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Felix und die Angst vor dem Raumanzug
ОглавлениеWir denken doch immer, nur wir sind diejenigen, die Probleme haben. Probleme, die für uns so unlösbar erscheinen, wie eine Landung auf dem Mond für die Menschheit im Jahre 1950. Wir denken doch immer, nur wir hätten diese Schwächen und schämen uns dafür in diesen dunklen Nächten und an diesen grauen Tagen.
Ich dachte immer, ich sei mit meinen Ängsten ein ganz besonderer Spezialfall und müsse nun für immer im Keller meiner Schwester leben, weil ich es einfach alleine nicht schaffte, dieses Ding, welches sich Leben nennt, zu meistern. Bis ich an den Punkt kam, an dem gar nichts mehr ging und ich mir einfach helfen lassen musste – egal wie peinlich und merkwürdig meine Probleme auch waren, ich musste sie erzählen, ganz offiziell und um Hilfe bitten. Das war dann der Durchbruch! Die Veränderung begann und die Probleme wurden sukzessive besser und besser.
Heute denke ich oft, warum schämen wir uns nur so sehr für unsere Schwächen? Irgendwo hakt es doch immer, jeder hat irgendetwas nicht oder falsch gelernt in seiner Kindheit, was ihn als Erwachsener an einen Punkt kommen lässt, an dem er alleine einfach nicht weiter kommt. Wenn wir Glück haben, geht es uns schlecht genug und wir nehmen die Hilfe an, die übrigens immer da ist und für uns bereit steht (schauen sie sich um!). Wenn wir Glück haben, lernen wir nach, was uns fehlt und können so weiter erfolgreich unseren gewünschten Lebensweg gehen. Wenn wir Glück haben!
Felix hatte Glück. Auch er erreichte diesen Punkt, an dem nichts mehr ging und man einfach nur aufgibt. Vielleicht dachte er in diesem Moment an seinen Vater, der immer gesagt hatte: „Geh du mal was arbeiten! Such dir mal einen Job! Mit Sport kannst du kein Geld verdienen! Erzähle mir nicht immer diese Geschichten!“
Dabei hatte er so viel erreicht, war so weit gekommen, hatte so viel erlebt und bereits so gutes Geld verdient „nur mit dem Sport“.
Sein Sport, seine Leidenschaft, sein Traum war es, den er nun lebte, der ihn einen Rekord nach dem anderen brechen und eine Verrücktheit nach der anderen Wirklichkeit werden ließ: Er sprang als erster vom damals höchsten Gebäude der Welt, den Petronas Twin Towers in Kuala Lumpur, bei welchen uns normalen Menschen allein schon beim Hinaufschauen bereits schwindelig wird. Er kletterte nachts heimlich (nach 5 Fehlversuchen) auf die Jesusstatue in Rio de Janeiro und sprang auch von dort spektakulär wieder hinunter. Er bekam den Weltmeistertitel im Base-Jumping nur 1 Jahr, nachdem er mit dieser Sportart überhaupt angefangen hatte. Er hatte schon so viel erreicht, aber nun stand er -für sein Empfinden- komplett vor dem Aus. Sollte sein Vater doch Recht behalten?
Er wusste es nicht, er wusste nur, dass er an einem Punkt war, an dem es einfach nicht mehr weiter ging für ihn. Er musste seine Schwäche eingestehen und dachte, dass dies unweigerlich auch das Aus bedeuten würde für sein bislang größtes und kostspieligstes Projekt, an welchem er und ein umfangreiches Team an Mitarbeitern nun schon einige Jahre arbeiteten: Projekt „Stratos“. Es ging darum, einen Fallschirmsprung aus dem Weltall im freien Fall zu bewältigen, aus der Stratosphäre.
Es war ein spektakuläres Projekt, doch jetzt war ihm das egal, alles war ihm egal geworden, er schaffte diese Hürde einfach nicht, auch wenn das nun bedeutete, dass das gesamte Projekt scheiterte und er versagt haben würde – es ging einfach nicht. Er beschloss aufzugeben und nach Hause zu fahren, allen endlich die Wahrheit zu sagen und dieser seiner Qual ein Ende zu bereiten.
Er fuhr zum Flughafen und während er auf ein Flugzeug nach Hause wartete, setzte er sich in eine Ecke und weinte wie ein kleines Kind. Ein Polizist kam zu ihm und wollte ihn trösten, die Menschen schauten ihn mitleidig an – ihm war alles egal, er hatte genau diesen Punkt erreicht, an dem man endlich seine Maske fallen lässt und zugibt, dass man etwas nicht kann, dass etwas einfach nicht geht, dass man mit dem, was man bis jetzt in seinem Kopf hatte, einfach nicht weiterkommt.
