Читать книгу Eine Art von Zärtlichkeit - Sanja Luftiger - Страница 3

Der Strafzettel

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Sie bestellte eine Melange und sah sich um. Niemand von den Herumsitzenden hatte eine Ähnlichkeit mit jener Person, auf die sie wartete.

Er kam nach ihr, und ohne den weißen Mantel sah sie, wie dick er war. Den Bauch hatte er in eine modische Jean gezwängt, der Name des Designers stand breit auf dem Bund geschrieben, dazu ein leichtes Leinensakko im Trachtenlook und ein rosa Hemd.

Er hatte also keinen Geschmack, das war klar, als sie ihn nun ohne den weißen Mantel sah. Aber was bedeutete das für sie?

Es freute sie, dass er ihr nicht gefiel, es gab ihr ein Gefühl, ihm überlegen zu sein.

Er schien ihr zerfahren, er drängte nach Aufbruch, obwohl er sich erst gesetzt hatte, er winkte dem Ober, um ihren Kaffee zu bezahlen. Er bestellte nichts für sich, er sagte, dass sie mitkommen solle, er müsse ihr etwas Wichtiges zeigen.

Als sie aufgestanden waren, fiel ihr auf, wie groß er war, damals hatte sie ihn nur sitzend gesehen.

Sie gingen zu seinem Auto, ein Schlitten, dachte Antonia, und sie sah, dass auf der Beifahrerseite ein Kindersitz befestigt war, den er nun losmachte und auf die schmale Rückbank legte. Er hatte also ein Kind, dachte Antonia, sie hatte auch eines und von der Größe des Kindersitzes schließend, musste es in einem ähnlichen Alter sein. Das Auto war Marke BMW oder so und sie bat ihn, den Deckel zu schließen, da sie es lächerlich fand, als erwachsene Frau, inzwischen sogar geschiedene Frau, und Mutter, in einem Cabriolet herumzugurken wie junges Gemüse, das angebraten und eingekocht werden wollte.

Unter dem Scheibenwischer klemmte ein Strafzettel. Antonia freute es. Sie wollte sehen, wie er reagierte. Es erinnerte sie an ein Rendezvous, das sie mit einem Typ, Marke Anwalt, hatte. Er schien ihr nicht uninteressant, er hatte sich auf Urheberrechte spezialisiert, kannte nicht nur interessante Fälle, sondern auch interessante Theaterstücke, über die sie mit ihm reden konnte. Nach einem harmonischen Abendessen waren sie zu seinem Auto gegangen, und eigentlich hätte sie nichts dagegen gehabt, wenn er noch mit zu ihr kommen wollte. Aber unter dem Scheibenwischer hockte ein Strafzettel und flatterte immer wieder auf, wie ein lahmer Vogel im Wind. Der Mann fing zu fluchen und zu schimpfen an. Antonia hatte sofort das nächste Taxi aufgehalten und war verschwunden, auf Nimmerwiedersehen. Sie fand es beleidigend, dass ihm ein Abendessen mit ihr nicht einmal eine Parkstrafe wert gewesen war.

Nun beobachtete sie, wie der Dicke reagierte, sie war mit den Augen schon auf dem Sprung ins nächste Taxi. Er fetzte den Zettel mit einem Schwung unter dem Wischer hervor, so als wäre es ihm egal, wenn der Wischstab in die Luft flöge. Er schmiss den ffPlastiklappen auf den Rücksitz und Antonia schien es, dass er nicht nur den Coolen mimte, um ihr zum imponieren, sondern dass es ihn selber nicht weiter rührte, was auf dem Zettel stand.

„Hauptsache, ich habe Sie nicht warten lassen“, sagte er und genau das dachte Antonia auch. Mit einem Knopfdruck stülpte er die schwarze Plane über ihre Köpfe und fuhr langsam los, langsamer als Antonia erwartet hatte von einem Mann, der sich so eine Riesenladung an Pferdestärken unter den Hintern geschoben hatte.

Sie wusste nicht, wohin die Reise ging. Sie musterte ihn von der Seite und überlegte, ob er wie ein Frauenmörder aussah, man weiß es nicht, so lange man keinem begegnet ist. Sie fragte sicherheitshalber, ob er vorhätte, sie umzubringen.

Er lächelte nur und meinte, eine Überraschung sollte es sein, aber es sei ihm lieber, es würde nicht mit ihrem Tod enden.

