Читать книгу Stoner McTavish - Grauer Zauber - Sarah Dreher - Страница 8

Kapitel 3

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Irgendetwas hatte sie mit seinem Ruf geweckt. Sie starrte in die Dunkelheit und lauschte. Noch nie hatte sie eine solche Stille gehört, eine so samtige, absolute Stille. Eigentlich sollten kleine Geräusche zu vernehmen sein – das Scharren von Nachtgeschöpfen, das leise Knacken von Holz, während die Hütte abkühlte, das flatternde Keuchen eines erlöschenden Holzscheits im Kamin.

Aber da war nichts. Nur Gwens tiefes, langsames Atmen im Schlaf.

Allmählich konnte sie die verschiedenen Dunkelheiten auseinanderhalten. Undurchdringlich dort, wo das Dach am höchsten war, indigofarben jenseits des Fensters. Die Dunkelheit der Dinge und die Dunkelheit der Räume.

Der Ruf wiederholte sich. Keine Stimme, aber das Gefühl großer Dringlichkeit.

Vorsichtig setzte sie sich auf und glitt aus dem Bett.

Gwen murmelte etwas, gerade jenseits der Grenze zum Erwachen.

»Ich bin draußen vor der Tür«, flüsterte Stoner, »mach dir keine Sorgen.«

Sie schlüpfte aus der Baracke und schloss lautlos die Tür hinter sich.

Der Himmel war übersät mit Sternen, kalte Nadelöhre von Licht in der endlosen Schwärze. Im Westen ruhte das Sternbild der Jungfrau über den San Francisco Mountains. Ein daumennagelgroßer Mondsplitter, blass wie eine Honigmelone, hing zwischen den Tewa-Gipfeln. Der Boden unter ihren Füßen hatte die Hitze des Tages verloren. Der Sonnenaufgang war noch Stunden entfernt.

Der Energieknoten in ihrer Magengrube schien zu pochen, zu wachsen, im Rhythmus ihres Herzschlags zu pulsieren. Die Stille vibrierte wie eine gezupfte Gitarrensaite.

Zwischen den Felsen am Fuß der Long Mesa nahm sie plötzlich eine Bewegung wahr. Ein Schatten oder der Schatten eines Schattens. Er bewegte sich, hielt inne, schlich langsam auf sie zu.

Das Wesen wurde vom Mondlicht erfasst und glänzte silbrig.

Gegen ihren Willen entfuhr ihr ein Laut, ein scharfes Einatmen. Das Wesen erstarrte. Seine Augen waren flach und rund wie Geldstücke.

Sie starrten einander lange an.

Etwas übertrug sich zwischen ihnen. Ein Wissen um etwas. Sie konnte es nicht deuten.

Das Tier brach die Verbindung zuerst. Ein Kojote, schemenhaft gegen die graue Erde. Er sprang in langen Sätzen davon, ohne Eile. Sein silbernes Fell floss dahin wie Wasser. Er hielt einmal inne, sah zurück und verschwand in der Nacht.

Hinter ihr quietschte die Tür. »Stoner?« Gwen spähte um den Türrahmen herum.

»Ich habe etwas gesehen«, sagte Stoner. »Einen Kojoten, glaube ich.«

»Ich sehe ihn nicht.«

»Er ist weg. Er hat mich angesehen.«

»Wunderbar«, sagte Gwen und erschauderte leicht. »Wir haben keine fünf Grad, und du gehst raus, um mit der Natur Zwiesprache zu halten.«

»Mir ist nicht kalt.«

»Glaub mir einfach. Es ist kalt.« Sie berührte Stoners Schulter. »Komm zurück ins Bett.«

»Er hat mich angesehen, Gwen. So als ob er mich kennt.«

»Von mir aus könnt ihr bei Bier und Brezeln zusammengesessen haben. Komm zurück ins Bett.« Sie schaute hinunter. »Wo sind deine Schuhe? Hast du eine Vorstellung davon, was hier draußen alles rumkrabbeln könnte?«

»Nein. Du?«

»Ich will es lieber gar nicht wissen. Mach schon, Stoner. In genau diesem Moment könnte alles Mögliche an deinem Bein hochklettern.«

Stoner lachte. »Hier draußen ist nichts.«

»Und hinter was war der Kojote dann her?«

»Ich glaube«, sagte sie langsam, »dass er hinter mir her war.«

»Stoner Mc Tavish, wenn du mir hier jetzt ausrastest, nehme ich das nächste Flugzeug zurück nach Boston.«

Sie folgte Gwen in die Baracke und setzte sich auf die Bettkante. »Bist du jemals irgendwohin gegangen und hattest das Gefühl, du wärst da schon mal gewesen, aber warst es nicht?«

»Ja«, sagte Gwen, warf ein paar Holzstücke in den Kamin und streute kerosingetränkte Sägespäne aus einer Maxwell-Kaffeedose darüber. »Es heißt Déjà-vu und wird je nach Standpunkt entweder als völlig normales Phänomen angesehen oder als Symptom einer beginnenden Psychose.«

