten entsetzt fest, dass eine kleine Gruppe von nichts ahnenden Einhornfohlen in Begleitung zweier erwachsener Artgenossen gerade in Richtung des Südtors unterwegs waren. Die würden direkt in die flüchtende Herde hineinspazieren!

Alarmiert stellte sich Salva auf die Hinterbeine und wieherte warnend.

„Die Fohlen müssen sofort hier weg. Sowohl der schwarze Nebel als auch die flüchtenden Einhörner gefährden ihr Leben!“, rief er aus. Das Mädchen blickte zwischen dem Portal und dem Waldstück hin und her. Salva musste das Tor bewachen und die Flucht der Einhörner aus der Menschenwelt sichern. Also konnte er den Fohlen nicht entgegeneilen. Es selbst könnte dies aber durchaus tun. Mit eiliger Stimme umriss Windheart ihre Idee und erntete ein dankbares Nicken vom Alicornhengst mit der grauen Mähne.

„Mach das, Windheart und pass auf dich auf!“

Flink eilte das Mädchen in den Wald hinein, lief zwischen jungen Bäumen und hindurch und stieß kurz darauf auf die unwissende Gruppe. Ohne sich mit langer Vorrede aufzuhalten, rief es den völlig verblüfften Tieren zu: „Achtung, am Südtor herrscht Gefahr! Kehrt sofort um!“

Kaum hatte Windheart ihren Warnruf ausgestoßen, hatten die Fohlen und erwachsenen Einhörner bereits kehrtgemacht. Sie stoben erschrocken davon und wirbelten dabei Sand und Blätter auf. Ob die Magiewesen die Warnung verstanden oder sich nur vor dem fremden Menschen geängstigt hatten, dass wusste die Alicornanwärterin nicht. Es spielte jedoch auch keine Rolle.

Geschwind und um Salva besorgt, kehrte Windheart zum Südtor zurück.

Mehrere Einhörner passierten soeben das geöffnete Portal. Weit hatten sie die Augen aufgerissen und blickten immer wieder panisch hinter sich. Was auch immer dieser Nebel war, er jagte ihnen eine Heidenangst ein. Windheart sah sich hektisch um.

Wo war Salva? Das Herz des Mädchens setzte einen Schlag aus. Er musste auf der anderen Seite sein! Aber warum?

Den fliehenden Einhörnern ausweichend, rannte es zum Torbogen hin und blickte hindurch in die Menschenwelt. Erschrocken schrie die Alicornanwärterin auf.

Ein Fohlen steckte auf der anderen Seite etwa 50 Meter entfernt im Wurzelwerk der Bäume fest. Seine Eltern versuchten verzweifelt, es daraus zu befreien. Doch viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Der dunkle Nebel waberte bedrohlich und hatte die kleine Gruppe beinahe erreicht. Es war ein grauenhafter Anblick, welcher sich Windheart jetzt bot.

Salva hatte sich auf die andere Seite begeben und drängte mühsam sich zwischen den Flüchtenden hindurch. Einige Male wäre er beinahe umgerannt worden. Doch zielstrebig kämpfte der tapfere Hengst sich voran. Das Mädchen drückte ihm im Geiste die Daumen.

Bei der Familie angekommen, senkte ihr mutiger Begleiter sein Horn und berührte die Wurzeln. Funkeln sprühten auf.

Endlich schaffe es das kleine Einhorn, sich aus dem Klammergriff zu befreien.

Aber die Nebelwand stand kurz davor, auf sie herabzustürzen und die Unglücklichen einzuhüllen. Bei diesem Anblick wurde der Alicornanwärterin ganz kalt ums Herz. Gab es noch eine Rettung für die Ärmsten? In diesem Moment hörte sie Salvas kräftige Stimme: „Lauft zum Tor und schließt es sofort!“

Sein Horn leuchtete noch stärker auf als zuvor. Ein großer weißer Energiestrahl kam daraus hervorgeschossen und traf auf den Nebel. Das dunkle Etwas zischte an jenen Stellen, die durch das magische Licht versengt wurden. Es krümmte sich wie Unmengen von schwarzen Maden und wich widerwillig ein Stück zurück. Doch rasch strömte er von neuem heran.

Stand der Alicornhengst im Begriff, sich für die anderen zu opfern? Das durfte nicht sein!

Der Nebel türmte sich bedrohlich auf, was eine Flucht durch die Luft unmöglich machte. Das Mädchen spürte, wie die Verzweiflung ihm die Luft abschnürte. Windheart wollte sich nicht ausmalen, ihren möglichen Vater bereits vor der eigenen Geburt zu verlieren.

„Salva! Nein! Bitte nicht!“, schrie sie aus voller Kehle.

