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Gelegenheiten

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1.

Im Gare du Nord beäuge ich von meinem Platz auf meinem Rucksack misstrauisch jeden, der mir zu nahe kommt. Viele Araber, Obdachlose, Gauner, unsympathisch wirkende und hektische Menschen laufen von und zu den Gleisen. Wer aussieht, als habe er ein Ziel, ist mir egal.

Ich misstraue jedem, der zu viel Zeit hat. Frank dreht sich eine Zigarette, Katja erzählt ihm von Paris, Fabian und ich schweigen uns an und fühlen uns wohl dabei.

Ab und zu sehe ich Katja an und frage mich, warum sie sich vor ihn gekniet hat, und ich finde den Gedanken an ihren Hintern geil, aber ich verstehe es noch immer nicht. Nur die Erinnerung an ihren nackten Hintern und Gregors harten Schwanz sorgen für Herzklopfen.

Katja hat kein Wort gesagt, vielleicht hat sie mich auch gar nicht erkannt. Ob ich sie ansprechen sollte? Und sie fragen, warum sie das gemacht hat? Macht man so etwas aus Liebe? Und ich dachte immer, man fickt nur, weil es geil ist.

Maike und Gregor kümmern sich inzwischen in der Touristeninfo um eine Unterkunft, was sich als schwierig erweist. Die Jugendherberge ist belegt, die Stadt platzt aus allen Nähten. Sie finden zwei Zimmer für jeweils zwei Nächte in zwei nahe gelegenen Absteigen im Montmartre.

Diesmal kaufen wir ein Carnet. Die Metro riecht nach Gummi, nach Bremsbelägen, nach zu wenig Zeit. Die Metrostation Saint Georges protzt mit dem typischen Pariser Jugendstil und liegt am Rande des Vergnügungsviertels Montmartre. Am Ende der Straße strahlt die Sacré Cœur in der Sonne. Mein Rucksack wiegt fast nichts. Im Foyer des Hotel du Moulin, das mich durch Marmor beeindruckt, gibt uns ein mürrischer Araber die Schlüsse.

Die Zimmer sind dunkel und muffig. Schwere purpurne Vorhänge vor den Fenstern, strukturierte Tapeten. So muss ein Hotel in Paris sein. Wir starten aufgeregt zur Sacré Cœur, kauften Baguette und ein rotes Netz voller kleiner runder Käse mit roter Wachsschicht im ersten französischen Supermarkt meines Lebens, entdeckten die Seine und den Eiffelturm.

Das sonore Piepen der U-Bahn, bevor sich die Türen schließen, wird zur Musik. Nach der ersten Fahrt mit der RER singt Katja eine Melodie und behauptete, es sei ein Kinderlied. Statt eines Refrains singt sie nur RER und betont die Buchstaben auf sehr französische Art. Die dumme Nuss ist wirklich leicht meschugge.

Am Abend holen wir uns Bier im Zehnerpack und setzten uns ins Zimmer. Billiger als jede Kneipe. New Model Army bollern durch das kleine Zimmer, für Katja müsste Paris nach Akkordeon klingen, nach Jacques Brel oder Edith Piaf. Aber die hat ja auch keine Ahnung. New Model Army und Phillip Boa. Phillip Boa und New Model Army. Der Soundtrack unserer Tour. Ein Anker und Wiegenlied. Es riecht nach muffiger, ungewaschener Kleidung, Bier, Füßen und dem Staub unter dem Bett.

»Warum seid ihr eigentlich nicht mehr zusammen?«, fragt Maike. Fabian verdrehte die Augen. So sensibel, Fabian?

»Es stimmte einfach nicht mehr«, sagt Gregor. »Ich will mich ja auch so früh noch nicht festlegen.«

»Dabei passt ihr so gut zusammen«, sagt Maike grinsend.

»Können wir das Thema lassen?«, fragt Katja und rümpft die Nase. Sie sitzt neben ihm auf einem der drei Betten und zieht gedankenverloren die rote Wachsschale von ihrem Käse. Ich bitte Frank um ein neues Bier. Ich mag das Kronenbourg. Davon bekomme ich im Gegensatz zu Warsteiner, Beck's und all den anderen norddeutschen Bieren keine Kopfschmerzen. Außerdem sind die kleinen Flaschen schneller leer als ihr Inhalt schal werden kann.

»Wenn sie darüber reden will, dann lass sie. Du kannst ihr doch nicht den Mund verbieten«, sagt Gregor ruhig.

»Aber ihr redet hier über mich«, blafft Katja zurück.

»Nein, sie hat mich gefragt, was ich denke, und ich habe ihr das gesagt.«

Als Katja den Kopf hebt, schimmern ihre Augen feucht. Ihre linke Hand ballt sich um die rote Wachsschale zur Faust. In die Stille hinein drehe ich den Kronkorken von der Flasche. Langsam kribbelt mein Hirn. Ich, in Paris, betrunken, in einem Hotelzimmer. Voll genial.

Gregor erwidert Katjas Blick, und ich nehme einen Schluck. Herrlich – so viel Liebe, Leid und Leidenschaft auf 12 Quadratmetern, und ich habe keine Ahnung davon.

»Wie gut, dass ich diese Probleme nicht habe«, sage ich. Jetzt muss eine Antwort von Maike folgen. Der Hinweis darauf, dass ich doch alle haben könne, wenn ich nur wolle.

»Sonst beschwerst du dich immer«, sagt Fabian. Moment, das ist nicht vereinbart. Natürlich beschwere ich mich, aber aus gutem Grund, weil die, die ich will, mich nicht wollen. Claudia und das Mädchen aus der Tanzstunde und all die anderen, die mich nicht haben wollten. Meine Gedanken werden plötzlich schwer.

