Читать книгу Frau Edelweiß und der Nato-Gipfel - Sandra Edelweiß - Страница 4

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Wie jeden Morgen stand Rektor Radeck am Geländer des Treppenhauses. Er schaute auf die Uhr. Schon zehn nach sieben und erst zwei Kollegen anwesend. Der Unterricht an der Friedrichschule begann zwar erst um 7.40 Uhr, aber ein vorbildlicher Lehrer hatte seinen Unterricht und sein Klassenzimmer pünktlich vorzubereiten! Die Arme verschränkt, der Blick herrschend, das schnurlose Telefon immer griffbereit in der Hand, lauerte er. Abgesehen von seiner Herrschsüchtigkeit war er eine sehr annehmbare Erscheinung. Mitte 50, groß gewachsen, schlank und drahtig, die Haare leicht angegraut, was ihn nur attraktiver erscheinen ließ. Dazu die sonore Stimme, er war ein Frauenschwarm. Er wusste sein Auftreten geschickt einzusetzen. Er war in seinem Kollegium allein unter Frauen, wenn man mal von den zwei jungen Kollegen absah, die zählten nicht. Nun trudelte Frau Wimmer ein, die Relitante, wie er sie heimlich getauft hatte. Abgesehen von ihrem religiösen Touch, war sie zuverlässig und gewissenhaft. Es gab keine Klagen der Eltern und das zählte schließlich. Man musste die Elternschaft immer auf seiner Seite wissen, das war seine Grundregel. Die musste man wie rohe Eier behandeln, schließlich waren sie nicht die einzige Grundschule der Stadt und die sinkenden Schülerzahlen wussten die Eltern bald als Druckmittel einzusetzen. Wenn es Unstimmigkeiten mit den Lehrerinnen gab, ein Test vielleicht zu streng bewertet wurde, drohte man eben mit Schulwechsel der Kinder und nach wenigen Gesprächen am runden Tisch des Rektorates wurde man sich auf die eine oder andere Art und Weise einig. Es war eine Schmach, Schüler an andere Grundschulen zu verlieren, eine Blöße, die er sich vor den anderen Rektoren nicht geben lassen konnte und wollte. Die Friedrichschule hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Ah, da kam ja auch schon Frau Motte, die er so nannte, weil sie immer teure Designerkleidchen trug, die Modeunkundige ebenso gut für die Überbleibsel hartnäckiger Mottenarbeit aus einer vergessenen Kleidertruhe halten konnten. Ein Blick auf die Uhr, dreißig nach sieben, das war noch in Ordnung. In einem Pulk kamen weitere 10 Kolleginnen die Treppe hoch. Sie hatten sich, angesichts der Kontrollallüren ihres Chefs, abgesprochen und warteten inzwischen vor dem Haupteingang. Gemeinsamkeit macht stark. Der Schulhof erwachte langsam zum Leben. Er sah viele Kinder, die trotz der Kälte schon draußen rumtollten. Der Parkplatz davor füllte sich. Es herrschte ein reger Stop-and-go-Verkehr. Eilige Eltern warfen ihre Kinder regelrecht vor dem Eingang zum Schulhof ab, parkten dazu notdürftig und rollten dann gleich weiter. Jetzt kamen die Busse. Sie kamen von Strasbourg und lieferten die Kinder des Eurocorps ab. Jedem Bus entstiegen nur ein paar Kinder, die Busse fuhren mit ihrer Fracht weiter zu den anderen weiterführenden Schulen Kehls, manche sogar bis zu den außenliegenden Dörfern, um dort die Kinder der Soldaten abzuliefern. Das Telefon in seiner Hand klingelte energisch. „Rektor Radeck am Apparat. Natürlich, in welche Klasse geht ihr Kind? Ah die 3c, gut hiermit ist er entschuldigt. Auf Wiederhören.“ Schnell kritzelte er einen Namen auf einen kleinen Zettel. „Wo bleibt nur wieder diese Edelweiß“, murmelte er ärgerlich. Mit dieser Frau konnte er nicht. Immer kam sie auf die letzte Minute. Keuchend schleppte sich jetzt eine dickliche, kleine Lehrerin die Treppen hoch. Je nach dem was sie anhatte, konnte man sie mit einer Wespe verwechseln. Ihre Erscheinung war ungepflegt und der Vergleich mit der Wespe war so treffend, da sie keine Gelegenheit ausließ, um sich mit ihm anzulegen und die Schule als solche anzugreifen. Wie üblich waren auch heute ihre beiden Arme mit Taschen bepackt. Aus dem einen Einkaufskorb ragte eine Thermoskanne, in der sie ständig irgendwelche ayurvedischen Tees aufwärmte. Aus der anderen Plastiktüte ragte eine Holzkiste heraus, wahrscheinlich mal wieder selbstgemacht, mit irgendwelchem Montessorikram, fiel ihm auf. „Guten Morgen Herr Radeck“, begrüßte sie ihn, „ach ist das wieder ein Chaos mit den Parkplätzen, können die Eltern ihre Kinder nicht einfach zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule bringen? Ich habe fast keinen Platz mehr ergattern können.“ „Ja wissen sie“, entgegnete er, „ich komme immer so früh, da habe ich nie Probleme einen Parkplatz zu bekommen. Da ist nämlich alles frei“. Eins musste man ihr lassen, wenn sie diese Bemerkung getroffen hatte, und darauf hatte er es schließlich abgesehen, sie ließ sich nichts anmerken. Nur ein ganz winziges Zucken ihrer Wangenknochen ließen eine Verstimmung erkennen. Jedenfalls war sein Tag gerettet, diese kleine Stichelei gab ihm einen richtigen Stimmungsaufschwung. „Na, ich geh dann mal“, sagte sie gefasst und eilte in den obersten Stock in ihr Klassenzimmer. Nun kam die drahtige Konrektorin die Treppen hochgeeilt. „Ah, Frau Sommer, chic chic“, raunte er und musterte ihr geblümtes Kostümchen. Sie war Mitte vierzig, Single und recht attraktiv. Ihretwegen hatte es schon Krach zu Hause gegeben, denn seine Frau sah es nicht gerne, wenn er mit so agilen und ungebundenen Frauen umgeben war. „Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, die Sommer ist doch mit der Schule verheiratet.