Er faselte etwas von einem schlimmen Buben, der er sei, und Antonia verzog die Lippen. Wie er da saß, mit den auffällig gespreizten Beinen, damit der Bauch Platz hatte zwischen Lenkrad und Schenkel, und sie dachte, wie lächerlich, von sich als von einem schlimmen Buben zu reden, mit diesem Bauch und mit der Halbglatze, und sie schloss daraus, dass er nur eine Tochter haben konnte und keinen Sohn, mit diesem peinlichen Schlimmebubengeschwätz. Nie wäre Antonia auf die Idee gekommen, von sich als von einem schlimmen Mädchen zu reden, mit einem weiblichen Kind an der Kittelfalte.

Was kann denn so schlimm an ihm sein, dachte Antonia. Er hat sicher ein biederes Leben mit diesem Wohlstandsbauch und dem feisten Gesicht. Er war so spießig, dass er nicht einmal einen Mordsgedanken mit ihr zu Ende denken konnte. Er hielt sich für verwegen, weil er wahrscheinlich verheiratet war und während der Ehe ein paar andere Frauen ins Bett gezerrt hatte. Wie gut, dass sich die Menschen so leicht und so schnell an den Rändern ihrer Abgründe wähnen, dachte Antonia weiter, so dass sie kein Bedürfnis danach haben, tiefer in ihre Abgründe zu schauen. Ein bisschen außerehelicher Sex, und schon meinen sie, dem Bösen schlechthin begegnet zu sein. Eigentlich müsste man mit jedem x-beliebigen Mann zu jeder x-beliebigen Zeit ins Bett gehen, um zu verhindern, dass ein Mörder oder Attentäter aus ihm wird, stellte sich Antonia vor und konnte sich gleichzeitig nicht vorstellen, mit diesem Exemplar hier zu schlafen, den sie in ihrer persönlichen Kategorisierung unter der Rubrik Wohlstandsklassiker einreihen und ablegen wollte.

Es reizte Antonia bloß, hier jemanden kennen zu lernen, über den sie noch nichts wusste, von dem sie noch von keiner Seite etwas zugetragen bekommen hatte. Es gefiel ihr, weil sie einzig und allein ihrer eigenen Wahrnehmung ausgesetzt war.

Er fuhr in die Garage eines langgezogenes Wohnblocks, der, wie ihr schien, erst in Fertigstellung war. Die Einfahrt war noch von Sand- und Schotterhaufen gesäumt, und der Asphalt hatte einen sehr dunklen, und noch sehr frischen Belag.

„Hier sind wir“, sagte er.

„Ja sicher. Hier sind wir“, beteuerte Antonia.

Er ging nicht auf ihren Sarkasmus ein. Antonia folgte ihm. Sie ging mit ihm zum Lift und sie fuhr mit ihm hinauf, als er die Taste in den siebenten Stock drückte. Antonia nahm es wahr, dass sie allein mit dem Mann im Lift fuhr, aber sie fand die Situation nicht angespannt oder gar spannend, sie fand es nur seltsam, dass sie mit diesem Mann mitgegangen war, irgendwohin, ohne dass er ihr gefiel, ohne dass es irgendetwas gab, das sie an ihm anziehend gefunden hätte.

Er sperrte auf und sie betraten eine leere Wohnung. Nur ein flauschiger Gabbeh in Blau lag in der Mitte des Zimmers.

„Den habe ich heute gekauft“, sagte er. „Wie gefällt er Ihnen?“

Antonia verstand nicht, was von ihrer Beurteilung dieses Teppichs abhängen konnte.

„Ich habe nichts gegen diesen Teppich“, sagte sie und er zeigte ihr das Badezimmer und die Küche.

„Was sagen Sie dazu“, fragte er weiter und Antonia zuckte mit den Schultern, noch immer nicht wissend, welche Bedeutung ihr Gefallen oder Nichtgefallen haben konnte.

„Ich habe diese Wohnung für meine Tochter gekauft. Für später, wenn sie einmal studieren wird“, sagte er. „Bis dahin wollte ich sie vermieten, aber wenn sie Ihnen gefällt und wenn Sie sich hier mit mir treffen wollen, dann werde ich sie behalten.“

Antonia war verblüfft. Mehr noch über die Redensart als über sein Ansinnen. Sie konnte noch verstehen, dass er sich ausgedacht hatte, wie es mit ihr gehen könnte, irgendwann, wenn sie genug miteinander geredet hätten, wenn sie gewusst hätten, welche Bücher sie lasen und welche Filme sie sahen. Aber Antonia konnte nicht verstehen, dass ihre Zustimmung die Bedingung sein sollte, damit er überhaupt mit ihr reden und sie kennen lernen wollte.

