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Kapitel 3

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Es war die dunkelste Nacht, die Stoner je erlebt hatte. Die Art Dunkelheit, die alles schluckt, nicht nur Licht und Schatten, auch Geräusche. Sie bedeckte die Stadt wie eine Bettdecke aus Fäulnis. Der Nebel hatte sich zu Nieselregen ausgewachsen. Stoner kuschelte sich tiefer in ihren Mantel und versuchte, das Wetter nicht persönlich zu nehmen.

»Also«, sagte Gwen, »wann fahren wir?«

»Wohin?«

»Nach Waldoboro.«

»Möchtest du nach Waldoboro?«

»Ich? Ich weiß noch nicht mal, was das überhaupt ist.«

»Warum sollten wir dann hinfahren?«

»Man hat uns aufgefordert, aus der Stadt zu verschwinden.«

»Tja«, meinte Stoner zögernd, »ich schätze, das sollten wir.«

»Wenn man dich auffordert, aus der Stadt zu verschwinden, ist das Vernünftigste, was du tun kannst, aus der Stadt zu verschwinden.«

»Richtig.«

»Andererseits kommst du irgendwie nicht umhin, dich zu fragen, warum das Ganze, oder?«

»Ja, stimmt.«

Sie gingen ein Stückchen.

»Also, sollen wir nun aus der Stadt verschwinden?«, fragte Gwen schließlich.

»Es wäre vermutlich besser.«

Sie gingen wieder ein Stückchen.

»Ich bin noch nie aus einer Stadt verscheucht worden«, sagte Gwen.

»Ich auch nicht.«

»Es ist irgendwie schmählich.«

»Ja, stimmt.«

Gwen kickte ein Steinchen weg. »Wenn Miss Marple aufgefordert würde, aus der Stadt zu verschwinden, würde sie gehen?«

»Ich bezweifle es.«

»Wenn Mrs. Pollifax aufgefordert würde, aus der Stadt zu verschwinden, würde sie gehen?«

»Kaum.«

»Wenn Cagney und Lacey …«

»Das entscheidet es«, sagte Stoner. »Wir bleiben.«

Ein Auto rollte langsam auf sie zu. Die Scheinwerfer glommen im Nebel wie Katzenaugen. Der Fahrer schien in ihre Richtung Ausschau zu halten.

Das Fernlicht blendete plötzlich auf.

»Runter!«, rief Stoner. Sie zerrte Gwen hinter einen Baumstamm.

Der Wagen fuhr weiter, erreichte das Ende des Häuserblocks, wendete und kam zurück.

»Ist das unser Freund?«, flüsterte Gwen.

»Ich bin nicht sicher.« Sie duckte sich tief in den Schatten des Baumes. Das Auto glitt an ihnen vorüber, wendete nochmals und fuhr wieder vorbei, dann beschleunigte es und verschwand in der Dunkelheit.

»Ich glaube, wir haben Ärger am Hals«, bemerkte Gwen. »Entweder das, oder die Leute hier haben einen extrem hoch entwickelten Grad von Neugier.«

Stoner brummte.

»Du, wenn wir morgen nach Schattenhain fahren, dann lass mich reingehen. Sie wissen sowieso, dass ich Claire suche. Ich kann ein paar harmlose Fragen stellen, mich mit ihnen unterhalten und so tun, als ob ich alles glaube, was sie mir erzählen. Dann wiegen sie sich in Sicherheit.«

»Vielleicht«, sagte Stoner.

»In der Zwischenzeit sondierst du das Terrain von außen. Aber wenn wir irgendetwas – ich wiederhole, irgendetwas – Ungewöhnliches bemerken, gehen wir zur Polizei. Verstanden? Zur Polizei

Stoner sah zu Boden. »Wir können nicht zur Polizei.«

»Was?«

»Claire darf sich nicht außerhalb von Massachusetts aufhalten.«

»Stoner …«

»Sie ist auf Bewährung draußen, wegen Drogen.«

»Du hast mir gesagt, sie nimmt keine Drogen.«

»Sie ist wegen Dealens verhaftet worden.«

»Wegen Dealens!«

»Sie hat nicht gedealt«, erklärte Stoner. »Sie kannte Leute, die dealten, und war mit ihnen zusammen, als es eine Razzia gab.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Gwen.

»Es war auf einer Party.«

»Es ist mir egal, und wenn es in der Kirche war …«

»Wegen der Vorstrafe war dies hier der einzige Job, den sie kriegen konnte.«

Gwen ließ sich auf eine Parkbank fallen. »Oh mein Gott.«

»Setz dich nicht dahin, es ist nass.«

»Hast du eine Ahnung, in was für einem Schlamassel wir hier vermutlich stecken? Claire Rasmussen kann durchaus die Anführerin eines internationalen Rauschgiftringes sein, der Schattenhain als Tarnung und Hauptquartier benutzt.«

»Sie ist erst dreiundzwanzig«, sagte Stoner. »Bitte, steh auf.«

»Na, großartig, sie wird in die Geschichte eingehen. Baby Rasmussen und ihre Gang.«

»Sie wusste doch nicht, dass es Dealer waren.«

»Aber klar doch«, sagte Gwen. »Den Spruch höre ich fünfzehnmal pro Tag.«

»Nancy glaubt ihr.«

»Vermutlich kommt sie von einem anderen Stern.«

»Wir wollen uns doch nur umsehen, Gwen.«

»Ich kenne dich. Dabei wird es nicht bleiben.«

»Wir sollten das nicht hier draußen besprechen.«

»Wieso nicht?« Gwen fuchtelte resigniert mit den Armen. »Das Motelzimmer wird vermutlich abgehört.«

»Es ist kalt. Es regnet.«

Gwen stand auf. »Ich werde das alles bereuen, Stoner.«

Der Drugstore war jetzt geschlossen. Über der Seegurke flackerte in einem der Fenster ein schwaches Licht. Rauch stieg aus dem Schornstein und löste sich in Nacht auf. Die Luft roch nach Nässe und brennendem Holz.

»Jemand hat ein Feuer angemacht«, sagte Stoner. »Ob sie Lust auf Gesellschaft haben?«

Gwen nahm Stoners Hand. »Lass uns im Sommer wieder nach Wyoming fahren. Da bekommst du so viele Kaminfeuer, wie du willst.«

»Ist das dein Ernst?«, fragte Stoner verblüfft.

»Ich würde es nicht sagen, wenn es mir nicht ernst wäre.«

»Aber wird das nicht ungute Erinnerungen wachrufen?«

»Ich hab auch sehr schöne Erinnerungen. Du nicht?«

Worte könnten nicht annähernd ausdrücken … »Doch.«

»Und dann die Landschaft. Was auch passiert ist, die Landschaft kann nichts dafür.«

»Du brauchst mich nicht zu überzeugen«, sagte Stoner. »Ich kann in fünf Minuten startklar sein.«

Vor ihnen tauchte die Herberge zum Ostwind auf. Das Neonschild funzelte mühsam vor sich hin. Stoner fühlte Mitleid in sich aufsteigen und das Bedürfnis, dieses Haus aus seiner elenden Umgebung zu befreien.

»Stoner«, fragte Gwen, »hat Tante Hermione für diese Geschichte hier die Tarotkarten konsultiert?«

»Ja.«

»Und was war die Hauptkarte?«

»Der Turm.«

»Und was bedeutet der Turm?«

»Veränderung, Konflikt, Katastrophe. Umsturz oder Vernichtung alles Bestehenden …«

»Ich hab’s gewusst«, murmelte Gwen. »Ich wusste es einfach.«

***

»Du hast der Dusche Unrecht getan«, erklärte Stoner. »Was auch immer das da drin ist, es tut niemandem was.«

»Wahrscheinlich haben wir es ertränkt. Ist dir eigentlich klar, dass wir insgesamt fünfundvierzig Minuten in diesem Zimmer verbracht und in dieser Zeit, zusammengenommen, dreimal geduscht haben?«

Stoner wickelte das Kabel um den Fön, verstaute ihn in der Kommodenschublade und sah in den Spiegel. Hinter ihr saß Gwen auf dem Bett, Kissen im Rücken, und las.

