Читать книгу Sorge dich nicht! - Samira Zingaro - Страница 7
ОглавлениеEs gab eine Zeit, da hatte Eberhard »Ebo« Aebischer-Crettol für jede und jeden jederzeit ein offenes Ohr. Mitte der 1990er-Jahre flackerte der Bildschirm seines Computers Tag und Nacht, täglich füllte sich sein Posteingang mit Zeilen von Hilfesuchenden, die um Rat und seine Unterstützung baten. Jahrelang boten der Theo-loge und seine Frau Zurückgelassenen nach Suizid ihren Beistand an, er als Seelsorger via E-Mail, sie per SMS. Heute hingegen ist es nicht einfach, mit ihm in Kontakt zu treten, denn nach über einem Jahrzehnt Seelsorge im Internet fuhr Ebo Aebischer eines Tages seinen Computer herunter, die Schicksale der Hinterbliebenen belasteten ihn zu sehr. Aebischers sind im Telefonverzeichnis nicht mehr registriert, ihre Fußspuren in der virtuellen Welt in den letzten Jahren verblasst. Die Nummer, die im Internet kursiert, ist außer Betrieb. Doch auf eine Postkarte reagiert der Pfarrer und studierte Chemiker.
Aebischers wohnen an begüterter Adresse an der Stadtgrenze zu Bern. Der ehemalige Seelsorger führt den Besuch in den Wintergarten, ein Zierbrunnen blubbert. Im Garten vor dem Haus kniet eine oxydgrüne Bronzestatue in gebeugter Haltung. Ebo Aebischer wägt seine Worte sorgfältig ab. Die ungezählten E-Mails füllen heute Bundesordner in seinem Arbeitszimmer, und der pensionierte Theologe hofft darauf,dass eines Tages ein Doktorand daran Interesse findet.
Ebo Aebischer, gilt Suizid heute noch als ein Tabu?
Sicher nicht mehr so stark wie früher. Die Gesellschaft sieht Suizid zunehmend als eine Möglichkeit an, aus dem Leben zu scheiden. Doch nimmt sich jemand das Leben, glauben viele Menschen, dass etwas in der betreffenden Familie nicht in Ordnung war. Diese Vorurteile, Anschuldigungen und die Angst vor Stigmatisierung existieren nach wie vor und sind der Grund, warum Hinterbliebene eine Selbsttötung oft verschweigen und sich oft auch ›auffällig‹ verhalten: Sie wechseln die Straßenseite, wenn ihnen ein Bekannter entgegenkommt oder gucken in ein Schaufenster, um nicht angesprochen zu werden.Außenstehende spüren diese Art Scham, wissen nicht, wie damit umgehen und vermeiden folglich das Thema.
Sind es nicht gerade die Außenstehenden, die nicht wissen, wie angemessen reagieren und dem Thema oder gar den Hinterbliebenen aus dem Weg gehen?
Dieses Verhalten zeigt sich auf beiden Seiten. Niemand weiß, wie mit einem solchen Tod umzugehen ist.
Was wäre der bessere Weg?
Das Wichtigste erscheint mir, sowohl von Seiten der Hinterbliebenen wie auch von Seiten der Bekannten, aufeinander zuzugehen und den Verlust direkt anzusprechen. Um ein Gespräch und Hilfe zu ermöglichen, sollten auch die Hinterbliebenen versuchen zu sagen: ›Schön, dass wir uns treffen.‹ Schon dieser Satz ist eine Einladung an das Gegenüber, weniger befangen mit den Hinterbliebenen umzugehen. Die andere Person kann diesen Satz aufnehmen und ganz ehrlich sagen: ›Ich bin sprachlos, ich weiß nicht, was sagen.‹ Oft hilft auch einfach eine Umarmung, die zeigt, dass jemand da ist und mitfühlt.
Den meisten Zurückgelassenen fehlt dazu die Energie.