“ Solcherlei Sprüche konnten sie kaum trösten, denn eine intuitive Stimme sagte ihr, dass ihr Mann kein Kostverächter war. Ein erneuter Blick auf die Uhr. „Schon 7.35 Uhr, jetzt wird es aber Zeit die wartenden Kinder reinzulassen, wer hat denn Aufsicht?“ Mürrisch blickte er um sich. Gerade wollte er loswettern, als die Meute unüberhörbar ins Schulhaus strömte. „Pst, pst“, zischte er, was die Schüler sichtlich unbeeindruckt ließ. Dann kam eine zierliche junge Blonde die Treppe hochgeeilt. Als sie den Blick des Rektors auf sich fallen sah, erröteten ihre Wangen leicht. „Hm“, er räusperte sich umständlich und blickte unsicher um sich. Dann sagte er mit seiner tiefen Stimme: „Hm, Frau Schneider, könnten Sie bitte mit mir ins Rektorat kommen, ich hätte da noch einen Brief vom staatlichen Seminar für Schulpraxis für sie.“ „Oh, die Prüfungsunterlagen, da bin ich aber aufgeregt“, erwiderte sie. Unter den tuschelnden Blicken zweier Kollegen, die vor dem Lehrerzimmer standen, geleitete Herr Radeck seine Referendarin galant in das Rektorat. „Hast du das wieder gesehen Sonia, wie sie ihn angehimmelt hat?“ „Ja, die erhofft sich doch eine bessere Schulleiterbeurteilung wenn sie sich so rehhaft gibt.“ „Meinst du…?“ „Ach, das kann ich mir jetzt auch wieder nicht vorstellen, es hat aber noch nie geschadet bei ihm einen kurzen Rock und eine enge Bluse anzuhaben.“ „Du musst es ja wissen“. „Ja, ich weiß ganz genau, warum ich bei ihm in Ungnade gefallen bin.“ „Ich glaube auf deinen Schlabberlook steht er nicht!“ „Du sagst es, aber schließlich sind wir ja nicht als Models angestellt, also dann mal wieder auf in den Kampf“. „Auf in den Kampf“, sie konnte den Satz kaum zu Ende sprechen, als ein in Tränen aufgelöstes Kind aus dem Klassenzimmer kam. „Frau Fischer, Frau Fischer, die schreien ganz laut da drin und der Maximilian hat der Sarah ein Bein gestellt und…“ „Ja, beruhige dich, ich komme sofort.“

„Luise“, zischte ihr Frau Moritz noch schnell ins Ohr, „wir werden beobachtet“. „Wo, wer?“, irritiert versuchte Frau Fischer unauffällig nach hinten zu blicken. „Der Chef?“ „Nein, noch schlimmer, die Herrmann!“ Die Herrmann war in der Schule das Alarmsignal schlechthin. Die Herrmann war die Mutter eines Schülers aus der dritten Klasse und ihr Ruf besagte, dass sie sich zur Oberaufseherin über die Schule gemausert hatte. Erschwerend kam noch hinzu, dass ihr Mann im Gemeinderat war und nicht unerheblichen Einfluss in Kehl hatte. Ein besonderes Augenmerk hatte sie auf die Lehrer, die sie im Allgemeinen für faul, unfähig und unprofessionell hielt. Im Besonderen waren sie natürlich auch nicht in der Lage das Talent ihres wohlerzogenen Jungen zu erkennen und entsprechend zu fördern. Jedes Anzeichen von fehlender Arbeitsmoral wurde von ihr sofort bemerkt und an oberste Stelle weitergeleitet. Lauernd stand sie am Treppenabsatz und durchbohrte die schwatzenden Kollegen mit ihrem Blick. Wie der Chef blickte sie auf die Uhr, die nun schon 7.45 Uhr anzeigte. Der Unterricht fand also schon 5 Minuten statt und die unmöglichen Lehrerinnen wussten nichts Besseres zu tun als ein Schwätzchen zu halten. Zudem ignorierten sie massiv das Mobbingverhalten einiger Schüler in ihren Klassen. Sie würde einen entsprechenden Bericht an Herrn Radeck weiterleiten. „Das gibt Ärger. Also wir sehen uns in der Pause“, erwiderte die Lehrerin so gelassen wie möglich und ging mit dem heulenden Kind in das Klassenzimmer. Der Schatten am Treppenabsatz verharrte. Zu oft hatte sie schon bemerken müssen, dass sich dieses impertinente Lehrervolk sogar während des Unterrichts aus den Zimmern schlich um Kopien zu machen. Als ob die Lehrer nicht schon genug Freizeit hätten, sie können nicht einmal ihren Unterricht richtig vorbereiten. Vielleicht sollte sie ihren Sohn doch auf diese neue Privatschule in Strasbourg schicken. Die letzte Mathearbeit ihres Sohnes bei Frau Edelweiß war ja auch wieder eine Katastrophe. Wie konnte sie es wagen eine Aufgabe zu stellen, die nicht explizit vorher geübt worden war. Und die Punkteverteilung war inadäquat. Sie hatte das Ganze erst einmal ihrem Mann vorgelegt und nachdem auch er für die eine Knobelaufgabe 30 Minuten gebraucht hatte, verlangte sie, dass diese Aufgabe im Nachhinein von der Benotung ausgeschlossen werden sollte. „Wo kommen wir denn da hin, was nehmen sich diese Pseudopädagogen heraus. Die haben ja noch nicht einmal eine richtige Universität besucht!“ Sie hatte die Mathearbeit erst einmal aus Protest nicht unterschrieben. Auch erschien es ihr nicht transparent genug, dass ihr Sohn Max nur eine zwei bis drei im Mündlichen erzielt hatte. Sie waren sowieso nicht einverstanden mit diesen merkwürdigen Unterrichtsmethoden von Frau Edelweiß. Die mit ihrer Freiarbeit und mit dem Montessori, da kommt doch nichts dabei raus. Sie hat zwar bei dem Elternabend recht überzeugend geklungen, aber ob das wirklich so mit dem Lehrplan vereinbar ist, wie sie immer behauptet? Sie hat doch tatsächlich gesagt, der Lehrplan wäre eigentlich ein Montessorilehrplan, nur würde der Name nicht genannt werden, damit keine Rechtsansprüche bestünden. Alle Kinder hätten das Recht darauf, nach ihrem persönlichen Leistungsvermögen und Fortschritt zu arbeiten. Ja wo kommen wir denn da hin? Sie wird die Angelegenheit auf jeden Fall mal einem Rechtsanwalt zur Überprüfung geben. Die soll mal schauen, dass die Schere jetzt wieder zusammengeht. Der Markus ist in dem Schulheft schon zehn Seiten weiter als ihr Max, das geht gar nicht. Und außerdem erklärt sie auch nichts. Alles müssen die Eltern zu Hause tun. So wie das ihrer Meinung