»So was habe ich gerade da draußen gefühlt. Aber es war mehr als das. Es war, als ob etwas versuchte, mir etwas in Erinnerung zu rufen.«

»Es ist eine weitverbreitetes Erscheinung, Stoner«, beharrte Gwen. Sie entzündete ein Streichholz und warf es in den Kamin. Ein Auflodern orangefarbenen Lichts erhellte ihr Gesicht. »So weitverbreitet, dass es im Wörterbuch steht.«

»Ich weiß nicht …«

»Sieh mal, das hier ist ein seltsamer Ort. Wir könnten ebenso gut auf dem Mond sein. Du bist durcheinander, das ist alles.« Sie legte sich ins Bett und zog Stoner zu sich herunter. »Schlaf ein bisschen. Ehe wir uns versehen, wird die Dämmerung da sein, und irgendetwas sagt mir, dass der Morgen hier wie mit einem Donnerschlag heraufzieht.«

Stoner kuschelte sich an sie. »Ich habe einfach ein komisches Gefühl.«

»Du bist Steinbock«, murmelte Gwen. »Alles fühlt sich komisch an für einen Steinbock.«

Hoch oben auf der Long Mesa beobachtete der Kojote die Fenster der Baracke und wartete auf den Tag.

***

Sie überließ Stell und Gwen ihrem Geplauder am Frühstückstisch und schlenderte hinaus, der Mesa entgegen. Dort, wo die Nacht die letzten Reste der gestrigen Hitze mit sich genommen hatte und die morgendlichen Schatten in schiefergrauen Pfützen lagen, war der Boden noch kühl. Die niedrigen, wellenförmigen Wüstenhügel mit ihren Schichten von Gelb und Violett und Braun, die in dem klaren Licht vibrierten, lagen aufgestapelt wie unglasierte Tonschüsseln, die man zum Trocknen umgedreht hat. Ferne Berge zeichneten sich scharf ab, Wolkenschleier wie Spitzensäume umflogen ihre Gipfel. Am Horizont verschmolz die Erde mit dem Himmel, als wären beide in Wasserfarben getaucht. Ein Hauch von morgendlichem Tau hatte den Staub gebunden. Die Luft war klar und frisch wie Staudensellerie.

Am Fuß der Mesa suchte sie zwischen herabgefallenen Felsen nach Hinweisen auf den Besucher der letzten Nacht. »Kojoten!«, hatte Stell gespottet. »Sie verlieren ihren Reiz im Nullkommanichts, wenn sie dich erst mal drei Nächte hintereinander mit ihrem infernalischen Geheule und Gejaule wach gehalten haben.«

Aber dieser hier war kein gewöhnlicher Kojote. Dieser Kojote hatte ihr in die Augen geblickt. Dieser Kojote wusste etwas.

Und was wirst du tun, wenn du ihn findest? Dich zu einem kleinen Schwatz niederlassen über seine Vettern im Osten, die – genau in diesem Moment, wo wir darüber reden – gejagt, vergiftet und abgeknallt werden, tut mir echt leid, aber du weißt ja, wie das ist, so sind Jungs eben?

Was ist, wenn er dich zum Essen einlädt? Bist du bereit, im Interesse des artenübergreifenden guten Willens eine Wüstenratte mit ihm zu teilen? Würde eine Weigerung als Beleidigung aufgefasst werden? Wie weit bist du im Interesse des Weltfriedens gewillt zu gehen?

Sie kniete sich hin, um eine winzige Unregelmäßigkeit im Sand zu untersuchen. Fährten von Insekten und kleinen Nagern. Unterbrochene Linien dort, wo ein Klumpen entwurzelten Gebüschs vom Wind vorangetrieben worden war. Eine Reihe fein gezeichneter, hundeähnlicher Fußabdrücke.

Er hatte die Straße überquert. Sie folgte der Spur, rutschte einen Hügel aus erstarrtem Lehm hinunter, ging für eine Weile eine ausgetrocknete Wasserrinne entlang, suchte sich ihren Weg durch eine Talsenke. Die Spuren führten sie um einen gedrungenen Berg herum und in die Wüste hinein.

Das ist absurd, sagte sie sich. Er ist mittlerweile schon meilenweit entfernt.

Aber die Spuren zogen sie weiter. Über ein weiteres trockenes Flussbett. Um den nächsten Hügel herum, und den nächsten, und den …

Ich sollte das nicht tun, sagte sie sich. Ich werde mich verirren.

Verirren? Hier draußen? Wo die Luft so klar war, dass man mit einem billigen Fernglas Los Angeles sehen konnte?

Selbstüberschätzung, sagte sie sich, ist der Wanderleut’ größter Feind. Sie ging weiter.

Etwas fiel ihr ins Auge. Etwas Rosafarbenes, das zusammengeknüllt im Schatten eines Felsens lag. Ein alter Kniestrumpf vielleicht, oder ein abgelegter Gürtel. Ein kaputter Turnschuh? Müll, sogar hier draußen. Geblendet von dem grellen Licht, kniff sie die Augen zusammen und griff danach.