Wenn der Tod ganz frisch ist, stehen die Hinterbliebenen unter einem derart heftigen Schock, dass sie entweder wie in Trance agieren und funktionieren oder völlig apathisch sind. In diesem schweren Zustand bietet es sich für einen Außenstehenden an, ungefragt einen Besuch abzustatten und den Trauernden zu essen oder zu trinken vorbeizubringen. Das empfinden Hinterbliebene normalerweise als sehr wohltuend – auch wenn sie die Geste mitunter in diesem Ausnahmezustand nicht richtig wahrnehmen.
Viele Hinterbliebene zerbrechen endgültig.
Die Resilienz, also die psychische Belastungsfähigkeit, spielt bei solchen Traumata eine zentrale Rolle. Manche Menschen verfügen über eine größere innere Spannkraft, um Schicksalsschläge zu überwinden. Nehmen wir das Beispiel eines Holzstocks. Man biegt ihn, bis er bricht. Das ist je nach Beschaffenheit des Holzes sehr unterschiedlich, und so verhält es sich auch mit unseren Resilienzen. Ein Bambusrohr bedarf einer viel größeren Kraft, um es zu knicken.
Inwiefern unterscheidet sich die Trauer nach Suizid von dem Schmerz, jemanden durch eine andere Todesursache verloren zu haben?
Wenn jemand aufgrund einer Krankheit stirbt, kann sich die Familie mit dem Ableben des Angehörigen beschäftigen – der Abschiedsprozess setzt bereits vor dem Tod ein. Manche erkrankte Kinder trösten nicht selten sogar die Eltern, bevor sie sterben.Verliert jemand bei einem Unfall sein Leben oder stirbt ganz plötzlich, hat dies nichts mit der Familie zu tun.Allen Leuten ist klar: Es ist furchtbar und tragisch, der Lastwagen fuhr rückwärts, sah die Person nicht und überfuhr sie. Die Trauer ist groß, aber nicht schamoder schuldbehaftet, es sei denn, der oder die Gestorbene ist noch sehr jung und die Eltern werfen sich vor, nicht genügend auf ihr Kind aufgepasst zu haben.
Scham und Schuld spielen bei Zurückgelassenen nach Suizid also eine wichtige Rolle?
Ja. Nimmt sich ein Familienmitglied das Leben, dann gerät das Gleichgewicht aus den Fugen. Es tauchen sofort Fragen auf:Wie war das möglich? Warum haben wir nichts gemerkt? Warum hat er oder sie uns nichts gesagt, warum konnten wir nicht auf die Signale achten, die sie oder er ausgesendet hat? Sind wir schuld am Tod? Folgen gegenseitige Beschuldigungen, kann eine Familie gar daran zersplittern. Ich kenne die statistischen Zahlen nicht, aber der größte Teil der Überlebenden hat selbst Jahre nach dem Suizid psychiatrische oder andere Begleitung nötig – das fordert eine Familie heraus.
Was raten Sie Hinterbliebenen, wenn sie ständig um die Warum-Frage kreisen?
Wenn sie wüssten, warum jemand sich das Leben genommen hat, was würde es ihnen bringen? Ich erwähne hier ein mir bekanntes Beispiel eines Botschafters, der sich von einer Brücke stürzte. Er landete praktisch unverletzt, denn er sprang an einer Stelle, an der ihn die Bäume abfederten, und trug nur Schürfwunden davon. Der behandelnde Psychiater fragte ihn, was ihm vor dem Sprung durch den Kopf gegangen sei. Der Botschafter sagte: ›Wenn ich das wüsste.‹ Die Gründe, warum sich jemand umbringt, sind nicht immer klar.
Wie wichtig sind Abschiedsbriefe?
Ich kann nicht sagen, sie sind sehr oder gar nicht wichtig. Ich habe aber festgestellt, dass Zurückgelassene, die nichts dergleichen gefunden haben, zusätzlich litten. Sie wünschten sich wenigstens ein Wort, einen Satz, auch wenn es nur ein ›Ich habe dich gern, es tut mir leid‹ ist. Umgekehrt kann es aber auch sein, dass in einem Abschiedsbrief schreckliche Wahrheiten an den Tag kommen oder Vorwürfe laut werden. Ist es deshalb mitunter nicht einfacher, sich vorzustellen, die Person hätte sicher etwas Gutgemeintes geschrieben?
Die größte Aufmerksamkeit nach einem Suizid erhalten meist trauernde Eltern oder Partner. Drohen dabei nicht die Geschwister vergessen zu gehen?
Der Tod reißt ein Loch in die Familie, an dessen Rand sich viele Eltern mit beiden Händen festkrallen. Folglich bleiben keine Hände mehr frei für die noch lebenden Kinder. Sie sind kaum mehr existent, steht doch die tote Person im Zentrum, ob ausgesprochen oder nicht. Ich kannte ein Elternpaar mit einer Tochter und einem Sohn. Der Junge zeigte Anzeichen einer psychischen Erkrankung, die Eltern erlebten mehrere Suizidversuche des Sohnes mit. Dieser Zustand zermürbte sie derart, dass sie sich sagten, es wäre vielleicht besser, er könne sterben. Ein Gedanke, entstanden aus Ratlosigkeit. Dann nahm sich der Sohn tatsächlich das Leben. Das war für die Eltern die allergrößte Schuldzuweisung, sie war so stark, dass die Mutter zwei Jahre später auch Hand an sich legte. Die noch lebende Tochter hatte nach dem Tod des Sohnes keine Rolle mehr gespielt im Familienleben. Ich habe die Mutter kurz vor ihrem Tod noch in einer Klinik besucht und ihr angeboten,Tag und Nacht für sie da zu sein. Doch auch diese Unterstützung konnte sie nicht retten.
Tendieren Eltern dazu, die verbliebenen Kinder als Krücke zu benutzen?
Das kann passieren, doch kein Kind darf zum Schutzengel der Eltern werden. Je freier man die Kinder gehen lässt, umso eher kommen sie zurück. Die besorgten Mütter und Väter laufen sonst Gefahr, das Einzige, was sie noch haben, zu zerdrücken und machen so die übrigen Kinder lebensunfähig.
Leiden Geschwister anders als Eltern?
Schuldgefühle können auch auf Seiten der Geschwister entstehen, das Verhältnis unter Brüdern und Schwestern ist bekanntlich oft geprägt durch Neid und Streitigkeiten. Nach einem Tod kann auch dies zu großen Selbstvorwürfen führen. Geschwister sind nicht unbedingt das ganze Leben lang ein Herz und eine Seele, bei den Eltern hingegen verhält sich die Liebe in den meisten Fällen anders. Es handelt sich um ihr ›Produkt‹, sie lieben die Kinder bedingungslos. Deshalb äußert sich auch die Trauer unterschiedlich: Verliert man das eigene Kind, verliert man ein Stück seines Selbst.
Eine Selbsttötung erschüttert bei vielen Hinterbliebenen das Selbstvertrauen, weil sie nicht mit dem Suizid eines Nahestehenden gerechnet haben.
Da stimme ich zu, doch, so sachlich es klingen mag, ›it happens‹. Man kann – zum Glück – nicht alles kontrollieren, zu unserem Lebensverlauf gehören eben auch Schicksalsschläge. Man kann es nicht begreifen, es gibt Dinge, die sind höher als die eigene Vernunft.Wenn wir alles kontrollieren könnten, wäre das Leben unerträglich. Ich kann nicht immer überall sein, sondern muss versuchen, zu vertrauen und loszulassen.
Sie führten als Seelsorger auch unzählige Einzelgespräche.Was waren die Hauptanliegen der Zurückgelassenen?
Hinterbliebene quälen sich häufig mit Fragen wie ›Alle sagen, der Tod müsse für mich jetzt kein Thema mehr sein, doch das Gegenteil ist der Fall. Wie kann ich damit umgehen? Wie komme ich aus der Trauer heraus? Warum trauere ich immer noch nach einem Jahr?‹
Was hat es mit diesem ›Jahr der Trauer‹ auf sich?
Im ersten Jahr der Trauer werden das erste Mal all jene Momente des bis anhin gemeinsamen Lebens alleine durchlebt. Schon das Herannahen zum Beispiel des Geburtstages oder eines Festtages wie Weihnachten taucht Hinterbliebene in ein Tief, aus dem sie schwer herausfinden. Dadurch wird das ganze erste Trauerjahr zu einer traumatisierenden Zeit. Aber gleichzeitig keimt die Hoffnung, dass mit dem ersten Todestag eine neue Phase beginnt, die die tiefe Verwundung wieder heilen lässt. An diese Hoffnung wird oft eine so hohe Erwartung geknüpft, dass jeder neue Tag, an dem es ›noch nicht besser geht‹, zur Enttäuschung wird. Mit der Zeit aber heilt die Verwundung praktisch unmerklich – die Narbe jedoch bleibt lebenslang. Da-ran zu kratzen kann sie jederzeit wieder aufbrechen lassen.
Was verletzt Hinterbliebene besonders?
Das Besserwissen, zum Beispiel Sätze wie: ›Du hättest es doch kommen sehen müssen.‹ Oder die Frage: ›Warum hast du nichts bemerkt?‹ Sehr heikel ist auch, über den Glauben zu sprechen in Momenten, in denen das Gegenüber gar nicht mehr glauben kann. Bei einem Suizid geht es um einen unwiederbringlichen Verlust und nicht um eine Philosophie.
Gibt umgekehrt nicht gerade der Glaube vielen Hinterbliebenen Halt?
Manche Trauernde werden religiöser nach einem Todesfall.Andere wiederum verabschieden sich vollständig von der Kirche. Obwohl ich Pfarrer bin, habe ich in den Selbsthilfegruppen immer gesagt, der liebe Gott spiele hier keine Rolle.
Sondern?
Auch für Gläubige muss einsichtig gemacht werden, dass Gott kein Lückenbüßer ist, dem die Verantwortung für das Unbegreifliche zugeschoben werden darf.Wenn Gott Liebe ist, dann kann diese Gottheit nicht gewollt haben, dass der nun Tote so verzweifelt war, dass nur noch der Suizid sich als Ausweg für ihn erwies. Diese Gottheit litt mit dem Leiden der Ausweglosen so, wie sie mit der Trauer der Hinterbliebenen leidet. Um aber mit solchen theologischen Überlegungen kirchlich nicht sozialisierte Mitmenschen nicht zu belasten oder zu frustrieren ist es wichtig, Gott auf dem schwierigen Weg der Trauer aus dem Spiel zu lassen.
Dass sich Ebo Aebischer als Theologe so engagiert zum Thema Suizid äußert, wäre vor noch nicht allzu langer Zeit unvorstellbar gewesen. Die Haltung der Kirche zu Selbsttötungen war lange gespalten, die ablehnende Einstellung beeinflusste Philosophen und Gelehrte jahrhundertelang und letztlich auch die gesellschaftliche, abendländische Einstellung gegenüber Suizid. Während sich das frühe Christentum offener gegenüber Suizidhandlungen zeigte, wie etwa bei Frauen, die als Märtyrerinnen ihr Leben opferten, verschärfte sich die Haltung ab dem 5. Jahrhundert. Radikale Stimme dabei war der Kirchenlehrer Augustinus (354-430), der das biblische Gebot: ›Du sollst nicht töten!‹ wenig kompromissbereit interpretierte. Für ihn stellte Suizid eine Sünde dar, Gott allein herrsche über unser Leben, und nur ihm stehe es folglich zu, Leben zu beenden. Zudem vernichteten Suizidenten das von Gott geschenkte, heilige Leben – ein für Augustinus deutliches Zeichen für Ungläubigkeit. Im 6. Jahrhundert beschlossen die Konzilien, dass durch eigene Hand Gestorbene nicht kirchlich bestattet werden durften – diese Praxis wurde bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts vollzogen. Die Leichen wurden deshalb, analog zu Schwerstkriminellen, außerhalb der Friedhofsmauern beigesetzt. Ab dem 12. Jahrhundert galt Suizid für die Kirche als Todsünde. Das Rechtsbuch des katholischen Kirchenrechtes (CIC) verurteilte den Suizid, der entsprechende Kanon wurde erst Anfang der 1980er-Jahre gestrichen.1 Vertreter der Katholischen Kirche betonen inzwischen, dass sie nicht die Suizidenten verurteilt, sondern die Handlung, auch wenn eine Selbsttötung unter anderem der Liebe zum lebendigen Gott widerspreche.2
Die christliche Kirche stand Suizidhandlungen lange Zeit nicht sonderlich verständnisvoll gegenüber.
Das ist richtig, und bis heute äußert sich die katholische Kirche zum Thema Suizid kritisch. In der Tat fühlen sich aber gewisse Standesvertreter dazu berufen, ihre Ansichten und ihren Glauben als Standard auszugeben. Meiner Meinung nach wird das Gottesvolk immer mehr von Ansichten der Oberen vor den Kopf gestoßen. Die mitunter geäußerten Meinungen zeugen von einer alarmierenden Unkenntnis der Ur-Kunde des Glaubens – sowohl des jüdischen als auch des christlichen. Kaum jemand von diesen Personen hat je zur Kenntnis genommen, dass im Alten Testament der Bibel von einer Tötung auf Verlangen und von acht Suiziden die Rede ist. Kein einziger dieser ›außergewöhnlichen Todesfälle‹ wird auch nur mit einem impliziten – geschweige denn expliziten – negativen Kommentar gewürdigt. Im Gegenteil. Einige der durch eigene Hand Verstorbenen wurden ›im Grabe ihrer Väter‹ beigesetzt – der höchstmöglichen Würdigung, die einem Verstorbenen zu biblischen Zeiten zuteilwerden konnte.
Wie kamen Sie als ausgebildeter Chemiker dazu, Theologie zu studieren?
Kurz nach unserer Heirat brachen meine Frau und ich nach Indien auf. Dort reisten wir während drei Monaten vor allem mit öffentlichen Verkehrsmitteln.Auf der Reise durch dieses riesige Land,zusammen mit einfachen Menschen und oft ihren Ziegen und Hühnern im Abteil, kamen wir in enge Verbindung mit den Glaubensvorstellungen der Mitmenschen.Wir erlebten aus nächster Nähe das Leben und Sterben der Bewohner unseres Gastlandes. Sehr vereinfacht könnte ihr Leben unter folgende Formel gestellt werden: ›Geboren, erzogen und religiös sozialisiert werden – den Verdienst des Lebensunterhalts erlernen – eine eigene Familie gründen – das Anerzogene und Gelernte weitergeben – die Heiligen Schriften studieren und sich vorbereiten auf den Tod.‹ Wir waren von dieser Gesamtschau eines Lebens so fasziniert, dass wir uns damals sagten, auch für uns wäre es sinnvoll, die Heiligen Schriften zu studieren und uns auf den Tod vorzubereiten. Wir gründeten in Folge eine Familie und ein medizinisch-diagnostisches Dienstleistungslabor und nutzten eines Tages die Möglichkeit,dieses florierende Geschäft zu veräußern. Als der skeptische amerikanische Käufer fragte, was ich wohl nun zu tun gedenke, antwortete ich spontan: ›Theologie studieren.‹
Als nach dem Abschluss des Theologiestudiums die Frage nach der Doktorarbeit aufkam, entschloss ich mich, mich vertiefter mit dem Sterben und dem Tod auseinanderzusetzen.
Warum ausgerechnet das Thema Suizid?
Ich wurde mit dieser extremsten Möglichkeit des menschlichen Handelns seit meiner Jugendzeit immer wieder konfrontiert und versuchte deshalb, Antworten darauf zu finden. Beim ersten Mal befand ich mich in der Ausbildung zum Laboranten, ich bekam einen Gerberlehrling zugewiesen, der einen Einblick in elementare, chemische Verfahren erlernen wollte. Eines Tages hieß es, er habe sich das Leben genommen. Ich konnte das damals im wahrsten Sinne des Wortes weder verstehen noch irgendwie nachempfinden. Immer wieder nahmen sich in den darauffolgenden Jahren Menschen in meinem Umfeld das Leben, Personen, von denen ich glaubte, sie gut gekannt zu haben. Nichts hätte mich vermuten lassen, dass sie eines Tages so weit gehen würden.Weder vermochte ich diese Suizide in mein Weltbild einzuordnen, noch war ich fähig, mich nach dem Ergehen bei den nächsten Hinterbliebenen zu erkundigen. Nach längerer Zeit besuchte ich in einem Fall schließlich doch die Eltern einer Bekannten. Ich bat ihre Mutter und ihren Vater um Verzeihung für mein langes Schweigen. Sie sagten mir, ich müsse mich nicht entschuldigen, es sei nach dem Tod ihrer Tochter niemand gekommen, um mit ihnen darüber zu reden. Diese Begegnung war für mich der Auslöser für meine späteren Aktivitäten auf diesem Gebiet.
Sie gründeten und leiteten Selbsthilfegruppen für Zurückgelassene nach Suizid.
Mich interessierte die Frage der seelsorglichen Begleitung Hinterbliebener nach dem Suizid eines Nächsten besonders. In einer Selbsthilfegruppe teilen die Anwesenden ihr Schicksal, müssen keine Ausreden suchen und stellen fest, dass sie nicht die Einzigen mit dieser Last sind. Um mit diesen Trauernden in Kontakt zu treten, gelangte ich an ›Regenbogen‹ – eine der ersten Selbsthilfeorganisationen der Schweiz. Dort bekam ich die Gelegenheit, den Ablauf einer offenen Selbsthilfegruppe kennenzulernen. Da es sich bei diesem Verein um Hinterbliebene handelt, die ein Kind durch Suizid verloren hatten, wurde ich gewahr, dass es nichts dergleichen für Hinterbliebene nach dem Verlust einer Partnerin oder eines Partners durch Suizid gab. Auch die Funktionsweise der Gruppen schien mir nicht optimal. So begann ich Menschen um mich zu sammeln, denen die Verarbeitung eines Partnerverlustes durch Suizid ein Anliegen war.Von Anfang an achtete ich darauf, dass eine Gruppe mindestens sechs und höchstens zehn Teilnehmende umfasste und dass die regelmäßigen Zusammenkünfte sich über ein ganzes Jahr erstreckten. Sensible Daten, wie Geburtstage oder Weihnachten, werden dann miteinander erlebt.
In den Gruppen werden Themen wie Schuld, Scham, Sexualität oder Partnersuche angesprochen. Zudem erhalten die Betroffenen die Möglichkeit, ihre persönliche Geschichte zu erzählen. Es geht darum zu teilen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Sich mitzuteilen, also miteinander etwas teilen. Unter meiner Leitung zündeten wir jeweils eine Kerze an, und die Teilnehmenden konnten ihre Geschichte schildern, sie anschließend zu Hause niederschreiben und an einer folgenden Zusammenkunft erneut vortragen. Diese Praxis wird zum Teil bis heute betrieben. Die Verschriftlichung hat einen weiteren Vorteil: Liest man die Geschichte in fünf, zehn, ja zwanzig Jahren nochmals, merkt man, wie man weitergekommen ist.
Ihre größten Erfahrungen mit Hinterbliebenen machten Sie via Internet.Wie kamen Sie bereits in den 1990er-Jahren darauf, dass in diesem Bereich eine Nachfrage besteht?
