Читать книгу Stoner McTavish - Schatten - Sarah Dreher - Страница 7

Kapitel 2

Оглавление

»Musst du unbedingt lesen, während ich fahre?«

»Ich lese nicht«, sagte Gwen. »Ich schaue in die Karte.«

»Das ist dasselbe. Ehrlich, mir wird schlecht.«

»Ist gut.« Sie faltete die Karte zusammen. »Hast du dein Dramamin nicht genommen?«

»Wenn ich Dramamin nehme, schlaf ich ein und bekomme nichts von der Landschaft mit.«

Gwen lachte. »Welcher Landschaft?«

Sie durchfuhren gerade ein Verbindungsstück zwischen zwei der zahllosen Industrieviertel, die sich wie eine steinerne Kette von Boston nach Gloucester aneinanderreihten. Die Fabriken frönten ihrer jeweiligen Bestimmung: die einen der Verpestung der Luft, die anderen dem Verfall. Ein schmales Rinnsal sickerte schwerfällig neben der Autobahn entlang, auf der Oberfläche wabberte schmutziger Schaum.

»Weißt du«, sagte Stoner, »dass du zu den null Komma eins Prozent der Bevölkerung gehörst, die eine Straßenkarte wieder zusammenfalten können.«

»Vielleicht überreichen sie mir den Nobelpreis. Wo liegt denn dieses Castle Point überhaupt?«

»Außerhalb von Castleton.«

»Schlau.«

»Schätze, gut hundert Kilometer hinter Portland, Luftlinie. Schau auf die Karte.«

»Du hast mir doch eben gerade gesagt, ich soll nicht auf die Karte schauen.«

Die Windschutzscheibe beschlug. Stoner stellte das Gebläse an, das sofort stickige Hitze erzeugte. Sie stellte es ab und kurbelte ihr Seitenfenster runter. Der Wagen füllte sich mit nebliger Feuchtigkeit, die unter die Haut kroch. Sie kurbelte das Fenster wieder hoch, die Windschutzscheibe beschlug erneut. »Ich hasse Neuengland«, sagte sie mürrisch.

»Ja, Liebste«, sagte Gwen und förderte unter dem Beifahrersitz einen alten Fetzen Stoff zutage, mit dem sie die Scheibe abwischte. »Besser?«

»Danke.«

Ein Ford Scorpio überholte und spritzte sie dabei mit schwärzlichem Sodder voll. Sie schaltete die Scheibenwischer ein. Ölige Schlieren reduzierten die Sicht auf null. Sie drückte den Knopf für die Scheibenwaschanlage. Nichts passierte.

»Ich dachte, du hast dieses Auto gerade erst durchchecken lassen?«

»Hab ich auch.«

»Sie haben die Waschanlage nicht aufgefüllt.«

Gwen zuckte die Acheln. »Was erwartest du für 25 Dollar die Stunde?«

»Heutzutage legt niemand mehr Sorgfalt in die Arbeit.«

»Du hast hundertprozentig recht.«

»Sie sollten nicht so einfach damit durchkommen.«

»Auf gar keinen Fall.«

Sie attackierte den Knopf mehrmals, ohne Erfolg. »Ich hoffe, du hast dich deshalb beschwert.«

»Wie sollte ich mich deshalb beschweren?«, fragte Gwen. »Ich wusste doch nicht mal davon.«

»Du willst sagen, du bist in dein Auto gestiegen, losgefahren und hast nicht einmal überprüft, ob sie die Waschanlage aufgefüllt haben?«

»Das ist richtig.«

»Du musst den Leuten auf die Finger gucken, Gwen, andernfalls hauen sie dich ständig übers Ohr.«

»Vollkommen deiner Meinung.«

»Wenn sich alle beschweren würden, wäre viel erreicht.«

»Stoner«, sagte Gwen, »da vorne kommt ein Rastplatz. Nimm den bitte.«

Sie parkte den Wagen so weit entfernt wie möglich von einem rußspotzenden Diesel-LKW und zwei dreckverspritzten Wohnmobilen. Das hatte den Nachteil, dass sie jetzt vor einer überquellenden Mülltonne standen.

Gwen griff unter das Lenkrad und stellte den Motor aus. Sie zog die Wagenschlüssel ab, stieg aus, holte eine Flasche Scheibenwaschmittel heraus, drückte den Plastikdeckel hoch und füllte den Wasserbehälter auf. »Noch einen Wunsch, Lady?«, fragte sie und knallte den Deckel wieder auf die Flasche.

»Das hätt ich doch machen können«, sagte Stoner.

»Ich bin eine eigenständige Frau. Betrachte es als politische Aktion.« Sie setzte sich wieder ins Auto. »Tante Hermione hatte recht«, bemerkte sie, während sie ihren Sicherheitsgurt anlegte. »Morgens bist du unerträglich.«

Stoner ließ ihren Kopf aufs Lenkrad sinken. »Es tut mir leid.«

»Soll ich fahren?«

»Ich bring mich um.«

»Sieh dich hier doch mal genau um. Glaubst du, das würde hier irgendwen interessieren?«

Stoner sah sich um. »Gott, ist das alles übel.«

»Davon, dass wir hier herumsitzen, wird es auch nicht besser. Irgendwelche Vorschläge?«

Sie starrte auf die Autobahn hinaus, auf den nicht enden wollenden grauen Verkehrsstrom, der sich auf einer grauen Fahrbahn durch spritzendes graues Wasser furchte. Da hinein zurückzufahren hatte den Charme, als ginge man nackt in einem seichten Tümpel in der Mitte eines Autoschrottplatzes tauchen. »Castleton ist vermutlich ein grauenvoller Ort«, sagte sie. »Die Restaurants werden, sofern es überhaupt welche gibt, um diese Jahreszeit geschlossen sein. Wir werden bis Augusta fahren müssen, um ein Hotel zu finden. Das einzige, was offen hat, wird ein Schuppen der Howard-Johnson-Kette sein. Es wird nach dreckigen Teppichen riechen, und wir werden ein Zimmer ohne Heizung bekommen, direkt neben dem, in dem die örtliche Reggae-Band probt.«

»Das klingt nett«, sagte Gwen.

»Wir werden von halb aufgetauten Hamburgern zwischen klitschigen, grobgemahlenen Weizenbrötchen und schlaffem Krautsalat leben müssen. Dazu bekommen wir ›Star-Cola‹ und eine Salmonellenvergiftung.«

»Das wird nichts mit der Salmonellenvergiftung, das kannst du dir abschminken. Und ›Star-Cola‹ servieren sie auch nicht mehr. Vermutlich gibt es großartige Bibliotheken in Augusta, und ich liebe Reggae, und alle Hotels stinken nach dreckigen Teppichen.«

»Musst du eigentlich so vergnügt sein.«

»Was ist denn dabei, vergnügt zu sein. Wir machen Urlaub.«

Stoner schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir passen grundsätzlich nicht zusammen.«

»Nur morgens nicht.« Gwen legte ihre Hand auf Stoners Arm. »Was ist denn so furchtbar, Stoner?«

»Ich möchte so gern, dass alles schön wird.«

»Es wird schön werden.«

»Ich möchte, dass alles vollkommen wird.«

Gwen wuschelte Stoner durchs Haar. »Es wird schön werden. Wenn alles vollkommen wäre, was bliebe denn dann noch, wofür es zu leben lohnte?«

»Die Wiederholungen.«

»Du hast vielleicht Nerven. Es wird sein, wie es ist.«

»Du philosophierst.«

»Klar«, sagte Gwen, »ich bin schließlich auch nervös.«

»Warum?«

»Machst du Witze? Unser erster gemeinsamer Urlaub! Die Situation ist voller Risiken.«

Sie musste lachen. »Ich hoffe, wir kommen über die Runden.«

»Wir werden klarkommen. Diese Freundschaft wurde im Himmel geschlossen.«

»Eigentlich doch wohl eher in Wyoming«, bemerkte Stoner.

»Aufgestiegen wie ein Phönix aus der Asche meiner kurzen, zerbrochenen Ehe.«

»Du weißt, Gwen, dass ich mir wirklich gewünscht habe, es möge nicht so grauenvoll für dich enden.«

»Das war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich bitte dich, könntest du dein Leben mit einem Mann verbringen, dessen Auffassung von einem Hochzeitsgeschenk ein blassgrüner Renault ist?«

»Immerhin«, sagte Stoner, als sie den Motor startete, »haben die Dinger ’ne unglaublich hohe Kilometerleistung.«

Sie fädelte sich in den fließenden Verkehr ein, hängte sich eine Weile an einen LKW, überholte schließlich und reihte sich vor einem zigarrerauchenden, erfolgreichen Geschäftsmann mittleren Alters in einem schmutzigen Chevrolet ein. Als sie in den Rückspiegel blickte, stellte sie hochbefriedigt fest, dass seine Scheibenwaschanlage ebenfalls leer war.

Jenseits von Portland gelangten die Bäume gegenüber den Häusern in die Überzahl. Die Sonne brach durch den Nebel und spiegelte sich glänzend in Wassertropfen, die an den Spitzen der Kiefernnadeln hingen. Glitzernde Bäche, entstanden durch die erste Schneeschmelze des Frühjahres, sprudelten und tanzten über Wiesen aus niedrigem Gras. Möwenschwärme umkreisten unsichtbare Ziele und kreischten grundlos klagend.

Gwen warf einen flüchtigen Blick auf die Straßenkarte. »Ab hier müssen wir die B1 nehmen.«

Stoner steuerte die Ausfahrt an, bezahlte die Autobahngebühr und kurvte durch ein Gewirr von Überführungen, Unterführungen und Kreisverkehren, einzig und allein zu dem Zweck konzipiert, Chaos zu erzeugen und Touristen in die Knie zu zwingen. Sie bog in eine Straße ein, die mit ›B1 Norden‹ ausgeschildert war – obwohl ihr gesamter Instinkt und ihre Vernunft ihr sagten, dass sie eigentlich nur nach Süden führen konnte.

»Ich dachte immer, ich verfüge über einen guten Orientierungssinn«, sagte sie. »Aber jetzt, wo ich mich dieser Straßenführung ausliefern muss …«

»Es gibt nur zwei Richtungen«, sagte Gwen. »Die richtige und die falsche.«

Sie fuhren an einer heruntergekommenen kleinen Stadt vorbei, die aus Autofriedhöfen, Motorradgeschäften und Fabrikschornsteinen bestand.

»Bist du sicher, dass wir richtig sind?«

»Wenn wir den Schildern Glauben schenken dürfen.«

»Wenn wir in Kittery landen, bring ich mich um.«

»Vertrau mir«, sagte Gwen. »Ich hab mich noch nie verirrt.«

»Na, dann wird’s ja höchste Zeit.«

»Wenn wir in Kittery landen, drehen wir eben wieder um.«

»Es sind Leute nach Kittery gefahren, von denen hat man nie wieder etwas gehört.«

»Das stört mich nicht, solange es da ein Restaurant gibt. Ich verhungere.«

»Es gibt da schon Restaurants«, sagte Stoner, »aber sie liegen nicht an dieser Straße.«

Von Osten her kam Seitenwind auf und brachte den scharfen, modrigen Geruch von Ebbe mit sich. Die Stadt schrumpfte zu ein paar vereinzelten verwitterten Häuschen zusammen. Kein Verkehr, kein Lebenszeichen war zu sehen.

»Meinst du, es ist vielleicht etwas passiert, von dem wir nichts wissen?«, fragte Stoner.