nach aussieht, sollte man da mal an dem Versetzungsrädchen drehen. Ihr Mann hat da ganz gute Kontakte zum Schulamt. Wenn die noch mal so dumm kommt und meint mit ihrem Sohn stimme was nicht, sie sollten mal die psychologische Beratungsstelle aufsuchen, dann würde sie was erleben. In ihrer Familie wird nicht zum Seelenklempner gegangen, wenn die keinen gescheiten Unterricht machen kann, dann braucht sie sich auch nicht wundern, wenn ihr Sohn manchmal dumme Bemerkungen macht, der ist halt pfiffig. Der stellt eben Ansprüche an seinen Unterricht. Außerdem sollten sich die Kinder auch nicht immer alles gefallen lassen. Ohne Ellbogen kommt man heutzutage nicht weit. Davon konnte ihr Mann ein Liedchen singen. Max wirkt in sich verschlossen und auch aggressiv, hat sie gesagt. Ich glaube die tickt nicht ganz richtig. Wenn ihr Mann jetzt seine Beziehungen spielen lässt, dann reicht es vielleicht noch für das nächste Schuljahr. Dann kommt Max in die vierte Klasse und was anderes als das Gymnasium kommt für ihn nicht in Frage. Das hat die Edelweiß nur noch nicht kapiert. Was macht die eigentlich jetzt? Das Auto steht jedenfalls auf dem Parkplatz, kam heute mal richtig knapp zum Unterricht. Leise schlich sie in den zweiten Stock und ging auf die Klassenzimmertür zu. Schon von der Treppe aus hörte sie laute Kinderschreie. Das ist unerhört, wollte sie schon loslegen, aber sie musste feststellen, dass der Lärm aus dem hinteren Klassenzimmer kam und nicht aus Frau Edelweiß Zimmer. Sie blickte um sich, dann legte sie ihr Ohr an die Tür. Komisch, man hört gar nichts. Max sagt immer, dass es so laut bei ihr wäre. Wahrscheinlich sind sie gar nicht drin. Doch da, sie hörte leises Murmeln. „Dich krieg ich schon noch irgendwann“, murmelte sie und ging ganz leise die Treppen runter. Im ersten Stock stieß sie auf den Rektor, der mit offenen Armen auf sie zuging. „Einen schönen guten Morgen, Frau Herrmann“, flötete er. „Gab es Probleme?“, fragte er besorgt. „Sie sehen aber wieder umwerfend aus heute morgen, richten sie ihrem Mann Wilhelm doch einen schönen Gruß aus“. „Der weiß wie man mit unseresgleichen umzugehen hat“, dachte sie anerkennend. „Können Sie ihren Mann noch einmal wegen der Turnhallenbelegung fragen? Müssen wir wirklich die Bereitschaftspolizei Lahr zwei Wochen vor dem Gipfel aufnehmen? Da müssten wir den ganzen Sportunterricht ausfallen lassen und gerade ihr Max macht doch so gerne Sport!“, fragte er einschmeichelnd. „Einige Eltern waren schon bei mir und haben sich beschwert.“ Frau Herrmann konnte nur zustimmen: „Die Eltern haben völlig recht, ich bin auch nicht damit einverstanden, dass der Sportunterricht ausfällt und man kann den Kindern auch nicht zumuten bei diesem feuchtkalten Frühjahrswetter rauszugehen. Da holt sich mein Max nur eine Erkältung. Letzte Woche ist er mit ganz schmutzigen Sportkleidern nach Hause gekommen, die Sportschuhe waren ganz verdreckt. Das geht doch nicht. Die Sportlehrerin hätte es unbedingt ankündigen müssen, dass sie rausgehen.“ „Das war sehr unklug von ihr, ich habe auch gleich eine entsprechende Vorschrift für die Gesamtlehrerkonferenz vorbereitet. Heute Nachmittag wird die GLK sein und dann darf kein Lehrer mehr ohne Ankündigung raus gehen.“ „Sie sind ein echter Schatz für diese Schule, was würden wir ohne sie machen. Ich glaube hier würde alles im Chaos versinken. Und wir müssten unseren Sohn wohl in einer anderen Schule anmelden“, schmeichelte Frau Herrmann. „So ist es wohl. Die Turnhallen…?“ „Ach ja, ich habe mit Wilhelm gesprochen, er ist zwar der Hauptansprechpartner für den Nato-Gipfel der Stadt, aber die erkennen seine Autorität nicht an, muss ich leider sagen. Die Vorschriften kommen von übergeordneter Stelle, sie werden schon sehen, was sie davon haben. Mein Wilhelm ist leider machtlos. Er hat aber eine Protestnote an das Kanzleramt geschickt. Wir warten noch auf die Antwort.“ „Mit Frau Edelweiß? Alles in Ordnung?“ „Ach, das leidige Thema. Über die Arbeit müssen wir noch einmal sprechen.“ „Ich werde einen runden Tisch einberufen und ein Machtwort sprechen.“ „Tun sie das, wir sehen uns dann. Tschüss“. „Auf Wiedersehen Frau Herrmann, und sie wissen ja, meine Tür steht immer für sie offen.“ Dann kam die Sekretärin in den Flur. „Herr Radeck, Telefon.“ Er zuckte neckisch mit den Schultern. „Immer zu tun.“ Frau Herrmann lächelte. „Wenn der Radeck nicht wäre. Aber mit seiner Unterstützung konnte man gewiss sein, dass bei der Bildungsempfehlung im nächsten Jahr das Kreuz an der richtigen Stelle stehen wird.“ Etwas anderes als das Gymnasium konnte sie sich für ihren Sohn nicht vorstellen. Sie ging auf den Schulhof und traf dort auf ein Grüppchen weiterer Eltern, die miteinander diskutierten. Das konnte sie sich nicht entgehen lassen. „Hallo“, mischte sie sich dazu. „Gibt es was Neues? Was sagt ihr denn zu dem Mathetest von der Edelweiß. Also ich bin der Meinung, dass man da etwas unternehmen sollte…“ Die Sekretärin indes, holte sich ein Lob von ihrem Schulleiter ein. „Da haben sich mich gerade noch rechtzeitig vor der Herrmann bewahrt. Die war gerade dabei so richtig in Fahrt zu kommen. Wir können es uns nicht leisten so wichtige Eltern zu vergraulen. Was hätte das denn für eine Außenwirkung!“ Die Sekretärin grinste. „Ist ihr Mund nicht schon klebrig geworden von dem Rumgesülze?