Ich möchte heulen, von meinen Plänen Absicht erzählen. Warum fragt mich niemand, wie es mir geht? Warum interessiert es keinen? Warum drehe ich das Gespräch auf mich? Doch nur weil ich will, dass sich die Welt um mich dreht und man mich fragt, wie es mir geht.

Lieber reden wir über etwas anderes. Über Gregors Arroganz und Katjas Naivität. Katja, die schmollend und mit traurigen Augen neben Gregor sitzt und Käse ist. Im Halbdunkel legt sie ihre Hand auf Gregor Oberschenkel. Er lässt es mit sich geschehen. Was für ein Pascha. Warum kann sie ihn nicht loslassen, wenn er sie doch nicht will?

»Frank, erzähl uns doch mal was über deine Freundin«, sage ich und gebe damit zu, dass ich sie noch nie gesehen habe. Keine Ahnung, wer sie ist.

Wieso eigentlich ist seine Freundin Privatsache? Und woher kennt er sie? Ich habe immer gehofft, Frank würde so etwas mit uns teilen, so, wie ich ihm erzählt hätte, in wen ich verknallt bin, wenn es denn jemanden gäbe. Ich mag Frank und doch ist er mir in manchen Momenten fremd wie der Verkäufer im Supermarkt, den man täglich sieht und über den man kaum etwas weiß.

»Was soll ich da sagen? Sie heißt Susanne und geht auf die Scholl.«

»Kennen wir die?«, fragt Maike. Sie grinst wieder. Ob sie froh über das neue Thema ist? Katja flüstert Gregor etwas ins Ohr. Ihre Hand ist sehr weit oben auf seinem Bein. Ich lasse meine Finger leicht über die Brandblase auf meinem Handrücken streichen. Ich würde sie gerne aufkratzen.

Wir kennen sie nicht, und das findet Maike langweilig. Katja und Gregor nutzen den Moment der Stille, um sich vom quietschenden Bett zu erheben. In der Hand hält Katja den Zimmerschlüssel. Ich traue meinen Augen nicht, dann knallt die Tür ins Schloss.

»So, und was machen wir?«, frage ich Frank.

»Wir trinken erst mal ein Bier«, sagt er. Maike grinst.

»Warum bist du nicht mit Katja zusammen?«

»Was weiß ich?« Warum sollte ich. Katja ist ein dürres, naives Dummchen. Ihre Nase zu groß, ihre Fragen zu doof. Es muss alles stimmen. Jeder Makel ist ein Ausschlusskriterium. Immer geht es um das Optimum. Keine Kompromisse. Strebst du nach Perfektion, um Zweifel auszuschließen?

Ich war schon einmal verliebt. In Claudia, die mich nicht wollte. Ihr jedoch war ich nicht cool oder nicht gutaussehend genug. Gibst du jetzt weiter, was du erfahren hast? Und welche Rolle spielt die Scheidung deiner Eltern? »Viel zu kompliziert«, sage ich und meine die Gefühle. Kein Gedanke kann klarer sein als der an das Alleinsein.

»Und außerdem ist er nicht katholisch«, sagt Fabian.

»Richtig«, sagt Frank. »Jetzt geht eigentlich nur noch der Papst.«

»Ich bin ja nicht mal religiös.«

»Besser so. Lieber Atheist als Kathole.«

»Kann der Papst heiraten?«

»Ach Mensch, Maike«, blafft Fabian. Großer Fehler. Sie äfft ihn nach, er haut verbal zurück, und Frank grinst zu mir herüber. Herrlich.

»Erzähl doch mal von Judith«, sagt Maike. »Warum hast du mit ihr Schluss gemacht?« Judith. Blödes Thema.

»Also?«, fragt Maike noch einmal. »Warum hast du Schluss gemacht?«

»Sie sah ihm nicht gut genug aus«, spottet Fabian. Weiß er nicht, wie hoch die Messlatte liegt? Sie liegt so unerreichbar hoch, dass nur die Damen in meinem Bettkasten sie überspringen können.

»Weil sie nicht das ist, was ich will«, sage ich. Mein Zwerchfell zittert.

»So eine blöde Ausrede. Sie ist dir nicht hübsch genug.« Wieso ist Fabian deswegen sauer auf mich? An Judith kann es nicht liegen, die ist ihm egal. Was ist es dann? Weil ich ihm weiter vorjammere, wie schwer ich es mit den Frauen habe? Weil wir nicht mehr gemeinsam einsam sind?

»Nein, ja, auch, aber sie hat mich viel zu sehr eingeschränkt. Ich war ja bis zum Stadtfest im Herbst ganz zufrieden alleine, aber der Kuppelvirus war gerade ausgebrochen, und ...«

Erzähl nichts davon, dass dir Wichsen nicht mehr gereicht hat, erzähl nichts von der nie zuvor gefühlte Zerrissenheit, die plötzlich fast körperlich wehtat, erwähne nicht den Bahnübergang hinter der Schule, auf dem du eines Nachts alleine standst.

Sie verstehen es sowieso nicht.

Diese Sehnsucht nach Nähe und das Unvermögen, einen Teil von dir aufzugeben und in einer Beziehung Kompromisse einzugehen, die zu zwei Polen auf der Kompassnadel deiner Seele geworden sind, die immer um dich herum rotiert und nie zur Ruhe kommt.

»Auf Jörgs Geburtstag hab ich total besoffen das erstbeste Mädchen umarmt, das mir nach dem Kotzen in den Weg kam. Und das war Judith. Mehr nicht. Als wir uns das erste Mal geküsst haben, weil sie mich am nächsten Tag nach der Schule unbedingt sprechen wollte, hat es sich falsch angefühlt. Judith hat mich umklammert, rief mich an, wollte mit mir ins Kino, zum Minigolf, knutschen.«

Erzähl nicht, dass du nur Ja gesagt hast, weil du nicht Nein sagen konntest, weil du von der Situation überfordert warst und das Spiel einfach mitgespielt hast.

