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ОглавлениеVom Leben und Überleben
Sie trösten auf Trauerkarten mit ewig gleicher Symbolik, eine verlassene Landstraße etwa, die am Bildrand den Fluchtpunkt sucht. Sie zieren Briefe in Blumengestecken: Worte, die Trauernde stützen sollen. Manche klingen hilflos, andere ermutigend; selten sind sie treffend, oft wirken sie ungelenk – dabei sind sie alle bloß gut gemeint. Es ist ein Ringen um Sätze, für die eine passende Sprache erst noch erfunden werden muss. Besonders nach einem unerwarteten Todesfall wie einem Suizid1 scheint es für Außenstehende schwierig bis unmöglich, ihr Beileid angemessen auszudrücken. Neben einer überwältigenden Anteilnahme zählten Plattitüden wie »Das Leben geht weiter« oder »Jede Krise hat auch ihr Gutes« zu den verlegensten Reaktionen, die den Hinterbliebenen in diesem Buch ans Herzen gelegt wurden.Ein Ratschlag aber ließ eine trauernde Schwester aufhorchen und wirkt so pragmatisch und unaufgeregt, dass man ihn beim ersten Hören durchaus als frech empfinden könnte. Er beschränkt die Zukunft der Trauernden auf zwei Richtungen: »Entweder bleibst du nun für den Rest deines Lebens verbittert, oder du bist dankbar für die Zeit, die du mit dem Verstorbenen verbringen durftest.« Verbitterung versus Dankbarkeit. Liegen bleiben oder aufstehen. Aufgeben oder fortfahren. Eine Entscheidung? So einfach in Worte gefasst, so schwierig in Taten umzusetzen. Und genau danach fragt dieses Buch. Es stellt diejenigen Personen ins Zentrum, die nach einem Suizid eines Familienmitglieds an der Kreuzung zurückgelassen wurden: Welche Richtung wählen Hinterbliebene, nachdem ein Nahestehender sie für immer verlassen hat? Bleiben sie stehen oder folgen sie dem Verstorbenen? Oder machen sie kehrtum und schlagen für sich einen komplett neuen Weg ein?
Anders ausgedrückt: Leben Zurückgelassene weiter oder überleben sie bloß?
Der plötzliche Tod wuchtet wie ein Spaltpilz im Leben der Hinterbliebenen. Nimmt sich ein naher Angehöriger das Leben, beginnt für sie eine Zeitenwende: Der auf einmal unbesetzte Platz am Esstisch wird zum quälenden Ausdruck dessen, was insbesondere Familien nach dem plötzlichen Tod eines Mitgliedes erfahren: Augenblicklich fällt ein Element aus dem vertrauten System, die Grundmauern beginnen zu wanken – und stürzen im schlimmsten Fall ein.
Zurückgelassene nach Suizid, in Fachkreisen auch »Survivors« genannt, stehen vor großen Hürden. Diese teilen sie ein Stück weit mit Betroffenen, die Menschen durch eine unerwartete Krankheit oder einen Unfall verloren haben – der plötzliche Tod katapultiert das bisherige Leben aus der gewohnten Laufbahn. Stillstand, während die Welt der Mitmenschen weiterdreht. »Survivors« haben nebst dem Schock und der Trauer mit zusätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen: Oft vergehen qualvolle Stunden, wenn nicht Tage, bis die Leiche nach der Obduktion freigegeben wird. Bei einer Selbsttötung rückt außerdem sofort die Suche nach der Ursache ins Zentrum, verknüpft mit der Schuldfrage und der Angst vor gesellschaftlichen Stigmata. Nicht nur das Leben danach gerät aus den Fugen: Hinterbliebene hinterfragen zusätzlich das gesamte Leben und Handeln vor dem Suizid, was zu einer tiefen Verunsicherung bis zu einem nur schwer zu behebenden Vertrauensverlust führen kann.