Der Pionier für Internet-Seelsorge ist und bleibt Pfarrer Jakob Vetsch. Er hat die Internet-Seelsorge ins Leben gerufen und holte mich damals ins Boot, um die Rubrik ›Verlust und Trauer‹ zu betreuen. Er suchte ehrenamtlich Mitarbeitende, die bereit waren, ihr spezifisches Fachwissen einzubringen. Hatten die Hilfesuchenden einmal Vertrauen gefasst, entstanden intensive schriftliche Dialoge aus E-Mails, die bis zu sechs Seiten lang waren. Und während ich an der Analyse des mir Geschriebenen arbeitete, kamen andere E-Mails herein, die etwa lauteten: ›Ich kann nicht mehr. Jetzt mache ich Schluss.‹ Solche Zeilen erfordern eine unmittelbare Antwort. Zu Beginn dachte ich, ich formuliere fixfertige, schön klingende Sätze, die wie ein Pflaster auf jede Wunde passen. Doch nicht ein einziges Mal konnte ich einen solchen Satz brauchen, zu individuell waren die Geschichten. Beim E-Mail-Verkehr ging es in erster Linie darum, Antworten auf das zu suchen, was einem widerfahren ist, oder wie es weitergehen soll. Ich bot den Schreibenden von Anfang an das Du an. Und natürlich schrieb ich von meiner Anteilnahme und meiner Hilf- und Machtlosigkeit angesichts der mir mitgeteilten Widerfahrnisse: ›Ich bin hilf- und machtlos. Ich fühle mich in Anbetracht dessen, was dir passiert ist, zutiefst erschüttert. Und ich bin außerstande, dir zu helfen, wie du das vielleicht von mir erwartest. Ich kann nichts machen, muss hinnehmen, was du mir anvertraust. Aber ich möchte mit dir ein Stück des Weges gehen, bis du ihn wieder vertrauensvoll alleine gehen kannst.‹
Worin unterscheidet sich das persönliche Gespräch vom virtuellen Kontakt?
Das geschriebene Wort wiegt mehr als das gesprochene. Ein persönliches Gegenüber ist konkret, drückt sich verbal und nonverbal aus, redet mehr oder weniger frei und hat zugleich Angst, zu viel von sich und seinen Gefühlen preiszugeben, oder fürchtet, falsch verstanden zu werden. Als Gegenüber muss ich damit rechnen, beurteilt oder gar abgelehnt zu werden, dazu bedarf es einer anspruchsvollen Gesprächskultur. Schweigen etwa muss man aushalten können. Dieses Mitteilen des Erlebten wird wegen Schuld- und Schamgefühlen sehr oft durch die physische Anwesenheit einer fremden Person gehemmt.
Ganz anders sieht es bei der schriftlichen Kommunikation aus. Wie einem Tagebuch kann dem vorerst leeren, virtuellen Stück Papier alles anvertraut werden. Am Computer bekommt diese Form des Sich-Anvertrauens eine neue, bislang in dieser Form nicht möglich gewesene Dimension: Das Geschriebene kann beliebig oft durchgelesen, korrigiert oder wieder ganz verworfen werden, um einer besseren Version Platz zu machen. Zunächst kann ein Hinterbliebener völlig ungefiltert herauslassen, was seine Seele zum Überlaufen gebracht hat. Mit diesem Niederschreiben beginnt schon der Prozess der Verarbeitung. Die Angst, das Gesicht zu verlieren, besteht nicht, denn dieses bleibt verborgen. Und der Kontakt kann jederzeit ohne Begründung wieder abgebrochen werden. Umgekehrt bleiben das verschickte Geschriebene sowie die Antwort im Computer, und die Gesprächspartner können es jederzeit wieder durchlesen und überdenken. Durch diese Form kommt gegenüber der mündlichen Kommunikation eine zusätzliche positive Dimension zum Vorschein: Beim E-Mail-Austausch kann nichts ›überhört‹ werden.
Sind dabei Missverständnisse nicht vorprogrammiert?
Es ist die Herausforderung in der Internet-Seelsorge, das Anvertraute so einfühlsam und vorsichtig wie immer möglich zu analysieren, zwischen den Zeilen zu lesen und Rückfragen zu stellen.An dieser Stelle beginnt die filigrane Arbeit. Das Gegenüber muss erkennen, dass es wirklich verstanden worden ist – und, wie Sokrates es schon richtig erkannt hat, die Antworten auf die gestellten Fragen in sich selber finden. Diese Arbeit an sich selbst kann wunde Stellen zutage fördern, die bisher tief in einem selbst verborgen waren. Und das wiederum kann dazu führen, nichts weiter wissen zu wollen. Jeder dadurch erfolgte Abbruch des Dialoges war für mich schwer. Umso mehr freute es mich dann, wenn – offenbar nach einer hinreichenden Reflexionsphase – der Faden wieder aufgenommen wurde.Wenn das passierte, kam das Ende des Tunnels langsam in Sicht.
Virtuelle Seelsorge, das war zu Ihrer Zeit ein Novum. Weshalb sorgte Ihre Arbeit nicht für mehr Furore?
Ich versuchte bei den kirchlichen Verantwortungsträgern Gehör zu finden, um bezahlte Aus- und Weiterbildung von Internet-Seelsorgenden zu erwirken – doch erfolglos. Bis heute sind die Anbieter von Internetseelsorge weiterhin auf Freiwillige angewiesen, die sich nach ihrem je eigenen Dafürhalten in diese belastende Arbeit einlassen. Auch bei bekannten Anlaufstellen wie die ›Dargebotene Hand‹ stößt die Arbeit an Grenzen – nicht zuletzt wegen der Ehrenamtlichkeit. Ich bin überzeugt, dass die Krankenkassen bisher nicht erkannt haben, welches Ersparniskapital erzielt werden könnte, wenn professionelle Hilfe übers Netz geplagte Seelen entlasten würde. Selbst die Fakultäten der Psychiatrie, Psychologie und Theologie unserer Universitäten haben es bisher verfehlt,gezielt auf eine Ausbildung für Internet-Seelsorgende hinzuarbeiten; denn das Bedürfnis danach ist meiner Meinung nach immens. Ebenso könnten die neuen Medien eine bedeutende Rolle spielen, wenn sie gezielt und kontrolliert die Hilfesuchenden anzusprechen in der Lage wären. Das bedingt aber eben eine professionelle, Sprach- und Landesgrenzen überschreitende Zentrale. Ein solches Konzept umzusetzen wäre eines entsprechenden Forschungsauftrags würdig.
Haben Sie sich in Ihrer Zeit als Internet-Seelsorger überhaupt vom Computer weggetraut?
Es war tatsächlich so, dass ich den Computer Tag und Nacht laufen ließ und nur mit schlechtem Gewissen schlafen ging. Und wenn ich dann am nächsten Morgen den Faden wieder aufnahm, waren mitunter schon zwei oder drei neue Mails zur Beantwortung in der Warteschlaufe. Das zehrte auch an meiner physischen und psychischen Gesundheit. Schließlich so stark, dass ich meiner Familie zuliebe eines Tages den Entschluss fasste, Schluss zu machen mit der Seelsorge übers Internet.
Mit der Zeit haben diese schweren Schicksale meine Frau und mich psychisch immer mehr belastet. Als unsere Töchter uns gemeinsam mitteilten, sie würden uns mit unseren traurigen Mienen nicht mehr gerne besuchen, zogen wir die Bremse. Ich will nicht an meinem eigenen Grab meine Kinder klagen hören, wir hätten für alle Zeit gehabt, nur nicht für sie.
Zur Person
Ebo Aebischer-Crettol, Jahrgang 1936, wuchs im ostdeutschen Sachsen auf. Seit den 1950er-Jahren lebt er in der Schweiz. Der studierte Chemiker und seine Frau ließen sich später zu Theologen ausbilden, er dissertierte zum Thema Suizid.
Aebischer arbeitete als Beauftragter der Landeskirche als Seelsorger für Suizid-Betroffene. Er ist Autor des Buches »Aus zwei Booten wird ein Floß. Suizid und Todessehnsucht. Erklärungsmodelle, Prävention und Begleitung.« Als ehemaliger Offizier hat sich Aebischer 2011 für die Waffeninitiative in der Öffentlichkeit starkgemacht. Der pensionierte Pfarrer gründete Ende der 1990er-Jahre die erste Selbsthilfegruppe für Hinterbliebene nach Suizid eines Partners und später den heute noch schweizweit aktiven Verein Refugium.