„Ich werde noch eine Couch für uns kaufen“, fuhr er fort, „werden Sie mir helfen, beim Aussuchen? Und Vorhänge, was denken Sie, welche Vorhänge hier passen könnten?“

Dieser Mann ist verrückt, dachte Antonia. Sie schaute auf seinen Mund, als er ihr die Anordnung der Küche erklärte. Sie überlegte, ob sie diesen Mund küssen wollte. Der Mund war für Antonia das Wichtigste im Gesicht eines Menschen. Obwohl die meisten Menschen glauben, die Augen wären das Wichtigste. Aber in den Augen zeigen sich nur Intelligenz oder Dummheit, in der Haltung des Mundes hingegen Sensibilität oder Primitivität.

Antonia wusste nicht, was dieser Mund war, mit einem leicht spöttischen Zug an den Rändern, aber einem unerwarteten Stülpen der Oberlippe, was ihn beim Reden weicher machte als man es erwartete, wenn er geschlossen war.

Während Antonia über diesen Mund nachdachte, stellte der Mann sich hinter sie, umfasste ihre Mitte und drehte sie herum.

„Kommen Sie, küssen Sie mich“, sagte er und legte seine Lippen auf ihre und tatsächlich fühlte es sich weicher und angenehmer an, als sie vermutet hatte. Sie wehrte sich dagegen, sie presste ihre Lippen aufeinander und spürte doch, dass er gut schmeckte, weich und warm, ohne Geruch nach Speichel oder Essensresten.

„Tun Sie doch nicht so“, sagte er und fasste nach ihren Brüsten. „Sind Sie mit mir gegangen, um mir die Moralische vorzuspielen?“

„Ich spiele gar nichts“, sagte Antonia. „Ich würde Ihnen und mir Gefühle vorspielen, wenn ich jetzt mit Ihnen ins Bett ginge. Oder auf den Boden“, sagte sie und deutete auf den Teppich.

„Spielen Sie“, sagte er.

Antonia verzog das Gesicht.

„Haben Sie einen Mann?“

Antonia ging einen Schritt zurück, sie brauchte Distanz, um mit ihm reden zu können.

„Ich bin geschieden!“

Er ging ebenfalls einen Schritt zurück und fragte: „Was mache ich falsch?“

„Alles“, sagte Antonia.

Er setzte sich auf die Stufe vor der Balkontür und schüttelte den Kopf.

„Was wäre richtig?“

„Es ist nicht meine Sache, das herauszufinden.“

„Werden Sie wiederkommen?“

„Wenn die Bedingung ist, dass ich mit Ihnen schlafen muss, nein!“

„Sie sollen nicht müssen!“

„Dann hören Sie auf, mich zu bedrängen!“

„Sie können jederzeit gehen!“

„Ciao!“

Antonia ging und drückte auf den Liftknopf. Kaum war sie aus der Wohnung, hatte sie keine Erinnerung mehr an sein Gesicht. Nur seine Hände fielen ihr ein, klobig, sehr klobig und mit viel zu kurzen Fingern für einen so großen Mann, noch dazu trug er am kleinen Finger einen Siegelring. Ihr fiel das Picasso-Foto ein, auf dem der Maler die Milchstollen auf dem Tisch gereiht hatte, als wären es seine Finger. Picasso, natürlich, dachte sie. Das Naheliegendste fällt mir ein. Er hat auch keine Chirurgenhände gehabt. Mein Gott, neige ich schon dazu, diesen Mann zu verteidigen, kaum dass ich sein Boudoir unverrichteter Dinge verlassen habe? Nur weil er derbe Hände hat, ist er noch lange kein Picasso. Ich weiß nicht einmal, ob er ein guter Arzt ist. Alle Ärzte behaupten, dass sie gut wären und die meisten anderen wären schlecht. Er hat nicht einmal von sich behauptet, ein guter Arzt zu sein.

Antonia ging stur auf den Ausgang zu. Sie sah nicht nach links oder nach rechts, sie wollte nichts mitnehmen von hier, nicht einmal eine Erinnerung an das Stiegenhaus, an die Straße oder an die Gegend. Sie sah zu Boden und strebte auf eine größere Straße zu, sie wollte rasch wieder an den öffentlichen Verkehr andocken.

„Darf ich Sie ein Stück mitnehmen?“ Er hatte neben ihr gehalten. „Ich bringe Sie, wohin Sie wollen.“

„Wo ist die nächste U-Bahn-Haltestelle?“, fragte sie.