“ „Ich bitte sie, Frau Wellert. Wo denken sie hin. Ihr Mann ist unser bester Kontakt zum Gemeinderat, ohne ihn können wir unseren Schuletat vergessen. Die Frau Edelweiß muss zur Räson gebracht werden. Die kann einfach nicht mit Eltern umgehen. Die untersteht sich den Eltern ins Gesicht zu sagen, dass ihr Sohn zum Psychologen gehen soll. Stellen sie sich das einmal vor. Die hat überhaupt kein politisches Gespür. Und er sei auch nicht für das Gymnasium geeignet, der würde zu sehr von zu Hause unter Druck gesetzt werden. Was stellt die sich vor, dass der Sohn der Herrmanns vielleicht auf die Waldorfschule in Offenburg gehen wird um Handwerker zu werden?“ „Montessorischule, wenn schon“, entgegnete sie ihm, „Frau Edelweiß macht Montessori.“ „Von mir aus Montessori, ist doch eh alles das gleiche. Ich bin sowieso dagegen, schon wegen der Weltanschauung. Leider kann ich es ihr nicht verbieten, aber die werd ich schon noch los. Der Wilhelm wird mich da unterstützen und mit der Schulrätin habe ich auch schon geredet. Da geht was.“ „Chef, brauchen sie noch was für die GLK1 heute? Ich würde nämlich heute früher Schluss machen!“ „Wie, Schluss machen? Jetzt sind Sie nur 3 Tage die Woche da und die nicht einmal ganz? Dass der Wilhelm da nichts erreicht hat. Das geht doch nicht. So eine große Schule, wie soll ich denn die ganze Arbeit erledigen ohne Sekretärin. Ich muss da mal mit den Wicherts reden, ihre Tochter ist doch bei uns.“ „Sind die mit dem Oberbürgermeister verwandt?“ „Genau, verschwägert, da muss ich dran bleiben. Die sind bilingual oder?“ „Ja, die Tochter ist in der deutsch-französischen Klasse“ „Konnte die denn französisch?“ „Nicht wirklich, meint jedenfalls Frau Stieglitz, aber sie wollte unbedingt mit ihrer Freundin eingeschult werden und das sind doch die von der Villa da drüben. Sie wissen schon, die mit der Firma im Hafen“. „Kellerfix?“ „Genau die, da muss man schon Rücksicht nehmen und in der anderen ist auch so viel - na ja sie wissen schon, anderes Klientel, drin.“ „Wenn ich sie nicht hätte! Nein für die GLK ist alles geregelt. Das Programm machen sowieso die Kollegen. Ich kann mir das nicht auch noch aufhalsen. Ich werde nur kurz einen Überblick geben über die laufenden Vorbereitungen zum Nato - Gipfel. Das wär´s dann.“

Ganz genau Bescheid wusste er nicht. Doch er hatte Routine. Das war sein Geschäft. So eine Chance konnte sich niemand entgehen lassen. Er war nicht der Einzige, dessen war er sich sicher. Auftraggeber gab es genug und bei der Ansammlung an Potentaten, die auf der Passerelle posieren würden, konnte so manch politisches Ziel verfolgt werden. Mit einem Schlag könnte man die Machthaber der Welt auslöschen. Welcher Regierungschef hatte keine Gegner? Gegnerlosigkeit war noch schlimmer als Gegner zu haben. Wer keine Gegner hat, ist entweder eine Marionette oder so bedeutungslos, dass es sich nicht lohnt gegen ihn zu sein. Es gab viele Gründe Barak Obama zu töten. Die weißen Amerikaner hassten ihn für seine Hautfarbe, die Fundamentalisten hassten ihn, weil er Amerika verkörperte. Die Liste der Gründe schien unendlich. Er ist ein Symbol, so wie die Mimram – Brücke. Die Menschen konnten sich heraussuchen für was er und sie, die Brücke, stehen sollten. Obama war ein Hoffnungsträger und sie, die Brücke, sollte in wenigen Tagen zur Trägerin dieser und weiterer anderer wichtiger Persönlichkeiten werden. Eine Brücke, ein starkes Bauwerk, raffiniert konstruiert, die Statik genau ausgeklügelt und dennoch fragil. Die Dicke der Stahlseile genau berechnet, von weitem sahen sie dennoch nur wie die feinen Fäden eines Spinnennetzes aus. Stark und doch zerstörbar. Wer konnte da der Versuchung nicht widerstehen. Sarkozy, Merkel und Berlusconi eigneten sich ebenso als Ziel. Ein gezielter Schlag konnte viele Fliegen mit einer Klappe schlagen. Das weltweite Chaos wäre vorprogrammiert. Gemächlich ging er die Fahrradbrücke hinauf. Als Tourist getarnt, die Kamera um den Hals gebunden. Er war nicht allein. Er bemerkte eine andere Touristengruppe, die ebenfalls zur Plattform ging. Das Auto, aus dem sie stiegen, hatte ein Emmendinger Kennzeichen. Es waren vier junge Männer, fast noch Jugendliche, die ihren Ausflug mit McDonald‘s Tüten tarnten. Ihr Erkundungsausflug dauerte nur einen Cheeseburger lang. Knapp vor ihm gingen sie wieder zum Auto und entschwanden. Er bemerkte ihre aufgesetzte Sorglosigkeit. Der Rubel rollte nur für den, der am Ende traf. Eigentlich waren sie alle zu spät dran. So kurz vor dem Gipfel sollte die Planung sitzen, konnte man sich nicht mehr mit Details aufhalten. Vielleicht war es nur ein Kontrollbesuch. Noch mal überprüfen, ob alle Vorbereitungen exakt waren. Den Verbrecher zieht es immer wieder zum Tatort hin. Ein weißer Bus fiel ihm auf. Zu auffällig, befand er. Ein Lautsprecher an der Rückseite angebracht, wie bei den Marktschreiern in südlichen Ländern. Mit laufendem Motor stand er vor der Brücke. Die laufende Digitalkamera filmte ein Standbild der Brücke, das Navigationsgerät war ebenfalls installiert. „So blöd können sich nicht einmal Anfänger verhalten“, dachte er. „Mist, schon der zweite Polizeiwagen. Die fahren jetzt schon verstärkt Streife.