»Zum Beispiel?«

»Super-GAU im Kraftwerk Seabrook?«

»Sie sind grad alle beim Mittagessen«, sagte Gwen. »Du erinnerst dich, Mittagessen?«

Ein festsitzender Knoten des Unbehagens machte sich in ihrem Magen bemerkbar. »Gwen, ich hab Angst vor Maine.«

»Dann lass uns nach New Hampshire fahren. In New Hampshire gibt es bestimmt Restaurants.«

»Wir müssen Pläne machen.«

»Pläne?«

»Für Schattenhain. Wir können da ja nicht einfach reinmarschieren und sagen: ›He, Sie, wo ist denn hier die Suite von Schwester Rasmussen.‹«

»Doch, eigentlich klingt das nach einer guten Idee«, bemerkte Gwen. »Vielleicht sitzen sie gerade beim Mittagessen.«

Stoner strich sich die Haare aus der Stirn. »Nancy hat gesagt, ihre Schwester erwähnte, dass es da etwas Sonderbares in Schattenhain gäbe.«

»Es ist eben ein Klinik für psychisch Kranke. Die sind immer ein wenig ›sonderbar‹.«

»Wir rufen vorher an«, entschied Stoner. »Behaupten, wir seien auf der Durchreise, alte Freundinnen von Claire Rasmussen. Wir tun so, als wüssten wir von nichts.«

»Wir wissen ja auch nicht viel.«

»Wir wissen, dass Nancy seit zwei Wochen nichts von Claire gehört hat. Auch nicht an ihrem Geburtstag. Wir wissen aber auch, dass Claire sich immer zu Nancys Geburtstag gemeldet hat.«

»Also hat sie ihn vielleicht vergessen.«

»Wenn sie behaupten, sie sei nicht da, werden wir hinfahren und uns mal umsehen.«

»Gut«, sagte Gwen, »das klingt richtig.«

»Wir müssen ein Gefühl für den Ort bekommen.«

»Warst du schon mal in einer psychiatrischen Klinik?«

»Nein, du?«

»Nein. Wie sollen wir ein Gefühl für den Ort bekommen, wenn wir überhaupt nicht wissen, was für ein Gefühl das sein könnte?«

Stoners Blick verfinsterte sich. »Wir müssen den Sprung ins kalte Wasser wagen.«

»Wunderbar«, sagte Gwen. »Das ist ein wirklich einfallsreicher, ausgetüftelter Plan. Strategisch gesehen einer der zehn besten aller Zeiten.«

»Er ist besser als der, den ich hatte, als ich nach Wyoming fuhr, um dich zu suchen.«

»Ich wurde in Wyoming nicht vermisst. Ich saß im Speiseraum des Hotels.«

»›Schattenhain‹«, sagte Stoner. »Findest du nicht, dass bei diesem Namen irgendwas Geheimnisvolles mitschwingt?«

»Nicht mehr als bei ›Glückstal‹ oder ›Sonnenhof‹.«

»Wenn wir keinerlei Auskunft bekommen, müssen wir …«

»Stoner«, sagte Gwen scharf, »nehmen wir gerade an irgendeiner religiösen Fastenkur teil, oder können wir irgendwo anhalten, um zu essen?«

»Was? Sicher. Irgendwo muss hier ja was offen sein.«

Sie kamen an einem Ferienort vorbei. Zwei Reihen identischer weißer Häuser, die sich auf einem freien Feld gegenüberstanden. In einiger Entfernung tauchte der Ozean auf. Sein unbewegter, blaugrauer Anblick rief Erinnerungen an Kinderheimaufenthalte an der Küste wach – an die dünne Schicht aus knirschendem Sand auf braunem Linoleum, Betten mit Eisengestell und weißen Überdecken, Duschkabinen mit Blechwänden und Bodenbelägen aus einem unidentifizierbaren Material, das sich an den Fußsohlen irgendwie schleimig anfühlte, und an schwere Plastikduschvorhänge, die unten über dem Boden schmutzig aussahen, als wären sie voller Rost oder altem Blut.

»Zu schade, dass Marylou nicht hier ist«, sagte Gwen.

»Marylou verreist niemals.«

»Aber sie isst

»Vielleicht ist alles nur ein Missverständnis«, sagte Stoner. »Wir kommen dort an und stellen fest, dass sie tatsächlich nur in Urlaub ist. Vielleicht ist Nancy nur hysterisch. Allerdings kam sie mir nicht so vor, als neige sie besonders zur Hysterie, und dir?«

»Ich kenn sie doch gar nicht«, sagte Gwen.

»Ach ja, richtig. Sie kam mir sehr jung und auch sehr sensibel vor, und schutzbedürftig.« Sie überlegte einen Moment. »Gwen, meinst du, ich kann Menschen gut einschätzen?«

»Besser als ich.«

Stoner sah sie an. »Bloß weil du einen Mann geheiratet hast, der nur dein Geld wollte, heißt das noch lange nicht, dass du keine Menschenkenntnis hast. Jede macht mal einen Fehler.«

»Ich nicht. Ich fabriziere nur gigantische Irrtümer.«

»Gut«, sagte Stoner, »vielleicht wirst du’s so los. Einmal ein gigantischer Irrtum und ab dann ist’s ein gemütlicher Spaziergang.«

»Da waren drei Restaurants in der Stadt, durch die wir gerade gefahren sind«, sagte Gwen sehnsüchtig.

»Tut mir leid. Wir halten in der nächsten, versprochen.« Sie trat das Gaspedal fester durch. »Die Frage ist doch, wenn Claire irgendetwas zugestoßen ist, warum? Wenn es ein Unfall war – sie ist in den Ozean gefallen oder so was –, warum vertuschen? Sie ist erst zwei Monate in Schattenhain. Wie viele Feinde kannst du dir in zwei Monaten machen?«

»Hunderte«, warf Gwen ein, »wenn du sie verhungern lässt.«

»Also geht vielleicht irgendetwas Ungesetzliches in Schattenhain vor sich, und Claire hat es bemerkt, und sie mussten sie zum Schweigen bringen.«

Gwen warf sich zu Stoner rüber und biss ihr ins Handgelenk.

»Um Gottes willen, Gwen. Willst du, dass ich gegen einen Baum fahre?«

»Hunger!«, schrie Gwen.

Stoner brachte den Wagen zurück in die Spur. »Deshalb sollten wir, wenn wir in Castleton sind, auf verdächtige Vorgänge achten.«

»Jetzt weiß ich, was das hier wird«, jammerte Gwen, als etwas, das ›Die Kochmütze‹ hieß, ausgestattet mit Sitzbänken, Tischchen und servierbereiten Kellnerinnen, vorbeirauschte. »Die Suche nach Erleuchtung. Wir werden so lange weiterfahren, ohne Essen, ohne Schlaf, bis wir Halluzinationen bekommen.«

»Wieso hast du bloß schon wieder Hunger?«, fragte Stoner. »Wir haben doch eben erst gefrühstückt.«

»Wir haben um 7 : 45, Digitalzeit, gefrühstückt. Jetzt ist es 13 : 30.«

»Oha.« Sie gewahrte ein kleines Betongebäude, etwas weiter vorne. Ein Neon-Schriftzug flackerte hinter der Fensterscheibe wie ein sterbendes Glühwürmchen. Sie stemmte sich in die Bremsen, lenkte auf den Parkplatz und schaute sich um. »Ich weiß nicht, es wirkt ein bisschen ärmlich.«

»Mich würd’s nicht mal stören, wenn es dekadent wäre«, sagte Gwen und sprang aus dem Wagen. »Hauptsache, sie haben was zu essen.«

Stoner betrachtete Gwen, die voranging, und seufzte.

Ich bin verliebt.

***

»Verloren«, sagte Gwen.

Stoner zeigte auf eine verfallene Scheune am Straßenrand. »Das erinnere ich. Hier sind wir vorhin vorbeigekommen.«

»Soso. Da waren wir also auch schon verloren.«

Gwen hielt unter einem rostigen Pfeiler, der eine Straßengabelung markierte. Rankender Efeu verdeckte das Schild am oberen Ende des Pfeilers. »Kannst du lesen, was da steht?«

Stoner stieg aus und blickte nach oben. »Da steht Castleton.«

»Welche Richtung?«

»Rechts lang.«

»Welche Richtung sind wir letztes Mal gefahren?«

»Links, glaube ich.« Sie stieg wieder ins Auto. »Soll ich fahren?«

Gwen ließ den Motor an. »Stoner, mein Engel, da müsste erst der Tag kommen, an dem es in der Hölle schneit, bevor ich dich noch mal fahren lasse, besonders kurz vorm Essen.«

Mein Engel. Sie hat mich ›mein Engel‹ genannt.

»Ich schätze«, fuhr Gwen fort, »du bist die einzige Überlebende der Donnertruppe.«

»Was ist das?«

»Eine Gruppe Pioniere, die so besessen davon waren, die Goldfelder zu erreichen, dass sie versucht haben, die Wüsten im Winter zu durchqueren. Sie gerieten in einen Blizzard und verspeisten sich gegenseitig.«

»Na so was«, sagte Stoner. »Ich hätte gedacht, sie seien zu schwach für Sex gewesen!«

»Stoner McTavish! Das ist das Verdorbenste, was ich dich jemals hab sagen hören.«

»Wart’s ab«, sagte Stoner. »Ich kann sogar richtig derb werden.«

Sie rasten an überwinternden Feldern und Knäueln aus Brombeergestrüpp vorbei und ließen Farmhäuser in einer ganzen Palette verwaschen weißer Anstriche hinter sich. Kraftloses Elend. Scheunen mit zersplitterten Stützbalken, Fenster, die den Himmel reflektierten oder nach innen geöffnet zu schwarzen Löchern geworden waren.

»So was wie das hier würdest du im Süden niemals zu sehen bekommen«, sagte Gwen. »Es würde sofort dem Erdboden gleichgemacht werden. Ich weiß von Leuten, die fuhren übers Wochenende weg, und als sie zurückkamen, war ihr Haus kurzerhand verschwunden.«

»Keine schlechte Idee.« Stoner schaute sich besorgt um. »Meinst du, Castleton ist auch so?«

»Ich bezweifle es. Das hier ist doch nur ein Trick, um Kunstmalerinnen anzulocken.«

»Aber wo sind dann die Künstlerinnen.« Sie sackte tiefer in den Beifahrersitz. »Gwen, ich fürchte, ich bin etwas nervös.«

»Nervös! Du bist schon die ganze Zeit das absolute Nervenbündel. Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist, dass du durch die Decke gehst.«

»Es ist nur … Ich hab ein ungutes Gefühl bei dieser Gegend.«

»Die Menschen, die hier leben, haben vermutlich ebenfalls dieses ungute Gefühl. Falls hier welche leben.« Sie sah Stoner an. »Kriegst du Alpträume davon?«

»Kann sein.«

»Alpträume können dir nichts anhaben, Stoner.«

»Sie können, wenn sie Vorahnungen sind.« Der Wagen überquerte eine schmale Brücke und erklomm einen Bergkamm. »Oh Mann, wir haben Castleton gefunden.«

Das Meer lag vor ihnen. Träge wie Blei. Schäfchenwolken schwebten über dem Wasser. Der Horizont war unsichtbar in Nebel getaucht. Richtung Osten war das Land eben, zog sich in bräunlichen Feldern an einem kleinen, schlammfarbenen Bach entlang. Das Städtchen Castleton kauerte sich ans flache Meeresufer. Vier rostverkrustete Fischerboote, um eine Boje herum vertäut, schaukelten verlassen auf und ab.