Gwen fing ihren heimlichen Blick auf. »Was ist denn?«

»Du gefällst mir mit Brille.«

»Irgendwer hat doch mal gesagt ›Männerherz bleibt stille bei einer Frau mit Brille‹, nicht? Ich finde, das eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, was meinst du?«

»Oh, und ob.«

»Vielleicht sollten wir zusammen eine Firma gründen. ›Tausend Tipps, ihn loszuwerden. 24-Stunden-Service für wirkungsvolle Männerabschreckung.‹«

Stoner lachte. »Du hinkst ungefähr zehn Jahre hinterher. Männer anlocken ist wieder in.«

»Du, ich hab das Gefühl«, Gwen schlang ihre Arme um die Knie, »irgendwann ist uns der Fehdehandschuh verloren gegangen, und ich hab es nicht mal gemerkt. Es ist höchste Zeit, die Revolution wieder in Gang zu bringen.«

»Ich bin bereit, gib das Signal.«

»Erst mal müssen wir die Nacht durchstehen.« Gwen legte Buch und Brille auf den Nachttisch. »Kannst du diesen Ofen nicht ein bisschen auf Touren bringen? Der Raum ist der reinste Eisschrank.«

Stoner kniete sich hin und versuchte es. »Ich glaube, er tut schon sein Bestes.« Eine wunderbare Idee beschlich sie. »Du könntest mit zu mir unter die Decke kriechen.«

»Ich würde dich zerquetschen.«

»Nein, gar nicht.« Sie schlüpfte unter die Decke und presste ihren Rücken gegen die Wand. »Guck, jede Menge Platz.«

»Bist du sicher?«

Sie fühlte sich kühn und sorglos. »Ganz sicher.«

»Nicht, dass ich dich wach halte.«

»Das wirst du nicht.«

»Vielleicht doch.«

»Du hältst mich jetzt wach.«

»Na ja«, sagte Gwen, »es ist wirklich furchtbar kalt.«

»Und es wird garantiert noch kälter.«

Gwen machte Anstalten aufzustehen und überlegte es sich anders. »Lieber nicht.«

»Gwyneth«, sagte Stoner streng, »es ist nicht sinnvoll, dass wir beide frieren. Mach, dass du hier rüberkommst, bevor ich dich der Homophobie verdächtigen muss.«

Gwen schnappte sich ihre Decke und ihr Kissen, warf beides auf Stoners Bett und schlüpfte neben sie. »Erpressung«, brummelte sie.

Stoner stopfte die Decken um sie herum fest. »Besser?«

»Himmlisch.« Aber ihre Stimme war unsicher, ihr Körper steif.

»Warum so angespannt?«

»Kalt.«

Stoner griff über sie hinweg und knipste die Nachttischlampe aus. »Iowa war Iowa, Gwen. Ich weiß, dass das nicht mehr gilt.«

»Stoner …«

Sie küsste Gwens Scheitel. »Schlaf jetzt.«

Gwen griff nach Stoners Hand und zog ihren Arm wie einen Schal um sich. »Du bist wirklich sehr, sehr lieb, weißt du.«

»Ich weiß«, sagte Stoner. »Das ist mein einziges Laster.«

Sie hörte, wie Gwens Atemzüge langsam und gleichmäßig wurden, fühlte, wie sie einschlief. In einiger Entfernung murmelte das Meer. Von irgendwo oberhalb kam das Geräusch tropfenden Wassers, der Nieselregen bekam Verstärkung durch schmelzenden Schnee, nun würde allmählich die Erde zu neuem Frühling erwachen.

Tante Hermione erklärte gern: ›Die Veränderung ist das größte Wunder allen Lebens. In jedem Augenblick löst sich Vergangenheit auf, Gegenwart vergeht, und die Zukunft nimmt die Fäden auf und beginnt ihr Muster zu weben. Ob zum Guten oder zum Schlechten, das Morgen ist seiner Natur nach neue Möglichkeit.‹

Im letzten August hielt ich eine Nacht lang ein Kissen in den Armen und stellte mir vor, es sei Gwen. Heute Nacht halte ich sie in den Armen. Kommenden Sommer fahren wir nach Wyoming. Und eines Tages vielleicht nach Anguilla, willkommen geheißen von Wer-auch-immer-uns-gerade-begegnet …

***

Sie träumte, sie wolle jemanden im Krankenhaus besuchen, aber sie verlief sich und wanderte durch die Stationen auf der Suche nach einer Person, die ihr den Weg sagen konnte.

Sie ging durch eine Reihe von schweren Metalldoppeltüren mit Drahtglasscheiben und fand sich in einem Raum ohne Ausgang wieder. Aus den Ecken hörte sie Gemurmel von verschleierten Gestalten.

Sie drehte sich um, um denselben Weg zurückzugehen, und sah, dass sich Kindergesichter gegen die Drahtglasscheiben pressten.

Während sie hinschaute, begannen sie sich zu verändern, ihnen wuchsen krallige Füße …

… und winklige Schwänze mit Gelenken …

und sie wurden zu Skorpionen.

Sie zuckte erschrocken zurück, wagte nicht, die Tür zu berühren.

Und plötzlich wusste sie, dies war ein Ort der Metamorphosen, auch sie würde sich allmählich verändern …

… und wenn sie sich verwandelt hatte, würde sie zerquetscht werden …

… und die ganze Zeit würde sie bei vollem Bewusstsein sein.

***

Der Nebel war verdunstet. Stückchen wässrigblauen Himmels waren zu sehen. Hoch oben segelten Möwen, ihre heiseren Schreie zerrissen die Luft, klangen nach Ekstase und Wut.

»Du hattest recht«, sagte sie zu Gwen. »Hummer und Zitronenbaisertorte machen Alpträume.«

Aber Gwen war weg.

Sie stolperte ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte, ihre aufsteigende Angst herunterzuschlucken.

Sie ist nicht weit, ihre Sachen sind alle noch da. Vielleicht joggt sie morgens gern eine Runde. Vielleicht ist sie das Meer angucken gegangen. Vielleicht …

Sie spähte aus dem Fenster.

Das Auto ist da. Sie würde nicht ohne das Auto abreisen. Sie würde mich nicht allein lassen …

Wenn in der Nacht irgendwer gekommen wäre, hätte ich es gehört. Wer sollte auch in der Nacht kommen?

Der graue Mann von der Hafenschänke?

Sie ließ sich aufs Bett fallen, den Tränen nahe. Verdammt, ich wollte, dass wir zusammen aufwachen, unbedingt wollte ich das.

Die Tür wurde heftig aufgestoßen. »Guten Morgen«, sagte Gwen fröhlich. Sie warf ihren Mantel von sich und deponierte eine weiße Papiertüte auf dem Nachttisch. »Es ist ein wunderschöner Tag, überall sprießen die Märzknospen, Gott sitzt lächelnd in Ihrem Himmel, und du wirst die ›Seegurke‹ lieben.«

»Ich dachte, du wärst abgereist.«

Gwen sah sie an. »Warum sollte ich?«

»Wo warst du?«

»Unterwegs auf der Suche nach der besten Tasse Kaffee in ganz Castleton für dich. Angesichts der Möglichkeiten fiel die Auswahl nicht schwer.«

Sie setzte sich, holte zwei Styroporbecher aus der Tüte und zog die Deckel ab. »Zucker? Süßstoff?«

Stoner schüttelte den Kopf.