Auf dem Sofa ihrer Eltern, nachts nach der Party, war sie die erste, der ich meine Hand unter das T-Shirt steckte und einen Finger in die Möse geschoben habe. Sag Möse, und Maike wird dich angewidert ansehen. Ich spüre die Feuchtigkeit in meinen Handflächen. Judiths Gesicht blitzt auf. Fabian ist ganz aufgeregt, fast wütend.

»Aber wolltest du das nicht immer?«

»Es hat sich nicht richtig angefühlt. Jeder Kuss war gelebter Abstand. Die Gefühle im Fernsehen waren realer, auch wenn es nicht meine waren. Fluchtreflex statt Zuneigung. Mir war unsere Beziehung bereits nach dem ersten Treffen zu viel. Als auf Sat.1 Spiel mir das Lied vom Tod lief, den ich unbedingt sehen wollte, tat ich das alleine. Rumgeknutsche bei Sergio Leone ist doch Blasphemie.

Sie hat mich danach angerufen, das war total daneben. Sie wollte nicht auflegen, und ich wollte nichts sagen. In der Schule war mir ihre Anwesenheit auf dem Pausenhof peinlich, in ihrem Zimmer ihre Vorliebe für Jazzmusik. Ein paar Tage später hab ich Maike betrunken vor McDonald‘s getroffen, im Regen, und sie hat mir erzählt, Judith würde mich lieben.«

»Du bist so doof«, wirft Fabian seiner Freundin vor. »Ich hab dir gesagt, dass ein Mann das nicht hören will.«

»Ach, ich bin schuld, dass Daniel Schluss gemacht hat?«

Jetzt kabbeln sie wieder. Ich höre das gerne. Aber selbst erleben?

»Die Beziehung zu Judith hat plötzlich wie ein Stapel Schulbücher auf mir gelastet. Liebe? Nein. Zuneigung und Interesse, die hinter dem Wunsch nach Perfektion jedoch sehr weit zurückblieben. Ich hab sie ja noch nicht einmal als meine Freundin bezeichnet. Kurz danach holte sie mich von McDonald’s ab, das hat mir gar nicht gepasst. Ich war doch mit Fabian verabredet.

Ich nahm sie mit nach Hause. Sie sah mir zu, wie ich mir im Stehen Brote schmierte. Sie hat den Fischmac als genial bezeichnet. Genial. So ein Wort hat sie vorher nie benutzt. Das klang so anbiedernd und falsch. Vor der Haustür hab ich sie stehen lassen.

Eine Woche später fing sie mich nach dem Kunstunterricht ab. Ich wusste genau, was sie wollte. Ich war echt erleichtert, als sie sagte, wir sollten die Beziehung besser abbrechen, wenn ich nicht mit Frauen umgehen könne. Ich widersprach ihr nicht, nickte nur. Sie hatte ja Recht.«

Eine kurze Pause. Vor dem Hotel keifen sich zwei Frauen an. Ich kann die Sprache nicht verstehen.

»Das finde ich ganz schön heftig«, sagt Maike. Ihre Augen lasten auf mir, dem Teflon-Mann. Erwartet sie, dass es mir Leid tut? Nichts bleibt an mir haften. Gar nichts.

»Dass ich ihr nicht widersprochen habe?«

»Dass du so kalt bist.«

Kalt? Wieso kalt? Judith passte eben nicht zu mir.

»Er ist doch nur ehrlich«, wirft Frank ein, bevor ich antworten kann. Ehrlich. Eigentlich bin ich nur unsicher. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll in solchen Situationen, und dann sage ich, wenn überhaupt, immer nur das, was mir als erstes in den Sinn kommt. Dabei wünsche ich mir, ich könnte immer das Richtige tun.

Ich habe stets und überall das Gefühl, meine Rolle nicht ausfüllen zu können, fühle mich immer zu klein für die Fußstapfen, in die ich treten soll. Obwohl meine Eltern aus Bayern nach Niedersachsen gezogen waren, meine Oma in Bayern lebt, meine ganze Familie, spreche ich nicht ein Wort Bayrisch. Ich kann mit den Worten nichts anfangen. Oachkatzlschwoaf – ein Wort wie aus einer anderen Welt.

»Du sprichst kein Bayrisch?«, fragte mich einmal ein Bekannter meiner Großeltern, als wir wieder einmal im tiefsten Oberbayern zu Besuch waren.

»Nein«, sagte ich und wurde rot. So rot wie man nur werden kann, wenn einem die eigene Unzulänglichkeit so direkt unter die Nase gerieben wird.

Ich will aus diesem Leben ausbrechen, so wie mein Vater es getan hat, ich will neu anfangen. Es muss doch eine richtige Seite geben, eine Seite, auf der ich mich richtig verhalte, in der mir die Unsicherheit genommen wird. Eine Seite, auf der ich alles richtig mache.

Maike und Fabian streiten. War ich so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekommen habe, worum es geht? Nach einer Stunde werden die beiden des Streitens müde, hat Frank genug vergebens versucht, zu schlichten, und wir beschließen, Katja und Gregor zu trennen.

Was sie dort gemacht hatten, alleine, in der Dunkelheit, sagt Katja nicht. Aber Frank kann sich die Nachfrage nicht verkneifen, kurz nach Mitternacht, von seinem Bett aus.

»Habt ihr gepoppt?«

»Ich sag dazu nichts.«

»Hast du sie gefingert?«

»Nein«, sagt Gregor in der Dunkelheit. Wie auch, sie hat doch ihre Tage. Zumindest ist er ehrlich. »Und jetzt lass mich in Ruhe.«

Ich bewundere Frank dafür, dass er so frei reden kann.

