Читать книгу Tödliche Küsse - Samantha Prentiss - Страница 6
ОглавлениеKapitel 3
Der Landrover rumpelte im Schritttempo über eine gewölbte Steinbrücke, die noch aus der Zeit Heinrichs VIII. zu stammen schien. Dann waren das Knacken und Mahlen des Getriebes zu hören, das Röhren des Motors und das Singen der Geländereifen, die mit zunehmender Geschwindigkeit wieder über glatten Asphalt rollten.
Nur ein schwacher Schimmer fiel von der Armaturenbrettbeleuchtung zu den hinteren Sitzbänken, die parallel zur Längsachse des Fahrzeugs eingebaut waren.
Dr. Philip J. Woodhams konnte einen Moment die Augen seines Gegenübers erkennen. Es waren die gleichen Augen, die ihm noch vor zwei Stunden den Himmel auf Erden versprochen hatten wenigstens für eine Nacht.
Jetzt blickte das blonde Girl kalt und berechnend. Es passte zu der kleinen Pistole, die sie auf dem Schoß hielt: Eine ›Beretta‹, Kaliber 6,35 Millimeter.
Woodhams verspürte das brennende Verlangen, der falschen Hexe mit ein paar schallenden Ohrfeigen klarzumachen, was er von ihr hielt. Aber erstens war er an Händen und Füßen gefesselt und zusätzlich mit dem Oberkörper an der Rückenlehne der Sitzbank festgebunden. Und zweitens musste er sich eingestehen, dass er sowieso nichts riskiert hätte. Denn dem Bärtigen traute er alles zu, auch wenn der Kerl offensichtlich alle Hände voll damit zu tun hatte, den Landrover sicher über die kurvenreiche Provinzstraße zu lenken. Bei der Dunkelheit und den unvorhersehbaren Schlaglöchern kein Kinderspiel. Dr. Philip J. Woodhams stöhnte, in der Hoffnung, dass es ihm Erleichterung verschaffen würde.
»Kummer?«, fragte die Blondhaarige.
Er ahnte ihren höhnischen Gesichtsausdruck, obwohl er nichts sehen konnte. »Dreckstück!«, zischte er leise genug, damit es der Rotbart nicht hörte.
Sie lachte glucksend. »Scheint so, als ob du dazugelernt hast, Doktorchen. Wenn wir länger zusammen wären, könntest du deinen Wortschatz ganz schön bereichern.«
»Darauf pfeife ich.«
»Oh, ich habe volles Verständnis für deinen Ärger. Rede dir ruhig alles von der Seele, was dich bedrückt. Übrigens, ich heiße Brenda. Das sollst du wenigstens wissen. Kein gutes Gefühl, wenn man ein aufregendes Erlebnis in der Erinnerung behält und dabei immer an eine Namenlose denken muss, stimmt's?«
Woodhams vergaß die Lage, in der er sich befand. »Bei einer von deiner Sorte erinnert man sich sowieso nur an den Körper. Alles andere ist unwichtig!«
Brenda sprang auf, hielt sich am Dachholm fest, als der Wagen in eine Neunzig-Grad-Rechtskurve schlingerte. »Elender Mistkerl!« schrie sie schrill. »Du bildest dir was ein auf deinen Grips und deinen Zaster, wie? Aber ich werde dir zeigen, was das für mich wert ist!« Sie holte aus, um mit der Pistole zuzuschlagen. »Pass' nur gut auf, dass es für dich vorhin keine tödlichen Küsse waren, du Scheißkerl!«
Woodhams sah es an dem matten Lichtreflex, den der Waffenstahl erzeugte.
»Ruhe dahinten!«, brüllte der Bärtige. »Das gilt auch für dich, Baby! Reiß dich gefälligst zusammen! Wenn wir unser gutes Stück nicht unversehrt abliefern, ist das ganze Geschäft im Eimer.«
Brenda ließ einen murrenden Laut der Enttäuschung hören und setzte sich wieder.
*
Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen.