Die Schlange hob den Kopf. Ihr Körper war eng zusammengerollt und so reglos wie ein Stein. Die Zunge schnellte hinaus und hinein, nahm ihre Witterung auf. An der Spitze ihres Schwanzes erbebte eine Pyramide von Rasseln.

Verdammt.

Sie versuchte, ihre Länge abzuschätzen. Dann die Entfernung zu ihrem rechten Knöchel. Es kam ungefähr auf dasselbe heraus, mit einem leichten Vorteil für die Schlange.

Toll. Und was jetzt?

Sie fühlte das Kitzeln ihres Schweißes, schmeckte den rostigen Geschmack der Angst. Sah vor ihrem inneren Auge das Notversorgungspäckchen gegen Schlangenbisse, das Stell ihr gegeben hatte und das jetzt neu und nutzlos auf dem Tisch in der Baracke lag.

Zehn Minuten von der Zivilisation entfernt, und schon stecke ich in der Klemme. Keine Stiefel, kein Schlangenbiss-Versorgungspäckchen, keine Verteidigungsmöglichkeit. Und niemand wird mich suchen kommen, weil ich niemandem gesagt habe, wo ich hingehe.

Willkommen in der Wüste, Mc Tavish.

Sie zwinkerte der Schlange zu. Die Schlange zwinkerte nicht zurück.

Sei ganz locker. Keine bedrohlichen Bewegungen.

Sie zwang die Anspannung aus ihren Armen heraus, bog sachte ihren Körper zu einer Pose der puren Lässigkeit zurecht und hoffte, dass Bruder Schlange ihre Absichten besser lesen konnte als sie die seinen. Weil, wenn er das nicht konnte, würde Gwens homophobe Großmutter das kleinste ihrer Probleme sein.

Schöner Morgen, sagte sie lautlos. Wie geschaffen für einen Spaziergang.

Die Schlange senkte ihren Kopf um den Bruchteil eines Zentimeters.

Sieht aus, als würde es noch verdammt heiß. Wenn ich du wäre, würde ich genau hier mitten auf diesem schattigen Fleckchen herumliegen und mich nicht zu sehr verausgaben. Wenn du weißt, was ich meine.

Sie kämpfte gegen den Zwang an, sich zu räuspern, weil sie genau wusste, dass es wie getrocknete Bohnen in einer Blechdose klingen und als feindseliges Signal gedeutet werden würde.

Hör mal, ich bin neu in der Gegend. Das, was ihr Einheimischen ein ›Greenhorn‹ nennt. Kenn die Sitten noch nicht und wollte auch ganz bestimmt nicht stören …

Sie ging versuchsweise einen Schritt zurück.

Die Schlange rührte sich nicht.

Hab die Regeln noch nicht gelernt, verstehst du? Aber ich bin echt lernwillig, ja, wirklich.

Sie machte noch einen Schritt.

Wir haben nicht viele Schlangen zu Hause im Osten. Zumindest keine so schönen, wohlgeformten Exemplare wie dich. Hatten wir früher mal, aber sie wurden alle ausgerott– ’tschuldigung, so hab ich das nicht gemeint, ich …

Die Schlange schien tief Luft zu holen. Um zu sprechen? Oder um vorzuschnellen?

Was ich zu sagen versuche, ist, ich habe noch nie in meinem Leben ein so elegantes Reptil gesehen.

Der Schwanz der Schlange zuckte einmal.

Ich weiß, ich weiß, ›Reptil‹ ist ein hässliches Wort. Aber es ist nur ein Wort, vollkommen wertfrei. Wir Menschen haben so einen Zwang, Dinge zu benennen. Obwohl unsere Sprache wirklich nicht immer ästhetisch ansprechend ist. Also, meine Liebste – Gwen – sie war verheiratet mit einem Mann namens Oxnard. Wie würde es dir gefallen, Oxnard zu heißen? Neben Oxnard ist ›Reptil‹ doch reine Poesie. Aber sie hat ihn geheiratet, was dir beweist, dass wir wirklich nicht viel auf Namen geben.

Sie riskierte einen weiteren Schritt.

Natürlich, er hat versucht, sie zu töten. Aber ich glaube nicht, dass das irgendwas mit seinem Namen zu tun hatte. Ich meine, wer würde wegen eines Namens töten? Hast du je in deinem Leben so was Blödes gehört? Ha, ha?

Die Schlange warf ihr einen Blick zu, der nach Abscheu aussah, und glitt durch einen Spalt im Boden davon.

Worauf sie sich umschaute und bemerkte, dass sie sich verirrt hatte.

Die Landschaft war ihr vollkommen unbekannt, alle Wegweiser verschwunden, die Handelsstation außer Sicht hinter einem Hügel.

Welchem Hügel?