»Hat sie dir einen geblasen?«

»Sie hat mir nur einen runtergeholt, okay?«

Mein Zwerchfell tanzt. Nur einen runtergeholt. So ein Arschloch. Katja holt ihm einen runter, obwohl er nichts von ihr will, und er tut so, als sei das nicht die geilste Sache der Welt. Er erwähnt es so beiläufig wie jemand, der im Lotto gewinnt und behauptet, er habe eigentlich schon genug Geld, aber ja, die Million nähme er gerne. Wichser. Arme Katja. Blöde Katja. Dumme Nuss.

»Hast du sie drum gebeten?«, frage ich zurück.

»Nein. Sie wollte es. Freiwillig.«

»Die Katja, du, die hat es faustdick hinter den Ohren«, sagt Frank noch. Dann quietscht die Matratze und das Gespräch versickert in der dunklen Porösität der Nacht.

Draußen vor dem Fenster rauscht der Verkehr.

2.

Das Centre Pompidou ist Ausdruck der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ich versuche vergeblich, den Sinn daran zu entdecken, durch Räume mit Bildern zu schleichen, die jemand anders gemalt hat. Warum soll ich mir ansehen, was andere geschaffen haben? Ich kann nicht einmal eine Figur aus Eicheln und Streichhölzern bauen - warum soll es mich begeistern, dass andere etwas geschaffen haben und im Museum hängt? Gregor ist der Meinung, dass man diese Bilder gesehen haben muss. Dann wird das wohl so sein.

»Das gehört zur Allgemeinbildung«, sagt er mit einem Seitenblick auf Maike. Die reagiert prompt.

»Nur weil man sich nicht für diesen Kram interessiert, ist man doch nicht ungebildet«, blafft sie so empört, dass ich Tränen erwarte, die aber nicht kommen. Zum Glück bin ich nicht mit ihr zusammen. Ich wüsste nicht, wie ich sie wieder beruhigen sollte.

»Du bist so arrogant«, sagt Fabian. Gregor zuckt mit den Schultern und grinst ein wenig verlegen. Auf dem Weg auf das Dach des Centres fotografiert Fabian seine schmollende Freundin. Katja ist ohnehin beleidigt, weil Gregor nicht ihre Hand halten will. Sie singt wieder das Lied von der RER. Jetzt dreht sie völlig durch. Herrlich.

Maike mag Paris nicht und will an den Strand. Paris ist ihr zu windig und zu dreckig und zu laut. Mir ist Paris noch viel zu vertraut. Gegen Mittag zu McDonald’s. Wieso haben die Franzosen zwei verschiedene Preise für ihre Produkte? Wenn man die Burger im Restaurant isst, sind sie teurer. Natürlich setzen wir uns vor dem Laden auf die Straße und essen dort. Jeder Franc zählt.

Gregor erklärt uns in der Zwischenzeit mit vollem Mund den Grund. Warum die Franzosen jedoch eine niedrigere Mehrwertsteuer zahlen, wenn sie das Essen außer Haus servieren, weiß er auch nicht. Die spinnen, die Franzosen. Fabian meint, er habe das Gleiche sagen wollen. Glaub ich ihm.

Auf dem Père Lachaise gehen wir natürlich zum Grab von Jim Morrison, für Gregor und Frank ein Idol. Der Name weckt bei mir nur die Assoziationen Top Gun, Top Secret und Willow, was an Val Kilmer liegen muss. Ich kenne die Doors erst seit dem Film von Oliver Stone.

»Oliver Stoned«, korrigiert mich Frank, der sich an jeder Straßenecke eine neue Zigarette dreht und einen Platz zum Barzen sucht. Ich fühle mich ganz fehl am Platz. Es muss anders sein, eine bedeutende, wichtige Situation an einem ganz wichtigen Ort. Es fühlt sich so hohl an, falsch und unecht an. Wir sollten hier etwas erleben, wovon ich später einmal erzählen kann.

Kann der Besuch des Grabes eines Mannes, der starb, als wir noch nicht einmal auf der Welt waren, dagegen überhaupt eine Bedeutung haben? Was will Gregor damit zum Ausdruck bringen? Verehrung? Wir machen einen Strich auf die Liste, und doch ist es so, als hätten wir uns bei dem Versuch, bei etwas wirklich Bedeutendem dabei zu sein, am Grab von Jim Morrison verlaufen.

Katja erzählt uns auf dem Weg zur Seine von ihrem Erlebnis auf dem Weltjugendtag in Polen im vorigen Jahr, von der Rede Johannes Paul II und dem intensiven Erlebnis der Gemeinschaft. Die Provokation kommt mir ziemlich leicht über die Lippen.

»Ah, der Papst. Der senile alte Sack soll doch den Löffel abgeben.«

»Und dann? Dann kommt ein neuer Papst.«

Gregor sagt zur Abwechslung gar nichts, im schlechtesten Moment überhaupt. Er lässt mich mit dieser ziemlich pauschalen Aussage alleine, ein dahingesagter Satz, der Katja nur aus der Reserve locken sollte. Ich sehe zu Fabian hinüber. Der zuckt mit den Schultern, als wolle er sagen: Da hast du dich zu weit aus dem Fenster gelehnt, jetzt genieß den Flug alleine.

Mir fällt nichts mehr dazu ein. Gott sei Dank bin ich Atheist. Auch nur so ein geklauter Satz von Luis Bunuel. Nicht einen einzigen seiner Filme habe ich gesehen, selbst das Zitat kann ich ihm nur zuordnen, weil ich es auf einem T-Shirt gelesen habe. Vielleicht ist es gar nicht von ihm oder nicht vollständig oder bedeutet etwas ganz anderes. Wenn ich etwas vermeintlich Intelligentes sage, wiederhole ich nur das, was andere gesagt haben. Denke ich überhaupt eigene Gedanken?