„Die finden Sie nie. Das ist hier kompliziert, außerdem: eine gefährliche Gegend. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“

„Dass die Gegend hier gefährlich ist, habe ich schon bemerkt“, sagte sie und stieg ein.

„Nicht gefährlich genug“, brummte er. „Was haben Sie gegen diese Wohnung?“

„Nichts“, sagte sie, „ich habe nur nichts für sie.“

„Darf ich wieder anrufen?“

Antonia nickte beiläufig. Es war eine unkomplizierte Art des Verabschiedens, und sie konnte sich noch überlegen, ob sie ihn wiedersehen wollte.

Antonia schien es, als starrten sie die Leute in der U-Bahn an. Als hätte sie etwas Ungehöriges an sich. Sie sah an sich herab und entdeckte keinen Toilettefehler. Sie starrte zurück. Einer wagte es und ließ den Blick auf ihr, obwohl sie ihn abschätzig ansah, er war vom Typ besserer Angestellter und grinste sie an, als wäre sie für ihn zu haben, zumindest als eine Möglichkeit, von gleich zu gleich. Du überschätzt dich, dachte sie. Wie konnte er glauben, dass er sie so ansehen dürfe, sah er ihre Kultiviertheit nicht, ihren Stil nicht, sah er nicht, dass es unmöglich war, sie anzugrinsen, als wäre sie von der Straße, oder ein Gegenstand, der in der U-Bahn zurückgelassen worden war, den man nur aufheben musste und mitnehmen konnte, weil er niemandem gehörte und niemandem fehlte, weil er längst vergessen worden war, wie ein altes Paar Schuhe, das man sich zwar einpacken ließ, aber dann in der U-Bahn vergessen hatte. So eine war sie nicht. Und doch, was war so anders gewesen, als der Mann sie aufgelesen hatte, in dem protzigen Cabrio, in das einzusteigen ihr theoretisch peinlich gewesen wäre, und in das sie doch eingestiegen war wie in einem Film mit dem jungen Mickey Rourke. Aber nur das Auto war vom Typ Mickey Rourke, nicht der Fahrer, und das einzige, das dieses Aufreißerklischee durchbrochen hatte, war der Kindersitz. War es eine kalkulierte Methode, um Sympathie bei einer bestimmten Art von Frauen zu wecken? Bei kindchenschemaabhängigen, die von einem Mann lieber das Foto des Sprösslings sehen wollen als seine steile Bude?

Antonia glaubte nicht, dass er noch einmal anriefe nach diesem misslungenen Treffen. Sie wusste auch nicht, ob sie ihn noch einmal sehen wollte, aber sie gönnte es ihm nicht, dass er bestimmte, wann Schluss gemacht wurde. Sie wollte „nein“ sagen, falls er ein weiteres Treffen vereinbaren wollte. Aber damit sie nein sagen konnte, musste er anrufen.

Sie ging nicht mehr zurück in den Verlag, sie holte Friederike vom Kindergarten ab, etwas früher als sonst, sie wollte sich mit ihr einen schönen Nachmittag machen. Sie hatte mehr Zeit für ihr Treffen veranschlagt gehabt. Nun wollte sie die gewonnene Zeit ihrem Kind schenken. Aber Friederike wollte diese Zeit nicht haben.

„Was tust du schon hier“, fauchte die Kleine ihre Mutter an und stemmte ihre Hände in die Hüften.

„Dich abholen, was sonst. Ich dachte, du freust dich und wir machen uns einen schönen Nachmittag!“

„Es geht jetzt nicht“, sagte Friederike, „wir waschen gerade die Puppenkleider. Aber in einer Stunde. Vielleicht!“

Antonia ging in ein Kaffeehaus in der Nähe des Kindergartens. Sie packte ein Manuskript aus und las.

Er rief wieder an. Ohne Einleitung begann er: „Wir brauchen dringend Vorhänge. Würden Sie mir helfen, welche zu kaufen?“

„Warum ich? Sie haben doch eine Frau, die Ihnen helfen kann“, antwortete Antonia.

„Aber ich will, dass sie Ihnen gefallen und nicht ihr. Ich möchte mit Ihnen in dieser Wohnung sein!“

„Warum?“

„Weil Sie mir gefallen. Aber das habe ich Ihnen schon gesagt, oder nicht? Außerdem brauche ich Ihren Rat.“

Eine Art von Zärtlichkeit

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