Nur keinen Stress. Dreh dich um und folge dieser alten Kojotenfährte denselben Weg zurück, den du gekommen bist.

Nur dass die Kojotenfährte weg war. Ihre eigene auch.

Sie suchte den Boden ab, kniete nieder und schaute aus einem Dutzend verschiedener Winkel nach. Nichts.

Es muss der Wind gewesen sein, er hat den Sand verweht und alles zugedeckt …

Es hatte sich überhaupt kein Wind geregt.

Okay, okay, jetzt nur nicht in Panik geraten. Der Big Tewa liegt östlich der Straße. Der Big Tewa war hinter mir, als ich losging. Es ist Morgen, die Sonne steht im Osten.

Die Grundlagen, Orientierung für Anfänger und Idioten.

Sie ließ den Boden nicht aus den Augen und entfernte sich von ihrem Schatten. Die Sonne war jetzt heißer und schien von überallher gleichzeitig zu brennen. Ihre Lippen fühlten sich trocken an. Ein zartes weißes Puder schimmerte auf ihren Handrücken. Sie leckte daran. Salz.

Ein Gefühl wie Klaustrophobie fegte über sie hinweg.

Klaustrophobie? Mitten im Nirgendwo?

Mitten in der größten Ausdehnung von Nirgendwo, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte?

Sie war wie gelähmt. Wo sie auch hinsah, war nichts als Sand und Himmel und Gestrüpp und …

»Pahana.«

Sie wirbelte herum. Auf einer kleinen Bodenerhebung ein paar Meter entfernt saß eine alte Frau.

Eine sehr alte Frau.

Eine sehr alte indianische Frau, die dort vor fünfzehn Sekunden noch nicht gewesen war.

Sie war beängstigend dünn, ihre Haut war dunkel und zerfurcht wie Zedernrinde, ihr beinah weißes Haar fiel auf ihre Schultern. Ihre Hände, knotig vom Alter, lagen ruhig in ihrem Schoß. Sie trug ein über die Jahre verschlissenes Kleid aus violettem Samt, das bis zu ausgetretenen blauen Turnschuhen hinunterreichte.

Sie hob einen Arm und winkte Stoner zu sich heran. »Pahana«, wiederholte sie.

»Oh, hallo«, sagte Stoner. »Ich heiße Stoner Mc Tavish, und ich habe mich verirrt.«

Die Frau blickte sie an.

»Ich meine, ich wohne bei Stell und Ted Perkins in der Spirit Wells-Handelsstation, und ich bin spazieren gegangen und kann den Weg zurück nicht finden …«

Sie kam sich albern vor und verstummte.

Die Augen der alten Frau waren schwarz und hart wie Kohle.

Wahrscheinlich spricht sie kein Englisch. »Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Ich gehe sofort weiter, sobald ich herausgefunden habe, in welche Richtung …«

Die Frau schwieg mit ausdrucksloser Miene.

Stoner zögerte einen Moment, trat von einem Fuß auf den anderen. »Tut mir leid«, murmelte sie und wandte sich ab.

»PAHANA!« Das Wort hallte wider wie ein Donnerschlag.

Stoner drehte sich zurück. »Ich verstehe nicht …«

»Bedeutet Weiße Person.«

»Oh.« Sie strich nervös ihr Haar zur Seite. »Verstehe.«

Die alte Frau winkte wieder. »Komm. Sitz.«

Stoner kletterte den kleinen Hügel hinauf und setzte sich. Die Frau starrte sie an.

»Mein Name ist Stoner Mc Tavish«, wiederholte sie.

»Das ist schon okay.« Die Frau starrte weiter.

»Wie ist … ich meine … haben Sie einen Namen?«

»Haufenweise.«

»Das ist nett. Haufenweise. Das ist ein netter Name …«

Die alte Frau knurrte. »Ich habe haufenweise Namen.«

»Oh. Nun … ähm … wie möchten Sie gerufen werden?«

»Warum du willst mich rufen? Ich bin hier.«

»Ich meine …«

»Wenn du beim ersten Mal sagst, was du meinst, musst du nicht so viel erklären.«

»Ich …«

»Vielleicht macht erklären dir ja Spaß, eh?«

Stoner ballte die Fäuste. »Können Sie mir einfach Ihren Namen sagen? Okay?«

»Okay.« Die alte Frau beugte sich vor und schrieb etwas mit dem Finger in den Staub.

»Siyamtiwa?«, las Stoner.

»Siyamtiwa.«

»Und das ist Ihr Name?«

»So werde ich genannt.«

»Er ist hübsch«, sagte Stoner und fühlte sich, als ob sie gerade eine riesige Hürde genommen hatte. »Ist das Navajo?«

»Hopi.« Die Frau hielt ihr die Hand hin. Stoner nahm sie. Siyamtiwa hielt ihre Hand fest, ohne sie zu drücken oder zu schütteln, für einen langen Augenblick. Stoner hatte das Gefühl, durchleuchtet zu werden.

»Was bedeutet Ihr Name auf Englisch?«, fragte sie.