Eigentlich bin ich der hohlste Mensch der Welt. Ich weiß nichts, meinen Gedanken fehlt die Tiefe. Ich habe von keiner Sache wirklich Ahnung, selbst mein Filmwissen ist nur Kulisse, oberflächlich und unwichtig. Ich kenne nur die Antworten, aber nicht, was sie bedeuten. Ohne zu verstehen plappere ich nach, was andere geschrieben haben. Bin ich Künstler? Habe ich ein Buch geschrieben, einen Film gedreht oder ein Lied komponiert?

Nichts, was ich jemals gemacht habe, hat irgendeinen Wert. Und ihr wisst es, ihr wisst genau, wie schlecht ich bin. Kein Wunder, dass kein Mädchen lange mit mir zusammen sein will. Judith hat genau gewusst, warum sie nach der Kunststunde auf mich zukam.

Unser Abendessen besteht aus einem Döner und versalzenen Pommes. Fabian wäre lieber wieder zu McDonald’s gegangen. Wir kaufen uns noch zwei Zehnerpacks Bier in den kleinen Flaschen, bei denen man die Kronkorken mit der Hand abdrehen kann, und gehen zurück ins Hotel. Chaos empfängt uns.

Unsere Zimmer wurden in unserer Abwesenheit anscheinend nicht einmal von den Putzfrauen angesehen. Reinigung ist wohl im Preis nicht inklusive. Wenigstens raucht Frank hier nicht. Aus dem Ghettoblaster dröhnt New Model Army. Schnell bin ich betrunken, und der Rausch kribbelt in meinem Kopf. Worüber wollen wir reden? Über Jim Morrison. Über den Louvre. Über uns.

Maike fängt mit dem Spielchen an: »Wie seht ihr mich?«, fragt sie.

Ich könnte Meg Ryan sagen, aber ich sage nichts. Ich könnte die Speckröllchen erwähnen, doch ich schweige.

»Hör doch auf«, sagt Fabian, und Maike sagt, was ich fürchte, was ich hören will, was so unglaublich schwierig zu beantworten ist.

»Und wie seht ihr Daniel?«

Mich? Wer bin ich? Einer der hohlsten Menschen der Welt. Wie oft soll ich das noch denken?

»Ich kann nichts, ich bin nichts. Kein Wunder, wenn mich niemand mag.«

Maike reagiert, wie ich es mir gewünscht habe. »Dich mögen mehr als Boris Becker, also, im Verhältnis zu denen, die dich kennen.«

Wie kommt sie denn auf Boris Becker? Außerdem ist das Quatsch.

»Nein, wer soll mich mögen«, frage ich. Ich habe keine Freundin, und mein bester Freund hat kein Verständnis dafür. Er verachtet mich.

»Judith hat dich gemocht.«

»Ach«, blaffe ich. So ein Quatsch. Aus Mitleid hat sie mich angesprochen. Deshalb ist es ihr auch so leicht gefallen, sich von mir zu trennen. Sie hat ja nicht einmal widersprochen. Sie hat doch gesagt, ich sei nicht fähig, mit Frauen umzugehen.

»Du bist doch auch ein Idiot«, blafft Fabian. »Ständig jammerst du, du hättest keine Freundin, und dann machst du Schluss und jammerst wieder.«

Wieso versteht er mich nicht? Auf einmal weiß er nicht, wie ich mich fühle, dabei haben wir uns doch sonst immer verstanden. Judith ist nicht perfekt, sie ist zu dick, zu harmlos, zu tief, zu blond. Fabian müsste das doch wissen.

»Sie hätte gerne mit dir geschlafen. Sie hat dich wirklich gern gehabt.«

»Hat sie dir das nicht erzählt? Wir haben. Einmal. In der Nacht, bevor ich Schluss gemacht habe. Da hat sie bei mir übernachtet, weil es so geregnet hat.«

»An den Abend kann ich mich erinnern. Sie hat total empört bei mir angerufen und mir erzählt, wie du sie rausgeschmissen hast. Die war total fertig.«

»Und du glaubst, das hätte ich gemacht?«

»Warum sollte sie mir das erzählen?«

»Weil ihr das peinlich gewesen wäre?«

»Nein, ihr nicht.«

Kein Sex mit Judith? Dafür ist die Erinnerung zu klar. Ich habe mit ihr gefickt, ganz sicher. An dem Abend, bevor sie mit mir Schluss machte. Ich sehe noch die Szene genau vor mir. Warum hat sie Maike das nicht erzählt? Damit sie nicht für ein Senfglas gehalten wird, in das jeder sein Würstchen steckt?

Oder weil es ihr peinlich ist, mit einem Idioten wie mir zu schlafen?

Vermutlich ist es das. Sie steht nicht mehr dazu, und es ist okay.

Mitleid. Sie hat aus Mitleid mit mir geschlafen.

Stell dir vor, dass du aus diesem Urlaub nicht zurückkommst, dass du die Gruppe verlässt und dich nie wieder meldest. Verlassen. Klingt perfekt. Ich kann mir das gut vorstellen.

Ich greife nach meinem Buch. Stephen Kings letztes Gefecht. Wer kämpft da gegen wen? Der Mülleimermann wird mit dem Revolver gefickt. Vom Kid.

3.

Wir wechseln am Morgen wie vorgesehen das Hotel, das nur eine Querstraße entfernt liegt. Auch hier ist der Service nicht besser. Unsere Zimmer liegen nicht einmal auf der gleichen Etage. Statt eines richtigen dritten Bettes bleibt mir nur eine Couch am Fenster. Kein Problem. Ich schlafe auch auf dem Boden. Rucksäcke ins Zimmer und ab in die Katakomben.

Wir betreten ausgelatschte Pfade. Kein Schritt, der nicht schon einmal von anderen gemacht wurde, kein Blick auf ein nie gesehenes Objekt. Nur wir sind neu, unberührt und unbekannt. Sonst nichts.