Die nachfolgenden Geschichten fokussieren sich auf hinterbliebene Brüder und Schwestern. Nach dem Suizid meiner Schwester stellte ich fest, dass es zwar viel Literatur für Eltern und Partner gibt, kaum aber etwas zum Thema Geschwistertrauer. Dabei kann die Geschwisterbeziehung durch die gemeinsame Kindheit sehr intim sein und gar zu den längsten Verbindungen in einem Leben zählen.2 Ähnlich wie die Eltern, erleben die Geschwister die Zäsur durch den plötzlichen Tod hautnah. Im Gegensatz zu diesen stehen sie jedoch in einer gewissen Distanz zu dem oder der Verstorbenen, da es sich nicht um das eigene Kind handelt, das sich für den Tod entschieden hat. Ein Bruder oder eine Schwester unterscheidet sich auch altersmäßig von den Eltern; Geschwister gehören der gleichen Generation an, sie haben oft noch ihr ganzes Leben vor sich oder stehen mittendrin. Dennoch kann sie die Trauer nicht minder beschäftigen, was zuweilen bei ihrer Sorge um die Eltern untergeht: Nicht selten sind die noch lebenden Söhne und Töchter der verbleibende Pfeiler, die letzte Freude und Hoffnung, die eine Familie fortbestehen lässt, wenn nicht gar ein wesentlicher Grund für die Eltern, überhaupt weiterzuleben. Umgekehrt kommt es auch vor, dass der Schmerz das Familienleben so überschattet, dass die Eltern ihrer Rolle nicht mehr gerecht werden.
In der Schweiz kommen über dreimal so viele Personen durch Suizid ums Leben wie durch einen Verkehrsunfall. Suizide geschehen überall auf der Welt, unabhängig von Nationalität, religiöser Zugehörigkeit, Geschlecht oder Alter. Laut WHO bringt sich alle 40 Sekunden ein Mensch um, das macht weltweit rund eine Million Suizide im Jahr. Wie viele Familien nach einem solchen Tod auseinanderbrechen ist nicht bekannt. Das Risiko, dass sich ein weiterer Angehöriger das Leben nimmt, erhöht sich nach einer Selbsttötung um ein Vielfaches.Die emotionalen,gesellschaftlichen und nicht selten auch körperlichen Folgen nach einem Schicksalsschlag stellen Beziehungen vor eine Zerreißprobe. Die Berichte in diesem Buch sollen deshalb auch Mut machen. Sie erzählen von Zurückgelassenen, die es trotz ihrer Belastung geschafft haben, auf ganz unterschiedliche Weise im Leben wieder Fuß zu fassen.
Das Buch will zudem das Verständnis zwischen Hinterbliebenen und ihren Bekannten fördern. Es ist nicht leicht für Mitmenschen, mit der Bürde eines solchen Todes umzugehen. Zu viel Anteilnahme kann ebenso falsch verstanden werden wie keine. Manche Menschen wenden sich mit ehrlichem Mitgefühl an die Trauernden, vielleicht auch solche, mit denen sie zuvor jahrelang keinen Kontakt pflegten.Wenig vertraute Arbeitskollegen suchen das Gespräch und erzählen von eigenen, einschneidenden Erlebnissen. Andere wiederum – auch langjährige, gute Bekannte der Betroffenen – ziehen sich zurück und versuchen den Hinterbliebenen tunlichst auszuweichen.
Für die »Survivors« selbst ist die Trauerphase kein linearer Prozess. Es mag zutreffen, dass nach dem oft zitierten »Jahr der Trauer« vieles einfacher erscheint: den ersten Geburtstag und die ersten Weihnachten ohne den geliebten Menschen sowie den ersten Todestag haben die Angehörigen hinter sich. Doch an die Last, die zu tragen sie sich nicht gewünscht hatten, müssen sich Hinterbliebene erst gewöhnen. Die Auseinandersetzung zwischen Verbitterung und Dankbarkeit erfordert Zeit.
»Sorge dich nicht!« sind Worte, die sinngemäß in manch einem Abschiedsbrief stehen. Die Vorstellung, dass die Liebsten nicht traurig sein sollen, nicht leiden nach einem solchen Verlust, zeugt davon, dass sich die wenigsten Suizidenten bewusst sind, welche Konsequenzen ihr Tod nach sich zieht. Einige scheinen gar zu glauben, ihr Abgang erleichtere das Leben der Angehörigen, weil sie sich fortan nicht mehr um die suizidale Person zu kümmern brauchen. Die vorliegenden Geschichten aber zeigen: Die größte Herausforderung beginnt für die Zurückgelassenen erst nach dem Suizid.
Samira Zingaro
Zürich, August 2013