»Etwas-das-sich-über-Blumen-hinweg-entfernt. Was bedeutet dein Name?«

»Nichts. Ich meine, ich wurde nach Lucy B. Stone benannt, aber er bedeutet nichts.«

»Großmutter Stone war eine große Frau«, sagte Siyamtiwa missbilligend. »Wenn ihr Name dir nichts bedeutet, entehrst du ihr Andenken.«

»Tut mir leid. Ich dachte nicht, dass Sie …« Sie hielt inne. »Tut mir leid.«

Die Falten in den Augenwinkeln der alten Frau vertieften sich. »Du sagst oft ›tut mir leid‹. Vielleicht hast du etwas ziemlich Schlimmes getan, dass dir alles so leidtut. Vielleicht sollte sich Großmutter Stone ihren Namen zurückholen.«

»Ich habe ihn ihr nicht weggenommen«, sagte Stoner. Sie fühlte sich wie eine Idiotin. »Meine Tante Hermione hat ihn mir gegeben.« Ein Kiesel schnitt in ihren Knöchel. Sie bewegte den Fuß. »Sie liest Handlinien. In Boston. Das ist in Massachusetts.«

»Ich kenne Boston«, sagte Siyamtiwa.

»Klar.« Sie fragte sich, was für eine Blödsinnigkeit ihr als Nächstes entfahren würde. »Sehen Sie, ich bin ein bisschen nervös. Ich bin noch nie einer Ureinwohnerin Amerikas begegnet.«

»Nennen sie uns jetzt so? Bisschen schwer, da noch mitzukommen.«

»Ich werde Sie bei jedem Namen nennen, den Sie am liebsten haben«, sagte Stoner eifrig.

»Wir nennen uns Das Volk.«

»Okay.«

Die alte Frau gluckste in sich hinein. »Okay. Wenn wir das Volk sind, was seid ihr dann?«

Stoner merkte, dass sie reingefallen war. Sie seufzte. »Wissen Sie, das hier ist ein bisschen frustrierend.«

»Also wirst du jetzt ein Gewehr hervorziehen und mich tausend Kilometer vor dir hertreiben, bis ich an einem fremden Ort sterbe.«

»Was?«

»Das ist es doch, was pahana mit Indianern machen, die sie verärgern.«

»Ich weiß«, sagte Stoner, »das war schrecklich. Tut mir leid.«

Die alte Frau bedeckte ihren Kopf mit den Armen. »Wirst du mich jetzt erschießen?«

»Ich werde Sie nicht erschießen.«

Siyamtiwa zuckte mit den Schultern. »Mein Großonkel wurde von einem weißen Mann erschossen, der ihm auf den Fuß getreten war. Das ist eure Art, euch zu entschuldigen.«

Stoner schwieg.

»Natürlich«, fuhr die alte Frau fort, »war ich nicht dabei, deshalb weiß ich nicht, ob es wahr ist. Aber mein Großvater hat es mir erzählt, also stimmt es wahrscheinlich.« Sie blickte Stoner an. »Du siehst aus wie eine Regenwolke.«

»Sie sind nicht fair«, sagte Stoner. »Ich weiß nicht einmal, was hier gerade passiert.«

Siyamtiwa tätschelte ihren Arm. »Ich prüfe dich. Um zu sehen, ob du Sinn für Humor hast.«

»Nicht besonders.«

»Na, das ist schon in Ordnung.« Die alte Frau saß eine Weile schweigend da. »Hast du irgendwas zu essen?«

Stoner fühlte in ihren Taschen nach. »Ich fürchte nein, aber ich kann etwas holen. Falls ich mich jemals entirren kann.«

»Schau da hinaus«, sagte die alte Frau und wies mit dem Kinn auf die endlose Wüste. »Meinst du, die kannst du durchqueren?«

Stoner lachte. »Nein.«

»Hmpf.« Siyamtiwa sah sie von der Seite her an. »Ich hab es getan. Aber das ist lange her. Viele Leute haben das getan, damals.«

»Es muss beängstigend gewesen sein.«

»Nicht beängstigend. Heiß. Massen von Sand. Einige Tiere. Nichts Schlimmes.« Sie betrachtete die Wüste nachdenklich. »Jetzt hast du also eine echte, wahrhaftige Indianerin getroffen. Was wirst du damit anfangen?«

Stoner sah sie an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Willst du, dass ich dich in eine Zeremonie hineinschmuggle, die Weiße nicht sehen dürfen?«

»Natürlich nicht. Das wäre nicht richtig.«

»Willst du ein paar Teppiche und Schmuckstücke billiger bekommen? Willst du für ein paar Pfennige ein Foto von mir machen?«

Stoner schüttelte den Kopf.