“ Er kannte die Polizisten des Kehler Reviers, diese gehörten eindeutig nicht dazu. Ein Hubschrauber kreiste mehrmals über das Gelände, kam ganz dicht runter, flog dann weiter. Auch diese Überwachung setzt schon früh ein, bemerkte er. Der Luftraum war ganz ausgeschlossen. Dazu musste er nicht die Lokalblätter lesen, um zu wissen, dass der Luftraum und die Schifffahrt für den Zeitpunkt des Gipfels gesperrt werden würden. Von solchen groben Fehlern konnte man bei den offiziellen Organen nicht mehr ausgehen. Wäre doch zu schön gewesen. Man fährt mit einem beladenen Binnenschiff unter der Brücke durch und zack, wäre es schon passiert. Freie Waffenwahl. Es gäbe viele Möglichkeiten die Ziele zu erreichen. Sein scharfes Auge blickte vorsichtig herum. Er studierte die Unterkonstruktion der Brücke. Auch zu unsicher, die würde inspiziert werden. Er bemerkte eine Menschengruppe. Sieben Männer, zwei in Anzügen, die Chefs natürlich. Drei hatten legere Kleidung an, sicher die Planer. Die restlichen Männer trugen blaue Arbeitsanzüge mit dem gleichen Firmenlogo darauf. Die leger gekleideten Männer schritten den unteren Teil der Brücke mit Zollstöcken ab und diskutierten eifrig miteinander. Die Chefs standen bedächtig abseits und betrachteten das Treiben aus gelassener Entfernung. Die Arbeiter trugen Stative hin und her. Sie gingen zu einem Firmenkombi. Er notierte sich das Autokennzeichen. Dafür brauchte er keinen Stift. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt seinen Geist zu schulen. Er beherrschte mehrere Techniken um sich Details, Namen, Uhrzeiten ohne Fehler einzuprägen. Fehler konnte er sich nicht erlauben. Fehler sollten seine Ziele machen, oder deren Beschützer. Mangelnde Kompetenz musste die Polizei mit Masse ausgleichen. Fehlende Koordination mit Maschendrahtzäunen kompensieren. Nun, es sollte ja keine Zäune geben. Noch nicht. Mit der Wahrheit würden die Verantwortlichen erst kurz vor knapp rausrücken, da kannte er sich aus. Erst wenn die Demonstranten ein paar Steine warfen, vielleicht auch provoziert durch V- Leute, dann schrie die Bevölkerung regelrecht nach solchen. Doch zuerst musste die Bedrohung spürbar sein. Er plante die Zäune in seine Kalkulationen mit ein. Er kannte die Einteilung der Sicherheitszonen, da hatte er seine Quellen. Es gab zwar die offiziellen Versionen, die in der hiesigen Sonntagszeitung, dem Guller, dem Stadtanzeiger und der Kehler Zeitung veröffentlicht wurden, aber Profis wie er, bedienten sich an den echten Quellen. Mit Geld war da immer was zu machen. Er hatte ein engmaschiges Netz an Verbindungsleuten aufgebaut, ohne dass er sich jemals wirklich zu erkennen geben musste. Manche Kollegen waren da nicht so vorsichtig, Anfänger eben. So konnte er es fast nicht glauben, dass seine Konkurrenten tatsächlich die Dreistigkeit besessen hatten, in Kehl einen Pritschenwagen mit Firmenaufschrift zu stehlen. Es war offensichtlich, dass er in einem Einsatz eine Rolle spielen würde. Er würde nie so unvorsichtig vorgehen. Wenn alle so arbeiten würden wie die, würde die Welt nie von ihren Potentaten befreit werden. Doch trotz aller vorausschauenden Planung, er suchte immer noch nach dem perfekten Ort. Er sollte nahe genug an der Brücke liegen und doch außerhalb der Sicherheitszone. Es sollte ein hohes Gebäude sein und auch außerhalb der Demonstrationsrouten verlaufen. Bei Demonstrationen wusste man nie, die galten auch in seinen Kreisen als unkalkulierbares Risiko. Andererseits konnte man dabei fast unbehelligt seinem Werk nachgehen. Es war nicht schwierig, bezahlte Aufmischer so in den Demonstrationsreihen zu integrieren, dass sein Treiben nicht mehr auffiel. Dennoch, er wollte in Ruhe arbeiten, er liebte die Präzision. Das Improvisieren überließ er gerne seinen Mitstreitern, auf welcher Seite sie auch immer stehen mochten. Die Großherzog – Friedrichstraße führte direkt auf die Brücke zu, sie gehörte zur Sicherheitszone. Der Rheindamm war zugunsten der Brücke unterbrochen worden. Seine Augen suchten die anliegenden Häuser ab. Sie kamen nicht in Frage. Das Polizeiaufgebot würde immens sein. Schon jetzt statteten Polizisten Hausbesuche ab. Die Polizisten kannten bald alle 700 Bewohner persönlich. Alles Ein- oder Zweifamilienhäuser. Teilweise sogar Villen. Auf der sogenannten „Insel“ ließ es sich gut leben. Früher lebte die bessere Gesellschaft dort, inzwischen war die Einwohnerschaft gemischter. Viele schmucke Häuser zierten diesen Flecken. „Es gibt viele Bäume da, das ist gut“, bemerkte er. Über den Grundstücken schwebte fast eine gespenstische, modernde Friedhofsatmosphäre. Die Grundstücke lagen fast alle tiefer als die Straße, in manche Gärten musste man direkt hinuntersteigen. Er schüttelte sich, die Feuchtigkeit kroch ihm bei diesem Anblick in die Glieder. Die wichtigste Sicherheitszone endete direkt am Altrhein. Von der Brücke aus lief er 500 Meter geradeaus. Die Straße machte einen leichten Bogen, sie überquerte eine vielbefahrene Durchgangsstraße und endete vor dem Altrhein. Er blickte in ein schlammgrünes Gewässer, das vor lauter Algen keine Luft zu bekommen schien. Es war erst März, wie würde diese Brühe erst in der Sommerhitze aussehen! Hohe Bäume flankierten beide Uferseiten. Ein baufällig anmutendes Holzbrückchen führte zur anderen Uferseite. Er sah den Kirchturm von St. Nepomuk. „Interessant“, notierte er sich. Aber ein anderes Gebäude zog seine Aufmerksamkeit an. Hier auf der anderen Uferseite war er außerhalb der Sicherheitszone, das war schon einmal gut. Auf der linken Seite befand sich ein ziemlich großes und altes Gebäude. Es musste bestimmt an die hundert Jahre alt sein. An den Fenstern prangten bunte Bilder. Hände waren mit Fingerfarben auf die Glasscheiben gedruckt. „Friedrichschule“ las er. Er schauderte. „Das man heutzutage die Jugend immer noch in so alte Gemäuer steckt, da kann ja nicht viel zu erwarten sein.