Читать книгу Biker Tales: Schatten der Seele - Sandra Binder - Страница 6
Prologue – Emma
ОглавлениеSchon komisch, wie sich Träume im Laufe des Lebens verändern. Oder sollte ich besser sagen: tragikomisch? Ich denke, das trifft es eher. Denn lachen konnte ich darüber eine lange Zeit nicht.
Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich genaue Vorstellungen von meinem Erwachsenenleben. Ich habe es sogar oft mit meinen Puppen durchgespielt: Barbie arbeitete im Krankenhaus und half vielen Menschen, gesund zu werden. Nach Feierabend ging sie in ihr Traumhaus, wo sie mit Ken lebte, der sie natürlich vergötterte und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas ...
Meine Mutter fand dieses Spiel albern und wurde niemals müde, mich daran zu erinnern, dass ich weder klug noch ehrgeizig genug war, um Ärztin zu werden. Eine solche Karriere war meinem Bruder Tyler vorbehalten, dem Super-Genie. Und wenn ich wenigstens einen anständigen Ehemann haben wollte, so meinte sie, müsse ich mich ohnehin mehr anstrengen und an meinem Äußeren und vor allem an meinem ›katastrophalen‹ Benehmen arbeiten.
Als Kind merkte ich bereits, dass sie mit ihrer Ansicht richtig lag. Ich quälte mich jahrelang durch die Schule, ohne reelle Hoffnung auf eine Arztkarriere. Oder einen Ken. Die Jungs standen eben nicht auf dürre Mädchen mit Zahnspange, die sich – erfolglos – in ihren Büchern vergruben. Ich habe es versucht, ernsthaft, aber irgendwann sah ich ein, dass ich einen neuen Weg für mich finden musste.
Allerdings macht es einem eine Familie wie meine schier unmöglich, man selbst zu werden, und das wäre sowieso nicht gut genug für eine Bennett. Daher verließ ich die Menschen, die nur eine Versagerin in mir sahen, zog nach Vegas und begann, mir etwas nur für mich aufzubauen. Niemand redete mir mehr rein oder drängte mich in eine Schublade.
Exakt das hatte ich gewollt – dennoch war ich nicht ausgefüllt. Ich konnte nicht genau benennen, was fehlte, und dachte schon, ich sehnte mich wieder nach meinem Kindheitstraum, bis ich Stu kennenlernte. Stu war Stammkunde in dem Diner, in dem ich arbeitete, und ein Mitglied des Vegas-Chapters der Advocates. Wir verstanden uns auf Anhieb, freundeten uns an, und schließlich stellte er mir seine Familie, das Chapter, vor.
Ich weiß nicht mehr, ab wann ich dazugehörte oder wie es überhaupt zu diesem Punkt kam, aber mit einem Mal hatte ich eine neue Familie. Brüder und Schwestern, die mich nicht nur akzeptierten, wie ich war, sondern auch genau so mochten. Für sie zählte nicht, wo ich herkam, welche Noten ich in der Schule gehabt hatte oder welchem Beruf ich nachging. Bei den Advocates war ich einfach nur Emma. Und diese neue Emma brauchte ihren Klein-Mädchen-Traum nicht mehr, denn sie hatte etwas Besseres gefunden: Eine große Familie, zu der sie nach Hause kommen konnte, und die sie bedingungslos liebte.
Vor allem die zwei Prospects, Blaze und Chick, wuchsen mir ans Herz. Wir verstanden uns wortlos, unternahmen viel zusammen, waren füreinander da. Und als sie dann Members wurden und Buddha, der Pres der Advocates, sie fragte, ob sie ein eigenes Chapter in Wolfville eröffnen wollten, war für mich sofort klar, dass ich mit ihnen gehen würde. Immerhin waren wir die besten Freunde, unzertrennlich, Seelenverwandte.