»Nun gut«, sagte Siyamtiwa. Sie verschränkte die Arme und starrte zum Horizont. »Ich muss darüber nachdenken.«

Stoner wartete. Sie versuchte, sich in die Wüste hinaus zu versetzen, zurück in die Zeit, als die Planwagen sie durchquert hatten. Sie konnte die Sonne fühlen und die festgebackene Erde unter ihren Füßen. Konnte das versengte Land rundherum sehen, die durch nichts unterbrochenen, wasserlosen Weiten. Konnte die Mineralsalze schmecken, die die Felsen wie weiße Schnurrbarthaare bedeckten. Konnte den Tod hören, wie er hinter ihr herschlich …

Sie schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden, und sah, wie Siyamtiwa sie aufmerksam betrachtete.

»Nun denn«, sagte die alte Frau.

»Nun denn was?«

»Du fühlst Masaus Atem in deinem Nacken.«

»Masau?«

»Was ihr Tod nennt.«

Stoner fühlte, wie ihre Haut kribbelte. »Woher wussten Sie …?«

»Ein Trick«, sagte Siyamtiwa. »Ich wette, deine Hermione, die, die in Boston, Massachusetts, Handlinien liest, kann das auch.«

»Ja«, gab Stoner zu, »kann sie. Es macht einen ganz schön nervös.«

»Vielleicht kann ich diese Hermione irgendwann mal treffen. Vielleicht machen wir einen Wettstreit, finden heraus, wer das meiste kataimatoqve hat.« Sie hob die Hand, bevor Stoner fragen konnte. »Kataimatoqve bedeutet geistiges Auge. Was ihr ›übersinnliche Begabung‹ nennt.«

»Das würde ihr gefallen«, sagte Stoner eifrig.

»Vielleicht kann ich ihr bei den Medizinpflanzen helfen, eh?«

Davon habe ich ihr nichts erzählt, dachte sie unbehaglich. Ich bin mir ganz sicher.

»Vielleicht hat sie einiges von mir zu lernen«, fuhr Siyamtiwa fort. »Vielleicht habe ich einiges von ihr zu lernen. Bring uns zusammen, ergibt viel Macht, eh?« Sie wiegte sich einen langen, schweigenden Moment lang und grübelte über einen Gedanken nach. »Dieser Kojote, nach dem du suchst, du wirst ihn nicht finden. Hosteen Kojote wird dich finden, wenn er es wünscht. Das ist so mit ihm.«

»Woher wussten Sie …?«

Siyamtiwa schnitt ihr mit einer ungeduldigen Geste das Wort ab. »Zu viele Fragen. Wie kannst du Antworten hören, wenn dein Kopf vollgestopft ist mit Fragen?«

»Tut mir leid«, sagte Stoner.

»Was hast du Schreckliches getan?«, fragte Siyamtiwa scharf.

»Nichts, glaube ich.«

»Warum befehlen deine Geister dir dann, jeden, den du triffst, um Verzeihung anzuflehen?«

»Es ist … eine Angewohnheit.«

»Vielleicht passiert mir noch etwas nicht so Gutes, wenn ich mit jemandem rede, dem so viel leidtut.« Die alte Frau blickte sie intensiv an, ihre Augen schimmerten hell und tief. »Dieser Hosteen Kojote ist gefährlich. Ich glaube, du solltest dich besser von ihm fernhalten, bis du mehr weißt.« Sie schaute weg. »Ich denke, er könnte istaqa sein, der Kojotenmann. Manchmal Mann, manchmal Kojote.« Sie runzelte die Stirn. »Es ist lange her, seit ich einen Kojoten-Mann gesehen habe. Ich dachte, sie wären alle fortgegangen. Die Sache gefällt mir nicht.« Siyamtiwas Mundwinkel zogen sich in einem gedankenverlorenen Schmollen nach unten. »Wenn es wahr ist, wenn wir es hier mit Zauberei zu tun haben … du weißt, was ein Hexenmeister ist?«

Stoner nickte. »Ich weiß, was ein Hexenmeister ist.«

»Deine Hermione ist eine Hexenmeisterin?«

»Na ja, in gewisser Weise.« Sie zögerte, überlegte, wie sie es erklären sollte. »Sie tut magische Dinge. Ich meine, sie könnte zum Beispiel einen Zauber aussprechen, aber nur, um etwas Gutes zu bewirken … wie wenn jemand einen Job braucht oder so. Aber sie sagt, Schwarze Magie fällt dreifach auf einen zurück. Sie glaubt an Karma.«

»Ich kenne Karma«, sagte Siyamtiwa.

»Manchmal redet sie mit Geistern.«

»Alle reden mit Geistern. Meistens wissen sie’s bloß nicht.« Sie sah Stoner fest an. »Ist sie aus dem Clan deiner Mutter oder deines Vaters?«

»Dem meiner Mutter.«

»Gut.« Sie zog einen Gegenstand aus der Tiefe ihrer Rockfalten. »Ich glaube, das hier ist für dich.«

Es war eine Puppe, grob geschnitzt aus Pappelholz. Das Haar, ein Tierfell, war kastanienbraun. Die Augen waren grün.

Es gab ihr ein seltsames Gefühl.