“ Das Gebäude lag nicht schlecht. Das Portal schien nicht oft benutzt worden zu sein. Da schrak er aus seinen Gedanken. Ein ohrenbetäubendes Geschrei ließ ihn verharren. Er rümpfte die Nase. Er konnte Kinder nicht ausstehen. Anscheinend hatte die Pause gerade begonnen. „Das hört ja gar nicht mehr auf“, dachte er, als er vorsichtig, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, weiterging und einen Blick auf den Schulhof warf. „Wie viele hundert Schüler müssen denn in diesen Kasten gehen?“ Dann konnte er sich kaum noch das Lachen verkneifen. Er erblickte eine ziemlich mürrisch dreinblickende Lehrerin. Sie trug eine orangefarbene Warnweste, was ihren widerwilligen Ausdruck nur noch verstärkte. Er konnte verstehen, dass sie so gekleidet war, bei diesem Gewusel musste man sich ja irgendwie bemerkbar machen. Langsam tastete er sich an das Gelände vor. Er ging um den gesamten Block nach links an zwei Häusern vorbei und sah den Schulhof von vorne. Eine ebenso triste Erscheinung wie das ganze Gemäuer. Eine sehr „stilsichere und geschmackvolle“ Überdachung war über dem Hinterausgang angebracht, der wohl zum Haupteingang umfunktioniert wurde. Die Überdachung bestand aus einem schäbigen Wellblechdach, das kein Licht auf den Eingang fallen ließ, was zur optischen Bereicherung beitrug. Keine festen Tore vor dem Schulhofbereich, notierte er sich. Das Tor konnte man herausheben und notfalls auf die Seite stellen, falls man mit einem größeren Fahrzeug auf das Gelände fahren musste. Vor seinen Augen prügelten sich zwei Jungs. „Ach, da sind noch mehr“. Eine weitere mürrische orangefarbene Aufseherin stürzte zu den Kindern und versuchte Ordnung in den Haufen zu bringen. Dann spürte er einen stechenden Blick auf sich gerichtet. Die kleine dicke Lehrerin, die ihn sofort an eine Wespe erinnerte, machte tatsächlich Anstalten auf ihn zuzugehen. Das passierte ihm selten. Gerade noch rechtzeitig wurde sie von einem ebenso dicken Kind am Ärmel gezupft und auf einen anderen Krisenherd aufmerksam gemacht. Dann ertönte ein Gong. Jetzt kam Bewegung in die Menge. Aus dem wilden Haufen bildeten sich mehr oder weniger ordentliche Reihen. Manche stellten sich recht manierlich und klassenweise an aufgemalten Markierungen auf. Besonders die Kleinen schienen nicht so begeistert von dem Eingriff in ihre Pause und rauften einfach fröhlich weiter. Dann kamen nach und nach Lehrerinnen, um die mehr oder weniger ordentlich aufgestellten Kinder in das Gebäude zu führen. Die dicke Wespe warf ihm noch einen durchdringenden Blick zu, so wie es wirklich nur Lehrerinnen vermögen und zog mit ihrer Gruppe ab. Ihm fiel auf, dass es hauptsächlich Frauen waren. Es schien sich um eine Grundschule zu handeln, da taten sich Männer wohl schwer. Die Turnhalle bildete, von seiner Seite aus betrachtet, den rechten Abschluss des Schulhofes. In der Mitte des Platzes stand ein Beet mit einigen sehr hohen Bäumen. Die Lokalität war sehr interessant. Da erinnerte er sich an seine Recherchen. Die Halle wird belegt sein. Mit Sicherheit wird sie eine der wichtigen Kommandostellen für die Sicherheitszone sein. Gegenüber lag die Stadthalle. Leider hatte er da noch nicht mehr in Erfahrung bringen können, wahrscheinlich auch deshalb, weil sich die Verantwortlichen selbst noch nicht sicher waren, wie die Gebäude zu besetzen waren. Die Schule war am Samstag sowieso geschlossen. Und am Freitag war nicht davon auszugehen, dass sie geöffnet wurde. Er drehte sich um und ging. Mit seinen Augenwinkel bemerkte er noch einen Bus mit Militärkennzeichen. „Das fängt schon früh an“, dachte er. Der Bus hielt an und nahm einige Schüler auf und fuhr dann weiter. Gleich darauf folgte ein weiterer Bus. Ein Fahrer in Militärkleidung stieg aus und suchte einen Schüler. Das war ihm neu, dass die Schule Militärangehörige aufnahm. Er resümierte, dass sie wohl vom Eurocorps kommen mussten. Nicht weiter beunruhigend, damit konnte er fertig werden. Gemächlich schlenderte er an den schon bekannten Häusern entlang. Er ging den ganzen Weg zurück und prägte sich jede noch so unwichtige Einzelheit ein. Er musterte das Ufer des Altrheins, zählte die Fenster der Schule, maß mit geschultem Blick den Abstand des Gebäudes von dem Ufer ab. Ein kleiner Spazierweg führte zwischen Schule und Ufer entlang. Roter Sand, „Nicht gut“, dachte er, „das hinterlässt Spuren“. An der Brücke angekommen, wollte er den Fußweg nehmen. Er wandte sich dem rechten Steg der Brücke zu, musste aber wieder umkehren. Er war wegen Wartung und fehlendem Winterdienst gesperrt, zumindest offiziell. Also schritt er wieder den Fahrradweg ab, langsam, fast genießerisch. Auf der Plattform ließ er seinen Blick zur Stadtmitte hin schweifen. Er sah den hohen Glockenturm von St. Nepomuk. „Nicht schlecht, die offene Säulengalerie um den Glockenturm herum scheint begehbar, aber die Flugbahn stimmt nicht ganz“. Dann überschaute er das Dächermeer. Und tatsächlich, er fand es wieder, das musste das Dach der Schule sein. Es war zwar nur ein kleiner Zipfel zu sehen, das war aber machbar. Die Flugbahn war perfekt. Das Dach lag auf gerader Linie zur Plattform. Ein Kinderspiel. Er würde zurückkehren und er würde einen Weg in das Gebäude finden. So ein öffentliches Gebäude beherbergte sicherlich auch noch eine Volkshochschule oder eine Musikschule und wurde nicht nur vormittags genutzt. Er konnte sich sein Grinsen kaum verkneifen. Ein Kinderspiel und auch noch außerhalb der Sicherheitszone. Schlendernd ging er an den anderen unauffälligen Touristengruppen vorbei. Sein Job war so gut wie erfüllt.

14.00 Uhr, das Lehrerzimmer platzte aus allen Nähten. Die Tische waren überfüllt mit Ordnern und Stehsammlern aus denen Papiere quollen. Jeder Lehrer hatte sein kleines Eckchen Tisch mit einem Namensschild markiert und versuchte sich dieses Plätzchen mit diversen Unterrichtsmaterialien zu bebauen. Dazwischen klebten Kaffeetassen und dreckige Teller und zeugten davon, dass die meisten ihr Mittagessen zwischen den unordentlichen Stapeln eingenommen hatten. Es roch nach Fisch, Pizza und Gemüseauflauf. Die Luft war zum Schneiden. Das hereinfallende Licht durch die Bäume des Altrheinufers zog seine Bahnen durch glitzernde Staubpartikel. Gerade betrat Herr Radeck das Zimmer. Er versuchte immer als Letzter zu kommen und genoss seinen Auftritt. Jeder, der jetzt noch kam, wurde mit einem strafenden Blick geahndet, von dem man nicht wusste, ob er irgendwann einen Einzug in irgendeine Akte finden würde. Man munkelte, dass im Rektorat ein schwarzes Büchlein liege, in dem tagebuchartig Vergehen und sonstige Vorkommnisse notiert wurden. „Haben Sie alle die Tagespunkte vorliegen?“, begann er, „dann sei die Konferenz eröffnet. Meine liebe Erika wird den ersten Punkt vortragen. Es geht um die Ergebnisse ihrer Fortbildung zur Selbstevaluation, die wir demnächst hier durchführen werden. Ich bitte um Aufmerksamkeit“. Die Konrektorin warf ihrem Chef einen verliebten Blick zu und stellte sich am Beamer auf. Nervös nestelte sie an dem Gerät herum, aber es erschien kein Bild auf der Leinwand. Ihre Wangen röteten sich leicht. Unsicher schaute sie zu ihrem Chef. Dieser blickte unwillig zur Seite. Dieser Technikkram war nichts für ihn, obwohl er ein Mann war. Er hätte auch den Jungspund mit der Mediengeschichte beauftragen können, aber das ließ sein Ego nicht zu. Die Wespe hatte sich schon vor zwei Jahren weitergebildet und war jetzt für die Medien und die Computer zuständig. Er hasste es, sie fragen zu müssen. Eigentlich hatte er damals nur zugestimmt, dass sie die Fortbildung zur Medienbeauftragten machen durfte, weil sich erstens niemand anderes gemeldet hatte und weil er ihr zweitens nicht zugetraut hatte, dass sie es packt. Er hatte sich so auf ihr Versagen gefreut, das leider nicht eingetreten war. „Sie hat auch ihren Mann, der kommt immer abends in die Schule und fährt ihr den Karren aus dem Dreck“, dachte er. Nein, er konnte jetzt nicht Frau Edelweiß fragen. Die Bürde nahm ihm aber schon Frau Sommer ab. „Frau Edelweiß, könnten sie bitte mal schauen.“ „Das genießt sie wieder, diese blöde Kuh“, ging es ihm durch den Kopf. Tatsächlich drückte sie auf ein paar Knöpfchen, überprüfte noch einmal das Kabel und schon wurde ein Bild sichtbar. Der Vortrag zog sich dahin. Frau Edelweiß schob ihrer Kollegin einen Zettel hin. „Bla, bla, bla,…“ stand darauf. Frau Rose konnte nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. Frau Edelweiß klebte eifrig einen riesigen Stapel Blätter zusammen. Ständig musste sie in den Konferenzen irgendetwas schnippeln oder kleben. Einmal hatte sie tatsächlich die Dreistigkeit besessen und mindestens hundert Blätter während der Konferenz laminiert. Frau Edelweiß konnte nicht anders, bei so viel Blabla musste sie einfach etwas Sinnvolles tun, sonst konnte sie sich nicht beherrschen. Herr Radeck stand ihrem Treiben hilflos gegenüber. Er konnte ihr leider nicht vorwerfen, bei ihren Nebentätigkeiten unkonzentriert zu sein. Nein, im Gegenteil, ständig hatte sie einen Kommentar bereit. Meistens negativ. An allem wusste sie etwas auszusetzen. Da schon wieder. Frau Edelweiß hob ihre Stimme an: „Als ich damals noch in der Montessorischule war, da haben wir das ganz anders gemacht…“ Einige cheftreue Kolleginnen zogen scharf den Atem ein. „Wir sind aber keine Montessorischule!“ „Schon gut, ich meine ja nur.“ „Zur Sache jetzt“, versuchte Herr Radeck die Wogen zu glätten. Schließlich müssen wir noch über den geplanten Nato - Gipfel referieren. Frau Moritz hat da ein Handout vorbereitet.“ Frau Moritz reichte einen Stapel rosafarbenes Papier herum. „Also wir haben mal mit der Schulkonferenz beraten, mit der Schulkindbetreuung und auch der Stadtverwaltung: Wir können am 03.04. unmöglich Unterricht machen, die Schule muss geschlossen bleiben. Die Turnhallen werden sowieso ab nächster Woche gesperrt werden, weil die Bereitschaftspolizei der Stadt Lahr dort ihr Quartier bezieht.“ Die Sportlehrer fingen an zu maulen. „Wie sollen wir denn Unterricht machen? Fällt der Sportunterricht dann aus?“ „Nein, wir können unmöglich den Unterricht ausfallen lassen“, setzt Herr Radeck an, „wir haben eine Unterrichtsverpflichtung. Aber eins ist von entscheidender Bedeutung und ich betone, da bin ich einer Meinung mit vielen Eltern, wie zum Beispiel Frau Herrmann“. Ein Stöhnen ging durch die Lehrerschaft. Herr Radeck wartete, bis der Effekt, den die Nennung dieses Namens mit sich brachte, verebbte und fuhr fort. „Die Eltern haben einen Anspruch darauf vom Sportlehrer rechtzeitig, das heißt mindestens zwei Wochen vor Beginn der Sportstunde, darüber informiert zu werden, wenn der Sportunterricht draußen stattfinden soll. Kinder die keine adäquaten Sportsachen mit sich führen, müssen in einer anderen Klasse beschäftigt werden.“ Ein unwilliges Maulen ging von den Lehrern aus. „Wie sollen wir denn da spontan…“ „Das ist ab heute eine Dienstvorschrift. Ich dulde keine Extratouren.“ „Nur weil die Herrmann einmal die Kleider in der Waschmaschine waschen musste, müssen wir doch nicht..“ „Sie haben mich immer noch nicht verstanden. Dieser Punkt wird nicht diskutiert.“ „Wo kommen wir denn hin, wenn wir den Eltern Honig ums Maul schmieren und alle nur noch wie rohe Eier behandeln dürfen. Das nächste Mal dürfen die Kinder auch nicht mehr in die Pause, wenn es regnet“, putschte Frau Edelweiß die Menge auf. Schon wollten sich einige Lehrer ihrem Protest anschließen. Das konnte sie gut, das musste ihr Herr Radeck neidlos zugestehen, sie konnte verdammt manipulativ sein. Nicht das erste Mal, dass sie eine seiner Entscheidungen zu Fall gebracht hätte. „Sie haben mich verstanden“, beendete er das Gemurmel. „Bitte fahren sie fort Frau Moritz.“ Sie führte weiter die Details zu den Straßensperrungen und Sicherheitszonen aus. Gegen Ende ihres Vortrages unterbrach sie wieder Frau Edelweiß. „Was ist denn jetzt mit den Demonstranten?“ „Ja, so viel ich weiß, werden schon einige erwartet. Hauptsächlich werden sie in Strasbourg demonstrieren. Kehl hat ihnen ja so unmögliche Angebote für ein Camp gemacht, dass sie sich an die französische Seite gewandt haben.“ „Diese nichtsnutzigen Schmarotzer“, kam jetzt Herr Radeck in Fahrt, „da muss man Angst um seinen Besitz haben, hoffentlich werden sie uns nicht das Schulhaus besudeln. Gott sei Dank habe ich eine große Garage, in die unsere drei Autos passen.“ Frau Edelweiß verdrehte die Augen. „Ich sehe das anders. In der Zeitung habe ich gelesen, dass die Natogegner ein Büro in Offenburg eröffnet haben, dort kann man Informationsmaterial über die Hintergründe erhalten. Ich habe mir überlegt, ob ich den Leiter nicht in die Klasse einladen sollte, damit er den Kindern mal erklärt, warum sie denn protestieren und welche Ziele sie verfolgen.“ Herrn Radeck kippte der Unterkiefer runter. „Was wollen sie? Sind sie übergeschnappt? Da kommen wir in Teufels Küche. Wir sind Staatsbeamte, haben sie das schon vergessen? Es ist unsere Pflicht die demokratischen Grundrechte zu verteidigen. Da können wir uns doch nicht mit Terroristen einlassen. Wenn der Gemeinderat davon Wind bekommt. Ich verb…“ „Sie meinen wohl wenn Frau Herrmann davon Wind bekommt“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Das Demonstrationsrecht ist im Grundgesetzt verankert, meine ich.“ „Papperlapapp, wenn sie das machen… dann“ „Was dann?“ „Ich werde auf jeden Fall mit der Rechtsabteilung auf dem Regierungspräsidium telefonieren. Das kann ich Ihnen verbieten. Wir sind verpflichtet uns politisch neutral zu verhalten.“ „Was wollen sie denn immer mit dem RP. Ich will ja auch nicht für die Demonstranten sympathisieren, ich finde nur, dass die Schüler ein Recht darauf haben zu erfahren, warum denn diese ganzen Menschen durch die Städte ziehen. Wieso sind sie gegen die Nato? Das möchte ich auch gerne wissen.“ „Das glaube ich ihnen aufs Wort.“ Unwilliges Gemurmel kam aus allen Ecken des Zimmers. Sie hatte mal wieder den Bogen überspannt. Die Stimmung schlug um. „Können wir vielleicht weitermachen, ich möchte heute noch nach Hause gehen“, zischte es aus einer Ecke. Zustimmendes Gemurmel bestätigte den Einwurf. Und so ging die GLK erst einmal ohne Unterbrechungen weiter. Dann erinnerte sich Frau Edelweiß wieder an den Mann auf dem Schulhof. Sie meldete sich. „Wie sieht es denn mit reellen Bedrohungen durch Terroristen aus?“ „Dafür gibt es die Sicherheitszonen, das habe ich doch schon erklärt“, erwiderte Frau Sommer. „Ich meine sind die Schüler vielleicht in Gefahr? Geiselnahme? Könnten sie unser Schulhaus okkupieren?“ „Jetzt machen sie sich mal nicht lächerlich. Wir haben deshalb ja am Freitag unterrichtsfrei. Niemand wird in der Schule sein. Das heißt ich werde natürlich die Stellung halten. Aber weniger wegen der Terroristen. Ich möchte sichergehen, dass niemand unser Schulhaus womöglich in Brand setzt. Ich werde in der Schule übernachten“, tönte er mit geschwellter Brust. „Sie wissen ja, alle Beamten haben Urlaubssperre und auch wenn wir die Schule geschlossen halten, sie haben Bereitschaft. Ich werde meine Staatspflicht erfüllen und im Schulhaus die Stellung halten. Eigentlich könnten wir an dem Tag auch einen pädagogischen Tag abhalten“. Das schlug ein wie eine Bombe. Es war deutlich ersichtlich, dass das Kollegium doch nicht über so viel Staatspflichtverständnis verfügte um die Überzeugung des Schulleiters zu teilen. Frau Edelweiß erntete wieder ärgerliche Blicke, schließlich hatte sie das Thema aufgeworfen. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken und fuhr hartnäckig fort. „Auf dem Schulhof, da habe ich gestern so einen merkwürdigen Mann gesehen. Der hat so komisch auf den Schulhof geschaut.“ Ein Gelächter brach aus. Selbst die sonst sehr zurückhaltende Referendarin Frau Fischer konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Sie gluckste unaufhörlich vor sich hin. Herr Radeck streifte sie mit einem anzüglichen Blick. „Also bitte, kommen wir doch zur Sache. Frau Edelweiß, Sie haben eindeutig zu viele Kriminalromane gelesen. Wir wollen unsere kostbare Zeit hier nicht mit wilden Spekulationen vertun. Melden Sie ihre Beobachtungen doch der Kripo. Die wird ihre Hinweise gerne entgegennehmen.“ „Wir hatten auch schon Entführungsfälle hier.“ „Jetzt vermischen Sie mal nicht die Tatsachen. Solange niemand unbefugt im Schulhaus herumwimmelt oder auf dem Schulhof herumtappt und die Schüler belästigt, ist alles in Ordnung.“

Frau Edelweiß und der Nato-Gipfel

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