»Genau den Verdacht hatte ich. Du bist total chemikalienfrei.«

»Nicht ganz«, sagte Stoner und schlürfte ihren Kaffee. »Ich nehme Zucker, wenn ich nervös bin, und ich trinke Alkohol. Stürmst du morgens immer los wie ein Überfallkommando?«

»Nur während des Schuljahres. Lehrerinnen gehen nun mal in Spurtstellung, sobald sie ein Auge offen haben.«

»Eine der Hauptursachen für die hohe Jugendkriminalität in diesem Land«, maulte Stoner, »ist die ewige zwanghafte Fröhlichkeit der Lehrkräfte.«

»Meckertante.« Gwen pikste sie liebevoll. »Los, steh auf. Es gilt, einen wundervollen Tag zu verbringen.«

»Geh weg.« Sie zog sich die Decke über den Kopf. »Komm zu einer zumutbaren Uhrzeit wieder.«

»Jetzt ist eine zumutbare Uhrzeit.«

»Wie zumutbar?«

»Fast neun.«

Stoner tastete nach ihrer Armbanduhr. »Es ist erst zehn nach acht, Gwen.«

Gwen riss ihr die Decke weg. »Steh auf. Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst.«

»Es ist eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache«, sagte Stoner geduldig, »dass ein Drittel der Weltbevölkerung nicht imstande ist, vor zehn Uhr normale Funktionen zu aktivieren. Jeder dritte Mensch, der da draußen herumfährt, befindet sich im Halbschlaf. Die anderen zwei Drittel sind hyperenergetische Wahnsinnige.«

Gwen zerrte ein T-Shirt aus Stoners Koffer und warf es nach ihr. »Du kannst doch Schattenhain nicht mit leerem Magen attackieren.«

»Das Einzige, was ich gleich attackieren werde, bist du.«

»Echt stark«, sagte Gwen. »Ich bin ganz weg, Mann. Können wir jetzt los?«

»Das«, bemerkte Stoner, »war politisch gesehen eine Sauerei.« Sie schloss sich im Bad ein.

Gwen hämmerte gegen die Tür. »Wenn du schon wieder duschst, bringe ich mich um!«

***

Die Seegurke füllte das Erdgeschoss eines kleinen, verwitterten Hauses. Vor die großen Panoramafenster zur Straße raus waren grüne Tüllgardinen gezogen, um die Morgensonne etwas zu filtern. In der geräumigen Gaststube standen Tische irgendwie beliebig herum. Ein Tresen mit Barhockern, dahinter halb verdeckt die Küche. Auf einer Tafel waren die Tagesgerichte angekündigt – Hackbraten mit Kartoffelbrei und Erbsen, Hummerrouladen, Kabeljaukroketten und hausgemachte Hühnersuppe.

Über der Spüle hing ein lüsterner Kalender, auf dem eine schwüle Brünette in tief ausgeschnittenem Badeanzug und nadelspitzen Pumps lasziv über die Schulter blinzelte und Ostergrüße von der Peloponnesischen Gesellschaft für Artesische Brunnen bestellte.

»Ist sie nicht umwerfend?«, flüsterte Gwen.

»Wenn du auf so was stehst.«

»Doch nicht das Mannequin, du Dummchen. Sie!«

Eine drahtige, dunkelhaarige Frau fortgeschrittenen Alters stand hinter dem Tresen und schenkte Kaffee ein.

»Klar«, murmelte Stoner verschlafen. »Umwerfend.«

Die Möblierung übertraf Tante Hermiones wildeste Phantasien. Chrom, wohin das Auge blickte. Tischkanten, Serviettenringe, Salzfässer, Zuckerdosen, der Kaffeeautomat, die Barhocker, die Stühle.

»Der Laden gehört ihr«, verkündete Gwen.

»Wie schön.«

Postkarten von der alten, bräunlichen Art mit matten Oberflächen tapezierten die Wand hinter einer nichtcomputerisierten, nichtelektrischen, nichtdigitalen Kurbelkasse. Eine Glasvitrine beinhaltete Roi-Tan-Zigarren, Kartenspiele mit Radrennmotiven (Skat- und Rommeeblätter), Gewerkschaftsbeitrittsformulare und cellophanumhüllte Sechserpackungen Rootbeer. Neben der Eingangstür hing zwischen bunten ›Mach den Pepsi-Test‹- und ›Ich geh meilenweit für eine Camel‹-Postern eine Unmenge Polaroid-Sofortbilder. Auf mehreren hüpfte eine Hochzeitsgesellschaft mit einer weißen Papierglocke zwischen bunten Luftschlangen auf den Tischen des Lokals herum. Auf ein paar anderen war die Papierglocke rot, Girlanden aus Pappbuchstaben verkündeten ›Fröhliches neues Jahr‹ und breit grinsende Pärchen hielten Plastikgläser mit Sekt in die Höhe. Es gab auch eine Serie mit aufsehenerregenden Fängen, schlaffe Fische baumelten von Angelschnüren in den Händen untersetzter Männer in ölverschmierten Overalls. Dann ein offizieller Brief von der Freiwilligen Feuerwehr Castleton, der ›Dee und Dan‹ für die Versorgung mit Kaffee und Keksen anlässlich des Brandes in Tatros Scheune dankte. Die Fotokopie eines Schecks über 10 Dollar 82 Cent, unterschrieben von Präsidentschaftskandidat George McGovern. Und ein vergilbter Zeitungsausschnitt zeigte Erzbischof Medeiros, wie er die Fischereiflotte von Castleton segnete.

»Du hast recht«, sagte Stoner. »Dieser Laden ist wirklich …« Eine Gestalt auf einem Schnappschuss fiel ihr ins Auge. Sie zupfte Gwen am Ärmel. »Sieh mal!«

Gwen warf einen Blick auf das Bild. »Großer Gott«, ächzte sie. »Das ist der ekelhafteste Fisch, den ich je gesehen habe.«

»Sieh genauer hin.«

»Was ist mit den Augen los?«

Zwei murmelartige Beulen quollen aus dem Kopf des Fisches. Sie lagen sehr weit vorne, und zwar beide in der Mitte der rechten Kopfseite.

»Es ist eine Flunder«, erklärte Stoner. »Die Augen wandern. Gwen …«

»Das tun sie allerdings! Warum um alles in der Welt verlangst du von mir, dass ich mir das ansehe?«

»Nicht den Fisch.«

»Es gibt Dinge, Stoner, die ich wirklich nicht haben muss, ich kann sehr gut ohne so etwas leben.«

»Im Hintergrund, am Tresen, vor der Tageskarte.« Sie wartete. »Na?«

»Was ›na‹?«

»Erkennst du die Frau nicht?«

»Sollte ich?«

»Es ist Claire Rasmussen.«

Gwen drehte sich zu ihr um. »Wie soll ich eine Frau erkennen, die ich noch nie gesehen habe?«

»Na, ihr Bild. Das, das mir Nancy gegeben hat.«

»Du hast es mir nicht gezeigt.«

Stoner zerrte es aus der Tasche und reichte es ihr.

»Jawoll«, sagte Gwen, »das ist in der Tat die fragliche Person.«

»Ist dir klar, was das bedeutet?«

»Es bedeutet, dass Claire manchmal auswärts isst.« Sie schüttelte sich. »Und zwar in ziemlich fragwürdiger Gesellschaft.«

»Es bedeutet, dass sie hier vielleicht bekannt ist.« Sie ging zu einem freien Tisch hinüber.

Gwen folgte ihr. »Prima. Lass uns was essen.«

Stoner setzte sich hin und beugte sich vor. »Also, als Erstes müssen wir eine Strategie entwerfen, wie wir rauskriegen …«

»Versuch’s mit fragen«, meinte Gwen trocken.

»Wir müssen es sehr beiläufig klingen lassen.«

»Schön, lass es beiläufig klingen. Ich hab Hunger.«

Die Frau kam hinter dem Tresen hervor und steuerte auf sie zu. »So schnell wieder hier, Schätzchen?«

Gwen nickte.

»Magst wohl die Küche?«

Gwen nickte wieder.

»Was kann ich euch bringen, Kinder?«

»Von allem ein bisschen«, sagte Gwen.

»Kommt sofort.« Sie wandte sich Stoner zu. »Und du?«

»Nur Kaffee und Hörnchen, bitte.«

»Gibt frische Bratkartoffeln.«

»Na gut, ich probiere sie.«

»Ich brate dir ein knuspriges Ei dazu.«

»In Ordnung.«

»Und Fleischpudding ist im Angebot.«

»Davon auch ein bisschen.«

Die Frau sah Gwen an und zwinkerte. »Sie ist ziemlich wählerisch, was?«

Gwen sah hoch, lächelte und senkte den Kopf rasch wieder.

»Die Frage ist«, meinte die Frau, »soll ich weitermachen oder aufhören, bevor ich durch bin.«

»Was kommt denn als Nächstes?«, fragte Stoner.

»Pfannkuchen.«

»Hören Sie lieber auf.«

Sie sah zu, wie die Frau zwei Tassen Kaffee eingoss und sich am Herd zu schaffen machte. Gwen saß mit im Schoss gefalteten Händen da wie eine Dame.

»Fehlt dir was?«, erkundigte sich Stoner.

»Nein«, murmelte Gwen.

»Betest du?«

»Nein, in Gottes Namen, ich bete nicht.«

Stoner ließ das unkommentiert. »Du, die sieht mir ganz so aus, als ob sie den Dorfklatsch in- und auswendig kennt. Das hier könnte unser erster richtiger Treffer sein.«

»Dann bleib eben am Ball, aber bitte leise, okay?« Gwen umarmte ihre Kaffeetasse und starrte hinein.

Irgendetwas entschieden Seltsames geht hier vor. »Gwen, hab ich dich geärgert?«

»Natürlich nicht.«

Am Tresen saßen zwei Männer Ellbogen an Ellbogen und sahen verfroren aus.

»Hummerpreise abgestürzt«, sagte der eine. »Drei fünfzig fürs Pfund unten in Boston.«

»Verdammte Großhändler«, brummte der andere. »Im Inland verkaufen sie’s zu sechs neunundneunzig. Macht mich echt stinkig.«

»Bin mit dem Mafioso-Typ neulich rumgefahren. Weißt schon, der aus Gloucester.«

Der andere Mann grunzte. »Gibst dich ja mit feinen Herren ab.«

»Jammerte rum, von wegen was allein der Sprit kostet, das Zeug auf den Markt zu karren. Mein Boot läuft ja auch nicht mit Luft.«

»Meins läuft mit Pisse.«

»Von wegen«, warf die Frau ein. »Deins läuft mit schlechter Laune.« Sie füllte ihre Tassen nach. »Iss lieber deinen Teller leer, Virge. Sieht sonst aus, als hättest du keine Selbstachtung.«

»Mieser Kaffee, Delia«, sagte der andere.

»Genau wie die Kundschaft.«

»Die Frau will wissen, wann du rumkommst.«

Sie steckte vier Scheiben Brot in den Toaster. »So? Und wer, glaubst du, kümmert sich um den Laden hier, wenn ich Sozialhelferin spiele wie ’ne untätige reiche Gutsbesitzermadam?«

»Wollte, du würdest rumkommen, ’s hat sie schlimm erwischt, so ’ne Art Kindbettfieber.«

»Ja, weil du sie ewig schwängerst. Kannst du nicht was Besseres mit deinen Nächten anfangen? Die Leute reden schon.«

»Nicht meine Schuld. Gott hat mich so gemacht. Wollte wirklich, du würdest rumkommen.«

»Ich hab zu tun, Frank. Siehst du mich hier vielleicht rumsitzen und fernsehen oder den Pudel mit Schokolade füttern?«

»Hol dir doch ’n Mädel dazu«, sagte der Mann namens Virge. »Wirst ja auch nicht jünger.«

»Und du wirst ja auch nicht spendabler in Sachen Trinkgeld.«

»Heb ich mir auf. An dem Tag, wo ich von dir ’ne vernünftige Tasse Kaffee kriege, führ ich dich zum Altar.«

Delia bellte ein raues Lachen. »Bevor ausgerechnet ’n windiger Hund wie du mich dazu kriegt, Kompromisse zu machen, wird’s eher von unten nach oben regnen.«

»Wenn du so sehr auf Knete aus bist«, sagte Frank zu Delia, »solltest du dich an die Schattenhain-Truppe halten.«

Stoners Kopf ruckte hoch.

Delia schnaubte verächtlich.

»Du kochst allemal gut genug für den Verein da«, fügte er hinzu.

»Von wegen«, mischte sich Virge wieder ein. »Die leben in Saus und Braus da oben.«

»Seit wann bist du denn so gut informiert?«, fragte Frank.

Virge zuckte die Achseln. »Ich komm eben viel rum.«

Delia sah ihn scharf an. »Lass dich nicht mit der Bande ein, Virge. Das gibt nur Ärger. Sag’s ihm, Frank.«

»Nur Ärger«, bekräftigte Frank.

Virge ließ seine Fingerknochen knacken. »Was glaubt ihr, worauf sie aus sind?«

»Schleppnetzfischen«, brummte Delia und hieb ein Ei in die Pfanne, »und damit solltest du dich zufriedengeben.«

»An der Stelle is’ nix mit Schleppnetzfischen«, meinte Virge beharrlich. »Die Strömung da is’ launischer als ’ne New Yorker Hure.«

»Über die bist du wohl auch gut informiert«, grummelte Frank.

»Heute is’ jedenfalls Neumond. Da werden sie rausfahren.«

»Nicht heute«, widersprach Frank. »Es gibt Nebel, so dick wie Möwenscheiße.«

Stoner stupste mit ihrer Stiefelspitze an Gwens Knöchel.

»Jungs, steckt gefälligst eure Nasen in eure eigenen Mülleimer«, sagte Delia streng. Sie riss eine Seite von ihrem Bestellblock. »Ihr wollt doch nicht, dass euch dasselbe passiert wie Dan.«

Virge rutschte vom Barhocker, schielte auf seine Rechnung und packte zwei Dollar und ein paar Münzen auf den Tresen.

»Armes Schwein. Dan war ’n verdammt netter alter Sack.« Er zerrte sich am Ohrläppchen. »Hätte nie gedacht, dass er sich auf See volllaufen lässt. Verrückter Hund.«

»Wenn du dieses Ammenmärchen wirklich glaubst«, sagte Delia, »werd ich dir noch ’n schickes Grundstück mit Meerblick auf Cape Cod verkaufen.«

»Hast du das gehört?«, flüsterte Stoner Gwen zu.

Gwen antwortete nicht. Sie starrte Delia an und schien in Trance gefallen zu sein.

Virge gähnte und kratzte sich am Kinn. »Man sieht sich, Delia. Sag mir Bescheid, wenn du dich dazu durchgerungen hast, mal die verdammte Kaffeekanne abzuwaschen.«

»Das werd ich nicht. Die besseren Dinge dieser Welt wär’n an dich doch nur verschwendet, Virge.« Sie drehte sich zum Grill und schlug den Fleischpudding zusammen.

Frank schlurfte zur Tür.

Als Virge an ihrem Tisch vorbeikam, blieb er stehen und rückte seine grünschwarze Öljacke zurecht. »Morgen, Mädels. Auf Urlaub hier?«

»Eh …«, sagte Stoner.

»Lässt du wohl meine Kundschaft in Ruhe, du geiler alter Sack«, brüllte Delia.

Virge kicherte in sich hinein und schlenderte gemächlich hinaus in die Sonne.

»Tut mir leid«, sagte Delia. »Virge bildet sich ein, er sei Gottes Geschenk an die Frauen.« Sie stellte die Teller vor sie hin und legte Messer dazu. »Braucht ihr sonst noch was?«

Stoner starrte den riesigen Berg Essen an, der vor ihr stand. »Hab ich das alles bestellt?«

»Hast du.«

»Es sieht gut aus«, sagte Gwen.

Delia sah auf Gwens noch gehäufteren Teller. »Isst du immer so?«

»Wenn man mit Stoner unterwegs ist«, sagte Gwen, »weiß man nie, wann und wo man wieder was kriegt.«

»Passen Sie auf«, sagte Stoner. »Sie schafft auch noch die Hälfte von meinem.«

Delia musterte Gwen von oben bis unten. »Nix von zu sehen.«

»Ich hab viel Stress«, sagte Gwen.

»Ja, ich auch.« Delia zupfte an dem losen Stoff ihrer weiten Kleidung. »Vor ’nem Monat saß das noch wie ’ne zweite Haut. Wollt ihr ’n bisschen Blaubeermarmelade? Hab die Beeren letzten Sommer selbst gepflückt. Klingt doch malerisch, oder?«

»Liebend gern«, sagte Gwen eifrig.

Delia tänzelte aus dem Raum.

»Hast du gehört, was sie vorhin gesagt hat?« Stoner machte sich über ihre Bratkartoffeln her. »Sie weiß etwas über Schattenhain.«

»Ich hab’s gehört.« Gwen verstümmelte ein Ei.

»Vielleicht kriegen wir was raus …«

»Was denn?«

»Irgendwas.«

Gwen sah sie an und lächelte. »Wenn du aufgeregt bist, leuchten deine Augen wie Smaragde.« Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Haben Walt und Dot beide grüne Augen?«

»Nein, nur meine Mutter. Oder war es mein Vater?«

»Wenn du die beiden nicht mal unterscheiden kannst, ist es kein Wunder, dass sie dir das Leben schwer gemacht haben.«

Stoner runzelte irritiert die Stirn. »Wie kommt es, dass du auf einmal so gesprächig bist? Ich hab schon gedacht, du wärst zu Stein geworden.«

Gwen schien überrascht. »Wirklich? Ich dachte, ich hätte …«

Sie brach ab, als Delia mit einem Gläschen Marmelade zurückkam und es auf den Tisch stellte. »Alles nach Wunsch? So sagt man doch in den vornehmeren Restaurants.«

»Prima«, sagte Stoner. »Dies ist das erste Essen, das ich seit einer Woche bekomme, wo kein Krautsalat bei ist.«

»Krautsalat!« Delias schwarze Brauen schossen in die Höhe. »Willst du mich zum Würgen bringen?«

»Meine Tante ist süchtig danach.«

»Möchten Sie sich nicht zu uns setzen?«, fragte Gwen. »Solange Sie nichts zu tun haben. Ich meine, wenn Sie gerade etwas anderes vorhatten …«

»Hätte nichts dagegen, meine Füße mal zu entlasten, aber ich rauche Kette.«

»Das macht mir nichts aus«, sagte Gwen. »Stoner?«

»Kein Problem.«

Delia zog einen Stuhl heran, kramte ein Päckchen Chesterfield aus ihrer Tasche und steckte sich eine an. Sie inhalierte und betrachtete sinnend die Glutspitze. »Sie sagen, die Dinger bringen einen um. Verdammt, was tut das nicht?«

Aus der Nähe betrachtet schien sie fast an die sechzig zu sein. Ihr Haar, jettschwarz bis auf gelegentliche Spritzer Grau direkt am Scheitel, hatte einen nachtblauen Schimmer. Ihr Gesicht war tief zerfurcht, mit vollen Lippen und dunklen, glänzenden Augen wie polierte Kohlen. Ihre Arme waren dünn, auf den Handrücken standen die Knochen heraus, und um ihre Fingernägel herum war die Haut rissig und gesprungen. Sie sah Stoners Blick und kicherte. »Abwaschhände. Dan sagte gern, das Einzige, was wir gemeinsam hätten, seien griechische Eltern und kaputte Hände.« Sie zog nachdenklich an ihrer Zigarette. »Na ja, er sagte noch ein paar mehr Dinge, allerdings ziemlich unanständiges Zeug.«

»Dan war Ihr Mann?«, fragte Stoner.

»Wir wär’n in diesem Juni fünfunddreißig Jahre verheiratet, wenn er sich nicht vorher hätte umbringen lassen.«

»Ja, ich hörte die Herren so etwas …«

Delia lachte schallend. »Herren! Warte, wenn ich Virge erzähle, dass du ihn einen Herrn genannt hast. Der fühlt sich sofort wie der Coq-de-la-rue

»Der was?«, fragte Stoner.

»Der Hahn im Korb«, erklärte Gwen. »Das ist eine Redewendung. Sie bedeutet …«

»Genau das, wonach sie klingt«, sagte Delia.

Gwen nahm ein Schlückchen Kaffee. Als sie die Tasse wieder absetzte, schepperte sie klirrend gegen die Untertasse.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Stoner.

»Völlig.« Sie rückte ihren Toast auf dem Teller zurecht und räusperte sich. »Schöner Tag heute.«

»Lasst euch nicht täuschen«, meinte Delia. »Um diese Jahreszeit kannst du ab vier Uhr nachmittags schon beim Überqueren der Straße für immer verloren gehen. Woher kommt ihr Mädels?«

»Boston«, sagte Stoner.

»Ziemlich große Stadt.«

»Oh ja«, sagte Gwen strahlend. »Sehr groß.« Sie sah Delia an und duckte ihren Kopf.

»Ich komm mehrmals im Jahr da runter. Kommt mir immer alles ’n bisschen verzweifelt vor, wenn ihr wisst, was ich meine.«

»Ich weiß genau, was Sie meinen«, sagte Gwen. »Verzweifelt trifft es wirklich hervorragend.«

Stoner starrte sie an. Was ist hier los?

Gwen fing ihren fragenden Blick auf und konzentrierte sich vollständig darauf, die Enden ihres Löffels und ihres Messers in eine Linie mit der Tischkante zu bringen.

»Ist der Fleischpudding kalt, Schätzchen?«, fragte Delia.

»Nein!« Gwen aß eine Gabel voll, lächelte scheu und strich sich die Haare hinter die Ohren.

»Wenn’s dir nicht schmeckt, lass es ruhig stehen. Ich bin nicht empfindlich in diesen Dingen.«

»Nein, wirklich, es schmeckt mir. Es schmeckt mir sogar sehr!«

Kurioser und kurioser, wie Marylou sagen würde. »Gwen, wenn du lieber etwas anderes …«

»Es ist prima

»Ich dachte, du hast Hunger.«

»Hab ich auch. Aber deshalb muss ich doch nicht gleich essen wie ein Scheunendrescher, oder?«

»Na ja«, meinte Stoner, »eigentlich bin ich das von dir gewöhnt.«

Ein mörderisches Funkeln trat in Gwens Augen. »Stoner …«

»Stoner?« Delia wandte sich ihr zu. »Ist das ein Familienname?«

»Ich bin nach Lucy B. Stone benannt.«

»Ach«, sagte Delia, »was sagt man dazu.« Sie drehte sich wieder zu Gwen. »Und wie heißt du? Gloria Steinem?«

»Gwen«, sagte Gwen. »Gwen Owens.«

»Kurz für Gwyneth«, erklärte Stoner.

»Wie hübsch. Klingt nach Schneegestöber.«

Gwen wurde rot. »Es ist Walisisch.«

Die ältere Frau legte ihren Arm über die Stuhllehne und studierte den Rauch ihrer Zigarette. »Walisisch. Also, das ist vielleicht ’ne Sprache, da kriegst du vom bloßen Zuhören schon Knoten im Mund. Geschrieben sieht es aus wie das, was beim Scrabble übrigbleibt.« Sie legte ihre Hand auf Gwens Unterarm. »Ich mein’s nicht persönlich, Herzchen.«

Gwen starrte auf die Hand.

Eigenartig. Wirklich eigenartig.

»Ich zum Beispiel hab ’n Namen, an dem ein Pferd würgen müsste. Papadopoulou. Hab ihn jahrelang nicht mehr gehört. Die Leute nennen mich Delia, oder Dee, oder He, Sie.«

»Der Name meines Mannes war Bryan Oxnard«, sagte Gwen. »Stoner und ich haben ihn umgebracht.«

Delia saugte an ihrer Zigarette. »Ich hätte gedacht, dass eine Scheidung weniger aufwendig ist. Katholisch? Oder jähzornig?«

»Es war ein Unfall«, sagte Stoner. »Aber ihr Mann war nicht sehr nett.«

»Ach ja …« Delia nickte. »Ich hab schon so einige bösartige Typen kennengelernt. Aber du siehst mir gar nicht aus wie eine, die Leute wütend macht.«

»Sie nicht«, warf Stoner ein, »aber er.«

»Stoner, ich bin sicher, dass Mrs. … Mrs. … sich nicht für unsere Probleme interessiert.«

»Teufel«, sagte Delia, »eure Probleme sind immer noch interessanter als meine eigenen.«

»Sie haben Probleme?«, fragte Gwen.

»Die Tage durchzustehen, das kann ein Problem sein.«

»Das tut mir leid.«

»Nicht deine Schuld, Herzchen.«

Gwen lief tiefrosa an.

»Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«, fragte Stoner.

Gwen stieß ihren Stuhl zurück. »Entschuldigung. Ich muss den Waschraum benutzen.«

»Durch die Küche, dann rechts und die Treppe hoch. Tritt nicht auf die Katze.« Delia drückte ihre halbgerauchte Zigarette aus und zündete eine neue an. »Sie sagen, auf die Art kann man es einschränken. Ich glaub aber eher, auf die Art kann man pleitegehen.« Sie deutete auf Gwens Stuhl. »Ist sie immer so höflich?«

»Normalerweise nicht. Ich weiß nicht, was los ist.«

»Hoffentlich jage ich ihr keine Angst ein.«

»Das bezweifle ich.«

»Na ja«, sagte Delia, »man kann nie wissen. Erinnert mich an mich selbst, wie ich das erste Mal mit Dans Familie zusammentraf. Ich war so erpicht darauf, einen guten Eindruck zu erwecken, dass ich alle nervös machte.«

Stoner begann ein Licht aufzugehen.

»Sonst scheint sie ein süßes Kind zu sein.«

»Sie ist einunddreißig!«, sagte Stoner.

»Herzchen, für Leute in meinem Alter ist jede unter vierzig ’n Kind. Was macht ihr Mädels eigentlich in Castleton?«

»Eine Besichtigungstour.«

»Hier? Da hättet ihr euch an Bar Harbour halten sollen. Dieses Loch hier versinkt zu Ostern in totales Koma. Wenn man es sich genau überlegt, ist hier eigentlich nie viel los.«

»Eine Freundin zu Hause in Boston bat uns, hier vorbeizuschauen und ihre Schwester zu grüßen. Vielleicht kennen Sie sie.«

Delia stieß ein Rauchwölkchen aus ihrer Nase. »Anzunehmen. Ich hab das unerhörte Pech, so ziemlich jeden in diesem Nest zu kennen.«

»Sie ist Pflegerin in Schattenhain.«

Die Frau verzog den Mund zu einer Grimasse. »Das is ’n seltsamer Haufen da.«

»Den Eindruck bekomme ich langsam auch.«

»Die verrückteste Sammlung von schrägen Vögeln, die ich je außerhalb eines Wanderzirkus zu Gesicht bekommen hab. Und ich meine damit nicht die Patienten.« Sie hielt inne. »Du bist doch nicht aus der Branche, oder?«

»Der Branche?«

»Na, gehörst du zu ihrer ›Kammer‹, wie sie das nennen?«

»Ich bin Reiseunternehmerin.«

»Dan und ich waren mal bei einem Reiseunternehmer, drüben in Augusta. Komische Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Tja, das ist es wohl«, sagte Stoner.

»Hotels, Leute, Züge und Flugzeuge … kann mir einfach nicht vorstellen, wie man das alles geregelt kriegt.«

Stoner schmunzelte. »Wenn Sie wüssten, wie viel pures Glück dazugehört, würden Sie nie wieder verreisen.«

»Tja, das werd ich wohl so oder so nicht. Der Spaß an so was ist irgendwie futsch, seit Dan tot ist.«

»Das tut mir leid.«

»Mach dir nichts draus«, sagte Delia, »ich hab heute meinen Selbstmitleidigen. Wer ist diese Schwester, bei der ihr vorbeischauen sollt?«

»Sie haben ein Bild von ihr da drüben. Die Blonde hinter der Flunder.«

Delia stand auf und holte das Foto. »Claire? Klar kenne ich die. Ganz anderer Schlag als der Rest der Sippe, wenn du weißt, was ich meine.« Sie zündete sich eine neue Zigarette an. »Meinst du, dass das der richtige Weg zum Aufhören ist?«

»Keine Ahnung«, sagte Stoner. »Ich hab nie geraucht.«

»Gut, fang nie an. Es bringt dich um.« Sie betrachtete Claires Bild. »Nettes Kind. Bringt manchmal Patienten mit her. Die Einzige, die sich die Mühe macht.«

»Haben Sie sie in letzter Zeit gesehen?«

Delia dachte nach. »Jetzt, wo du davon anfängst, fällt mir ein, schon ein paar Wochen nicht mehr. Vielleicht hat sie’s hingeschmissen, könnte ihr niemand verübeln.«

»Ihre Schwester hat auch nichts mehr gehört. Sie sagt, das passt nicht zu ihr. Deshalb …«

»Herrje«, unterbrach Delia, »hoffentlich ist sie nicht in diese verdammte Geschichte verwickelt, weiß der Teufel, was da draußen vorgeht.«

Stoner wandte sich den Eiern auf ihrem Teller zu. »Was geht denn da draußen vor?«

»Keinen blassen Schimmer«, sagte Delia. »Aber irgendwas ist faul, und ich hätte nichts dagegen, zu wissen, was. Würde die Bande nur zu gerne kaltstellen.«

Gwen erschien wieder und schob sich auf ihren Stuhl. »Es tut mir leid«, sagte sie, »ich bin auf die Katze getreten.«

»Du bist nicht die Erste. Sie lebt ja noch, oder?«

»Ja, erst dachte ich, sie wollte aus dem Weg gehen, aber sie ging dann doch nicht.«

»Du hast gesehen, dass Aphrodite sich bewegt hat?«

Gwen nickte.

»Sprich ein Gebet, Herzchen. Du hast soeben ein Wunder erlebt. Dan sagte immer, sie durchliefe nur die Pause zwischen den Inkarnationen. Mir kommt es eher vor wie die Pause zwischen den Kopulationen. Bist du auch im Reisegeschäft?«

»Ich bin Lehrerin. An der Watertown Junior Highschool.«

»Im Ernst? Mein kleiner Bruder arbeitet in Watertown, im ›Schiefen Turm von Pizza‹.«

»Ich kenne das Lokal.«

»Er ist der mit dem goldenen Halskettchen.«

Gwen sah sie an. »Kleiner Bruder? Der Mann ist doch mindestens fünfundvierzig oder sogar noch älter!«

Delias Augen verengten sich. »Kein Grund, ausfallend zu werden.«

»Oh, Mist«, stammelte Gwen. »Ich … es tut mir leid. Ich …« Ihr Blick fiel auf das Foto. »Wie kommt bloß dieser FISCH hierher?«

»Es ist eine Flunder«, sagte Stoner. »Ich hab dir das mit den Augen doch erklärt.«

»Bitte, Stoner, ich esse gerade.«

»Nicht viel«, sagte Delia.

»Gibt es wirklich Leute, die rausfahren und diese Kreaturen aus muchigen Tiefen zerren und mit nach Hause nehmen?«

Delia lachte. »Sie setzen sich doch nicht davor und bewundern sie, Herzchen. Sie essen sie.«

»Ich könnte nie etwas essen, was so aussieht.«

»Das hast du vermutlich schon mehr als einmal getan.«

»Dann werd ich es nie wieder tun«, sagte Gwen. »Die Leute hier müssen hoffnungslos, hemmungslos verrückt sein.«

»Und so was nennt sich Lehrerin! Du bist ja ’n tolles Vorbild für deine Schüler, wenn du so über alles redest, was dir ’n bisschen fremd ist.«

Gwens Gesicht nahm die scheckige Farbe der Tischdecken in der Hafenschänke an. »Ich wollte nicht …«

»Ach, vergiss es«, lachte Delia. »Ich will dich bloß auf die Palme bringen.«

»Oh«, sagte Gwen. »Ach so. Das macht nichts.«

Ich glaube das einfach nicht, dachte Stoner amüsiert. Gwen Owens bricht sich einen ab wie eine Vierzehnjährige, die ihre Englischlehrerin anhimmelt.

Sie grinste.

Gwen warf ihr einen bösen Blick zu.

»Wir haben über Schattenhain gesprochen«, sagte Stoner. »Delia glaubt, dass da igendwas faul ist.«

»Das ist schön«, murmelte Gwen ihrem Schinken zu.

»Eigentlich nicht«, sagte Delia.

Gwens Schultern wanderten zu ihren Ohren hoch.

Stoner räusperte sich.

»Inwiefern faul?«, fragte Gwen.

»Na ja, also genau weiß ich’s auch nicht. Aber wenn ihr die Krankenschwester nicht finden könnt, würde ich sagen, entweder sie ist gefeuert worden oder sie steckt in Schwierigkeiten.«

»Die sagen, sie hat Urlaub«, bemerkte Stoner.

»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Delia fixierte stirnrunzelnd ihre Glutspitze. »Dieser Verein ist so knauserig mit Urlaub, als wären die Tage aus Hartgold, ’n Typ, den ich kenne, hat da als Hilfspfleger gejobbt, nahm sich zwei Tage frei für die Beerdigung seines Vaters, dafür haben sie ihn an Erntedank Doppelschicht arbeiten lassen. Wenn das Arbeitgeberkulanz ist, bin ich die Königin von England.« Sie steckte sich ihre nächste Zigarette an der Kippe der vorigen an. »Muss wirklich damit Schluss machen.«

»Sie kennen jemanden, der dort arbeitet?« fragte Stoner.

»Er hat’s hingeschmissen. Ist auf und davon. War sowieso nie zu viel nutze …« Sie unterbrach sich und machte ein erschrockenes Gesicht. »Himmel.«

»Meinen Sie, er war vielleicht in diese Geschichte verwickelt, was immer es ist?«

»Könnte sein. Mir ist bis zu diesem Augenblick nie der Gedanke gekommen.«

»Wissen Sie, wo wir ihn finden können?«

Delia schüttelte den Kopf. »Nicht die leiseste Spur. Er ist einfach verschwunden. Himmel.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Aber er war auch der Typ, der einfach verschwindet.«

»Hängt das Ganze möglicherweise irgendwie mit der Hafenschänke zusammen?«

»Schon möglich, aber ich kann nicht sehen, wie. Wenn allerdings in Castleton krumme Sachen laufen, hängt Charlie Lennox immer irgendwie mit drin.«

»Charlie Lennox? Ist er – gewissermaßen grau?«

»Er ist eindeutig grau. In der Schule nannten wir ihn Charlie Farblos. Die müssen ziemlichen Dreck am Stecken haben, wenn sie sich mit solchen Typen einlassen. Andererseits hat er den schmucksten Hummerkutter, den ich je gesehen habe, und das für einen Mann, der nicht fischt.«

»Fährt er nicht bei Neumond Schleppnetzfischen?«

»Also, das weiß ich nun nicht. Aber es sollte nicht schwer rauszufinden sein. Ihr müsst nur gegen Mitternacht einen kleinen Spaziergang runter zur Anlegestelle machen. Er macht immer direkt hinterm Restaurant fest.«

»Angenommen, dass wirklich etwas nicht mit rechten Dingen zugeht«, sagte Gwen, »gehen Sie nicht ein großes Risiko ein, wenn Sie mit Fremden so offen darüber sprechen?«

»Kann sein. Aber ich hab ’n ganz guten Instinkt bei Menschen, und im Augenblick sagt mir dieser Instinkt, dass ihr zwei mir keinen Ärger machen würdet, nicht mal wenn ihr es drauf anlegt. Selbst wenn ihr deinen Mann um die Ecke gebracht habt.«

»Danke«, sagte Gwen.

»Wie auch immer, ich hab sowieso nichts mehr zu verlieren. Ich hab alles, woran mir wirklich was lag, in der Nacht verloren, als sie Dan ermordet haben.«

Gwen setzte sich aufrecht. »Ermordet?«

»Ich habe keine Beweise«, sagte Delia. »Sie behaupten, er sei aus dem Boot gefallen, besoffen. Der alte Doc Evans hat den Totenschein unterschrieben, sagte, in Dans Blut sei genug Sprit gewesen, um damit die Bar Harbor-Neuschottland-Fähre vollzutanken.« Sie blies Rauch durch die Nase. »Muss Dans Blut mit seinem eigenen verwechselt haben.«

»Gab es eine Untersuchung?«, fragte Stoner.

»Sicher. Alle blieben bei ihrer Geschichte.«

»Und was bringt Sie zu der Überzeugung, dass sie nicht stimmt?«

»Dan hat alle Gesetze dieser Welt gebrochen, wenn er an Land war. Aber es gab eine Sache, die er niemals getan hätte, und das war, an Bord der Delia II zu saufen.«

Die Tür öffnete sich und drei Fischer kamen hereingeschlendert, wobei sie Schneematsch und Schotter von ihren Stiefeln stampften. Delia drückte ihre Zigarette aus. »Ich muss mal wieder die Tresen-Jenny spielen.« Sie zögerte einen Moment. »Meine Cousine hat ’ne Teilzeitstelle als Küchenhilfe da oben. Ich werd mal sehen, ob sie was über eure Krankenschwester weiß. Kommt nach Feierabend noch mal hier vorbei.«

»Wann wird das sein?«, fragte Gwen eifrig.

»Samstags hab ich bis neun offen, weil das hier ja so ein irrsinnig lebhaftes Plätzchen ist. Kommt durch die Hintertür. Direkt von der Seitengasse die Holztreppe hoch, dann steht ihr schon im Wohnzimmer. Seht zu, dass ihr nicht wieder auf die Katze tretet. He!«, brüllte sie zu den Männern hinüber, »wenn ihr Jungs bei mir was zu essen kriegen wollt, dann lasst euern Dreck gefälligst draußen!«

»Verdammt, Dee«, brüllte einer der Männer zurück, »du kehrst es einfach zusammen und schmeißt es in die Suppe. Du machst sowieso die sandigste Hummersuppe nördlich von Kennebunk.«

»Das kommt davon, dass du mir deine sandigsten Hummer verkaufst.«

»Stimmt gar nicht. Die verkaufe ich Howard Johnson.«

Delia schickte einen abschließenden Blick über den Tisch. »Das macht zusammen – sagen wir fünf Dollar. Nie der Chefin Trinkgeld geben.« Sie knetete Gwens Schulter. »Herzchen, wenn dir die Marmelade schmeckt, nimm sie mit.«

»Das ist furchtbar nett von Ihnen«, sagte Gwen heftig errötend.

»Na Teufel, wir Skeptikerinnen müssen doch zusammenhalten.« Sie schlurfte zum Tresen.

Gwen schnappte sich ihren Mantel und floh nach draußen.

***

»Was immer du denkst, ich will es nicht hören«, sagte Gwen. Sie stand auf dem Gehweg mitten im Matsch. Ein kalter Luftzug spielte mit ihrem Haar.

»Ich hab kein Wort gesagt.«

»Dein Gesicht spricht Bände.«

»Deins auch.«

»Ich warne dich, Stoner.«

»Du hast die Blaubeermarmelade vergessen, Herzchen«, sagte Stoner und gab sie ihr.

»Was schulde ich dir fürs Frühstück?«

»Nichts. Ich werde es von der Steuer absetzen, unter Vergnügungsspesen.«

Gwen wirbelte herum und stapfte los. »Noch nie«, sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen, »noch nie in meinem ganzen Leben habe ich mich derart lächerlich gemacht.«

»So was kommt mal vor.«

Sie überquerten die Gasse, die die Seegurke von dem Drugstore trennte. Es war eine richtige Gasse, nicht eine von diesen einspurigen Straßen ohne Gehweg, durch die frustrierte Bostoner mit Vollgas hindurchbrausen nach der deprimierenden Entdeckung, dass sie auf einer Einbahnstraße in die verbotene Richtung fahren, die letzte Woche noch keine Einbahnstraße war. Nein, dies war eine richtige Kleinstadtgasse, mit einer Schotterdecke, durch die hier und da Gras wuchs, und Hinterhöfen mit Schuppen und Zäunen und Mülltonnen und der Intimsphäre des Alltags.

Stoner blieb stehen, um das alles zu bewundern, und verspürte plötzlich ein unbestimmtes, aber deutliches Unbehagen.

»Irgendwas nicht in Ordnung?«, rief Gwen.

Sie machte einen Schritt. Das Gefühl verschwand. »Nur ein Schauder.«

»Hast du dich erkältet?«

»Irgendwas stimmt mit dieser Gasse nicht.«

Gwen sah sich um. »Sieht mir nach einer ganz gewöhnlichen Hinterhofgasse aus.«

»Ich weiß nicht.«

»Vielleicht hat Tante Hermione ja recht. Vielleicht bist du doch ein Medium.«

»Nein, ich bin kein Medium.«

»Ich weiß nicht, warum dich das so aufregt. Es ist doch nichts Schlimmes, medial veranlagt zu sein.«

»Ich hab auch so schon genug Probleme mit meinem Leben. Ich muss mich nicht auch noch mit den Schatten der Zukunft herumschlagen.« Stoner rannte hinter Gwen her. »Kannst du nicht ein bisschen langsamer gehen?«

Gwen wartete auf sie. »Was machen wir als Erstes?«

»Schattenhain unter die Lupe nehmen, oder?«

»In Ordnung, und dann fahren wir die Halbinsel rauf und suchen uns ein Restaurant. Irgendwo zwischen hier und Damariscotta muss es ein Mittagessen für uns geben.«

»Wir wollen es hoffen. Damariscotta selbst sah nicht sehr vielversprechend aus.«

»Ich glaube, ich hab auf der Eins eine Fernfahrerkneipe gesehen.«

»Es kann natürlich sein«, sagte Stoner beiläufig, »dass du lieber in die Seegurke willst, Herzchen.«

»Und warum sollte ich lieber in die Seegurke wollen?«

Stoner zuckte die Achseln. »Ich dachte, es gefällt dir. Und da ist doch auch noch der Rest von der hausgemachten Hühnersuppe.«

»Ich mag keine hausgemachte Hühnersuppe.«

»Vielleicht Kabeljaukroketten?«

»Auch keine Kabeljaukroketten.«

»Und was ist mit der sandigsten Hummersuppe nördlich von Kennebunk?«

»Stoner …«

»Oder lieber die Köchin?«

»Ich will kein Wort mehr darüber hören«, Gwen hob die Stimme. »Hast du mich verstanden? Kein Wort mehr!«

»Klar, kein Wort mehr.«

»Und wehe, du nennst mich noch mal ›Herzchen‹.«

»Kein Herzchen.«

»Und keine Anspielungen auf Blaubeermarmelade.«

»Nix Blaubeer.«

»Verarsch mich nicht.«

Stoner grinste. »Du lieber Himmel, hast du denn noch nie für jemanden geschwärmt?«

»Nicht mehr, seit ich zwölf war.«

»Dann wird’s aber höchste Zeit.«

»Ich bin eine erwachsene Frau, Stoner!«

»Na und?«

»Das ist doch kein vernünftiges Verhalten.«

»Also, dazu kann ich nichts sagen«, meinte Stoner, »aber ich find’s völlig in Ordnung.«

Gwen stapfte davon. »Ich will nicht darüber reden.«

»Nun werd nicht sauer auf mich«, rief Stoner hinter ihr her. »Ich kann nichts dafür.«

»Ich bin nicht sauer, ich bin verlegen.«

»Und ich bin deine Freundin, erinnerst du dich?«

Gwen blieb stehen. »Tut mir leid. Ich bin so durcheinander.«

»Glaub mir, du musst dir nichts daraus machen.« Sie strich Gwen eine Haarsträhne aus den Augen. »Ich bin eine Fachfrau auf diesem Gebiet.«

Ein Stück Papier knisterte im Gully. Der Wind heulte um sie herum und Kälte kroch unter ihren Mantel, aber Stoner fühlte in sich eine Wärme, die genügte, um Gwen mit zu wärmen, und die Möwen, und die Schneehaufen, und das ganze liebe, gruselige Castleton.

»Ich war in ihrer Wohnung«, gestand Gwen.

»Wie war’s?«

»Bücher und Pflanzen und Kerzen.«

»Und Aphrodite.«

»Da waren auch ein paar Fotos, aber ich hab sie mir nicht näher angesehen.«

»Wie ehrenhaft.«

»Die Zeit reichte nicht.« Auf Gwens Stirn erschien eine kleine Falte. »Meinst du, dass sie ihren Mann wirklich getötet haben?«

»Sie glaubt es jedenfalls.«

»Ich frage mich, wieso.«

»Das werden wir hoffentlich heute Abend erfahren. Meinst du, du kommst klar?«

»Lass mich einfach nicht aus den Augen.«

Niemals.

Sie standen vor der Stadtbücherei, einer kleinen weißen Streichholzschachtel von einem Haus, mit abblätternder Farbe und einem Hof, der völlig überwuchert war von Rosen, die jetzt Winterschlaf hielten.

»Ich frage mich«, meinte Gwen, »ob wir da drin nicht etwas herausfinden könnten.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Einfach … irgendwas.« Sie starrte das Gebäude sehnsüchtig an.

Stoner lachte. »Ich glaube, du bist süchtig nach Büchereien.«

»Ich fürchte, das stimmt.«

»Dann lass uns Schattenhain hinter uns bringen und den Nachmittag hier verbringen. Der Teufel soll Damariscotta holen.«

»Nach allem, was wir wissen«, sagte Gwen, »hat der Teufel Damariscotta längst geholt.«

Stoner McTavish - Schatten

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