Wie gesagt, er hatte Glück, denn er war an diesem speziellen Punkt angekommen, endlich. Monatelang schob er dieses Problem beiseite, monatelang ließ er sich Ausreden einfallen, damit niemand merkte, wo seine Schwäche lag. Niemand sollte wissen, dass den mutigen Felix jedes Mal, wenn er den Raumanzug testweise für ein paar Minuten tragen sollte, Angstzustände, Panikattacken, Herzrasen und Schwindelgefühle überkamen.
Was sollte er denn sagen zu all den Menschen, die an ihn glaubten, die viel Geld investierten in ihn und in die Idee von einem Stratosphärensprung aus über 35.000 Kilometern Höhe, dem Traum vom neuen Weltrekord und den damit verbundenen neuen Erkenntnissen für die Wissenschaft. Damals, vor 52 Jahren, als diesen Sprung Joe W. Kittinger für die U.S.-Air Force wagte, testete er einen neuen Fallschirm, der daraufhin seit nunmehr 52 Jahren in jedem Schleudersitz enthalten ist. Felix Baumgartner sollte einen neuen Druckanzug testen, der dann künftig von Astronauten und Piloten in großer Höhe getragen werden könnte.
Was sollte er nun all denen sagen, die sich wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse erhofften aus diesem neuen Weltrekord im All, den Joe Kittinger ihm – und nur ihm – als ersten nach all dieser Zeit zutraute. Viele Aspiranten hatte Joe über die Jahre abgelehnt und er musste erst über 80 Jahre alt werden, bevor er jemanden fand, dem er den Erfolg einer solchen Mission zutraute, den er unterstütze und beriet, dem er half wie einem eigenen Sohn, nämlich Felix Baumgartner.
Was und vor allem wie bringt man all diesen Menschen bei, dass man es nicht schafft, länger als 5 Minuten in diesem Raumanzug einfach nur zu sein. All diese Menschen, die seit mittlerweile 5 Jahren an diesem Projekt arbeiteten, welches ursprünglich nur auf 2 Jahre angelegt war.
Ich hätte da auch geweint, am Flughafen, im Supermarkt oder sonst wo, natürlich verzweifelt man da und rennt weg. Dabei war er noch nie weggerannt, vorher, niemals, denn er war eigentlich eher der Typ, der seine Probleme anpackt und bewältigt. Er war es gewesen, der nächtelang bei Regen in Brasilien wartete, um dann mit seiner selbst entwickelten Armbrust ein Seil auf die Jesusstatue zu katapultieren, hinaufzuklettern und einen spektakulären Basejump von dort erfolgreich zu bewältigen.
Er sprang in ein dunkles Loch ohne Sicht oder schmuggelte mit gefälschtem Ausweis und als Businessman verkleidet seinen Fallschirm in das damals höchste Gebäude der Welt in Kuala Lumpur, weil er dort hinunter springen wollte. Viele Rekorde und viele Meistertitel später saß er nun da am Flughafen und wusste einfach nicht mehr weiter.
Aber, wie gesagt, er hatte Glück. Er rief den Projektleiter an und gestand endlich seine Schwäche ein, obwohl das vielleicht bedeuten würde, dass das Projekt damit beendet sein würde. „Warte, ich komme!“ antwortete dieser nur.
Ein Engel in der Not, Jemand, der einen klaren Kopf behält und einen wieder sanft auf den Weg begleitet, der einem die Krücken hält und richtet, der einem hilft, so jemand war dieser Projektleiter wohl für ihn
Ich hatte auch immer diese Engel, sie waren oft schon da oder traten in mein Leben in dem Moment, in dem ich sie rief. Nur ist es eben wohl das Entscheidende, Schwäche zu zeigen und sich helfen zu lassen, das war und ist es, was mir und wohl auch Felix Baumgartner in Bezug auf dieses Problem so schwer fiel.
Und dann kam das, was auch ich erleben durfte damals, als ich mir endlich helfen ließ: Es trat ein Profi aufs Spielfeld des Lebens und lehrte ihn ganz langsam, ruhig und mit leichten Übungen alles, was ihm zuvor gefehlt hatte. Und zwar kein übliches Lernen, sondern hier ging es um mentale Stärke, um Angstüberwindung Schritt für Schritt, um Krisenbewältigung der anderen Art, Dinge, die wir eben leider, leider noch nicht in der Schule als nötiges und wichtiges Fach eingebunden haben und ohne die wir aber an gewissen Punkten in unserem Leben nicht weiter kommen.
Mike Gervais hieß der Psychologe aus den USA, dem die Aufgabe zu Teil wurde, Felix´ Panikattacken beim Tragen des Raumanzuges innerhalb von nur 3 Wochen in den Griff zu bekommen – das war das Zeitfenster zur Bewältigung dieses Problems.