Es war Billy Crystal in dem Film »Harry und Sally«, der sagte, dass Frauen und Männer keine Freunde sein könnten, weil ihnen immer der Sex dazwischenkommt. Das habe ich nie so gesehen. Ich konnte Gefühle und Sex hervorragend voneinander trennen. Für mich war der körperliche Teil einer Freundschaft ein Extra, das ich genoss, aber mehr erwartete oder erhoffte ich nicht. Meinen perfekten Ken hatte ich wie die Arztkarriere inzwischen ohnehin aus meinen Lebenszielen gestrichen. Und ich war mir, was den Sex betraf, mit jedem meiner Freunde einig. Nie gab es deswegen komische Momente oder Unstimmigkeiten.
Bis auf dieses eine blöde Missverständnis, das mir die Hoffnung auf Liebe endgültig nahm ...
Chick war mein Freund. Ich wusste das. Er hatte nie etwas anderes gesagt oder Anspielungen gemacht, doch an diesem einen Abend, da schien es plötzlich zwischen uns zu knistern. Er war ziemlich betrunken, ja, aber ich hatte keinen Zweifel daran, dass seine Worte von ganzem Herzen kamen: »Emma, du bist die beste Frau, die sich ein Kerl nur vorstellen kann. Du bist schön, klug, immer für uns da ... Du bist etwas ganz Besonderes.«
Es waren jedoch nicht nur seine Worte, sein Blick hatte sich ebenfalls verändert. Er schaute mich an, als sehe er mich zum ersten Mal und strahlte dabei solche Wärme und Zuneigung aus, dass mir die Knie weich wurden. Wir schliefen in dieser Nacht miteinander. Das war nicht neu für uns, aber es war anders als sonst.
Daraufhin hatten wir eine großartige Woche zusammen – wir machten Ausfahrten, gingen essen, verbrachten jede Nacht in seinem Bett ... es war herrlich. Wie der Anfang einer wundervollen Beziehung. Er gab mir das Gefühl, die Eine für ihn sein zu können. Das kleine Mädchen in mir erwachte, und trotz aller Erfahrung und obwohl ich die Liebe bereits aus meinem Leben gestrichen hatte, begann ich einmal mehr zu hoffen.
Doch dann kam der Morgen, an dem ich aus mehr als nur dem Schlaf erwachte. Die Sonne schien durch die dünnen Vorhänge seiner Wohnung, und ein vorwitziger Strahl zielte direkt auf mein Gesicht. Blinzelnd öffnete ich die Augen und musterte Chick, der schlafend neben mir lag. Dieser umwerfende, breitschultrige Footballspieler und Mädchenschwarm hätte sich in der Schule garantiert niemals für mich interessiert, aber jetzt lag er bei mir im Bett, das Laken nur zur Hälfte um seinen muskulösen Körper gewickelt, das Gesicht entspannt und eine Hand auf meinem Schenkel. Mein dummes Herz hüpfte vor Glück, denn es war sicher, dass dies der perfekte Moment wäre.
Sanft fuhr ich mit den Fingern über Chicks Brust, kuschelte mich an ihn und sog seinen herben Duft in meine Lungen, da entdeckte ich etwas neben der Kommode.
Eine prall gefüllte Reisetasche.
»Guten Morgen«, murmelte er verschlafen und legte den Arm um mich.
Ich lächelte, doch scheinbar hatte er mein Stirnrunzeln bemerkt, denn er hob den Kopf und beäugte mich skeptisch. »Was ist los?«
»Gehst du irgendwohin?«, fragte ich und sah zu der Reisetasche hinüber.
Er folgte meinem Blick und nickte. »Jap. Ich muss für eine Weile nach Provo. Morgen geht’s los.«
Ich blinzelte ihn ungläubig an, aber er sprach nicht weiter. Stattdessen vergrub er eine Hand in meinem Haar und versuchte, sich auf mich zu rollen. Ich drückte ihn weg und hob die Brauen.
War das sein Ernst? Er sagte mir einfach mal nebenbei, dass er auf unbestimmte Zeit wegging, und das war’s? Und dafür erwartete er auch noch Sex?
»Wann wolltest du mir das sagen?«, platzte ich heraus, bevor ich es verhindern konnte. Meine Stimme klang wacklig, und ich räusperte mich in dem Versuch, meinen Schock zu dämpfen. Ich hatte mich geirrt, das erkannte ich in diesem Moment schmerzlich, doch ich spürte bereits die Tränen in meinen Augen brennen. Auf einmal kam ich mir so blöd vor.
»Wieso, was ...?« Da fiel der Groschen bei ihm. Chick setzte sich auf, umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und schaute mich mit großen Augen an. »Emma, ich wusste nicht, dass ... also, ich meine ...«
Er sprach nicht weiter, aber ich ahnte, was er sagen wollte: ›Oh, Emma, du dummes Ding, wie konntest du annehmen, dass etwas Ernstes zwischen uns läuft?‹
Ich keuchte, befreite mich aus seinem Griff und stieg aus dem Bett. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Es fühlte sich so schäbig an, wie ich nackt in seinem Schlafzimmer mein Zeug zusammenraffte, mit seinem mitleidigen Blick auf mir.
Er schien vollkommen sprachlos, und ich verstand ihn. Ich konnte ihm keinen Vorwurf machen. Chick hatte mir nie etwas versprochen; nie auch nur mit einem Wort erwähnt, dass ich mehr als eine Freundin für ihn war. Verdammt, ich wusste ja nicht einmal, was ich für ihn empfand.
»Em, jetzt warte doch mal.« Er setzte sich an den Bettrand und zog seine Shorts an. »Lass uns kurz darüber ...«
»Nein«, unterbrach ich ihn resoluter als geplant. »Ist nicht nötig. Ehrlich. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Du hast dir nichts vorzuwerfen.« Es ist meine Schuld, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich war so wütend auf mich, vor allem, weil ich die Tränen mit ganzer Kraft zurückhalten musste, während ich mich anzog und nach meiner Tasche griff. Wieso hatte ich mir wieder Hoffnungen gemacht? Ich wusste es doch besser, verdammt! Hatte ich ähnliche Situationen in meinem Leben denn nicht schon oft genug erlebt? Es war so lächerlich.
Bevor ich ging, drehte ich mich zu ihm um. Ich wollte ihm sagen, dass das nichts an unserer Freundschaft änderte, dass ich nichts von ihm erwartete, dass er sich deswegen nicht schlecht fühlen sollte, doch dann sah ich in sein Gesicht, und mein Herz brach in tausend Teile.
Chick wirkte völlig irritiert – offenbar fragte er sich, wie ich nur darauf kommen konnte, dass er sich ernsthaft für mich interessierte. Wie ich – ich, ein Club-Groupie und die ewige Versagerin – auch nur annehmen konnte, dass er mehr von mir wollte als Sex, dass er mich vielleicht sogar zu seiner old Lady machen würde.
Ich schluckte, straffte die Schultern und hob die Mundwinkel. »Viel Spaß in Provo. Meld dich doch mal.«
Daraufhin drehte ich mich um, verließ sein Schlafzimmer, rannte förmlich zur Wohnungstür und eilte nach Hause. Tränen liefen über meine Wangen, ich konnte sie weder aufhalten noch verstecken. Die Leute auf der Straße warfen mir mitleidige Blicke zu, und am liebsten hätte ich sie dafür angebrüllt.
»Ja, ich weiß! Ich hatte es längst kapiert«, wollte ich schreien. »Das war nur ein Rückfall. Ich will ja gar nicht mehr. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Den gesamten Tag über habe ich geweint und mich für jede einzelne Träne geschämt. Denn keine von ihnen wäre nötig gewesen. Abends meldete ich mich zum ersten Mal in der Bar krank. Ich musste derart fertig geklungen haben, dass B später sogar vorbeikam. Aber ich ließ ihn nicht rein. Er sollte mich nicht so sehen. Außerdem konnte ich nicht über Chick reden, schon gar nicht mit ihm.
Ich kam mir so dumm und naiv vor.
An diesem Tag habe ich mir geschworen, mich nie mehr so zu fühlen. Ich hatte ein großartiges Leben, so wie es war, und ich würde es mir abgewöhnen, ständig mehr zu verlangen. Ich war nicht dieses gierige kleine Mädchen von damals, sondern längst erwachsen. Meine kindlichen Wunschträume musste ich ablegen. Sie waren für andere Leute bestimmt.
Ich schwor mir, nie wieder jemanden so nah an mich heran und in meine Seele zu lassen. Mein Herz wäre zum letzten Mal gebrochen worden.