Die letzten Einhörner passierten den Torbogen und mit Erschrecken musste das Menschenkind feststellen, dass einige von ihnen sich daran machten, die Flügeltüren zu verschließen. Natürlich wollten sie dem schwarzen Nebel Einhalt gebieten, doch was würde dann aus Salva werden? Windheart stürzte auf die Einhörner zu und war im Begriff, sie mit Zähnen und Fäusten an ihrem Vorhaben zu hindern, als urplötzlich ein blaues Alicorn an ihnen vorbei in die Menschenwelt schoss.

Es stieß durch eine Nebelschwade hindurch und arbeitete sich scheinbar mühelos zu dem Alicornhengst mit der grauen Mähne hindurch. Windheart schnappte nach Luft. Bestand doch noch Hoffnung?

Der Neuankömmling feuerte ebenso einen Energiestrahl aus seinem Horn ab. Dieser besaß eine gänzlich andere Wirkung. Statt den Nebel in die Schranken zu weisen, löste die graue schimmernde Energie ihn einfach auf. Langsam verpuffte die Dunkelheit und die Strahlen der Sonne drangen wieder bis zum Waldboden herab.

„Bitte lass diesen Nebel ganz verschwinden“, murmelte das Mädchen angespannt. Alle warteten wie versteinert auf den Ausgang dieses Kampfes.

Während Salva angestrengt und entschlossen weiter auf die schwarze Bedrohung feuerte, wirkte das blaue Alicorn gar nicht gestresst. Windheart hörte, wie eines der anderen Einhörner andächtig einen Namen flüsterte: Hycamin. Kurz darauf war der schwarze Nebel völlig verschwunden. Geschafft!

Der Einhornanwärterin wurden die Knie vor Erleichterung weich wie Pudding.

Salva kehrte mit seinem Verbündeten in die Einhornwelt zurück und das Südtor wurde verschlossen. Kaum war der Hengst gelandet, stürmte Windheart schon auf ihn zu und umarmte ihn fest.

„Ich hatte solche Angst, dass du dein Leben verlieren könntest“, schluchzte sie mit erstickter Stimme und drückte ihre Wange in sein weiches Fell.

„Es ist sehr lieb von dir, dass du dich um mich gesorgt hast“, erwiderte Salva etwas müde.

Sie ließ ihn los und suchte an seinem Körper nach Wunden. Zum Glück schien der Hengst nicht verletzt zu sein. Dann wandte sich Windheart an das dunkle Alicorn.

„Vielen, vielen Dank. Ohne dich hätte es sicher schlimm geendet.“

„Das mag sein, liebes Kind. Gern geschehen. Nun muss ich mich aber um die Ursache dieses Nebels kümmern, damit sich ein solt hoffentlich nicht wiederholt“, entgegnete Hycamin bestimmt. Das Mädchen hatte kurz die Gelegenheit, das mitternachtsblaue Fell und den sonderbaren flachsbarbenen Fleck auf Hycamins Flanke zu bewundern, den man mit etwas Fantasie für eine Löwentatze halten könnte. Dann war das eigenartige Wesen auch schon wieder verschwunden.

Die Alicornanwärterin staunte nicht schlecht.

„Uff … Das ist eine unglaubliche Geschwindigkeit“, stellte sie verblüfft fest.

Eigentlich hätte Windheart gerne mehr über dieses blaue Alicorn erfahren. Allerdings war sie in diesem Moment einfach nur froh darüber, Salva wohlbehalten bei sich zu wissen.

Bevor sie den Ort verließen, überprüfte der Alicornhengst mit der grauen Mähne den Torbogen auf mögliche Schäden. Während Windheart auf ihn wartete, entdeckte sie schwarze Symbole auf der magischen Materie, ähnlich denen am Nordtor. Diesmal zeigten sie jedoch deutliche Flammenmuster. Was das wohl zu bedeuten hatte?

Salva versuchte, seine Erschöpfung zu verbergen, aber ganz gelang es ihm nicht. Er bat seine Begleiterin, sich auf seinen Rücken zu schwingen. Anstatt aber zu fliegen, schritt der Alicornhengst zu Huf weiter. Neugierig warf er ihr einen Blick über die Schulter zu. „Du hast dir also wirklich Sorgen um mich gemacht?“, fragte er und es lag ein seltsamer Glanz in seinen meerblauen Augen. Windheart nickte.

Was gab es daran zu verstecken? Dieser tapfere und verantwortungsbewusste Hengst war ihr bereits jetzt sehr ans Herz gewachsen.

Salva schien sich über die Reaktion sehr zu freuen. Er schnaubte und zwinkerte seiner Reiterin zufrieden zu. „Ich mag dich, Windheart. Du bist ein liebes und mutiges Mädchen. Mein Herz hat ein gutes Gefühl bei dem Gedanken, dass wir eine Familie werden könnten.“ Geschmeichelt durch das wundervolle Lob, strich das Mädchen sanft über den Hals des Hengstes. Es druckste etwas herum, wusste aber keine passende Erwiderung. Glücklicherweise wurde das peinliche Schweigen zwischen den beiden unterbrochen, als ein weißes Alicorn mit goldener Mähne, goldenem Schweif und silbernem Horn vor ihnen landete. Der grazile Körperbau verriet Windheart, dass es sich um eine Stute handeln musste und ein Blick auf den geschwollenen Bauch zeigte klar, dass sie trächtig war.