Der Sommer hat uns wieder. Paris riecht jetzt nicht mehr nach Abgasen, sondern nach dem Gummi der Metro, nach Bäckereien, die wir auf dem Weg passierten. Kann man Totenschädel fotografieren, ohne sich schlecht dabei zu fühlen und vor allem, ohne sich dabei erwischen zu lassen? Wir können. Fabian und ich vor einem Haufen Schädel, stumpf stierend, im gleichen T-Shirt, mit der gleichen Sonnenbrille im Hemdkragen und dem gleichen schwarzen Bananenbeutel vor dem Bauch.

Im Dunkeln ist gut munkeln, müssen sich Katja und Gregor denken. Hinter jeder Ecke könnten sie stehen, sich anfassen, knutschen, fummeln. Irgendwann sehe ich sie, in einer dunklen Sackgasse, Gregor in Designershorts mit Polohemd, seine Hände unter ihrem ausgefransten T-Shirt, in ihrer engen, knielangen Hose, die nur ein Gummiband auf den Hüften hält, sehe Katja erschrecken und Gregor sie festhalten, mit beiden Händen in ihrer Hose und unter dem Hemd, im schummrigen Licht der Lampe über dem Notausgang, vor einer makabren Kulisse aus Totenschädeln. Bei der nächsten Gelegenheit sind sie verschwunden.

Ratlos stehen wir eine Weile in der Mittagshitze auf der Straße. Dumme Nuss, warum kommt sie nicht? Fahren wir eben nach Versailles ohne die beiden, die sich vielleicht schon schwitzend in den Betten wälzen. Doch dann treffen wir Gregor und Katja in der RER-Station wieder. In ihrem Schoß liegt sein Kopf. Ihre Finger spielten mit seinem Haar. Sie scheint glücklich,

Die Harmonie dauert nur eine Bahnfahrt. Im gleißenden Sonnenlicht eines frühen Pariser Nachmittags streckt sich unsere Gruppe unter Platanen über zweihundert Meter Straße.

Fabian und Maike voran, ausnahmsweise Hand in Hand, ohne Streit und ohne scharfe Worte. Ein paar Meter hinter Gregor zieht Katja ihren Pullover über das Gesicht.

»Weshalb heult sie?«, frage ich.

»Er hat einem Mädchen nachgeguckt«, sagt Frank und raucht wieder zu tief.

»Der spielt doch nur mit ihr«, flüstere ich, weil ich das Gefühl habe, Anteilnahme zeigen zu müssen. Dabei empfinde ich gar nichts bei dem Gedanken an Katja. Warum kapiert sie nicht, was hinter Gregors Verhalten steckte?

Vor uns taucht Versailles auf. Vor uns und Tausenden anderen Touristen. Sie wanken wie die Zombies in meinen Träumen aus am Straßenrand geparkten Bussen, laufen tumb über die riesigen Parkplätze, wie ferngesteuert hoch erhobenen Wanderstäben mit bunten Wimpeln folgend. Japaner, Amerikaner, Europäer und wir.

»Natürlich tut er das.«

»Er ist aber auch ein Arsch.«

Frank wirft seine Zigarette in den Rinnstein. Über dem Schloss wölbt sich ein azurblauer Himmel. Die untoten Touristen ächzen und stöhnen sich dem Eingang entgegen.

»Sie macht es ihm aber auch zu leicht.«

»Na, ich bin gespannt, wie es weiter geht.«

»Lenk sie doch ab.«

»Bin ich katholisch? Außerdem passen wir gar nicht zusammen.«

Woher nimmt Frank nur diese Idee? Was für eine Vorstellung: Katja und ich ein Paar. So ein Quatsch.

Was von Versailles bleibt: Der Spiegelsaal und der Versuch, sich die Krönung Wilhelms I. zum Kaiser vorzustellen. Das Datum 18. Januar 1871. Marie Antoinette und die Revolution. Die Gärten. Die Kanäle. Prunk. Gregor findet den Protz verachtenswert, Frank stößt ins gleiche Horn. Unsere Revoluzzer auf der Suche nach einer Welt ohne Kapital kaufen nach dem Besuch im Supermarkt um die Ecke ihren Zehnerträger Bier, und ich freue mich erneut, dass ich vom Kronenbourg keine Kopfschmerzen bekomme.

»Natürlich gewinnen wir«, sagt Frank und legt so viel Begeisterung für unsere Nationalmannschaft an den Tag, dass ich an seiner anarchistischen Einstellung zweifele.

»Die Dänen sind zu gut«, sage ich, dabei habe ich keine Ahnung. Was geht mich Fußball an? Ich will nach Südfrankreich, zu meinem Vater und diesen ganzen unnützen Ballast hinter mir lassen. Kein Fußball, keine Reizüberflutung, kein Nachdenken.

»Die sollen angeblich nur Big Mac essen und Cola trinken.«

Fabian runzelt die Stirn. Anschließend reden wir noch ein paar Stunden über das Finale in zwei Tagen, bis wir müde genug sind, um schlafen zu gehen. Ich schließe das Klo ab, als ich an der Reihe bin, und wichse im Stehen vor dem Waschbecken. Dabei sehe ich mir im Spiegel zu, bewundere meinen steifen Schwanz in meiner Hand und stelle mir vor, wie ich mir selbst einen blase, wie ich mir meinen Schwanz tief in den Mund schiebe und dann in meinen Hals spritze.

Vor der Klotür höre ich Frank und Fabian und ich frage mich, ob sie wissen, was ich hier mache. Ahnen sie, dass ich mir hier einen von der Palme wedele und mir vorstelle, von Figuren aus meinen Pornos gefickt zu werden oder sie zu ficken? Ahnen sie, dass ich ständig überlege, wo ich mir als nächstes einen runterholen kann?

Wenn sie jetzt hereinkämen und mich beim Wichsen überraschten, würden sie empört sein? Würden sie mitmachen? Niemals würden sie mitmachen, denn niemand außer mir denkt ständig nur ans Wichsen. Niemand sonst ist so besessen von Pornos. Nicht Fabian und nicht Frank.

Ich mache die Augen zu und denke an Katja, an ihren Hintern in der Luft und wie sie von Gregor gefickt wurde, stelle mir vor, ich wäre es, und komme. Mein Sperma spritzt in die Keramik, auf den Ausguss, läuft zäh zusammen und gerinnt.

Erschöpft halte ich mich am Waschbecken fest, genieße den Rausch. Wie geil, wie schön, wie gut. Besser als 15 Punkte in der Matheklausur, besser als Händchenhalten mit Judith, besser als Katjas Lächeln.

Mühsam beseitige ich die Spuren aus dem Waschbecken. Peinlich, würde Fabian Reste meines Spermas beim Zähneputzen finden.

4.

In meinem Hals ein leichtes Kratzen. Zuletzt noch eine Erkältung.

Welch ein Hohn, denn der Tag ist endlich sonnig, der Himmel blau. Noch ein Tag Paris, noch mehr Eiffelturm, Triumphbogen, Champs Elysées, Louvre und Baguette mit kleinem Käse, dessen rote Wachsschicht unter den Nägeln hängen bleibt.

Gegen Abend der nächste Zehnerträger Bier, diesmal setzen wir uns auf die Stufen unterhalb der Sacré Cœur und genießen die Harmonie. Kein Streit, kein Ärger. Gregor und Katja verstehen sich und wir hoffen doch alle, da bin ich mir sicher, insgeheim, dass sie sich doch noch finden. Gregor und Katja – ein perfektes Paar.

Bei einem fliegenden Händler kaufe ich eine Sonnenbrille um auszusehen wie einer der Blues Brothers, was mir doch eh nicht gelingt. Aber immerhin habe ich den Preis von 50 Francs auf 30 Francs, zehn Mark, heruntergehandelt und bin stolz auf mich. Der Stolz ist von kurzer Dauer. Die gleiche Sonnenbrille sehe es auf einem Ramschmarkt für 10 Francs. Ich ärgere mich über diesen Kauf. Ich bin zu langsam, zu doof, zu leicht um den Finger zu wickeln. Ich kann gar nichts.

»So ein Scheiß.«

»Na, jetzt bist du schlauer. Beim nächsten Mal...«

Auf dem Rückweg kaufen wir uns wieder einen Zehnerträger Kronenbourg. Frank öffnet das erste Bier, Gregor dreht den ersten Joint, ich mache den ersten Kalauer. Draußen vor dem Fenster liegt uns Paris zu Füßen. Eine Stadt, die uns reif gemacht hat für den Strand, auch wenn Gregor das nicht so gerne hört.

»Ich kann den Gips nicht abmachen«, sagt er. »Und dann schwitze ich darunter.«

Ich zucke mit den Schultern.

»Es ist ja nur für ein paar Tage. Und dann geht es weiter nach Madrid. Das wirst du schon aushalten.«

Es dauert keine zehn Minuten, bevor es an der Tür klopft. Katja und Maike stürzen herein, angewidert, durcheinander redend.

»So große« ruft Maike und hält Daumen und Mittelfinger zehn Zentimeter auseinander. »Total eklig.«

»Auf den Zahnbürsten«, kreischt Katja und schüttelt sich.

Wir finden sie auch auf den Handtüchern, in der Dusche und hinter der Kloschüssel. Die Kakerlaken sind überall. Wir holen die Sachen der Mädchen nach oben, schieben die Betten zusammen. Katja kuschelt sich an Gregor.

Ich schiebe die schlaffe Haut über der geplatzten Haut mit dem Zeigefinger hin und her. Ob sie wieder verwächst? Oder muss ich sie abziehen, damit die neue Haut darunter Luft bekommt? Hätte ich die Blase nicht aufkratzen sollen? Fabian haut mir auf die Finger.

»Hast du das jetzt doch aufgekratzt?«

Warum macht er das? Warum tut er so, als würde ihm etwas daran liegen?

»Lass mich doch«, fauche ich. Fabian hebt verteidigend die Hände.

»Ich will doch nur helfen.«

»Und was hast du davon?«

Seine Reaktion ist authentisch. Gut gespielt. »Was?«

»Wer anderen hilft, will sich doch bloß besser fühlen.«

»Was ist das denn für ein Quatsch?«

»Auch Mutter Theresa ist nicht so selbstlos. Die macht das, weil sie sich dabei besser fühlt.«

»Meinst du, dass alles, was uns gefällt, eigentlich nicht gut ist?«

»Es ist asozial.«

»Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass nur derjenige selbstlos ist, der Gutes für andere tut und sich dabei schlecht fühlt.« Gregor hebt spöttisch die Augenbrauen.

»Richtig«, sage ich. »Wenn du Geld spendest und es dir nicht weh tut, weil du genug Geld hast, ist das keine selbstlose Tat.«

»Aber sie ist gut.«

»Kann es Gutes im Schlechten geben?«

»Ja, kann es«, sagt Gregor. »Die Motivation des Menschen ist doch völlig Wurst. Wichtig ist doch nur, dass man Gutes tut, nicht aus welchem Grund.«

»Ich will doch gar nicht sagen, dass es schlecht ist, wenn man etwas tut, bei dem man sich gut fühlt. Es ist nur nicht mehr selbstlos. Es gibt kein selbstloses Verhalten.«

»Na und?«, fragt Fabian. »Ihr macht euch Gedanken, das gibt’s gar nicht.« So typisch.

»Es gibt eben jemand, der ist ein wenig tiefsinniger«, mault Maike provozierend.

»Das sagt die Richtige.«

Der Zoff geht wieder los und ich fühle mich plötzlich leer. Die Zwiebel ist gehäutet. Aber ich habe keine Ahnung, warum ich das gemacht habe. Beim Häuten der Zwiebel muss man weinen, ich jedoch werde nur müde.

Zähne putzen, schlafen gehen, Licht aus.

Schnell werden meine Hände schwer, rasch schlafe ich ein.

Das Flüstern weckt mich. Es klingt nach Verschwörung, nach Geheimnissen. Draußen dämmert Paris dem Tag entgegen, der Verkehr tuckert vor dem undichten Fenster.

Ich spüre ein Kratzen im Hals. Zitternd ziehe ich die dünne Decke bis zum Kinn und drehe mich. Jede einzelne Feder in diesem Sofa hat sich im Laufe der Nacht mindestens einmal in meinen Rücken gebohrt.

Neben mir auf dem Bett liegen Gregor und Katja. Sie haben das Laken über ihre Köpfe gezogen. Hände und Arme drücken sich gegen das Flies, geben ihm immer neue Ausbuchtungen und Höhen. Von dort kommt das Flüstern. In der Mitte dieses weißen Kokons bewegt sich der Stoff, beult sich, entspannt sich wieder, beult sich. Feuchtes Schmatzen, wieder Flüstern. Mein Schwanz wird hart. Fabian und Maike im zweiten Bett schlafen, auch Frank rührt sich nicht auf seiner Isomatte.

Wieder Schmatzen, die Stelle in der Körpermitte des Kokons beult sich immer schneller. Gregor flüstert, Katja flüstert zurück, Schmatzen, schließlich seufzt Gregor. Die rhythmischen Bewegungen stoppen. Ich höre, wie etwas von innen gegen das Laken prallt. Wieder Schmatzen, das Laken beult sich einmal, erneut spritzt etwas gegen den Stoff, ein dunkler Fleck bildet sich, wird größer, eine letzte Bewegung.

Fasziniert blicke ich auf den feuchten Fleck, massiere meinen harten Schwanz unter meiner Decke und sehe erst spät, dass sich ein dunkler Schopf oben unter dem Laken hervor geschoben hat. Katja sieht zu mir herüber. Erschrocken schließe ich sofort die Augen, lasse meinen Schwanz los und erwecke den Eindruck, als schliefe ich. Erst als die Tür zum Bad knallt, merke ich, dass ich tatsächlich noch einmal eingeschlafen bin.

Einer nach dem anderen rappelt sich auf, geht unter die Dusche. Beim Anziehen gibt es in der Gruppe plötzlich neue Rollen. Maike zieht sich im Bad um, Katja stellt sich ans Fenster. Ihre Pyjamahose gleitet zu Boden. Ein dunkler Streifen im Dreieck blitzt auf. Ihr Oberteil bedeckt gerade den Nabel. Viel zu viel Katja. Katja nervt, Katja ist eine dumme Nuss, kein geiles Model. Mit leicht auseinander gestellten Beinen steigt sie aus der Pyjamahose, greift zum Höschen neben sich. Ungeniert. Ohne Scham.

Ich schlüpfe in mein T-Shirt, als sich Katja den Slip anzieht. Ein letzter Blick. Das T-Shirt nimmt mir die Sicht. Eine Sekunde später zieht sie sich das Pyjamaoberteil über den Kopf. Ihre festen, perfekten Brüste wippen. Die Nippel rot, die Höfe dunkel. Darunter der flache Bauch. Keine Spur von Verlegenheit. Sie lächelt, ich lächele zurück, viel mehr Verlegenheit in meinem Blick als in ihrem.

Ein Blick auf die Uhr. Frühstück ist im Preis nicht inbegriffen. Wir wollen uns auf dem Weg ein Croissant holen. Die Zeit wird knapp. Um aus dem Zeltlager wieder ein Hotelzimmer zu machen, brauchen wir zu lange. Wir rennen, mit klappernden Rucksäcken, keuchend, fluchend, zur Metro.

Ich schimpfte auf Maike, die viel zu langsam ist. Fabian motzt mich an, warum ich alles auf sie schiebe, Katja weint, weil sie den Stress nicht aushält, Frank bleibt ruhig.

Die ganze Eile hilft nichts, wir verpassen wir den Zug nach La Rochelle um fünf Minuten. Erst schmollend und schließlich versöhnlich suchen wir uns ein neues Ziel auf der Karte. Die Temperatur ist durch die Klimaanlage weit unter 20° geregelt, so dass ich fröstele. Wie wäre es mit Sonne?

Von Arcachon habe ich noch nie gehört. Aber laut Reiseführer gibt es dort eine der größten Wanderdünen Europas. Zeit, das Zelt aufzubauen. Zeit für den Strand. Zeit für Tagträume auf der Zugtoilette und eine schöne, intensive Selbstbefriedigung.

Titten, gesichtslos, Hintern, gespreizte Schenkel, mein Schwanz, die Frauen aus meinen Heften im Bettkasten, die geilen Szenen aus den Pornofilmen, mein steifer Schwanz in meiner Hand. Wenn jetzt jemand reinkommt, die Frau aus der Sitzreihe vor uns, das Mädchen neben mir, Maike. Ich spritze in das Waschbecken in der Zugtoilette.

Erleichtert setze ich mich wieder. Riechen meine Hände nach Schwanz? Unauffällig schnüffele ich. Gregor blättert in einem Reiseführer. Der Überdruck, der bei der Einfahrt in einen Zug entsteht, schmerzt in den Ohren. TGV - das ist eine ganz neue Erfahrung. Ein Hochgeschwindigkeitszug. Fantastisch.

Kümmer dich ums Kätzchen

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