»Sie sieht ein bisschen aus wie ich.«

Siyamtiwa zuckte mit den Schultern. »Alle Weißen sehen gleich aus.«

»Mit grünen Augen?«

»Vielleicht sehen alle Weißen aus wie Shirley MacLaine.« Stoner lachte. »Danke für das Kompliment.« Sie hielt die Puppe hoch. »Und dafür. Ich werde sie gut aufheben.«

»Sie bringt Glück. Vielleicht wirst du welches brauchen.« Die alte Frau brachte tief aus ihrer Kehle einen leisen Ton hervor, den Laut, den ein Hund von sich gibt, wenn er meint, dass er etwas hört, sich aber nicht lächerlich machen will, indem er das Nichts anbellt. Sie sah Stoner an. »Dieser Klang lässt böse Dinge verschwinden. Will keine bösen Dinge an deiner Puppe. Besuchst du die neue Stationsbetreiberin?«

»Ja.«

»Die alte, wie geht es ihr?«

»Viel besser. Sie hat das Krankenhaus verlassen.«

»Gut. Es ist ein schlechter Ort. Sie nehmen dir etwas. Keine Harmonie an diesem Ort.«

»Es geht ihr besser«, erklärte Stoner. »Sie müssen ihr wohl geholfen haben.«

»Vielleicht hat ihr etwas anderes geholfen. Vielleicht kam etwas vorbei.«

»Etwas?«

Siyamtiwa ignorierte ihre Frage. »Hast du Macht?«

»Übersinnliche Macht? Ich fürchte nein.«

»Der Hosteen Kojote glaubt, dass du Macht hast. Deshalb beobachtet er dich in der Nacht.«

Stoner musste lachen. »Dann fürchte ich, dass er irgendwas falsch verstanden hat. Worin er auch verwickelt sein mag, es hat nichts mit mir zu tun.«

»Soso«, sagte Siyamtiwa.

Stoner kratzte eine Handvoll Kiesel zusammen und spielte mit ihnen herum. »Ich muss noch eine Frage stellen.«

»Tja«, sagte Siyamtiwa, »so ist das eben mit dir.«

»Woher wussten Sie das? Mit dem Kojoten, der mich beobachtet?«

»Ich weiß, wie er denkt.« Plötzlich umklammerte sie Stoners Handgelenk. »Du bist zu arglos, Grünauge«, zischte sie. »Hier gibt es Dinge, die du fürchten solltest.«

»Aber ich bin doch bloß …«

»Du hast dich bereits in der Wüste verirrt.«

»Ich bin einer Fährte gefolgt …«

»Die dieser Kojote zurückgelassen hat«, vollendete Siyamtiwa ihren Satz. »Machst du das immer so an fremden Orten? Einfach losmarschieren? Niemandem sagen, wohin du gehst?«

»Woher wissen …?«

Siyamtiwa schüttelte sie grob am Arm. »Ist das deine Art?«

»Natürlich nicht. Ich bin normalerweise sehr vorsichtig.«

Die alte Frau nahm sie bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Jetzt hörst du mir mal zu, pahana. Irgendetwas wird hier geschehen. Du musst bereit sein.«

»Klar«, sagte Stoner.

Siyamtiwa ließ sie los. »Jetzt hätte ich gerne Wasser.«

»Ich hol Ihnen welches«, sagte Stoner und rappelte sich auf die Füße. »Wenn Sie mir helfen können, die Handelsstation zu finden.«

»Du hast Augen. Benutze sie.«

Sie schaute über den Kopf der alten Frau hinweg. Die Straße war nur ein paar Schritte entfernt. Sie konnte die Schrift auf dem Schild vor der Handelsstation lesen.

Sie wusste, dass das alles nicht da gewesen war, als sie sich hingesetzt hatte.

Siyamtiwa gab ihr einen Schubs. »Geh.«

»Ich komm wieder«, sagte sie und stapfte auf die Straße zu.

An der Küchentür warf Stoner einen Blick zurück. Siyamtiwa stand da und beobachtete sie, fest wie ein Baumstamm und reglos wie ein Stein.

Entweder sind die kulturellen Unterschiede doch größer, als mir bisher bewusst war, oder hier ist etwas sehr Seltsames im Gange.

Ihre Nackenhaare sträubten sich wie die eines Hundes.

***

Großmutter Adlerin glitt an einem Sonnenstrahl hinab und ließ sich auf dem Boden neben der alten Frau nieder. »Was hast du vor, Uralte?«

»Medizin.«

Adlerin breitete ihre Flügel aus und flatterte verärgert. »Du machst Medizin mit einem weißen Mädchen? Das Alter hat dir die Sinne geraubt.«

Siyamtiwa zuckte die Schultern. »Ich denke, sie wird in Ordnung sein.«

»Weiße bringen nichts als Ärger«, sagte Kwahu, »so ist es immer gewesen.«

Siyamtiwa warf ihr einen Blick zu. »Deine Navajo bringen auch Ärger. Das war schon immer so.«

»Hopi sind Narren«, grummelte Adlerin.