Dr. Woodhams hing seinen Gedanken nach, die sich um die Bemerkung des rotbärtigen Iren drehten. Unversehrt abliefern … Sicher, die Leute kannten seinen Marktwert. Aber auf welchem Markt wollten sie ihn verschachern? Es gab viele Möglichkeiten, doch die wahrscheinlichste war, dass man ihn in einen der russischen Staaten entführen wollte.
Mit den Forschungsarbeiten, die Dr. Woodhams während der letzten zwei Jahre auf dem Gebiet der Lenkwaffentechnik abgeschlossen hatte, war er allen Kollegen in der Russischen Föderation ebenso weit voraus wie den Europäern. Insbesondere handelte es sich dabei um sein Aufsehen erregenden Neuentwicklungen auf dem Gebiet der panzerbrechenden Boden-Boden-Raketen. Die Wirkungsweise des neuen Waffensystems war inzwischen in militärischen Fachkreisen bekannt. Doch die Pläne dafür lagerten in den bestbewachten unterirdischen Panzerschränken von ›Vineland‹ in ›New Jersey‹.
Es gab nur einen Mann, der diese Pläne im Kopf hatte. Weil er sie selbst entwickelt hatte. Dr. Woodhams bereute es zutiefst, dass er sich der ›NSA‹, der ›National Security Agency‹, gegenüber derart schroff verhalten hatte, als sie vor ein paar Monaten versucht hatten, ihm Leibwächter und Objektschutz für seine Villa in ›Millville‹ aufzuzwingen. Gegen seine strikte Ablehnung hatten sie nichts machen können. Sie hatten ihn zähneknirschend darauf hingewiesen, in welche höllischen Situationen er als Geheimnisträger der Stufe I geraten konnte.
Auch das hatte nichts genützt. Woodhams hatte von dem ganzen Bewachungsfirlefanz, wie er es nannte, nichts wissen wollen. Doch nun steckte er in der angekündigten höllischen Situation.
Über die Konsequenzen war er sich im Klaren. Wenn er in der Folterkammer irgendeines ausländischen Geheimdienstes zu reden begann, war er des Landesverrats schuldig. Und das bedeutete, dass er erledigt sein würde, wenn er jemals in die Vereinigten Staaten zurückkehrte.
Dr. Woodhams wurde aus seinen Gedanken gerissen, als der Bärtige auf die Bremse trat und den Landrover nach links von der Fahrbahn lenkte. Im zweiten Gang holperte das schwere Fahrzeug durch die tiefen, welligen Furchen eines Feldwegs. Woodhams wandte den Kopf und sah, dass der Ire die Scheinwerfer ausschaltete, nur noch mit Standlicht fuhr. Er schien die Gegend bestens zu kennen.
Etwa eine halbe Meile abseits der Provinzstraße stoppten die Entführer des Wissenschaftlers auf dem Gelände einer alten, halbverfallenen Farm. Das ehemalige Wohnhaus diente nunmehr als Feldscheune für einen Farmer, der die Ländereien irgendwann übernommen hatte. Scheune und Stallungen waren nur noch Ruinen. Verwitterte Dachsparren ragten wie überdimensionale Zahnstocher in den vom Mond nur schwach erhellten Nachthimmel.
Der Ire stellte den Motor ab und schaltete auch das Standlicht aus. Er griff seine Schrotflinte und drehte sich nach hinten um. »Du passt auf, Brenda! Viele Dummheiten kann er zwar nicht machen, aber wenn er anfangen sollte zu schreien, bringst du ihn auf die sanfte Tour zum Schweigen. Ich denke, du schaffst das.«
»Und ob«, versicherte das Blondhaar. »Wie spät ist es?«
»Noch zehn Minuten bis Mitternacht. Wenn die Leute genauso pünktlich sind wie wir, können wir in einer halben Stunde feiern.«
»Ich glaube erst dran, wenn ich das Geld in den Fingern habe.«
»Glaub', was du willst. Ich sehe mich in der Landschaft um. Besser ist besser.« Er schwang sich ins Freie und lehnte die Fahrertür lautlos an. Die Doppelflinte in beiden Fäusten, ging er langsam auf das Farmhaus zu, spähte sichernd nach allen Seiten, horchte nach Geräuschen.