Das wunderschöne Geschöpf musste Elsa sein.

Die Einhornanwärterin lächelte die Alicornstute erfreut an und betrachtete sie genauer. Elsa war nur unwesentlich kleiner als Salva. Wie auch ihr Gefährte wirkte sie jung und erweckte trotzdem den Eindruck, bereits einiges erlebt zu haben. Elsa betrachtete das Mädchen offen und unverstellt. Dann wanderte ihr Blick zu Salva hinüber. Sie nickte ihm langsam zu.

„Hallo, ich bin Windheart“, durchbrach die Besucherin Candelias etwas schüchtern die Stille.

„Sei mir gegrüßt, mein Name lautet Elsa“, erwiderte die werdende Mutter. Ihre Stimme klang warm und herzlich. Windheart konnte sich die beiden ganz ausgezeichnet als ihre künftigen Eltern vorstellen. Wie genau stellten sich die Elsa und Salva eine Familie vor?

Das galt es unbedingt herauszufinden.

Neugierig blickte das Mädchen von einem Pferdewesen zum anderen: „Falls ich eure Tochter wäre, was würdet ihr von mir erwarten?“ Der Hengst und die Stute blickten sich kurz an. Elsa übernahm schließlich das Wort: „Wir möchten, dass du glücklich bist und möglichst wenig Leid erleben musst. Salva und ich haben in unserem alten Leben als normales Pferd oft gelitten. Wir hoffen, dass dir so etwas nicht passiert. Uns ist es nicht wichtig, welche Aufgabe du als Alicorn erfüllen wirst. Bedeutsam ist nur, dass du deine Tätigkeit gerne tust.“

Die schöne Alicornstute hatte sehr warmherzig während ihrer kleinen Ansprache geklungen und Salva legte stolz seinen Kopf auf den Hals seiner Gefährtin. Windheart spürte, dass diese Erklärung aufrichtig gemeint war und nickte verstehend.

Dann herrschte für eine Weile Schweigen. Es war jedoch keines von der unangenehmen Sorte und das Mädchen ließ sich alles Gesagte durch den Kopf gehen.

„Was könnten wir gemeinsam unternehmen?“, fragte es die Stute und den Hengst spontan. Das Alicornpaar überlegte kurz und der Hengst grinste verlegen.

„Hm … Elsa und ich lieben es miteinander zu kuscheln. Das macht uns glücklich. Vielleicht sollten wir einmal versuchen, gemeinsam zu kuscheln.“

Auch Elsa sah Windheart einladend an und spitzte ihre Ohren.

„Oh, das wäre toll. Ich habe so lange schon niemanden mehr gehabt, mit dem ich schmusen konnte“, erwiderte die Alicornanwärterin geschmeichelt mit einem sehnsüchtigen Unterton in der Stimme.

Also ließ sich das Alicornpärchen auf der Wiese nieder. Ihre schimmernden Körper schmiegten sich aneinander. Dabei knabberten Hengst und Stute sehr liebevoll am Hals des jeweils anderen. Salva schnaubte wohlig und Elsa wieherte leise. Windheart blickte die beiden mit einem Anflug von Zärtlichkeit an und legte sich vorsichtig über die Rücken der beiden. Die Körperwärme der magischen Pferdewesen umhüllte das Mädchen wohlig und sie schloss entspannt die Augen. Das Gefühl, welches es empfand, ließ sich nur schwer in Worte fassen. Es war ein Gemisch aus Freude und Frieden, aus Stille und Juchzen, aus Geborgenheit und Zukunft.

Sanft streichelte Windheart auf den Widerristen ihrer möglichen neuen Eltern entlang.

Das entspannte Atmen des Paares zeigte ihr, dass auch sie die Zärtlichkeit und die Harmonie des Moments genossen. Sicherlich würden Elsa und Salva mit ihrem eigenen Fohlen ebenso herzlich umgehen und kuscheln. Ja, für Windheart stand fest, dass diese Alicornstute und dieser Alicornhengst ihre zukünftigen Eltern sein sollen. Falls … ja falls das Leben als Alicorn wirklich etwas für sie wäre.

Das Mädchen unterdrückte ein unsicheres Seufzen. Es würde versuchen müssen, noch mehr über Candelia herauszufinden, aber nicht hier und nicht jetzt.

In diesem Moment war nur die Dreisamkeit wirklich wichtig. Windheart wollte ihn frei von jeglichen Sorgen oder anderen Ablenkungen genießen. Und dies gelang ihr auch.

Denn mit einem Mal hatte das Waisenmädchen den Eindruck, als gäbe es nur sie drei in ihrer ganz eigenen und vollkommenen Welt.

Windheart

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