»Navajo sind Diebe.«

»Ihr denkt, dass ihr mit euren Tänzen die Sonne aufgehen lasst.«

»Stehlen unsere Pferde, stehlen unser Land, stehlen unser Wasser …«

»Die Anglos stehlen euer Land«, unterbrach Adlerin. »Stehlen eure Traditionen, stehlen die Gedanken eurer Kinder. Und ihr sitzt die ganze Zeit auf euren Mesas und wartet darauf, dass der Verlorene Weiße Bruder kommt und euch rettet.«

Siyamtiwa zuckte die Schultern. »Du denkst wie eine Navajo, alte Kwahu. Du verstehst Symbolismus nicht.«

»Träumerin«, sagte die Adlerin und scharrte im Staub herum. »Maskenbemalerin.«

»Silberklopferin, Teppichweberin.«

Die Adlerin trat Kieselsteine durch die Gegend.

»Tut gut, zu streiten«, sagte Siyamtiwa. »Es wärmt die Knochen.«

»Hör mir zu, Großmutter. Dieses Mädchen …«, sie gestikulierte mit ihrem Schnabel, »… dieses Grünauge ist nicht der Verlorene Weiße Bruder. Dieses Grünauge wird keine Harmonie bringen.«

»Harmonie!« Siyamtiwa warf den Kopf zurück und lachte. »Ich suche nach Harmonie schon seit mehr Jahren als die Pollenkörner auf der Maismutter. Das hier ist eine andere Angelegenheit. Ich denke, es hat vielleicht was mit Ya-Ya zu tun.«

Die Adlerin ging im Kreis herum. »Du verbringst also deine letzten Tage damit, über Ya-Ya-Schwachsinn zu reden? Die Ya Ya sind weg, alte Frau.«

»Das ist Legende. Ich bin da nicht so sicher. Der Kojote spürt diesem Grünauge nach. Vielleicht weiß er etwas. Dieser Kojote ist nicht, was er zu sein scheint.«

»Wenn du recht hast«, sagte Kwahu, »dann kann dieses Mädchen deinen Kampf nicht führen. Sie hat keine Macht.«

»Ich glaube, da irrst du dich vielleicht. Und vielleicht weiß der Kojote das. Wenn es wahr ist, wird sie darin verwickelt werden, ob ich es will oder nicht.«

»Ich billige das nicht«, sagte die Adlerin.

Siyamtiwa lächelte. »Wann hättest du jemals etwas gebilligt? Mein ganzes Leben lang habe ich Adler-Missbilligung erfahren. Wenn ich die Andere Welt erreiche, werde ich wahrscheinlich von deiner Missbilligung begrüßt.«

»Es würde mir das größte Vergnügen bereiten«, sagte die Adlerin.

Siyamtiwa scheuchte sie weg. »Dann gib mir Frieden in dieser Welt, Mäusefresserin. Da sind Dinge, über die ich nachdenken muss.«

***

Sie ließ die Tür hinter sich zuknallen. »Stell!«

Stell zuckte zusammen und sah von ihrem Rechnungsbuch auf. »Jesses, ich hatte ganz vergessen, was das Getrappel kleiner Füße mit deinen Nerven machen kann.«

»Ich habe draußen in der Wüste eine alte Indianerin getroffen. Sie braucht Wasser.«

Stell schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Stirbt sie?«

»Nein, aber ich weiß nicht, warum nicht. Sie ist ungefähr hundertfünfzig Jahre alt. Siyamtiwa. Kennst du sie?«

»Kann ich nicht behaupten. Kann aber sein, dass ich ihr schon mal begegnet bin. Sie verraten ihre Namen nicht so schnell.« Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, stellte es als zu klein wieder zurück und fand ein Ein-Liter-Einmachglas unter der Spüle.

»Sie wusste von dem Kojoten«, sagte Stoner, »findest du das nicht seltsam?«

»Diese Leute wissen Dinge, die wir nicht wissen. Nehme an, das liegt daran, dass sie das Leben anders betrachten als wir.« Sie ließ kaltes Wasser ins Waschbecken laufen. »In den ersten paar Wochen hier habe ich mir die Füße wundgerannt bei dem Versuch, rauszukriegen, was irgendwas bedeutet. Hör auf meinen Rat, schwimm mit dem Strom, wie mein Sohn sagen würde.«

Stoner hielt ihr die Puppe hin. »Sie hat mir das hier gegeben.«

Stell drehte sie in ihren Händen hin und her. »Sieht aus wie du.«

»Das fand ich auch.« Sie nahm die Puppe zurück und lehnte sich gegen das Waschbecken. »Wir hatten eine sehr merkwürdige Unterhaltung. Über Hexenmeister – powaqa nannte sie sie. Sie sagte, der Kojote wäre halb Mensch und dass er mein Herz kennen würde.«

Stell schüttelte den Kopf. »Die Reservation summt dieser Tage vor lauter Aberglauben. