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Kapitel 2

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Stoner bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Essen, dem Tischgespräch und den kugeligen Wandleuchtern aus Messing zu verteilen, in denen die Bienenwachskerzen tapfer vor sich hin glühten. Das Licht war golden, die Schatten fielen satt sepiabraun, und eine sanfte Süße schwang in der Luft. Von Zeit zu Zeit schaute sie verstohlen zu Mrs. Burton hinüber und fragte sich, was sie bedrücken mochte. Die alte Dame war zierlich, geradezu zerbrechlich, die Linien um ihre Augen herum scharf und tief vor Sorge. Stoner hatte nicht den Eindruck, dass die Hohlwangigkeit des Gesichts von ihrem Alter herrührte, eher von zu wenig Schlaf. Ihre Finger spielten ruhelos mit dem Tafelsilber und umklammerten den Serviettenring. Stoner kämpfte gegen das Verlangen, alle Regeln des guten Anstands über Bord zu werfen und einfach zu fragen, was ihr fehlte.

Sie versuchte, wieder Anschluss an das Gespräch zu finden. »Mein Vater meint«, sagte Marylou gerade, »dass Unkraut jetzt ganz groß im Kommen ist. Es speichert die Feuchtigkeit, spendet zarteren Gewächsen Schatten und lässt sich sogar zur Ablenkung oder als Falle für Schädlinge gebrauchen.«

»Aber es sieht so unordentlich aus«, bemerkte Tante Hermione. »Was meinen Sie, Eleanor?«

Mrs. Burton sah von ihrem Teller auf. »Verzeihung, wie bitte?«

»Was halten Sie von Unkraut?«

»Entzückend«, murmelte Mrs. Burton und pickte höflich an dem Kalbfleisch in Marsalasauce herum.

»Nehmen Sie doch noch etwas Wein, Eleanor. »Tante Hermione füllte ihr Glas nach. »Meine persönliche Vorliebe«, sie wandte sich wieder Marylou zu, »gilt der französischen Aufbaumethode. Besonders für Stadtgärten eignet sie sich sehr.«

»Ja«, sagte Marylou, »aber wir haben gerade erst angefangen, Unkraut überhaupt zu begreifen. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Denkt nur mal an dieses Schuttunkraut, ich meine Amarant.«

Stoner schmunzelte in sich hinein. Denkt nur mal an Schuttunkraut, in der Tat. Marylou würde Amarant, ohne mit den Achseln zu zucken, genauso leidenschaftlich vertilgen wie Eierbiskuits.

»Also«, erklärte Tante Hermione, »ich bin wirklich eine Freundin von Fortschritt und Veränderung, aber du wirst mir nicht weismachen, dass Schweinekohl zu irgendetwas nutze ist.«

»Außer für Schweine«, schlug Stoner vor.

Marylou und Tante Hermione starrten sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. »Du kannst hier in Boston keine Schweine halten«, sagte Marylou. »Es gibt Bestimmungen dagegen.«

»Ich meinte ja nur …«

»Ich wusste gar nicht, dass du Schweine gern hast«, warf Tante Hermione ein.

»Sie sind in Ordnung.«

Tante Hermione wandte sich an die anderen. »Manchmal wünschte ich, wir würden nicht in der Großstadt leben. Ich weiß, dass Stoner wahnsinnig gern einen Hund hätte, aber hier könnte es nur ein ganz kleiner Hund sein, und kleine Hunde sind so unbefriedigend. Besonders, wenn man so temperamentvoll und unausgeglichen ist wie Stoner.«

»Bin ich nicht«, protestierte Stoner.

»Nur in Bezug auf Hunde, Liebes. Aber Schweine! Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Genehmigung bekommen würdest, eines zu halten, nicht mal, wenn es ein sehr kleines, sehr sauberes Schwein wäre.«

»Ich möchte gar keine Schweine halten«, sagte Stoner.

»Aber wenn du gern mal ein Schwein sehen möchtest, könnten wir zur Drumlin-Farm rausfahren. Ich bin sicher, dass sie da auch Schweine halten, meinen Sie nicht auch, Eleanor?«

»Entzückend«, sagte Mrs. Burton und goss sich ein weiteres Glas Wein ein.

»Vielleicht erlauben sie dir, eins zu streicheln, obwohl ich persönlich die Vorstellung eher abschreckend finde. Aber du wirst schon wissen, was du tust, Stoner. Du weißt es ja immer.«

Oje, Tante Hermione war voll in Fahrt. Hätte sie etwas Zeit und nur den Schimmer der Aussicht auf Erfolg, würde sie versuchen, die Sachlage aufzuklären. Aber Tante Hermione war ihren sprunghaften Abschweifungen verfallen, gelegentlich betrieb sie sie geradezu fanatisch, und es gab nichts, was man dagegen tun konnte, außer abzuwarten, bis sie fertig war.

Nicht, dass Stoner irgendetwas gegen Schweine hatte. Es schienen ganz leutselige Wesen zu sein, obwohl manche Menschen die Ansicht vertraten, sie könnten extrem boshaft sein. Aber was konnten sie einem schon tun, außer mit ihren Schnauzen zu knuffen? Und dem konnte man leicht ausweichen, indem man einen Schritt zur Seite machte. Sie hatte einmal gehört, dass sie es liebten, im Ozean zu schwimmen. Eine Vorstellung, die sie zu eigentümlichen Visionen inspirierte, in denen riesige Scharen – Herden? – Völker? – von ihnen zu den Stränden galoppierten und Richtung Frankreich aufbrachen, um nach Trüffeln zu schnüffeln. Sie fragte sich, wie sie es fertigbrachten, mit diesen winzigen behuften Füßen zu schwimmen. Vielleicht war das Ganze auch bloß ein Gerücht, eine kleine, von der Regierung gezielt unter die Leute gestreute Fehlinformation, um die allgemeine Aufmerksamkeit davon abzulenken, dass die Wirtschaft gerade mit fliegenden Fahnen den Bach runterging.

Aber jetzt gab es erst einmal diesen Notstand in den eigenen vier Wänden. Nicht, dass irgendjemandes Verhalten darauf hinwies, dass etwas Dringendes anlag, außer dass Mrs. Burton bis zum Dessert vermutlich einer Alkoholvergiftung erliegen würde. Tante Hermione ihrerseits glaubte schließlich an das Schicksal, was sie der Notwendigkeit enthob, in welcher Situation auch immer, zu unmittelbaren Aktionen schreiten zu müssen – ein Standpunkt, den Stoner manchmal auch furchtbar gerne gehabt hätte, und der sie andererseits manchmal so auf die Palme brachte, dass sie am liebsten schreiend in die Nacht hinausgelaufen wäre. Marylou wiederum war stets so leidenschaftlich in was-auch-immer-gerade-geschah vertieft, dass sich alles andere – Zukunft, Vergangenheit oder atomare Aufrüstung – in ungewissem Dunst aufzulösen schien.

Stoner beneidete sie beide, obgleich der Gedanke, so zu leben, sie erschreckte. Wie Tante Hermione gern sagte: »Stoner muss immer genau wissen, wo die Ausgänge sind.«

Sie warf einen verstohlenen Blick auf Mrs. Burton, die jetzt eigentümlich langsam zitterte – oder war es eher ein extrem schnelles Schwanken? Es war schwer zu sagen, welches von beidem zutraf. Was in aller Welt, fragte sie sich erneut, konnte eine süße kleine alte Dame zu solch desperatem Verhalten treiben? Süße kleine alte Dame? Eleanor war klein – so viel war sicher, weil unübersehbar –, aber war sie süß? War sie eine Dame? Ja, war sie überhaupt, genau genommen, wirklich alt? Älter als Tante Hermione, zumindest geistig seniler, wohl schon, aber nicht unbedingt viel älter. Und man hatte schon von alten Leuten gehört, die die erstaunlichsten Dinge anstellten. Sogar süße alte Leute. Sogar süße alte Damen. Man denke nur an die zwei aus ›Arsen und Spitzenhäubchen‹– bei denen stapelten sich die Leichen wie Feuerholz im Keller. Ob es in Mrs. Burtons Keller Leichenstapel gab? Und wenn, wie viele mochten es sein? Nein, nicht mehr als eine Leiche, davon war sie felsenfest überzeugt. Mrs. Burton verfügte ganz offensichtlich nicht über die für mehrfachen Mord nötige Kaltblütigkeit.

Eine Leiche also. Begleitumstände, auslösendes Moment? Ein Kostgänger ihres Vertrauens wird unerwartet plötzlich gewalttätig. Die ältliche Frau schlägt zurück, um sich zu verteidigen, mit der Kraft, die die Todesangst verleiht. Der klassische Kopf-gegen-Kaminsims-Poker – Full House. Ein diskretes Begräbnis unterm Kohlenhaufen. Furcht und Gewissensbisse werden übermächtig. Im Schutz und Halbdunkel des Salons ihrer Handleserin kann sie schließlich die Bürde nicht länger tragen und beichtet ihre heimliche Schuld.

Was nun? Tante Hermione schlägt vor, Stoner und Marylou einzuweihen, die, weil eher weltlich, eine gute Idee haben könnten.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, platzte Stoner heraus. »Ich bin sicher, wir können sie überzeugen, dass es ein Unfall war.«

»Oh, das habe ich doch versucht«, sagte Mrs. Burton. »Nicht ein Unfall, aber ein Fehler. Sie wollte nichts davon hören!«

»Beachten Sie Stoner nicht«, sagte Marylou. »Sie führt Selbstgespräche.«

»Genau wie sie«, wimmerte Mrs. Burton. Ihr Kinn zitterte.

»Ich schlage vor, wir gehen ins Wohnzimmer.« Tante Hermione stand auf und faltete ihre Serviette zusammen. »Wir können die Linzer Torte auch dort zu uns nehmen.«

»Für mich bitte keine, vielen Dank«, sagte Mrs. Burton. »Ich nehme nur noch ein wenig von diesem entzückenden Wein.«

Marylou verdrehte die Augen. »Linzer Torte! Tante Hermione, du alte Füchsin, warum hast du mir das verheimlicht? Jetzt hab ich mich total vollgestopft!«

»Du kannst deine mit nach Hause nehmen, Marylou. Ich habe noch eine ganze, extra für dich.«

»Du müsstest heiliggesprochen werden.«

»Unmöglich«, sagte Tante Hermione. »Ich bin Agnostikerin.«

»Ich würde jeden Abend zu dir beten«, sagte Marylou.

»Nun, das kannst du auch so tun, Liebes. Stoner, könntest du Eleanor einen Arm reichen? Es scheint, dass ihr Gleichgewichtssinn etwas durcheinander ist.«

Die schweren Vorhänge im Wohnzimmer waren geschlossen, aber der Raum war kühl. Über ihren Köpfen spendete eine Tiffany-Deckenlampe ihr weiches, vielfarbiges Licht. Stoner streckte in einem überpolsterten Lawson-Stuhl alle viere von sich, während Tante Hermione sich auf die vorderste Kante eines Schaukelstuhls mit Sprossenlehne setzte und ihr Strickzeug entrollte. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, Eleanor«, sagte sie. »Haben die Hände zu tun, wird der Kopf klar.«

Mrs. Burton zupfte sich ihren Ärmel zurecht. »Natürlich«, murmelte sie gedankenverloren.

Marylou füllte alle Weingläser nach, obwohl Stoner ihres kaum angerührt hatte. »So!« Sie ließ sich neben Mrs. Burton auf das Sofa plumpsen. »Jetzt zum geheimnisvollen Teil.«

»Marylou …«, warnte Stoner.

Mrs. Burton klammerte sich an ihrem Notizbuch fest. »Sie werden sicherlich denken, ich sei eine übergeschnappte alte Närrin, die sich alles Mögliche einbildet.«

Das klang nicht sehr nach Skelett-im-Kohlenkeller. »Aber keineswegs!«, sagte Stoner.

»Meine Enkelin denkt das.« Mrs. Burton klang todtraurig. Sie seufzte. »Und manchmal misstraue ich meinen eigenen Wahrnehmungen.« Sie nahm einen herzhaften Schluck Wein und setzte sich aufrecht. »Aber ich weiß, was ich weiß, und ich verdächtige, wen ich verdächtige. Und ich weiß, dass etwas Schreckliches geschehen wird.«

Dies klang immer weniger nach einem Mord aus Versehen.

Mrs. Burton warf einige wilde Blicke um sich. »Sie war nie so sehr beliebt, wissen Sie. Schüchtern und unsicher. Sie dachte, dass niemand sie mag. Und als er auftauchte, vergaß sie natürlich den Boden unter ihren Füßen. Aber ich bin vollkommen sicher, dass er von dem Geld weiß und sie das Testament geändert hat und …«

Stoner hob die Hand. »Mrs. Burton«, sie beugte sich vor, »bitte versuchen Sie, uns die ganze Geschichte zu erzählen, von Anfang an. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.«

»Ich danke Ihnen, Liebes.« Mrs. Burton holte tief Luft. Dann wühlte sie in ihrer Handtasche und förderte eine Fotografie zutage. »Dies ist meine Enkelin, Gwen.« Sie reichte das Bild Tante Hermione. »Letzte Woche wurden sie und ein gewisser Bryan Oxnard getraut. Gwen, die Tochter meiner Tochter, ist seit ihrer Kindheit Waise. Ihre Eltern kamen bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Es war ein Charterflug. Nach Venedig.«

»So eins haben wir auch mal verloren«, warf Marylou ein.

»Dieses kann nicht Ihre Schuld gewesen sein«, sagte Mrs. Burton. »Sie waren aus Atlanta.«

Tante Hermione gab ein paar mitfühlende Geräusche von sich.

»Ihr Bruder war in Australien, deshalb kam Gwyneth zu mir. Es war so endlos lange her, dass ich Kinder im Haus hatte … Vielleicht war ich zu nachsichtig. Ich glaubte, ihr alle Liebe zu geben, die sie brauchte, aber …« Mrs. Burton zog ein zerknautschtes Spitzentaschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich damit die Augen.

»Bitte fahren Sie fort«, sagte Stoner.

»Ihre Eltern hinterließen sie gut versorgt, was das Finanzielle betrifft. Das Geld wurde in einem Genossenschafts-Vermögensfonds angelegt, bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Danach sollte sie damit verfahren dürfen, wie sie es wünschte. Sie entschied sich, es dort zu lassen, damit es sich vermehrt.«

»Wie vernünftig«, bemerkte Tante Hermione mit einem leicht missbilligenden Unterton.

»Wie alt ist sie jetzt?«, fragte Stoner.

»Dreißig. Vor etwa zwei Monaten fing er an, bei uns aufzutauchen.« Sie leerte ihr Glas. Marylou füllte es wieder.

»Er?«, fragte Stoner.

»Bryan Oxnard natürlich«, sagte Marylou. »Du musst schon aufpassen, Stoner!«

Stoner sah sie finster an. »Ich versuche es. Also Gwyneth … Gwen …«

»Das ist ein und dieselbe Person«, erklärte Mrs. Burton. »Gwen ist die Kurzform für Gwyneth.«

»Keltisch«, bemerkte Tante Hermione.

»… heiratete Bryan«, Stoner ließ nicht locker, »nachdem sie ihn erst kurze Zeit kannte, und änderte ihr Testament, um – wie ich annehme – ihm ihr Geld zu hinterlassen.«

»Genau so!«, rief Mrs. Burton. »Kluges Mädchen.«

»Frau«, sagte Stoner.

Tante Hermione nickte stolz. »Nun brauchen Sie alles Weitere nur noch Stoner zu überlassen.«

Marylou lachte.

»Bitte«, sagte Stoner, »erzählen Sie mir mehr.«

»Daphne und Richard, Gwens Eltern, heirateten 1945. Im April. Es war eine aufregende Zeit. Der Krieg neigte sich dem Ende zu, die Jungs kamen zurück. Gwens Vater war im Einsatz verwundet worden. Ich glaube, er ließ sich eine Munitionskiste auf den Fuß fallen, in Brighton. Daphne begegnete ihm in einem Militärhospital. Sie machte dort Freiwilligendienst, verstehen Sie?«

»Ja«, sagte Stoner. »Ich meinte eigentlich, erzählen Sie mir mehr über Bryan …«

Mrs. Burton ignorierte sie. »Das war im Januar. Drei Monate später waren sie verheiratet.« Ein Ausdruck des Entsetzens und der Panik huschte über ihr Gesicht. »Ach, du liebe Güte! Halten Sie es für möglich, dass das mit dem überstürzten Heiraten in der Familie liegt?«

»Ich glaube nicht, dass das erblich ist«, meinte Marylou. »Andererseits, in einer Umgebung, in der solche Dinge als vernünftiges Betragen akzeptiert werden …« Sie hob in einer bedeutungsvollen Geste beide Hände und richtete die Innenflächen zur Zimmerdecke, »… man kann nichts ausschließen.«

»Marylous Mutter ist eine berühmte Psychoanalytikerin«, erklärte Tante Hermione.

»Oh, wie reizend«, sagte Mrs. Burton.

Stoner seufzte. »Sie sagten gerade, dass Gwen …«

»Donald, das andere Kind, wurde genau neun Monate nach der Hochzeit geboren. Ein Flitterwochenkind.«

»Wassermann oder Fische?«, fragte Tante Hermione.

»Wassermann. Gwyneth ist Fische. Aszendent Krebs.«

»Kinder, Kinder«, sagte Tante Hermione. Ihr Wollknäuel kullerte von ihrem Schoß und rollte unter das Sofa. Stoner kroch hinterher und legte es zurück. »Sehr, sehr gefühlsbetont!«

Stoner näherte sich langsam der Hysterie. »Bitte, was ist mit Bryan?«

Mrs. Burton dachte einen Augenblick angestrengt nach. »Ich glaube, er ist … Löwe. Ja, das ist richtig. Löwe.«

Stoner fuhr sich voller Verzweiflung mit den Händen über das Gesicht. »Was wissen Sie sonst noch über ihn?«, fragte sie so gelassen, wie sie konnte.

»Sehr wenig«, sagte Mrs. Burton. »Er sagte, er sei neu in der Stadt und arbeite in der Investmentabteilung einer Bank.«

Oha. »Und, tat er es?«

»Was?«

»In der Investmentabteilung arbeiten?«

»Oh, ja. In dem Fall stimmte es.« Mrs. Burton beugte sich vor und tätschelte Stoners Hand. »Sie müssen verstehen, Gwen hält sich selbst für ein Mädchen von eher durchschnittlichem Aussehen.«

»Frau«, sagte Stoner.

Marylou, die gerade im Begriff war, ihr Glas nachzufüllen, nahm von Tante Hermione das Foto entgegen. Sie stieß einen Pfiff aus.

»Sie war ein allerliebstes Baby«, sagte Mrs. Burton. »Könnte ich nur noch einen Fingerhut voll von diesem entzückenden Wein haben, meine Liebe? Ich danke Ihnen. Ein liebes Baby. Weinte nie, schlief fast von Anfang an die Nacht durch. Sie war seitdem immer so, süß und verträglich, niemals Quengeleien, immer bemüht, Freude zu machen …« Ihre Stimme brach. »Es hat nie ein böses Wort zwischen uns gegeben, bevor er auftauchte.«

Marylou reichte Stoner das Bild. Sie warf einen Blick darauf und verschluckte sich. Gwen war nicht unbedingt eine Schönheit im üblichen Sinn, aber obwohl das Foto aus einiger Entfernung aufgenommen und leicht verwackelt war – Billigkamera, dachte Stoner –, schien das Gesicht dieser Frau Wärme und zugleich Verletzlichkeit auszustrahlen … Aus irgendeinem Grund musste Stoner feststellen, dass sie errötete.

»Sie ist … entzückend«, sagte sie.

»Wie wär’s mit noch etwas Wein?«, fragte Marylou. »Ich hole noch eine Flasche.« Auf dem Weg zur Tür warf sie Stoner einen prüfenden Blick zu.

»Lass das«, raunte Stoner unterdrückt. Sie wandte sich Mrs. Burton zu. »Gehe ich recht in der Annahme«, sie hoffte, dass ihre Stimme nicht schwankte, »dass Sie und – äh – Gwen sich über Bryan uneinig waren?«

»Es war furchtbar.« Mrs. Burton fing wieder an zu weinen.

»Da-da«, murmelte Tante Hermione und fügte ein weiteres Wollknäuel zu ihrem Strickzeug.

Mrs. Burton riss sich zusammen. »Ich denke, eigentlich war es die Schuld meiner Tochter.«

»Bitte?« Stoner sah sie entgeistert an.

»Dass Gwyneth so … still war. Daphne war die personifizierte sprühende Lebhaftigkeit. Wo auch immer sie hinkam, stets war sie sofort Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Gwen stand immer etwas in ihrem Schatten. Sogar ihre Freunde waren verzaubert. Sobald Daphne den Raum betrat, war Gwen vergessen.«

»Das ist unfair«, murmelte Stoner.

»Ich machte Daphne ein paar Andeutungen, dass sie sich nicht einmischen solle, wenn Gwen mal aus sich herausging, aber natürlich hörte sie gar nicht hin. Bis mir richtig klar wurde, wie egozentrisch sie war, war das Unheil längst angerichtet.«

»Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Stoner mitfühlend. Sie selbst hatte solche engelsgesichtigen Femmes fatales schon kennengelernt. Sie wurden vermutlich schon so geboren. Abgesehen von einer gewaltsamen Entstellung durch plastische Chirurgie war das Einzige, was man tun konnte, sie in Schlammpfützen zu schubsen.

»Gwen hatte nie viele Verehrer. Ich versuchte, sie vor Bryan zu warnen, aber sie weigerte sich, mir überhaupt zuzuhören. Sie wurden letzte Woche getraut.« Sie begann wieder zu schluchzen.

»Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«, fragte Stoner.

Tante Hermione füllte das Weinglas auf.

»Ich danke Ihnen. Sie sind auf Hochzeitsreise, im Grand-Teton-Nationalpark. Jackson Hole. Das ist in Wyoming.«

»Ja«, sagte Stoner. »Ich weiß.«

»Südlich des Yellowstone.«

Stoner schob ihr Haar zur Seite. »Was bringt Sie dazu, bei Bryan Oxnard … üble Absichten zu vermuten?«

»Ich traue ihm nicht. Und, wie Harry richtig bemerkte, sehr verdächtig ist die Sache mit dem Testament.«

»Harry?«

»Harriman Smythe, unser Familienanwalt.«

»Ich verstehe«, sagte Stoner, die nichts verstand.

»Wir haben gerade zusammen Tee getrunken, im Copley. Sie sollten es ausprobieren, Hermione. Es ist ganz entzückend.«

»Mach ich«, sagte Tante Hermione.

»Har – Mr. Smythe erwähnte ganz aus Versehen – Mr. Smythe würde nie einen Vertrauensbruch begehen – er erzählte mir, dass Gwen ihr Testament geändert habe. Sie hinterlässt alles …«

»… Bryan Oxnard«, beendete Stoner den Satz.

»Genau.« Mrs. Burtons Augen wurden wieder feucht.

Einer Eingebung folgend wandte sich Stoner an ihre Tante. »Könntest du Marylou eine Weile in der Küche festhalten? Ich würde gern allein mit Mrs. Burton sprechen.«

»Natürlich«, Tante Hermione nahm ihr Wollknäuel auf, »ich werde mal sehen, ob sie vielleicht hungrig ist.«

Stoner studierte die ältere Frau, die jetzt ziemlich ruhig dasaß, die Hände im Schoß gefaltet. In würdevoller Haltung war sie bezaubernd. Genau die weiche, pfirsichhäutige Art Frau, die Großmütter sein sollten. Die Art, die Schmerzen schon oft kommen und gehen sah, und weiß, dass sie nicht für immer bleiben. Die Art, die nachts vor Sorge nicht schläft, wenn du noch spät außer Haus bist, aber am Morgen kein Wort darüber verliert. Die Art, die dir Bücher zum Geburtstag schenkt, obwohl deine Mutter auf Unterwäsche bestanden hat, und sie auch selbst einpackt. Und die nie versucht, dich dazu zu bringen, dass du dich schuldig, verlegen oder beschämt fühlst. Die solche Dinge sagt, wie: »Lass die Kleine in Ruhe, Helen. Sie ist doch noch ein Kind.«

Sie räusperte sich. »Ich dachte, es ist vielleicht leichter zu reden, wenn wir nur zu zweit sind.«

Mrs. Burton lächelte zögernd. »Ich weiß das zu schätzen, Stoner. Ich habe eindeutig zu viel getrunken, und das auch noch auf der Grundlage zweier Wochen, die an den Nerven gezerrt haben.« Sie warf einen vorsichtigen Blick in Richtung des leeren Flurs. »Und, offen gestanden, obwohl ich Ihre Freundin großartig finde, sie hat etwas … Überstrapazierendes.

Ich fürchte, diese Geschichte hat mich vollständig aus der Bahn geworfen. Gwyneth und ich hatten nie zuvor einen ernsthaften Streit, wissen Sie. Aber ich bin so sicher, dass mein Gefühl in Bezug auf ihn richtig ist, und sie ist ebenso sicher, dass sie recht hat, und … na ja, es ist eben ein schrecklich hilfloses Gefühl.«

»Das verstehe ich.«

»Als mir klar wurde, was ich im Begriff war anzurichten, wusste ich, dass ich … wie nennen es die jungen Leute? …›cool bleiben‹ musste.«

Stoner lachte. »So jung bin ich nicht.«

»Ich fürchte, ich habe unsere Beziehung unwiederbringlich zerstört.«

»Ich bin sicher, dass das nicht stimmt«, sagte Stoner. »Nicht nach so vielen Jahren.«

»Liebe darf niemals für selbstverständlich genommen werden. Ich habe sie verletzt, Stoner, das kann ich mir einfach nicht verzeihen.« Sie hielt inne, um einen Schluck Wein zu trinken, überlegte es sich anders und stellte ihr Glas wieder hin. »Ich zwitschere ja schon wie eine Amsel«, sinnierte sie, »dabei muss man in meinem Alter besonders darauf achten, seine Würde nicht zu verlieren.«

Stoner stützte die Arme auf die Knie. »Könnten Sie mir bitte erzählen, was Sie in dieser Sache bisher unternommen haben?«

»Etwas Furchtbares«, sagte die Frau. »Undenkbares.«

»Undenkbares?«

Mrs. Burton nestelte an ihren Manschetten. »Ich ging zur Polizei.«

»Nun, das scheint doch angebracht.«

»Es war erniedrigend.« Ihre Augen sprühten Blitze. »Sie wahrten gerade noch die Grenzen der Höflichkeit. Ganz offensichtlich waren sie überzeugt, ich sei eine geifernde alte Närrin.«

Genau da lag der Unterschied zwischen Mrs. Burton und Tante Hermione, die unter Garantie direkt ins Büro des Bürgermeisters marschiert wäre und ihm eine hohntriefende Schmährede darüber gehalten hätte, welche Idiotie dazugehöre, das Wohl und die Sicherheit einer ganzen Großstadt in die Hände eines Haufens verständnisloser, inkompetenter Rotzlöffel zu legen.

»Wenn Sie jemals auf behördliche Autoritäten angewiesen sein sollten«, sagte Mrs. Burton, »dann sorgen Sie dafür, dass es geschieht, bevor Sie die Fünfzig erreichen. Danach werden Sie nur noch wie Luft behandelt.«

»Haben die Ihnen irgendeinen Rat gegeben?«

»Sie sagten, ich bräuchte stichhaltige Beweise. Eine blutige Leiche zweifelsohne.«

»Zweifelsohne«, stimmte Stoner zu. »Haben Sie Bryans Vergangenheit schon durchstöbert?«

»Vor einigen Wochen kam mir der Gedanke, diskret Nachforschungen bei der Bank anzustellen, aber da fand ich noch, das sei einfach keine Art.«

»Sie könnten das jetzt nachholen.«

»Nicht persönlich. Es könnte auf Gwen zurückfallen, verstehen Sie das nicht?«

Stoner nickte. »Da könnte ich Ihnen vielleicht helfen.«

»Das wäre ganz entzückend, ja, natürlich. Aber es würde Zeit kosten, und ich fürchte, das können wir uns nicht leisten.«

»Wirklich?«

»Gwen rief mich gestern Abend aus Wyoming an … ich konnte sie dazu bewegen, dass sie sich wenigstens dazu bereit erklärte … und ich hatte eine furchtbar deutliche Vorahnung, dass ich sie … dass ich sie niemals wiedersehen würde.« Sie schien im Begriff, wieder die Beherrschung zu verlieren, riss sich aber zusammen. »Was mich noch zusätzlich ängstigt, ist, dass ich nie Vorahnungen habe. Nachdem ich bei der Polizei war, ging ich direkt zu Hermione. Sie war nicht gerade ermutigend.«

»Was hat sie gesagt?« Stoner fühlte, wie ihre Alarmglocken zu läuten begannen.

»Dass Gefahr besteht. Große Gefahr. Sie hatte irgendeine Art Verbindung zu Bryan. Ich weiß nicht genau, wie diese Dinge funktionieren.«

»Ich auch nicht. Aber sie funktionieren.«

»Sie glauben wohl nicht, dass sie nur taktvoll sein wollte, oder?«

»Das bezweifle ich stark. Takt ist nicht gerade ihre Art.« Stoner betrachtete das Muster auf dem Teppich. »Was könnte ich Ihrer Meinung nach für Sie tun?«

»Fahren Sie hin und, nun, behalten Sie die Dinge im Auge.«

»Ich soll sie bespitzeln?«

»Das ist ein sehr hässliches Wort. Aber gut, ja, bespitzeln Sie sie.«

»Mrs. Burton«, sagte sie, »ich wüsste gar nicht, wie ich das anstellen sollte.«

Die ältere Frau wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Aber natürlich wissen Sie das. Hermione sagt, Sie sind ein helles Köpfchen.«

»Nicht so hell.« Hinter Büschen verstecken? In Torwegen lauern? Durch Fenster spähen? Sie hatte diese Art Dinge nicht getan, seit sie zehn war.

»Sie könnten ihnen ganz zufällig über den Weg laufen. Machen Sie sich beliebt!«

»Mich beliebt machen?«

»Freunden Sie sich mit ihr an. Ich bin sicher, Sie würden meine Enkelin mögen.«

»Das würde ich sicher, aber …«

»Und ich weiß, dass sie Sie mögen würde. Vielleicht können Sie die Wahrheit ans Licht bringen.« Sie fixierte Stoner mit einem sehr direkten Blick. »Sie braucht sehr dringend eine Freundin, Stoner.«

»Aber was ist, wenn Sie sich in ihm getäuscht haben?«

Mrs. Burton lächelte. »Ich wäre nur zu gerne bereit, mich in Grund und Boden zu demütigen, Asche auf mein Haupt zu laden und auch einen Schwiegerenkel zu akzeptieren, der mir unsympathisch ist.«

Stoner lugte auf Gwens Bild und verscheuchte ein winziges Fünkchen von Erregung. Rational. Hier ist Rationalität angebracht. »Kann ich mir etwas Zeit nehmen, um darüber nachzudenken?«

»Wir müssen schnell handeln. Selbst jetzt könnte es schon zu … ach, Himmel!«

»Ich will es überschlafen«, warf Stoner hastig ein. »Vor morgen früh kann ich … könnte ich sowieso nichts unternehmen. Inzwischen, falls Sie … äh … etwas von ihr hören, würden Sie mich anrufen?«

»Unverzüglich.« Sie stand auf. »Ich muss gehen. Falls es üble Neuigkeiten geben sollte, will ich sie nicht von meinem Anrufbeantworter entgegennehmen.«

Sie gingen zusammen zur Tür. »Als ich in Ihrem Alter war, übermittelte man schlechte Nachrichten grundsätzlich persönlich. Es wäre unvorstellbar gewesen, so etwas telefonisch zu machen. Heutzutage ist alles möglich, nicht wahr?«

»Möchten Sie, dass Marylou Sie nach Hause begleitet?«, fragte Stoner, während sie den Mantel der Frau aus dem Garderobenschrank zog.

»Ach, das ist eine wunderbare Idee. Sie würde sicherlich jedem Raubmörder den Verstand zu Pudding reden, nicht?« Sie streifte ihre Handschuhe über. »Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie mir helfen. Hermione hatte mir versichert, dass Sie mich nicht im Stich lassen würden.«

Stoner hatte das Gefühl, dass sich die Wände auf sie zubewegten. »Ich überlege es mir. Das ist alles, was ich im Moment sagen kann.«

»Ich würde selbst rausfahren, wissen Sie, aber das würde überhaupt nichts nützen.«

»Überhaupt nichts. Es muss jemand sein, den sie nicht kennen.«

»Und was könnte ich schon im Gebirge ausrichten?«

»Um ehrlich zu sein, Mrs. Burton, ich glaube, Sie wüssten sich in jeder Situation zu helfen.«

»Sie sind wirklich entzückend, Stoner«, die Frau tätschelte Stoners Wange.

»Darf ich das Bild bis morgen behalten?« Sie versuchte, ihre Befangenheit hinter einem flegelhaften Grinsen zu verbergen. »Vielleicht hilft es mir, zu einem Entschluss zu kommen.«

»Aber natürlich. Und Sie werden es doch auch brauchen, nicht wahr, um sie zu erkennen.«

»Wenn ich …«

Mrs. Burton seufzte. »Oh, ich wünschte, ich hätte unrecht. Ich möchte so gerne, dass sie glücklich ist.«

»Sicherlich möchten Sie das.«

»Ich habe mich bis jetzt so abscheulich benommen. Glauben Sie, sie wird es mir je verzeihen?«

»Sicherlich wird sie das.«

»Die Liebe treibt uns zu seltsamen Dingen.« Sie prüfte, ob sich der Hausschlüssel in ihrer Handtasche befand.

»Ja, das ist sicher wahr.«

»Aber was gibt es sonst schon.« Sie berührte Stoners Arm. »Ich glaube, ich bin jetzt bereit für Marylou.«

Als sie weg waren, drehte sich Stoner zu ihrer Tante um. »Glaubst du, es ist so schlimm, wie sie sagt?«

»So schlimm, wenn nicht noch schlimmer.«

Stoner rammte ihre Hände in die Hosentaschen. »Um Himmels willen, Tante Hermione, in was hast du mich da reingezogen?«

Allein in ihrem Zimmer lehnte sich Stoner an das geöffnete Fenster und starrte in den nachtdunklen Hinterhofgarten hinaus. Die hohen, schmalen Häuser, die Schulter an Schulte um den winzigen freien Platz herumstanden, löschten die Straßengeräusche fast völlig aus. Wenn sie angestrengt lauschte, vermeinte sie ein Knistern und Knarren von den Weinranken her zu hören, die heimlich in der Finsternis wuchsen. Sie seufzte tief und gestattete sich einen unwürdigen Gedanken.

Sosehr sie Marylou und Tante Hermione auch liebte – und sie liebte sie mit jeder Faser ihres Herzens –, fühlte sie sich doch manchmal inmitten des Gewusels und der zwanglosen Lässigkeit sehr allein. Manchmal sehnte sie sich danach, für ein Stündchen eine zu haben, die Angst vor Fremden hatte, die ein Telefon nicht einfach klingeln lassen konnte, der Sonnenuntergänge die Sprache verschlugen, die mürrisch war, wenn sie nicht ausgeschlafen hatte, die in Kaufhäusern Beklemmungen bekam und auf Berührung unbeholfen reagierte – kurz, eine, die einfach ganz normal neurotisch war. Sie seufzte wieder. Es war wirklich ein unwürdiger Gedanke.

Stoner knipste die Nachttischlampe an und studierte das verwackelte Foto. Da war etwas in den Augen der Frau … Irgendwie auf der Hut, sich bewusst, dass ein Bild von ihr gemacht wurde, und das Wissen als nicht angenehm, eher unbehaglich empfindend. Das, dachte Stoner, war ein Gefühl, das sie verstehen konnte.

Sie fühlte ein merkwürdiges Prickeln in den Fingerspitzen und wischte sich die Hände an ihrem Pyjama ab. Was um alles in der Welt sollte sie mit der Situation anfangen? Es war lächerlich, solche Sachen gehörten in eine Seifenoper oder einen Spätfilm. Normale Menschen liefen nicht durch die Gegend, heirateten des Geldes wegen und ermordeten ihre Ehefrauen. Nicht im wirklichen Leben. Na ja, jedenfalls nicht im wirklichen Leben, wie sie es kannte. Und bei alledem schien es hier noch nicht einmal um besonders viel Geld zu gehen. Ja, wenn die Rede von Millionen wäre … wobei sie sich eigentlich gar nicht wirklich vorstellen konnte, dass es Leute mit Millionen gab, schließlich war Dallas doch wohl eine Erfindung des Fernsehens … also, wenn es um Millionen ginge, wäre es möglich. Denn wenn du bereit bist, die eine Unmöglichkeit zu glauben, kannst du auch die andere für bare Münze nehmen.

Aber selbst wenn Unmögliches Wirklichkeit wäre, wie konnte sie diesen Job annehmen? Sie war nicht besonders gerissen, sie kannte sich mit dieser Art Angelegenheiten überhaupt nicht aus, und sie besaß nicht einmal einen Trenchcoat. Es war besser, die Sache einem Profi zu überlassen. Einem Privatdetektiv. Das würde sie Mrs. Burton raten. Stoner war besser dran – sie alle waren besser dran –, wenn sie zu Hause blieb und sich an das hielt, was sie am besten konnte. Flugtickets ausstellen.

Sie warf noch einen heimlichen, sehnsüchtigen Blick auf das Foto und stieg ins Bett. Überzeugt, die richtige Entscheidung gefällt zu haben, machte sie das Licht aus. Eines Tages, hoffte sie, würde sie Gwen Oxnard begegnen.

***

»Also«, sagte Tante Hermione beim Frühstück.

»Also?«

»Wirst du es machen?«

Stoner sah auf. »Ich dachte, Mahlzeiten seien heilig.«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung setzte Tante Hermione ihre Kaffeetasse ab. »Ehrlich, Stoner, manchmal denkst du wie ein Hund.«

»Hä?«

»Ich sage, du sollst von der Couch wegbleiben, und du traust dich daraufhin auf überhaupt kein Möbel mehr.«

Stoner rieb sich verschlafen die Augen. »Nur, weil du immerzu die Regeln änderst.«

»Schluss jetzt, Stoner.« Tante Hermione schenkte ihr eine zweite Tasse Kaffee ein. »Ich kenne diese Mc Tavish-Unterkieferstellung. Du hast eine Entscheidung gefällt, und ich will jetzt sofort wissen, wie sie lautet.«

»Ich dachte, mein Vater sei so willensschwach?«

»Ich bezog mich auf den alten Angus Mc Tavish«, erklärte Tante Hermione. »Wann reist du ab?«

Stoner rührte in ihrem Kaffee. »Gar nicht. Ich finde, sie sollte einen Privatdetektiv beauftragen.«

»Das hab ich ihr ja bereits vorgeschlagen, aber sie will nicht.«

»Warum nicht?«

»Sie will keine Außenstehenden in ihren Familienangelegenheiten, und sie misstraut Fremden.«

»Ich bin eine Fremde.« Sie nippte an ihrem Kaffee.

»Aber mich kennt sie seit Jahren.«

Stoner legte den Kopf auf die Seite und sah ihre Tante scharf an. »Habe ich denn überhaupt eine Wahl?«

»Natürlich nicht«, sagte Tante Hermione und verteilte bedächtig Butter auf einem Croissant.

***

Stoner ließ die Tür des Reisebüros hinter sich zuknallen und feuerte ihre Umhängetasche auf ihren Schreibtisch. »Also«, verkündete sie grimmig, »ich werde es machen.«

»Prima«, sagte Marylou. Sie griff nach einem bereitliegenden kleinen Papierstapel. »Pass auf, du nimmst zuerst den 13 Uhr 10 Flug ab Logan – ich fürchte, es ist United Airlines. Aber du hast eine Direktmaschine, mit einer Dreiviertelstunde Aufenthalt in O’Hare. Ankunft in Denver um 18 Uhr 03, Ortszeit.«

»Marylou …«

»Du brauchst nicht viel zu packen. Deine Verkleidung stellst du dir am besten dort zusammen.«

»Meine Verkleidung

Marylou warf ihr einen gereizten Blick zu. »In diesen Ostküstenklamotten wirst du dort wie ein schlimmer Daumen wirken. Du willst doch wie eine Touristin aussehen, mit der Szenerie verschmelzen – die soll übrigens fabelhaft sein, hab ich gehört. Nimm deinen Rucksack mit, deine Wanderstiefel und was sonst noch so zur Grundausstattung gehört.« Sie schleuderte einen Stapel Jackson-Hole-Prospekte auf den Schreibtisch. »Geh das durch.«

»Moment mal …«

»In Denver steigst du auf Frontier Airlines um, was immer das sein mag, und gelangst so nach Jackson. Ich hab dir dort ein Auto gemietet. Du hast eine Reservierung in Timberline Lodge, wo Gwen und Bryan wohnen.«

»Wie hast du das herausgefunden?«

»Ich hab heut Morgen mit Mrs. Burton gesprochen. Sie übernimmt die Kosten und hat eine kleine zusätzliche Entschädigung für deine Mühe angeboten. Sie hat einen schrecklichen Kater.«

Stoner sackte gegen den Schreibtisch. »Ihr habt euch gegen mich verschworen!«

Marylou hörte auf, in ihren Papieren zu kramen. »Gegen dich verschworen?«

»Du und Tante Hermione«, sagte Stoner wütend. »Ich bin drauf und dran, es doch nicht zu machen!«

»Ich wollte nicht …«

»Ach, vergiss es, Marylou. Du willst nie.« Sie setzte sich hin und wühlte erbost in einer Schreibtischschublade. »Verdammt, wo sind die Amtrak-Tickets für die Jessemys hin?«

Marylou kam zu ihr herüber. »Stoner, es tut mir so leid. Wirklich.«

Stoner verschränkte die Arme und starrte geradeaus. Ihr Mund war ein schmaler Strich. »Es könnte gefährlich sein, das weißt du.«

»Ich war gedankenlos.«

Stoner brummte in sich hinein.

»Du hast das Bild doch behalten, oder?«, fragte Marylou zaghaft.

»Ja, ich hab das Bild behalten.«

»Na ja …« Marylou zuckte die Achseln und malte mit der Fingerspitze verlegen kleine Kreise auf die Tischplatte.

Stoner schmolz. »Schon gut.« Sie blätterte die Flugkarten durch und setzte sich plötzlich kerzengerade auf. »Marylou, es sind keine Rückflugtickets dabei!«

»Ich wusste nicht genau, wann du zurückkommst.«

Stoner lachte. »Einen Moment lang dachte ich, du rechnest nicht damit, dass ich überhaupt wiederkomme.«

Marylou sah sie an. »Du hast Angst.«

»Darauf kannst du Gift nehmen.«

»Was soll dir denn passieren?«

Gereizt fegte sich Stoner die Haare aus dem Gesicht. »Rein theoretisch fahre ich da raus, um einen Mord zu vereiteln. Was also, glaubst du, kann mir passieren?«

»Tante Hermione muss doch wissen, dass alles gut wird.«

»Tante Hermione macht keine Sitzungen für Familienmitglieder oder sehr enge Freunde.«

»Oh«, sagte Marylou. Dann hellte sich ihre Miene wieder auf. »Besorg dir einen Revolver!«

»Mit einem Revolver kann ich nicht umgehen.«

»Das ist leicht. Du musst einfach an diesem kleinen Dings, das unten dranhängt … Nein?«

»Marylou, ich werde nicht mit einer Kanone durch Wyoming spazieren.«

»Warum denn nicht, das tun doch alle dort!«

Stoner stöhnte. »Nur im Film.«

»Also gut, was soll’s? Wahrscheinlich hat Mrs. Burton sich sowieso alles bloß eingebildet.«

»Hoffentlich.«

»Schreibst du mir?«

»Jeden Tag.«

Marylou nahm sie in den Arm. »Hey, die Veränderung wird dir guttun. Und denk nur an all die Schönheit …«

»Ich weiß«, sagte Stoner. »Ich wollte schon immer gern die Tetons sehen.«

»Eigentlich meinte ich nicht die Berge«, sagte Marylou.

Stoner McTavish

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