Am südlichen Ende der Stadt stieg das Land schroff an, formte sich zu einer felsigen, bewaldeten Halbinsel, die sich wie der Kamm eines arroganten Hahnes dem Ozean entgegenstreckte. Ein paar große, zerfallende Häuser klebten an den Felsen entlang der Straße, die sich zu einem matschigen Weg verschlechterte, als sie den Waldrand erreichte. Wellen klatschten unbarmherzig an den Fuß der Klippen. Draußen über dem Meer bildete sich eine Nebelbank, bewegte sich auf die Küste zu, griff nach dem Land mit silbrig samtenen Fingern.

»Gute Göttin«, hauchte Stoner.

»Allerdings«, sagte Gwen. Sie schaute auf die Karte. »Das muss der Castle River sein. Castle Bluffs. Castle Point. Der Fluss zum Schloss, das Kliff zum Schloss und der Aussichtspunkt zum Schloss, alles da, fehlt uns eigentlich nur noch das Schloss selbst.« Sie setzte das Auto wieder in Gang. »Ich hoffe, du bist bereit. Shirley Jackson hätte es geliebt.«

Nein, ich bin nicht bereit. Irgendwas ist falsch, irgendetwas stimmt nicht mit dieser Gegend. Und alles ist so vertraut. »Ich kenne diese Stadt«, flüsterte sie.

Gwen nickte grimmig. »Ich auch. Als ich ein ganz kleines Mädchen war, zog eine Zigeunerin über die Jahrmärkte bei uns und prophezeite mir, mich werde mein Schicksal in einer Gegend ereilen, die dieser verdächtig ähnlich sieht.«

»Mach keine Witze.«

»Doch, ich denke, das sollten wir besser.«

Sie hatte kaum ausgeredet, als sich die Stadt prahlerisch in Szene setzte. Ein baufälliges Lebensmittel- und Spirituosengeschäft inklusive Drahtgittertür und fliegenverklebten Paralstrips vom letzten Sommer, ein Café, einladenderweise ›Die Seegurke‹ genannt, eine Bar, ein von den MGM-Filmkulissen übriggebliebener Drugstore, eine Tankstelle mit zwei Zapfsäulen, etwa 1947, und ein mit rosa Stuck verziertes Hotel vierter Klasse, das behauptete, die ›Herberge zum Ostwind‹ zu sein. Langsam fuhren sie die Straßen auf und ab, auf der Suche nach einem Zeichen menschlichen Lebens.

»Vermutest du auch«, sagte Gwen, »dass sie bei Vollmond aus ihren Särgen steigen?«

Ein Münztelefon unter einer Kunststoffblase stand am Straßenrand, der Hörer baumelte unbenutzt herum, die dünnen Telefonbuchseiten flatterten im Nachmittagswind. Der einzige sichtbare Hinweis auf eine moderne Zivilisation.

»Was, glaubst du, haben die Einwohner damit gemacht?«, fragte Stoner.

»Sie hielten es vermutlich für einen Außerirdischen und haben es erschossen.« Gwen bog mit dem Wagen in eine andere graue Straße ein. »Weißt du, was wir machen sollten?«

»Was?«

»Davonrennen, so schnell die Füße uns tragen.«

Der Nebel begann sich ums Auto zu wickeln. Er stieß an die Scheiben und wulstete sich über die Motorhaube.

Stoner räusperte sich den Hals frei. »Sollen wir Schattenhain suchen oder uns erst im Hotel anmelden?«

»Nachdem ich das Hotel bereits gesehen habe, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich Schattenhain überhaupt noch kennenlernen möchte.«

»Wenn wir zu lange warten, sind die Zimmer vielleicht schon alle vergeben.«

»An wen?«

Gwen wendete, um zurück ins Stadtzentrum zu fahren. Nachdem sie in irgendeine Straße eingebogen war, rollten sie ein paar Blocks weit an Häusern mit grauen Mauerschindeln vorbei. Die vorgebauten Veranden hatten ziemliche Schlagseite und wirkten, als ob sie sie belauschten. Gwen versuchte es mit einer anderen Straße und noch einer anderen. Nichts.

»Gut«, sagte sie. »Was machen wir jetzt?«

»Das Hotel muss hier irgendwo sein. Wir haben es doch schon gesehen.«

»Haben wir?«

Verwirrt kaute Stoner auf ihrer Unterlippe herum. Wir können uns nicht schon wieder verirrt haben. Nicht in einer Stadt dieser Größe. Und wir haben Castleton mit Sicherheit nicht wieder verlassen. Da ist ›Die Seegurke‹, da der Drugstore, der Stadtpark …

Sie bemerkte ein verblasstes, fast umgefallenes Schild, das in einer Schneewehe stak. ›HERBERGE ZUM OSTWIND, erste Straße rechts‹.

»Stoner«, raunte Gwen, »vor zehn Minuten stand das Schild noch nicht da.«

»Lass das«, antwortete Stoner. »Es ist auch so schon gruselig genug.«

»Gruselig trifft es nicht mal ansatzweise.«

Das Hotel lag etwas zurückversetzt an der Straße, so dass der Platz gerade für eine Reihe vorsichtig diagonal geparkter Fahrzeuge, eine einspurige Zufahrt und eine dünne Reihe aus verwelkten Ringelblumen reichte. Eine Neonschrift, die sich HE BERG UM O TWI D las, lugte an einer Ecke des Hauses hervor. Hinter Panoramafenstern erinnerten verbogene und zerkratzte Metalljalousien an Zäune aus knorrigen dünnen Zweigen. Die Sturmschutztür eines Stockwerkes stand offen. Die Tür dahinter sah aus, als würde sie nur noch durch eine Glasscherbe in Form gehalten.

Stoner zögerte. »Das macht keinen sehr vielversprechenden Eindruck. Vielleicht sollten wir es irgendwo anders versuchen.«

»Wo irgendwo anders? Wenn wir Castleton den Rücken kehren, werden wir es nie wiederfinden. Vermutlich taucht es nur alle hundert Jahre aus der See auf, wie Brigadoon. Wenn es zu schrecklich ist, können wir morgen immer noch weiterfahren.«

»Na gut«, sagte Stoner widerwillig, »ich schätze, uns bleibt nichts anderes übrig. Möchtest du den offiziellen Teil erledigen?«

Gwen lugte zur Tür des Empfangsbüros und schnitt eine Grimasse. »Nur dieses eine Mal noch bist du der kesse Vater. Um der guten alten Zeiten willen.«

Das Empfangsbüro war leer, die Tür verschlossen. Ein drei mal fünf Zentimeter großes Pappkärtchen steckte in der Ecke einer Glasscheibe und versprach, dass irgendwer ›bald zurück‹ sein würde.

»Die entscheidende Frage«, bemerkte Gwen, nachdem Stoner ihr Bericht erstattet hatte, »ist nur, ob dieses ›bald‹ als ›vor dem Abendessen‹ oder als ›Ende Mai‹ zu interpretieren ist.«

Stoner rieb sich den Nacken. »Ich meine, wir könnten ein bisschen Zeit damit totschlagen, mal zu schauen, wo Schattenhain liegt. Es muss irgendwo da an der Straße beim Ozean sein.«

»Ich frag mich«, sagte Gwen, als sie den Wagen anließ, »ob jemals eine, die diese Straße genommen hat, zurückgekehrt ist.«

»Mach das nicht, Gwen, bitte.« Da war ein seltsames Kribbeln unter ihrer Haut. Ein Frösteln breitete sich zwischen ihren Schulterblättern aus.

»Ich find das ehrlich komisch.«

»Ich nicht.«

»Was stimmt denn nicht?«

»Ich glaube, ich weiß, wie Schattenhain aussehen wird.«

Gwen klopfte versichernd auf Stoners Hand. »Wir wissen beide, dass es sich vermutlich um das Versatzstück eines antiken Horrordramas handelt. Egal, der ›Ratgeber für durch Terror und Übersinnliches in Not Geratene‹ sagt, die beste Verteidigung ist flockig-lockeres Auftreten.«

»Flockig-locker«, grummelte Stoner. »Du bist genauso schlimm wie Marylou.«

»Und du«, sagte Gwen, »hast wieder deine typische Steinbock-Zauderei.«

»Ist gut, ist gut. Also los, stellen wir uns dem verdammten Ding.«

Das erste Haus an der Klippenstraße entpuppte sich als unsägliches Machwerk. Hoch, breit, mit Schindeln gedeckt, hockte es als wuchernder, amorpher Klumpen aus lehmartiger Masse am Rand der Klippen. Eine Steinmauer, deren eigentlicher Zweck einst gewesen sein musste, Spaziergänger vor einem Sturz in die Tiefe zu bewahren, war nun ihrerseits zerbröckelt und teilweise ins Meer gestürzt. Durch den Nebel und das Zwielicht der einsetzenden Dämmerung wirkten die Fenster des Hauses leer wie die Augen einer Toten. Ein paar Seemöwen schwebten über dem Dach, erwogen kurz, sich niederzulassen, und beschlossen dann, sich lieber nach gastlicheren Gefilden umzusehen.

»Lass uns gucken, ob sie Fremdenzimmer vermieten«, schlug Gwen vor.

»Hier?«

»Ich liebe es. Jede Wette, dass es hier spukt.« Sie stieg aus, machte ein düsteres Gesicht und zitierte geheimnisvoll:

»Dann blieb es Nacht und nimmer ward es Tag

In dieser Öde, welche bleischwer lag

Auf jedem Herz, dass dessen Saft und Kraft

Gefror im selbstischen Gebet um Licht!«

Stoner musste lachen. »Wo hast du denn das her?«

»Lord Byron.« Gwen drehte sich um und rannte zum Haus.

»Verrückte!«, rief Stoner ihr hinterher.

Minuten verstrichen. Der Himmel wurde dunkler, der Nebel dicker. Falls Menschen in diesem Haus leben, müssten sie jetzt eigentlich Licht anmachen. Das alte Familienfaktotum schlurft auf arthritisgeplagten Beinen von Zimmer zu Zimmer, hält Streichholz um Streichholz mit zittrigen Fingern an die Dochte der Kerosinlampen, zieht von der Zeit verschlissene Vorhänge zu, tapert zurück in den Bedienstetentrakt, während seine Knie bei jedem Schritt knirschen und knacken.

Verdammt, wo bleibt sie?

Sie stieß die Wagentür auf und wollte gerade aussteigen, als Gwen um die Verandaecke bog.

»Niemand zu Hause.«

»Ich dachte schon, du hättest beschlossen, reinzugehen.«

»Es dauert eben etwas, in jedes Fenster zu spähen.« Sie ließ den Motor an.

Die Klippenstraße stieg an und wurde zusehends schmaler, als sie weiter in Richtung Castle Point fuhren. Einige der Häuser an der Straße waren unbewohnt und unbewohnbar. Hier eine zusammengebrochene Veranda, da ein teilweise eingefallenes Dach. Ein Haus war ausgebrannt. Die Flammen hatten schwarze Rußschlieren hinterlassen, die sich wie Finger um die zerbrochenen und vor sich hin rottenden Mauerschindeln klammerten. Ein Schornstein stand einsam auf einer schmalen Lichtung. Höfewurden von wildwuchernden Himbeersträuchern und vertrocknetem Gestrüpp erstickt. Der Ozean nagte an den Felsklippen.

»Also?«, fragte Stoner nach einer Weile.