Absolute Stille lastete über dem Anwesen.
Der Ire glaubte seinen eigenen Herzschlag zu hören. Er blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr.
Noch acht Minuten.
Bis zum vereinbarten Übergabetermin um Mitternacht konnte er das Gelände kontrolliert haben. Eine wesentliche Voraussetzung. Die Leute, die ihm den Auftrag gegeben hatten, legten Wert auf Sicherheit und eine reibungslose Abwicklung.
Schon aus diesem Grund hatte er das einsam gelegene Gehöft als Treffpunkt gewählt. Dort war es praktisch ausgeschlossen, dass ihnen jemand in die Quere kam.
Der Ire lenkte seine Schritte nach rechts und ging an der Außenmauer des Farmhauses entlang. Kniehohes Gras strich um seine Hosenbeine. Er dämpfte seine Schritte so weit wie möglich und kontrollierte die beiden Seiteneingänge des Hauses, die mit Vorhängeschlössern gesichert waren. Alles unversehrt, auch die Fenster. Die Möglichkeit, dass sich ein Landstreicher in dem Gebäude einquartiert hatte, schied also aus.
Der Bärtige spähte um die Ecke. An der Rückseite des Hauses gab es nichts zu überprüfen. Den Weg konnte er sich schenken.
Er brachte den Gedanken nicht zu Ende.
Die Silhouette löste sich blitzartig aus dem Schatten des Mauerwerks und des überhängenden Daches – keine drei Schritt entfernt.
Der Ire zuckte zusammen, riss die Schrotflinte in Anschlag. Doch er schaffte es nicht mehr, einen der Hähne zu spannen. Er hatte das furchtbare Gefühl, dass sich das bläulich-weiße Mündungsfeuer wie eine Lanze in seine Brust fraß. Es war das schrecklichste und grausamste Gefühl seines Lebens - und zugleich das letzte, was sein Hirn registrierte. Seine Sinne waren ausgelöscht, noch bevor er das leise Klicken der Waffe hören konnte.
Es war kaum mehr als das Verschlussgeräusch, das die schallgedämpfte Pistole beim Schuss verursachte.
Der Mann, der Fallschirmspringerstiefel, eine enge Moleskinhose und einen dunkelgrünen Parka trug, drückte noch zweimal ab. Dann stieg er über die Leiche hinweg und ging ohne besondere Eile an dem Gebäude entlang in Richtung Farmhof.
Er steuerte auf das noch offene Heck des Landrover zu. Seine Augen hatten viel Zeit gehabt, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Deshalb sah er die Blondhaarige, lange bevor sie ihn ausmachte.
»Alles in Ordnung?«, rief sie, als sie seine Schritte hörte. Ihre Stimme vibrierte. In der Finsternis schien es ihr unbehaglich geworden zu sein.
»Einen Moment noch«, sagte der Mann in der unverkennbaren Aussprache des Engländers, »gleich i s t alles in Ordnung!«
Brenda wollte aufschreien, wollte die Beretta auf den Fremden anlegen. Nichts gelang ihr, weil sie die Schrecksekunde nicht rechtzeitig überwand.
Die Pistole des Engländers klickte dreimal kurz hintereinander.
Dr. Woodhams stieß einen Laut des Entsetzens aus, als das Mädchen vornüberkippte und mit dem Gesicht auf seinen Schoß fiel.
Aber der Mann war schon im nächsten Moment zur Stelle, packte das tote Mädchen und zerrte es über die Heckklappe zu Boden. Zwei Sekunden später schwang er sich hinter das Lenkrad und ließ den Motor kommen. Der Ire hatte den Zündschlüssel steckenlassen. »Leider kann ich Sie nicht sofort aus Ihrer unbequemen Lage befreien, Dr. Woodhams«, sagte der Engländer, während er den Rover zwischen Wohnhaus und Scheune hindurch auf einen Feldweg lenkte, der weiter ins Gelände führte, von der Provinzstraße weg. Er fuhr völlig ohne Beleuchtung – eine Tatsache, die darauf schließen ließ, dass er sich die Umgebung noch besser eingeprägt hatte als der Ire.
Dr. Woodhams hatte kaum Zeit, seine Fassungslosigkeit über das Geschehen zu verwinden. Bei jeder Bodenwelle schlug ihm die Rückenlehne der Sitzbank hart ins Kreuz.
Der Fremde jagte mit mindestens zwanzig Meilen pro Stunde über den dunklen Feldweg. Ein halsbrecherisches Tempo, den Umständen entsprechend.
Dr. Woodhams versuchte, sich zu konzentrieren. Es fing an mit der Waffe, die der Engländer benutzte. Fraglos handelte es sich um das Neueste, was auf dem Schalldämpfersektor entwickelt worden war. Woodhams kannte auch dieses Gebiet der Waffentechnik. Es war eine Firma in Deutschland, die erst vor kurzem diesen Schalldämpfer konstruiert hatte, der nach einem neuen, geheim gehaltenen Prinzip arbeitete.
Der Schalldämpfer war abgestimmt auf eine Pistole vom Typ ›Walther PPK‹, Kaliber 7,65 Millimeter. Beides zusammen ergab ein Abschussgeräusch, das leiser war als eine Luftpistole. Eben jenes Klicken.
Die Tatsache, dass der Fremde mit einer solchen Waffe ausgerüstet war, die für die meisten Geheimdienste noch als Zukunftsmusik galt, ließ vermuten, dass er für eine Spitzenorganisation arbeitete. Aber um welche Organisation mochte es sich handeln? Dass der Mann Engländer war, besagte nicht viel. Möglicherweise war er einer von den Agenten, die ihre Dienste auf dem freien Markt meistbietend verkaufen.
Dr. Woodhams bekam das unangenehme Gefühl, dass er vom Regen in die Traufe geraten war.
Etwa zehn Minuten mochten verstrichen sein, als der Fremde endlich Gas wegnahm und schließlich den Rover zum Stehen brachte. Er drehte sich um und spähte über die Heckklappe in die Dunkelheit hinaus.
Als Woodhams in die gleiche Richtung blickte, erkannte er die winzigen Lichtpunkte – etwa dort, wo sich das Farmhaus befinden musste.
»Sieben Minuten nach Mitternacht«, stellte der Engländer fest. »Da drüben fluchen sie jetzt Stein und Bein, Doktor. Sie können sich gratulieren. Sie bleiben im Westen.«
»Im Westen?«, echote Woodhams verblüfft. »Aber ich verstehe nicht. Arbeiten Sie etwa für die ›NSA‹ oder ›CIA‹? … Oder für den ›MI5‹?«
»Kein Kommentar, Doktor. Begnügen Sie sich vorerst mit dem, was ich eben sagte. Am besten halten Sie es sich während unserer gemeinsamen Reise ständig vor Augen. Dadurch erleichtern Sie die Sache für uns beide.«
Also doch, dachte Dr. Woodhams, vom Regen in die Traufe. Trotzdem war er froh, als der Fremde ihm die Fesseln löste und ihn zu sich auf den Beifahrersitz komplimentierte.
Sie setzten die Fahrt fort, erreichten etwa eine halbe Stunde später eine feste Straße und kurz darauf einen Parkplatz, auf dem sie in einen bereitstehenden älteren ›WolseleySix‹ umstiegen.
Dr. Woodhams wusste, dass es glatter Selbstmord sein konnte, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Er hatte mit eigenen Augen erlebt, wie wenig dem Engländer ein Menschenleben bedeutete. Und weil Woodhams noch nicht wusste, was dieser Mann mit ihm vorhatte, verzichtete er von vornherein auf alle waghalsigen Gedanken.
***