Die Methoden von Mike Gervais erinnern mich sehr an dass, was auch ich gelernt habe von meinem nicht annähernd so berühmten Psychologen, damals, in einem kleinen Ort im Norden Deutschlands.
Mike Gervais sprach von nun an täglich mehrere Stunden mit Felix und gab ihm neue Gedanken, kombiniert mit kleinen Übungen – genau wie bei mir damals. Verhaltenstherapie, das Belohn-System, Gedankenveränderung hin zum Positiven (alte, negative Gedanken einfach ersetzen durch neue, positive, hilfreiche). Bei ihm musste die schnelle Methode schnell wirken, ich persönlich liebe es ja, die systemische Therapie mit einzubinden, mich bringt nur diese Kombination wirklich weiter. Aber wie das immer so ist, tausend Wege führen nach Rom – oder in Felix´ Fall in den Weltraum.
„Das Einzige, was du beeinflussen kannst, ist dein eigenes Denken“, erklärte ihm der Psychologe. Er half ihm, eine völlig neue Perspektive auf das Tragen des Raumanzuges zu gewinnen, er redete ihm diesen Anzug nicht nur schön, sondern am Ende freute sich Felix fast auf den Anzug, denn dieser beschützte ihn, half ihm, seinen Traum zu verwirklichen und drückte das aus, was er war: Ein Held.
Es folgten viele Gespräche, in denen Felix‘ Gedanken umprogrammiert wurden, und viele Übungen, die ihn immer länger in dem Raumanzug ausharren ließen (viele Methoden werden in dem Buch in einem Kapitel sehr schön beschrieben – zum Nachlesen…).
Der Rest ist Geschichte, Felix überwand seine Ängste, überwand noch viele weitere Hindernisse, sprang und knackte damit gleich drei Weltrekorde. Am Ende wussten er und sein Vater: Man kann mit Sport (oder mit was auch immer) Geld verdienen, man kann seine Träume leben und seine Probleme lösen. Es braucht auch keinen Promi-Psychologen aus den USA, all dies funktioniert auch hier in der Sprechstunde von Dr. Bär in Castrop-Rauxel. All dies funktioniert auch bei Karin von der Kasse oder bei Sandra aus Davensberg – es ist wirklich nicht schwer und es macht so unendlich viel Spaß, wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hat!
Vor allem ist der Gewinn so wahnsinnig groß; Felix Baumgartner sagt genau das, was ich auch erlebt habe: „Was Mike mir da erzählt, kann man im ganzen Leben gebrauchen: Bei der Arbeit, bei Gehaltsverhandlungen, in der Beziehung.“ Ich „schaffte“ meine lange und oft sehr glückliche Beziehung erst nach der Klinik, vorher funktionierte das irgendwie nicht so richtig mit den Männern bei mir. Man lernt etwas nach, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und andere Dinge lösen sich gleich mit auf – wie super ist das denn eigentlich?
Wahrscheinlich sind sie kein Felix Baumgartner und möchten gerade keinen Weltrekord brechen, sondern einfach nur den Job wechseln oder endlich einmal eine lange und bereichernde Beziehung führen. Aber vielleicht haben sie trotzdem Ängste oder was auch immer, jedenfalls wissen auch sie vielleicht gerade nicht, wie es weiter gehen soll? Vielleicht haben sie ja auch ein Problem, dessen sie sich fürchterlich schämen, merkwürdige Ängste, Spielsüchte oder was auch immer und vielleicht kommen auch sie gerade nicht weiter in ihrem Leben?
Holen sie sich Hilfe, geben sie den Kampf um äußerliche Coolness auf, und legen sie ihre Schwächen auf den Tisch, lassen sie sich fallen in das Netz der Hilfe – auch ohne ein Team von vielen Menschen um sie herum und ohne Stratosphären-Sprung funktioniert das wunderbar. Holen sie sich Unterstützung und lernen sie nach! Es gibt so tolle Menschen die einem das, was gerade fehlt, so phantastisch erklären können, die einem wirklich helfen können, die einen an die Hand nehmen und den Weg zeigen hinauf in unseren Weltraum der persönlichen Lebensziele. Lehnen sie sich an deren Schulter, hören sie zu, weinen sie sich aus und lassen sie sich alles in Ruhe erklären. Dann können nämlich auch sie ihren „Sprung“ bewältigen und das erreichen, was sie gerade erreichen möchten – was auch immer es sein mag!
Und wenn sie das dann geschafft haben, wenn auch sie ihre Probleme überwunden haben und in ihrem Hubschrauber sitzen auf ihrem persönlichen Weg zu ihrem eigenen „Stratosphären-Sprung“, wenn sie dann sagen: „Ok, I´m ready“ – so wie Felix Baumgartner damals, dann werden auch sie tief in ihrem Inneren das fühlen, was Felix als Antwort von Joe W. Kittinger zu hören bekam: „You were born ready, Felix!“