»Was also?«

»Was ist mit dem Haus von eben?«

»Zu«, sagte Gwen. »Ausgenommen ein Trakt, in dem sie am Wochenende ein Restaurant namens ›Hafenschänke‹ betreiben. Ich konnte nicht hineinsehen.«

»Keine Gespenster?«

»Keine sichtbaren.«

»Ich hoffe, ich hab dir nicht den Spaß verdorben.«

»Nebenbei«, sagte Gwen, »die Flotte ist eingelaufen. Die Bucht ist voller Fischerboote.«

»Ebenfalls nicht bewohnt, nehme ich an«, sagte Stoner und versuchte mitzuspielen.

»Nicht von Leben, wie wir es kennen. Findest du es nicht seltsam, dass wir nicht gehört haben, wie sie reingekommen sind? Und auch nichts gesehen haben?«

»Das Einzige, was in dieser Gegend seltsam wäre, wäre, einen Menschen zu sehen. Oder zu hören.«

Am Waldrand verwandelten sich Straße und Asphalt in einen schmutzigen Weg, der alle Freuden von Furchen und Schlaglöchern in sich vereinte. Gwen drosselte die Geschwindigkeit auf ein Kriechen. Das Zwielicht wirkte jetzt, als ließe es sich anfassen. Es sammelte sich im Nebel und schlierte über die Windschutzscheibe wie flüssige Nacht. Totes Gras glühte im Halbdunkel.

Ein Drahtgitterzaun tauchte am Wegrand auf.

Stoner verhielt sich völlig ruhig, Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie fühlte sich, als ob sie vom Auto in etwas hineingeschoben würde, was sie auf keinen Fall konfrontieren wollte. Etwas, was sie nicht sehen wollte, etwas, was sie auf eine Art und Weise ängstigte, wie sie noch nie zuvor etwas geängstigt hatte. Sie wollte Gwen sagen, sie solle wenden, zurückfahren, weg von Castle Point und Castleton und Schattenhain und von allem, was hier vor sich ging.

Die Worte wollten nicht heraus.

Sie beobachtete den vorbeigleitenden Wald.

Es war fast dunkel, als sie die Einfahrt erreichten. Das Tor war verschlossen. Ein Schild verkündete unfreundlich: »Schattenhain. Privat. Zutritt verboten. Polizeiüberwachung.«

»Netter kleiner Ort«, stellte Gwen fest. »Ich frag mich, was das heißt, ›Polizeiüberwachung‹. Haben sie der Polizei gesagt, sie soll das Gelände überwachen, oder teilen sie uns mit, dass sie von der Polizei überwacht werden.«

Sie stieg aus und rüttelte am Vorhängeschloss des Tores. Es gab nicht nach.

Hinter dem Zaun machte die Zufahrt einen Bogen und verschwand im Wald.

Gwen zuckte die Achseln und kehrte zum Wagen zurück.

»Trostlos. Eine Verwahranstalt für verirrte und verzweifelte Seelen. Ich brauche ein heißes Bad und einen guten, steifen Drink.«

»Lass uns von hier verschwinden«, brachte Stoner heraus, »bevor sie die Dobermänner loslassen.«

Gwen wendete den Wagen. »Also, was darf ’s denn sein. Die behagliche Heruntergekommenheit der Seegurke oder die ausklingende Eleganz der Hafenschänke?«

Stoner drückte sich in einen Winkel des Sitzes und blickte düster auf die nassen Blumen und Gräser, die auf dem Weg standen. »Hafenschänke.«

»Die ›Hafenschänke‹ soll’s sein.« Gwens Gesicht schimmerte, sanft angestrahlt von der Amaturenbrettbeleuchtung. Ihre Hände ruhten leicht auf dem Lenkrad. Während sie sie beobachtete, merkte Stoner, dass ihre Angst sich zurückzog.

Ich will sie.

Nicht unbedingt jetzt gleich, nicht unbedingt für dieses Wochenende, nur für den Rest meines Lebens.

***

»Auf jeden Fall sind sie konsequent«, sagte Gwen, als sie sich im Motelzimmer umblickte. »Die ›Heberg um Otwid‹ ist innen genauso mies wie außen.«

Stoner ließ die verbeulte Aluminium-Sturmschutztür hinter sich zuknallen. »Ich kenne dieses Zimmer aus einem alten Film. Ich glaube, es war Früchte des Zorns

»Auch die Preise tragen die Anzeichen einer Depression. Immerhin, sie schätzen ihren tatsächlichen Wert wenigstens richtig ein.«

Die Wände waren in dem grausigen Grau durchgekauter Kaugummis gehalten. Fleckige und verschlissene, schlecht geflickte grüne Überdecken bedeckten die beiden Einzelbetten, und ein Teppichläufer trieb als einsames Elend auf einem See aus gepunktetem Linoleum. Ein schäbiges Fenster zwischen den Betten schaute hinaus gegen eine schwarze Wand. Es gab ein Telefon und ein aufgeplatztes gelbes Plastikradio, das geradezu nach dem Recycling-Container schrie. Das Schild im Empfangsbüro hatte ›Klimaanlage‹ versprochen, und in der Tat, es herrschte ein scharfer Luftzug, der von nirgendwo im Besonderen, aber von überallher im Allgemeinen kam.

Gwen warf ihren Koffer aufs Bett.

»Wir könnten nach Augusta fahren«, schlug Stoner vor.

»Erzähl keinen Quatsch. Ich hab schon üblere Sachen gesehen als das hier.« Gwen neigte ihren Kopf nachdenklich zur Seite. »Ich habe die Umstände verdrängt.«

»Es ist sauber«, sagte Stoner hoffnungsvoll.

»Nicht ganz«, rief Gwen aus dem Badezimmer. »In der Badewanne wächst irgendetwas.«

Sie schnatterte vor Eiseskälte und suchte die Heizung. In der hintersten Ecke stand ein altertümlicher, geschwärzter Gasbrenner. Stoner kniete sich davor und begutachtete ihn.

»Was tust du da?«, fragte Gwen.

»Ich versuche rauszukriegen, wie sich dieses Ding anstellen lässt, ohne dass wir in die Luft gepustet werden.«

Die Bedienungshinweise befanden sich auf einem Fetzen Papier, der unten an dem Brennertürchen pappte. Unglücklicherweise waren die Buchstaben bis zur Unkenntlichkeit versengt und vermutlich sowieso auf Japanisch geschrieben. Sie kam wieder hoch auf die Füße.

»Wartest du auf eine Eingebung?«

»Nimm dein Bad«, sagte Stoner.

Gwen schauderte. »Nicht in der Wanne. Ich ziehe es vor, alleine zu baden.«

»Und ich ziehe es vor, mich alleine zur Idiotin zu machen. Könntest du also bitte etwas Nützliches tun?«

»Als da wäre?«

»Uns einen Drink machen.«

»Woraus?«

»Häh?«

»Woraus soll ich uns einen Drink machen?«

»In meinem Koffer.«

Sie entdeckte einen Regler, der auf null gedreht war. Daneben einen Knopf, rot. Und ein Röhrchen mit einem Loch. Offensichtlich dreht man am ersten, drückt am zweiten und hält ein Streichholz in das dritte. Aber in welcher Reihenfolge? Und was passiert, wenn man die falsche erwischt?

»Fertig gemixte Manhattans?«, sagte Gwen und hielt entgeistert die Flasche hoch. »Stoner, das ist abscheulich.«

»Da ist auch noch irgendwo Bourbon für dich. Ich hatte die Vorstellung, es würde uns gelingen, irgendwo Ginger Ale für dich aufzutreiben, aber das war ein etwas voreiliger Gedanke.«

»Das war ganz süß von dir.«

»Es ist das Mindeste, was ich für dich tun kann. Ich will einfach nicht glauben, dass ich dir das hier zumuten muss.«

»Erstens«, sagte Gwen, »hast du den Bourbon eingepackt, bevor du die ›Heberg um Otwid‹ kanntest. Zweitens wärest du sofort wieder abgereist, wenn ich drum gebeten hätte. Und nicht zu vergessen: Du bist schuld, dass ich zur Trinkerin werde.«

Stoner grinste sie von unten an. »Jawoll, und mir geht’s genauso. Ich glaube, ich hab eine Eiswürfelmaschine unten neben der Bürotür gesehen. Also, troll dich. Aber pass auf dich auf. Vielleicht lauert da draußen die Gefahr.«

Sie entzündete ein Streichholz und drückte den Knopf. Nichts passierte. Na gut, Knopf drehen und noch mal versuchen. Es gab ein kraftlos zischendes Geräusch und das Streichholz wurde ausgepustet.

Sie grummelte leise vor sich hin, als Gwen zurückkam und ihr einen Drink in die Hand drückte. Stoner betrachtete missbilligend das Glas. »Sieht reichlich fertig aus.«

»Das ist erst der Anfang. Warte ab, bis du nähere Bekanntschaft mit der Badewanne gemacht hast.«

Sie entzündete ihr letztes Streichholz und hielt den Atem an. Nach einer kurzen Sonate aus Knallen, Rattern, Zischen und einem beängstigenden ›Popp‹, ging die Flamme an.

»Hah«, sagte sie und nahm einen Schluck.

»Wie hast du das gemacht?«

»Zen.« Sie nippte an ihrem Drink, betrachtete Gwen und wollte sie. »Ich geh jetzt besser duschen.«

»Behaupte nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, sagte Gwen.

***

Wer auch immer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, kalte Duschen wären das Rezept gegen Geilheit, war entweder ein Narr oder ein Lügner, dachte sie, als sie dem aus einem Puppenhaus stammenden Seifenbröckchen auf dem Boden der Badewanne nachjagte.

Du solltest lieber eine Möglichkeit finden, dich in den Griff zu kriegen.

Ich könnte die Ofenklappe schließen, das Abzugsrohr dicht machen und der Glut beim Sterben zugucken.

Kannst du?

Jederzeit.

Na, warum machst du’s dann nicht.

Weil ich es liebe. Ich liebe diesen kleinen Schauer in meiner Magengrube, jedes Mal, wenn ich Gwen ansehe.

Du wirst gerne frustriert?

»Wo steht geschrieben«, fragte sie laut, »dass jedes Prickeln infolge von Erregung gleich konsumiert werden muss.«

»Stoner«, rief Gwen durch die Tür, »ist da irgendwer bei dir?«

»Nein.«

»Mit wem sprichst du?«

»Mit mir.«

»Soll ich dir den Rücken schrubben?«

»Himmel, nein!«

»Wieso nein?«

»Ich hab nichts an!«

Sie hörte Gwen lachen. »Gute Güte, Stoner, manchmal frag ich mich wirklich, ob du noch alle Tassen im Schrank hast.«

Alles, was mir jetzt noch fehlt, ist, von diesen Händen auf meiner nackten Haut berührt zu werden, und …

Schnell duschte sie zu Ende.

Gwen lungerte auf dem Bett herum, vor sich ein aufgeschlagenes Telefonbuch. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt ein pastellblaues Hemd, darüber einen anthrazitfarbenen Pulli.

»Jedes Mal, wenn du dich umziehst«, sagte Stoner, »siehst du anschließend noch aufsehenerregender aus.«

»Im Gegensatz zu dir. Du hast dich falsch zugeknöpft.«

Stoner sah an sich hinunter.

»Komm her«, Gwen streckte ihr die Hand entgegen.

Stoner schlurfte zum Bett und setzte sich hin.

»Du musst aufhören, solche Sachen zu mir zu sagen«, bemerkte Gwen, während sie die Knöpfe in ihre richtigen Positionen brachte. »Du verdrehst mir den Kopf.«

»Aber es ist die Wahrheit.«

»Hast du dich in letzter Zeit mal selbst genau angesehen?«

Stoner zuckte die Achseln und fühlte einen kleinen Stromstoß, als Gwens Hand ihren Busen streifte.

»So«, sagte Gwen. »Jetzt kannst du dich wieder unter die Menschheit wagen. Lass uns was essen gehen.«

»Wir müssen vorher in Schattenhain anrufen.«

»Schon erledigt.«

»Was haben sie gesagt?«

»Claire ist nicht da.«

»Im Urlaub?«

»Einfach nicht da.«

»Seltsam«, sagte Stoner. »Nancy haben sie gesagt, Claire sei im Urlaub. Mit wem hast du gesprochen?«

»Irgend ’n Mann, nicht sehr gut zu verstehen. Und nicht sehr geneigt, ein Schwätzchen zu halten. Ist dir irgendwann mal der Gedanke gekommen«, fragte Gwen, während sie nach ihrem Regenmantel griff, »dass Claire vielleicht versucht, ihrer Schwester aus dem Weg zu gehen?«

»Den Eindruck hatte ich nicht nach dem Gespräch mit Nancy. Sie sagte, Claire habe bei ihrem letzten Anruf angedeutet, sie sei ›hinter etwas her‹, und habe dann schnell eingehängt.«

»Sie war doch auch schon vorher hinter etwas her, oder nicht? Drogen?«

»Nancy sagt, Claire hat mal Leute gekannt, aber selbst nichts genommen.«

»Wenn ich drogenabhängig wäre«, bemerkte Gwen, »würd ich es nicht ausgerechnet meiner Schwester erzählen.«

»Du hast keine Schwester.«

Gwen warf Stoner ihren Parka zu. »Na gut. Ich hab ihr ausrichten lassen, sie soll hier zurückrufen, wenn sie wiederkommt.«

»Welchen Namen hast du hinterlassen?«

»Den einzigen, den ich habe. Meinen.«

»Glaubst du, das war sehr geschickt?«

»Warum nicht?«

»Sollte da wirklich etwas Merkwürdiges vor sich gehen, wäre es mir lieber, sie wüssten nicht, wer du bist.«

»Hör auf mit dieser Räuberpistole, Stoner. Die Sache steigt dir langsam zu Kopf.«

»Vermutlich.« Sie zog den Parka über und ging zur Tür. »Hast du den Zimmerschlüssel?«

»Schätzchen«, sagte Gwen, »willst du wirklich barfuß rausgehen?«

***

Der Nebel lag über allem wie eine bösartige Wolke. Gwen zog ihren Mantel fest um sich und fröstelte. »Diese Gegend wird von Minute zu Minute ungemütlicher. Kein Wunder, dass sie niemals ihre Häuser verlassen.«

»Das liegt bestimmt nur an der üblichen Niedergeschlagenheit, die Fischerdörfer im ausklingenden Winter immer verbreiten«, sagte Stoner im Bemühen um Tapferkeit. »Kommt erst mal der Frühling, machen sie bestimmt trubelige Häuser-frisch-anstreich-Partys und tanzen bis November in den Straßen.«

»Genau.«

Die Straßenlaternen formten gelbe Daumenabdrücke gegen die Dunkelheit. Der Stadtkern war völlig ausgestorben. Nur der Drugstore war noch offen, schüttete sein Licht auf den glitzernden Bürgersteig. Ein mattes bläuliches Glühen sickerte aus dem Inneren der ›Seegurke‹ nach draußen. Nebelfetzen hatten sich im kahlen Geäst der Bäume verfangen. Irgendwo draußen auf dem Meer tutete ein Nebelhorn ein Warnsignal.

Gwen fuhr zusammen. »Genau, was wir brauchen«, sagte sie und drängte sich dichter an Stoner. »Wie der Fliegende Holländer werden wir jetzt für immer durch den Nebel irren – auf der Suche nach der ›Hafenschänke‹.«

»Sie liegt auf der anderen Seite der Stadt, am Ende dieser Straße.« Die Luft roch nach vergammelten Weichtieren. »Immer der Nase nach.«

Kahle Ulmen ragten wie gesprungene Pilsner-Biergläser in den Himmel. Holzbänke schimmerten vor Feuchtigkeit.

»Abkürzen?«

Stoner versuchte das Gefühl abzuschütteln, gerade eine Vorahnung zu haben. »Ich weiß nicht.«

»Woran denkst du? An Werwölfe?«

»Zu wenig Büsche. Werwölfe verstecken sich immer hinter Büschen. Sie liegen hinter ihnen auf der Lauer.«

»Und wo bitte«, fragte Gwen, »hast du dieses nützliche Schnipselchen Wissen aufgeschnappt?«

»Spielfilm im Nachtprogramm.«

»Und ich befürchtete schon, Tante Hermione hätte angefangen, ein bisschen mit Schwarzer Magie herumzuspielen.«

»Tante Hermione spielt nicht mit ihrem Karma herum. Sie versucht, es rein zu halten.«

»Stoner, bist du jemals in Versuchung gekommen, Hexenzauber auszuprobieren?«

»Noch nie. Außerdem hab ich nicht das nötige angeborene Talent dafür.«

»Ich denk manchmal drüber nach«, sagte Gwen, »wenn alles aussichtslos scheint.« Sie löste sich von Stoner und stürmte ein paar Meter in Richtung der Straße voran. »Nun komm schon, ich wette, es gibt hier einen ›Christliche Frauen üben Enthaltsamkeit‹-Springbrunnen.«

Richtig, es gab einen Springbrunnen. Gewaltig, ornamentreich und scheußlich. Gemeißelte Wellen kräuselten sich um seinen Fuß, warfen sich hinauf, erschufen eine Säule aus ihrer Brandung, in der sich Delfine in selbstmörderischen Sprüngen verewigten. Obendrauf die Statue einer alten Frau, die auf die See hinausblickte.

Stoner sah hinauf in das grausame, augenlose Gesicht der Statue. »Kein Wunder, dass ihr Mann nie zurückgekommen ist.«

»›Für immer vom Meer verschlungen‹.« Gwen strich mit ihren Fingerspitzen über die Inschrift. »Gestiftet von den Erben des Elija Winthrop.«

»Sie scheinen ihm recht gemischte Gefühle entgegengebracht zu haben.«

»In diesem Landstrich wimmelt’s nur so von Winthrops.«

»Woher weißt du das?«, fragte Stoner, die immer noch das unerbittliche Gesicht anstarrte.

»Wie du vielleicht gehört hast, unterrichte ich Geschichte. Castleton war im neunzehnten Jahrhundert der Heimathafen reicher Schiffbaufamilien. Fast alle waren Winthrops. Ihre Dienerschaft bestand vermutlich aus Owenses und McTavishs.«

»Lass uns das Ding in die Luft sprengen und ihre Untaten rächen.«

»Schattenhain, so wie wir es kennen und lieben, war das Domizil der reichsten Winthrops. Sie nannten es ›Endstation‹.«

»Ich kann mir gut vorstellen, warum.«

»Die anderen Häuser an den Klippen gehörten irgendwelchen Vettern und angeheirateten Verwandten. Es geht die Sage, dass für die Winthrops harte Zeiten anbrachen, nachdem der einzige Sohn beim Glücksspiel getötet wurde. Die eine Tochter wurde der Zauberei – damals gerade nicht in Mode – verdächtigt, und die andere brannte mit einem französischen Tanzlehrer nach Kalifornien durch und wurde so etwas wie ein Blumenkind, Ausgabe neunzehntes Jahrhundert.«

»Männlicher oder weiblicher Tanzlehrer?«

»Darüber schweigen sich die Bücher aus. Das gebietet der Anstand. Der alte Winthrop schloss sich in sein Arbeitszimmer ein und grämte sich zu Tode, während er Cicero im griechischen Original las.«

»Latein«, korrigierte Stoner. »Kannst du bitte weitermachen?«

»Elijas Gattin, die Gerüchten zufolge etwas mystisch drauf gewesen sein soll, entschwand in einer nebligen Nacht wie dieser über den Rand der Klippen. Ihre sterblichen Überreste«, flüsterte sie geheimnisvoll, »wurden niemals gefunden. Inzwischen verprassten die diversen Vettern und angeheirateten Verwandten das Familienvermögen, bis schließlich Gläubigern aus Boston und London die Werft überschrieben werden musste, die sie runter nach Bath verlegten. Bleibt noch anzumerken, dass der alte Elija sich endgültig in sein Arbeitszimmer verkroch, wo er seinen dahinschwindenden Vorrat an Lebertran bewachte und weiterhin Cicero im griechischen Original las.«

»Du bist verrückt.«

»Hilfe naht«, sagte Gwen, »denk an Schattenhain.«

»Oder an die Endstation.«

»›An der Endstation des Lebens wird es endlich Ruhe geben‹. Oder was zu essen. Vorwärts.«

Durch den feuchten Nebel sahen sie die Lichter der ›Hafenschänke‹ glimmern. Ein Nebelhorn krächzte ein Warnsignal. Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf und torkelte betrunken vorbei.

Stoner schlich sich vorsichtig vor bis zur Klippenkante und lugte hinunter. Die Gezeiten wechselten. Schwarze Wellen explodierten in phosphoreszierender Gischt an den Felsen. Kiesel klackerten zwischen massiven Geröllblöcken, als das Wasser sich ins Meer zurückzog.

In der Ruhe vor dem nächsten Aufbrausen des pulsierenden Ozeans wurden feinere Geräusche wahrnehmbar. Das Britzeln der vergehenden Schaumperlen auf der Wasseroberfläche, das Klatschen kleiner Wellen auf Sand, das Zischen der Schaumkronen auf den anwachsenden Brechern, das sickernde Flüstern des Wassers, das sich langsam zwischen den flacheren Felsen davongleiten ließ. Sieh, sieh, sieh.

Sie fröstelte.

»Kalt?«, fragte Gwen.

»Ich brauch Licht. Diese ganze Stadt ist vollkommen dunkel.«

»Sie gehen vermutlich mit der Dämmerung ins Bett, um Strom zu sparen. Falls Castleton sich nicht von anderen Kleinstädten unterscheidet, wird sich die Hafenschänke als der Ort erweisen, in dem die Dorfjugend herumhängt. Mit allem Drum und Dran samt Pizzatresen, Video-Spielen und zügellosem pubertärem Sex. Riskiern wir’s?«

»Gerade jetzt ist mir besonders nach Video-Spielen und pubertärem Sex zumute.«

»Und nicht nach Pizza?«

»Wenn wir schon in Maine sein müssen, sollten wir uns wenigstens an einem Hummer vergehen.«

Das Restaurant war langgestreckt, eng und düster. Von den Tischen auf der einen Seite aus konnte man auf den Ozean blicken. Auf der anderen Seite gab es Sitznischen aus Plastik mit Holzmaserung und Kunstlederpolstern. Sturmlampen auf Korkuntersetzern standen auf rot-weiß karierten Plastiktischdecken. Ein Fischernetz aus Plastik hing unter der Raumdecke drapiert. Plastik-Bojen, Plastik-Angeln und Plastik-Hummer dekorierten die Wände.

»Ich glaube«, sagte Stoner, als sie die Plastik-Speisekarte aufschlug, »dieser Laden wird von erfolglosen norwegischen Farmern aus Minnesota geführt, die infolge einer Eingebung während einer Messe nach Neuengland emigrierten. Egal, bringen wir’s hinter uns.«

»Also wirklich, Stoner, manchmal bist du ein richtiger Snob.«

Der Kellner tauchte auf. Sandblonde Tugend in wenig bemerkenswerter Gestalt mit geknotetem Halstuch, gestärktem weißem Hemd und hautengen schwarzen Hosen. Er stellte sich als ›Steve-heut-Abend-zu-Ihren-Diensten‹ vor.

»Nehmt ihr Mädels einen Drink?«

»Frauen«, verbesserte Stoner. »Ich nehme einen Manhattan.«

Er sah Gwen fragend an. »Dasselbe für Sie?«

»Bourbon mit Ginger Ale.«

»Noch nie von gehört.« Er rümpfte die Nase.

»Tja, daran können Sie sehen«, sagte Gwen, »dass ich nicht aus der Gegend hier bin.«

»Ach? Woher sind Sie denn?«

»Georgia.«

»So ’n Zeugs trinken die da unten, wa?«

»Ja. Deshalb haben sie auch den Krieg verloren.«

Mit vorgeschobenem Becken schlenderte ›Steve-heut-Abend-zu-Ihren-Diensten‹ an die Bar.

Stoner wandte sich der Speisekarte in der Erwartung zu, von einer Auflistung ganz reizend betitelter Hacksteakgerichte nebst Fritten, Krautsalat und diversen Diabetiker-Schleckereien begrüßt zu werden. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Castleton wurde sie angenehm überrascht.

»Die haben hier Hummer!«

»Nicht ganz«, sagte Gwen und tippte mit ihrem Finger auf die Karte. »Hummah

»Das stört mich nicht. Es geht bergauf.«

Ein blassgesichtiger Mann mittleren Alters mit stumpfstahlgrauem Haar und einem ausgebeulten, farblosen Anzug setzte sich an einen Fenstertisch schräg gegenüber.

»Siehst du«, sagte Stoner, »in dieser Stadt sind selbst die Menschen grau.«

»Sollte dir plötzlich auffallen, dass ich die Farbe verliere, musst du mich hier ganz schnell rausbringen.«

Steve-zu-Diensten kam mit ihren Drinks zurück und zog einen Zettel aus der Gesäßtasche, der wie ein alter Wäscherei-Abholschein aussah. »Ihr Mädels wollt bestellen?«

»Frauen«, verbesserte Stoner. »Ich nehme den Hummer, gekocht.«

»Gebacken oder frittiert?«

»Gekocht.«

»Die Kartoffeln«, sagte der junge Mann. »Er wird mit Kartoffeln serviert, gebacken oder frittiert?«

»Gebacken.«

»Sour Cream oder Haus-Dressing?«

»Wie ist das Haus-Dressing?«

Er zuckte die Achseln.

»Ist es grau?«

»Ein bisschen.«

»Nur Butter, danke. Und einen gemischten Salat.«

»Nicht gemischt. Nur Krautsalat.«

»Ist der grau

»Ein bisschen.«

»Vergessen wir den Salat.«

»Ist Beilage, gehört dazu.«

Stoner seufzte. »Gut, ich muss also den Salat nehmen. Wenn ich einwillige, bekomme ich dann einen Kaffee? Schwarz?«

»Aber klar.« Er ritzte die Bestellung in seinen Wäschereizettel und wandte sich Gwen zu.

»Ich nehm das Gleiche.«

Der Junge lachte in sich hinein. »Mädchen haben keinen eigenen Willen.«

Stoner machte eine Bewegung, um aufzustehen. Gwen stoppte sie mit einem warnenden Blick.

»Sie machen Urlaub?«, fragte Steve.

»Ja«, sagte Gwen aufgeschlossen.

»Seltsame Jahreszeit.«

»Wir wollten die Spartarife der Zwischensaison in der Herberge zum Ostwind auskosten«, sagte Stoner.

Gwen stieß sie an. »Castleton scheint ein nettes Städtchen zu sein.«

Der Junge schnitt eine Grimasse. »Es lutscht einen aus.«

»Ja, das tut es«, stimmte Gwen zu. »Ein wenig.« Sie lächelte ihn charmant an. »Wo sind die ganzen Einwohner?«

»Treiben sich herum.«

»Verstehe. Wovon leben denn die Leute?«

»Fischen. Sich herumtreiben.« Er wollte gehen.

»Uns ist da etwas aufgefallen, was wie ein riesiges Gut aussieht«, hielt Gwen ihn auf. »Draußen auf den Klippen. Wissen Sie, wer da wohnt?«

Steves Blick verengte sich. »Warum wollen Sie das wissen?«

»Reine Neugier.«

»Niemand wohnt da. Das ist ’ne Klapsmühle.«

»Exklusiv?«

»Oh ja«, sagte er. »Reichlich exklusiv. Sie müssten mal die dicken Kutschen sehen, die einige dieser irren Typen fahren. Schätze, reiche Leute haben ’nen Haufen Probleme, wa?«

»Genau wie alle anderen, schätz ich«, sagte Gwen.

»Ich sag Ihnen was«, fuhr er fort, »wenn ich den Zaster hätte, den einige dieser Herrschaften einsacken, würd ich mich nicht mit so ’ner Bude abgeben. Ich würde nach L.A. abzischen und mir ’n geiles Brett fischen.«

»Sie angeln gerne?«, fragte Stoner kultiviert.

Er starrte sie verblüfft an.

»Ich glaube«, erläuterte Gwen, »dieser Gentleman spricht über das Surfen.«

»’n Brett, ’nen Ghettoblaster, ’n 4x4 und ’n Sixpack abziehen, sich ’n Hintern anbrutzeln lassen und den Bienen nachsummen.«

»Übersetzung?«, bat Stoner.

»Er möchte gerne«, sagte Gwen, »ein Surfbrett, einen Radiorecorder, ein Fahrzeug mit 4-Rad-Antrieb und ein Paket mit sechs Flaschen Bier haben. Er möchte außerdem seine Tage mit Sonnenbaden und Mädchenhinterherschauen verbringen.«

»Das hab ich doch gesagt«, warf Steve ein.

»Meine Freundin ist gerade erst in diesem Land eingetroffen«, sagte Gwen. »Ihre Eltern waren Missionare in China.«

»Echt cool«, sagte Steve. Er trat einen Schritt näher an Gwen heran. »Und was machen Sie?«

»Sie ist Lehrerin.«

Steve wich zurück. »Mist.«

»Vorübergehend«, erklärte Gwen rasch. »Ich versuche, da rauszukommen. Auf Dauer … äh …«

»Lutscht es einen aus?«, sprang Steve hilfreich ein.

»Lutscht es einen aus. Vielleicht kann ich da draußen in … wie, sagten Sie, hieß es doch gleich?«

»Schattenhain.«

Gwen nickte. »Schattenhain. Was halten Sie vom Personal dort?«

»Nichts«, sagte er abrupt. Sein Gesicht wurde abweisend.

»Merkwürdig, nicht wahr? Ein abgelegenes Städtchen wie Castleton, man sollte meinen, dass sie sich mit den Einheimischen verstehen …«

»Nicht merkwürdiger, als hier seinen Urlaub zu verbringen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging hinüber, um die Bestellung des grauen Mannes aufzunehmen.

Stoner sah ihm nach. »Kann es sein, dass du seinen Regionalstolz verletzt hast?«

»Nein«, sagte Gwen. »Ich denke eher, ich hab einen Nerv getroffen.« Sie beugte sich über den Tisch. »Merke für die Zukunft: Wenn wir von Heranwachsenden Auskünfte bekommen wollen, erzähl ihnen nicht, dass ich Lehrerin bin. Heranwachsende und Lehrer sind natürliche Feinde.«

»Mit Sicherheit wurde er nur so zugeknöpft, weil du ihn nach Schattenhain gefragt hast. Glaubst du, das hat etwas zu bedeuten?«

»Vielleicht – vielleicht auch nicht. Ich sollte drüber nachdenken.«

Stoner grinste. »Südstaatler reden wie Viehzüchter, denen außer ihren Viechern alles egal ist.«

»Yankees haben überhaupt keine Viechah! Geht’s dir gut?«

»Phantastisch.« Sie starrte in ihren Drink. »Gwen, ist es sehr schlimm für dich, deinen Urlaub so verbringen zu müssen?«

»Wie, so?«

»So auf der Suche nach verlorenen Krankenschwestern.«

»Würden wir uns nicht damit beschäftigen, müsste ich mich eben mit der hiesigen Geschichte befassen. Ich hab mich schon immer gefragt, was machen die meisten Leute eigentlich im Urlaub?«

»Keine Ahnung«, sagte Stoner, »aber ich bin sicher, sie machen es nicht in Castleton, Maine.«

»Warum nicht? Es hat Umland, eine gewisse Stimmung und Hummah

»Vermutlich grauen Hummah.«

Gwen lehnte sich zurück und nippte an ihrem Drink. »Erzähl mal, wie hast du rausbekommen, dass du lesbisch bist?«

»Gute Göttin, Gwen! Doch nicht hier!«

»Ach, hier ist doch niemand. Außer unserem kleinen grauen Freund da drüben, und ich glaube kaum, dass er besonders interessiert ist an …«

»Das interessiert sie alle.«

»Und welche Anzeichen sprechen dafür, außer Paranoia?«

»Ich denke wirklich, wir sollten das Thema wechseln.«

»Gut«, sagte Gwen. »Dann lass uns über dich sprechen.«

Ihre Schutzschilde gingen in Position. »Warum?«

»Weil es tausend Dinge über dich gibt, von denen du mir noch nichts erzählt hast.«

»Als da wären?«

»Der Name deines Hundes?«

»Scruffy.«

»Die Namen deiner Eltern?«

»Walter und Dotty.«

Gwen verschluckte sich an ihrem Drink. »Walter und Dotty?«

»Walter und Dotty.«

»Niemand heißt Walter und Dotty.«

»Deine Mutter hieß Daphne. Denk mal darüber nach.«

»Das unterlass ich tunlichst. Walter und Dotty. Jesses.« Sie lehnte sich zurück. »Wann hast du aufgehört, an den Weihnachtsmann zu glauben?«

»Ich hab überhaupt nie an den Weihnachtsmann geglaubt. Meine Eltern sind Realisten.«

»Und du Romantikerin. Wie kommt’s?«

»Ich bin keine Romantikerin.«

Gwen lächelte betont.

»Bin ich nicht

»Gut, also nicht.« Sie spielte mit ihrem Besteck. »Ich wette, du hattest in der Schule immer ziemlich gute Noten.«

»Klar, das war leicht. Ich hab ja nicht meine ganze Zeit damit verbracht, über Jungs nachzudenken.« Sie lachte. »Dafür verbrachte ich meine ganze Zeit damit, darüber nachzudenken, warum ich nicht über Jungs nachdachte.«

»Hat dich das beunruhigt?«

»Es hat mich tief erschüttert.«

»Tut es das immer noch?«

»Nein. Gwen, willst du auf irgendetwas Bestimmtes hinaus?«

»Ich nicht. Du hast damit angefangen.«

»Es ist manchmal furchtbar peinlich«, sagte Stoner. »Besonders, wenn ich neue Leute kennenlerne. Ich weiß doch nie, wie sie reagieren werden.« Sie trank einen Schluck. »Und dann die Frage, wann sag ich’s ihnen. Sag ich: ›Hallo, wie geht’s? Ich bin Stoner McTavish, Lesbe‹? Oder lass ich es irgendwie dezent in die Unterhaltung einfließen? Oder warte ich, bis irgendwer eine naserümpfende Bemerkung über ›die vom falschen Ufer‹ macht, und gehe wutentbrannt an die Decke?«

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du es bei mir einfach ins Gespräch einfließen lassen. Bist du schon mal wutentbrannt an die Decke gegangen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Es wäre nicht sehr höflich.« Sie blickte sich im Raum um. Der graue Mann las eine Zeitung.

»Wie war das mit deiner ersten großen Liebe?«

»Wir waren in derselben Vorlesung für Journalismus an der Bostoner Uni. Na ja, wir waren nicht wirklich ein Paar. Es war mehr eine romantische Schwärmerei. Du weißt schon, lange persönliche Gespräche, Mondscheinspaziergänge am Ufer des Charles. Nach dem Abschluss ging Laurie nach Texas an die Fach-Uni für Jura, brach bereits im ersten Jahr ab und heiratete. Hat jetzt vermutlich sechs Kinder und gelegentlich Rückenschmerzen. Texas kann dir übel mitspielen.«

»Romantische Schwärmerei«, sagte Gwen und ließ ihren Drink im Glas herumschwenken. »Ich mag das.« Sie sah hoch. »Haben wir das auch? Eine romantische Schwärmerei?«

Stoner umfasste ihr Glas fester. »Ich schätze schon.«

»Allerhand, eingedenk der Tatsache, dass du keine Romantikerin bist.«

»Ich seh’s ein, Gwen.«

Gwen griff über dem Tisch nach Stoners Hand. »Ich hoffe, wir werden immer Freundinnen sein, Stoner.«

Immer? Ich wage zu zweifeln. Eines schönen Tages wirst du einen von diesen ›reizenden jungen Männern‹ kennenlernen, die es deiner Großmutter so angetan haben. Sechs Monate nachdem du ihn geheiratet hast, beschließt er, nach Oklahoma City umzuziehen, und du folgst ihm, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Ich besuche dich fortan einmal pro Jahr in seinem Haus, esse sein Essen, von ihm zubereitet auf seinem Grill auf seiner Veranda. Nach dem Essen sitzen wir herum, wir drei, und ›klönen‹ in seinem Wohnzimmer, bis es Zeit ist, ins Bett zu gehen – du mit ihm und ich ins Gästezimmer. Mit etwas Glück bleiben uns ein paar Stunden allein zusammen im Waschsalon, wo wir mit dem Baby spielen. Es dauert nicht lange und wir wissen nicht mehr, worüber wir miteinander reden sollen.

Sie lächelte traurig versunken und starrte auf Gwens Hand.

»Was ist los?«, fragte Gwen.

»Ich hoffe nur, du hast recht.«

Gwen spielte mit ihren Fingern. »Sag mir, was wäre das Entsetzlichste, was ich dir antun könnte? Das, was dich dazu brächte, mich für immer zu hassen?«

»Ich würde dich für immer hassen«, sagte Stoner sehr ernst, »wenn du mich bitten würdest, ein Kleid anzuziehen.«

Gwen lachte.

»Wie sieht’s bei dir aus?«

»Ich würde dich hassen«, sagte Gwen, »wenn du mich zwingen würdest, zu einer Marx-Brothers-Retrospektive mitzukommen.«

»Verflucht, genau das hatte ich für heute Abend geplant.«

Zwei Teller mit dampfenden Hummern schwebten an ihren Gesichtern vorbei.

Stoner zog ihre Hand ruckartig von Gwens zurück. »Prompte Bedienung.«

Sie warteten schweigend, während Steve-zu-Diensten eine Ewigkeit damit zubrachte, auf dem Tisch diverse Schälchen zu drapieren. Er betrachtete seine Kreation mit zutiefst befriedigtem Gesicht. »Noch einen Wunsch?«, fragte er Gwen.

»Nein, vielen Dank, Steve.«

Er entschwand ins Halbdunkel.

»Ehrlich«, sagte Gwen, »du bist furchtbar hektisch.«

»Tut mir leid. Es ist ein Reflex, den ich mir in King’s Grant angewöhnt habe.«

Gwen brach eine Schere von ihrem Hummer ab. »Wo ist King’s Grant?«

»Auf Rhode Island. Meine Heimatstadt.«

»Oh«, sagte Gwen. »Es klang nach Einkaufszentrum.« Sie schob ihren Krautsalat zur Seite. »Wie war es, dort aufzuwachsen?«

Stoner zuckte die Achseln und verwüstete ihr Essen. »Nicht so toll.«

»Bist du noch mal dort gewesen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Der Einzige, den ich hätte wiedersehen wollen, wäre Scruffy gewesen, aber sie haben ihn einschläfern lassen.«

»War er krank?«

»Sie haben’s gemacht, weil ich nicht wieder nach Hause kommen wollte.«

Gwen legte ihre Gabel hin. »Stoner, das ist das Gemeinste, was ich jemals gehört habe.«

»Es führte zu gewissen Spannungen zwischen uns.«

»Ich hoffe, du wirst niemals mehr etwas für sie tun – besonders nicht, wenn sie es sich wünschen.«

Stoner zuckte die Achseln. »Ich versuch’s.« Sie erstach ihre gebackene Kartoffel.

Gwen knackte den Hummerschwanz, zog das Fleisch heraus und begann es in kleine Stücke zu zerteilen. »Wann hattest du zum ersten Mal den Verdacht, dass du eine …«, sie senkte ihre Stimme auf die Flüsterlautstärke einer Souffleuse, »… Lesbe bist?«

»In der sechsten Klasse, als mich Ernie Jones auf dem Schulhof küsste und ich nicht vor Verzückung in Ohnmacht fiel.«

»Ernsthaft?«

»Ernsthaft. Weißt du, ich war doch schon die ganze Zeit unsterblich in seine Mutter, die den Schulbus fuhr, verliebt.«

»Zu Hause in Jefferson gab es eine Frau«, sagte Gwen. »Die Kinder flüsterten sich zu, sie sei andersrum. Ganz lange dachte ich, sie meinten damit, dass sie irgendwie sonderbar sei. Aber ich fand sie nicht sonderbar, ich fand sie einfach nur sehr groß. Andersrum heißt doch wohl nicht, groß zu sein, nicht wahr?«

»Nicht in Massachusetts.«

»Zu Hause in Georgia reden anständige Leute nicht über solche Dinge.«

»Zu Hause auf Rhode Island«, sagte Stoner, »sind solche Dinge fester Bestandteil jeder Unterhaltung.«

Gwen stocherte in ihrem Hummer. »Das Leben mit meiner Großmutter ähnelt dem Leben in Georgia. Nach außen hin freundlich, aber …«

»Sie passt sehr gut auf dich auf.«

»Weißt du, ich glaube ernsthaft, sie würde mich eher mit Charles Manson verheiraten wollen, als zuzulassen, dass ich mit einer anderen Frau glücklich werde.«

»Hatte sie Einwände, als du sagtest, dass du mit mir hierher fährst?«

Gwen schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre zu direkt gewesen.«

»Ulkig, nicht?«

»Ich find’s nicht mal im Ansatz komisch.« Sie zerquetschte ein Stück Zitrone. »Am liebsten würde ich das ihr gegenüber ein für alle Mal klarstellen, aber …«

Stoner lächelte. »Du bist zu höflich.«

»Zu ängstlich.« Gwen zog mit ihrer Gabel das Muster der Tischdecke nach. »Sie ist meine ganze Familie, seit ich vierzehn wurde. Als meine Eltern umkamen, nahm sie mich kurzerhand bei sich auf. Ohne Wenn und Aber, ohne Zögern.«

»Ich weiß.«

»Sie war immer gut zu mir, besser und liebender, als es meine Eltern je waren. Aber im vergangenen Jahr …«

»Sie hat dir die Heirat mit Bryan verziehen. Vielleicht wird sie dir auch die Freundschaft mit mir verzeihen.«

Gwen schüttelte den Kopf. »Das reicht nicht. Ich will, dass sie sich ändert. Aber da es das erste Mal ist, dass ich das will, weiß ich nicht, wie ich sie dazu bringen kann.«

»So wie ich Tante Hermione kenne«, sagte Stoner, »wird sie sicherlich den richtigen Dreh finden.« Sie musterte ihren Krautsalat. »Vermutlich haben sie gerade ein paar Räucherstäbchen angezündet und tratschen jetzt miteinander.«

»Es würde mich nicht einmal stören, wenn sie sich die Gesichter mit Menstruationsblut schminken und nackt auf einer Lichtung tanzen würden. Selbst das wäre ein Fortschritt.«

»Du hattest wohl einen reichlich herben Winter, was?«

»Ich hatte schon bessere.« Sie schaute sich prüfend im Restaurant um und beugte sich nach vorne. »Stoner, ich glaube der Mann beobachtet uns.«

»Ich hab’s dir ja gesagt. Das interessiert sie alle.« Sie sah verstohlen hinüber. Der graue Mann saß zwar etwas mit dem Rücken zu ihr, schien aber Gwen zu beobachten.

Gwen schauderte. »Er erinnert mich an Betty Jeans Onkel Ed John, der in Jefferson Gebrauchtwagen verkaufte.«

»Betty Jean?«, sagte Stoner und unterdrückte ein Kichern. »Ed John? Ich wusste nicht, dass ihr die Waltons wart.«

»Betty Jean war meine Schulfreundin. Normalerweise hingen wir mit hochgesteckten Frisuren und in Reifröcken und Fußkettchen in ihrem Chevy-Cabriolet vorm Limonadenstand herum.«

»Mit vierzehn?«

»Betty Jean war sechzehn. Davon abgesehen, in Jefferson fährst du Auto, sobald du so gerade eben ans Gaspedal reichst. Betty Jean war groß für ihr Alter. Oder jung für ihre Größe.«

»Was fängt man denn mit hochgesteckter Frisur in einem Chevy-Cabriolet an?«

»Du verbringst ’ne Menge Zeit damit, dein Haar in Ordnung zu halten. Ich war bestimmt die schnellste Hochsteckerin der neunten Klasse.«

»Das würd ich gern mal sehen«, grinste Stoner.

»Tja, daraus wird nichts. Ich hab das alles hinter mir gelassen, als ich zur enthusiastischen Yankeefrau wurde.«

»Wie nannten sie dich? Oder warst du die einzige Gwen unter all den Sally Joes und Billy Bobs?«

»Iss dein Essen«, sagte Gwen mit hochroten Ohrläppchen.

»Los, komm schon. Erzähl’s mir. Ich hab dir auch von Ernie Jones erzählt.«

»Also … nein.«

»Los, los.«

»Gwyneth Ann«, sagte Gwen, »und ich möchte, dass du das nie wieder erwähnst.« Stoner johlte.

Gwen warf eine Hummerschere nach ihr. »Ich meine, was ich sage, Stoner. Solltest du mich jemals so nennen, ist es aus und vorbei mit unserer Freundschaft.«

»Ach Quatsch, Gwyneth Ann, das ist der süßeste Name, den ich jemals gehört habe.«

»Nimm dich in Acht, Lucy B. …«

Stoner erstarrte. »Wer hat dir das erzählt?« Ihr fiel es ein. »Oh, Scheiße.«

Gwen lächelte selbstzufrieden. »Ja, ja, ja. Lucy B. McTavish.«

»Lucy B. Stoner McTavish, und jetzt vergisst du’s besser.«

»Der Handel gilt«, sagte Gwen. »Willst du nicht aufessen?«

»Ich bin fertig.« Ihr Teller sah aus, als ob er von Terroristen verwüstet worden wäre. »Du kannst gerne noch in dem Schutt rumstochern, wenn du willst. Du kannst auch die Leiche haben.«

»Die was

»Leiche. Die Leber.«

»Meine Mutter hatte völlig recht. Yankees sind abscheulich.«

Der graue Mann beobachtete Gwen immer noch.

»Ich wünschte, er würde das endlich lassen«, sagte Stoner.

»Vermutlich will er die Leiche.«

»Er starrt dich ununterbrochen an, schon seit zehn Minuten.«

»Vielleicht meditiert er, und ich sitz ihm im Weg.« Sie sah ihn an und lächelte. Er schaute wieder in seine Zeitung. »Also gut, er beobachtet uns.«

»Ich mag das nicht.«

»Ich genauso wenig.«

Steve-zu-Diensten materialisierte sich wieder, eine Geschirrschüssel aus Plastik zwischen Arm und Hüfte balancierend. Er warf die Teller rein und verschwand.

»Gut«, sagte Gwen, »das war unbeschreiblich. Wie sieht’s mit Nachtisch aus?«

»Zitronenbaisertorte.«

»Davon kriegst du Alpträume.«

»Ich hab immer Alpträume. Zitronenbaisertorte gehört sich einfach nach Hummer.«

»Vielleicht für dich

Der Knabe war wieder da. Gwen bestellte Kaffee und Torte für Stoner und nur Kaffee für sich.

»Gwen«, fragte Stoner. »Glaubst du, du heiratest wieder?«

Gwen verdrehte die Augen. »Hat meine Großmutter mit dir gesprochen?«

»Das Äußerste, was deine Großmutter zu mir sagt, ist ›Zwei ohne Trumpf‹ oder ›Drei Karo‹.«

»Tut mir leid«, sagte Gwen. »Manchmal denke ich, es ist nicht fair, dass ich dich bitte, mit ihr Bridge zu spielen.«

»Ich nehm sie nicht so ernst. Vermutlich hat sie gerade ihre Midlife-Crisis oder so was.«

»Mit siebzig?«

»Vielleicht ist sie Spätentwicklerin. Wirst du?«

»Werde ich was?«

»Wirst du wieder heiraten?«

»Das Letzte, was ich mir wünsche, ist irgend so ein liebreizender Traumprinz, der aus der Sonne geritten kommt und mich mitschleift in sein Zauberschloss.«

»Ich versteh schon, dass dir das im Moment so geht, aber eines Tages …«

»Eines Tages, eines Tages. Wenn dieser Planet sich nicht bald zusammenreißt, wird es kein ›eines Tages‹ mehr geben.«

»Aber wenn es …«

Gwen lachte. »Als ich klein war, hatten wir eine Hirtenhündin namens Bessie. Die alte Bessie verbrachte die Stunden zwischen ihren Mahlzeiten damit, in der Sonne zu liegen und darauf zu warten, dass etwas passiert. Doch da in Jefferson niemals etwas passiert, bekam sie eine beträchtliche Dosis ultravioletter Strahlung ab. Wie auch immer, eines Tages sah sie, wie ein Streifenhörnchen in einem Erdloch verschwand. Du konntest buchstäblich sehen, wie ihr Gehirn ansprang und nach und nach zu arbeiten begann. ›Ding. Bewegt sich. Loch. Verschwunden.‹ Sie beschloss es auszugraben. Sie grub und grub und grub. Auch noch nach fünf Jahren begann sie jedes Mal, wenn sie an dem Loch vorbeikam, zu graben.«

»Ist da irgendwo eine Pointe?«

»Du«, sagte Gwen. »Du hast manchmal eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dieser Hirtenhündin.«

»Und du hast manchmal eine erstaunliche Ähnlichkeit mit diesem Streifenhörnchen. Ich versuch dich doch nicht zu drängeln. Ich schätze, ich will nur wissen, wie viel Bryan in dir zerstört hat.«

Steve servierte den Nachtisch. Stoner probierte den Kaffee und verzog das Gesicht. »Das ist ja grässlich. Vielleicht mag ich überhaupt keinen Kaffee.«

Gwen spielte mit ihrer Tasse. »Bryan hat mich verletzt. Damit bin ich durch. Er ließ mich an meiner eigenen Urteilsfähigkeit zweifeln. Auch darüber werde ich hinwegkommen, aber bis dahin …«

»Und die Liebe?«

»Was ist damit?«

»Hat er dafür gesorgt, dass du Angst vor der Liebe hast?«

»Na sicher hab ich Angst vor der Liebe«, sagte Gwen. »Du nicht?«

»Ein bisschen.«

»Wir wären ja nicht ganz bei Trost, wenn wir nicht wenigstens ein bisschen Angst vor der Liebe hätten. Das bedeutet doch aber noch lange nicht, dass ich sie ad acta lege. Du vielleicht?«

»Nein«, sagte Stoner und wandte ihre Aufmerksamkeit der Zitronenbaisertorte zu.

»Du hast mir damals den Vortrag gehalten, die Bryans dieser Welt dürften nicht gewinnen. Na also, ich hab es mir zu Herzen genommen.«

Ich erzähl dir was übers Herz, Gwen. Ich erzähl dir was darüber, Leute zu lieben und zu wollen, dass sie glücklich werden, und zu wissen, dass das, was sie glücklich macht, dich umbringt. Ich erzähl dir, was es heißt, eine Lesbe zu sein, die eine normale Frau liebt. Ich erzähl dir was über Qualen.

»Stoner?«

Sie schaute hoch.

»Wie ist es mit dir?«

»Mir?«

»Glaubst du, du wirst dich wieder verlieben?«

»Sicher«, sagte sie betont gelassen, während sie sich wie ein von Füchsen umkreistes Huhn fühlte. »Es kann jeden Augenblick losgehen.« Sie überflog den Raum in der Hoffnung auf Ablenkung.

Steve sorgte dafür.

»Da kommt er wieder«, murmelte sie.

»Meine Güte«, sagte Gwen laut, »das ist ja wirklich ein aufmerksames Restaurant hier.«

Er deutete auf den grauen Mann. »Mr. Lennox möchte Ihnen gerne einen Drink ausgeben.«

»Bitte sagen Sie dem Gentleman«, sagte Gwen, »wir wissen seine Einladung zu würdigen, müssen aber ablehnen.«

»Ihm gehört dieser Laden.«

»Trotzdem.«

Der Junge zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen. Verstehe nicht, warum Sie ’ne Runde Schnaps ausschlagen wollen.«

»Sie würden, wenn Sie eine Frau wären. Können Sie uns bitte die Rechnung bringen?«

Stoner beobachtete ihn beim Fortgehen. Irgendetwas an ihm gefiel ihr nicht.

»Provinz-Kavalier?«, spekulierte Gwen. »Oder die Geschäfte gehen nicht so richtig?«

»Ich hab so das Gefühl, er spioniert uns nach. Die Art, wie er dich angestarrt hat …«

»Vielleicht ist er der für diese Gegend typische Schwerenöter.«

»Glaub ich nicht.«

»Wenn er uns nachspioniert, dann vermutlich doch nur, weil es das Einzige ist, was man freitagabends in Castleton tun kann.«

»Ich bin sicher. Falls er irgendwie mit Schattenhain in Verbindung steht, und falls da draußen irgendetwas vor sich geht …«

»Du glaubst, dieses ganze Kaff ist an einer Verschwörung beteiligt?«, fragte Gwen ungläubig. »Wir wissen doch noch nicht einmal, ob an Schattenhain auch nur die kleinste Kleinigkeit nicht stimmt.«

»Aber es könnte sein. Und sie haben deinen Namen.«

Gwen seufzte. »Das werd ich wohl im Leben nicht mehr los, wie? Es wird mich bis ins Grab verfolgen.«

»Ich finde nur, wir sollten wachsam sein, mehr nicht. Du warst diejenige, die gesagt hat, dass sich Steve merkwürdig benimmt.«

»Okay, den Rest der Reise stülp ich mir eine Tüte über den Kopf und verhalte mich möglichst unauffällig.«

Sie beobachtete Steve, der wieder auf sie zusteuerte. Sein Gesicht wirkte angespannt, gestresst. Er stellte sich an den Tisch und begann langsam, Punkt für Punkt abhakend, die Summe zusammenzurechnen.

Entweder ist er schlecht in Mathe oder ihm geht irgendetwas durch den Kopf. Er legte die Rechnung auf den Tisch, stand da und bewegte seinen Mund.

»Wollen Sie irgendetwas sagen?«, fragte Gwen auf beste Lehrerinnenart.

»Jaa.« Er zögerte.

»Falls Salmonellen im Krautsalat waren, sagen Sie es uns am besten jetzt.«

»Hören Sie«, murmelte er, »haben Sie vor, bis übermorgen zu bleiben? Falls ja, sollten Sie wissen, dass wir morgen Abend geschlossen haben.«

»Tatsächlich?«, sagte Gwen. »Auf Ihrem Schild draußen …«

»Es ist Neumond.«

»Ich weiß, ich werde es bereuen, gefragt zu haben«, sagte Gwen, »aber was hat der Neumond damit zu tun?«

Er blickte verstohlen über seine Schulter. »Schleppnetze.«

»Ein heiliger Stammesritus?«

»Fischen.« Er wandte sich zum Gehen.

Gwen hielt ihn zurück. »Können wir jetzt bezahlen?« Sie hielt ihm ein paar Scheine hin.

Er nahm das Geld und zählte es. »Ich bringe Ihnen das Wechselgeld.«

»Behalten Sie’s.«

Er zählte es noch mal. »Das ist verdammt viel.«

»Fahren Sie nach Augusta«, sagte Gwen, »und summen Sie den Bienen nach.«

Er starrte auf den Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. »Sie wollen bestimmt nicht in dieser Stadt bleiben«, sagte er schließlich. »Hier ist einfach nichts los.«

»Wir werden darüber nachdenken«, sagte Gwen.

»Ist wirklich wahr, Lady. Ist ’ne lausige Ecke hier, verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich fürchte nein.«

Er wurde etwas ungemütlich. »Die Menschen hier … also, sie sind etwas merkwürdig zu Fremden und so … ich meine, sie lassen sich nicht gerne von ihren Sachen abhalten, nur um Ihnen Guten Tag zu sagen.«

»Ja«, sagte Gwen. »Wir vermuteten das bereits aufgrund des freundlichen Empfangs im Hotel.«

»In Waldoboro ist es sehr schön«, schlug Steve hoffnungsvoll vor.

»Und in Waldoboro ärgern sie sich auch nicht über Fremde, was?«

»Genau.«

»Also, darüber werden wir ernsthaft nachdenken

Er schien beruhigt. »Aber behalten Sie das für sich. Könnte mich den Job kosten, okay?«

»Okay. Und, Steve, wenn Sie nach L.A. kommen, stürzen Sie sich für mich mit auf eine der dicksten Wellen.«

Er grinste, stopfte das Geld in seine Tasche und huschte davon.

»Wie viel hast du ihm denn gegeben?«

»Zehn Dollar.«

»Das ist sehr viel.«

»Es war billig, um das herauszufinden, was wir herausgefunden haben.« Sie griff nach ihrem Mantel. »Irgendwelche Schatten liegen auf Schattenhain, und es sind nicht die der Bäume.«

Stoner McTavish - Schatten

Подняться наверх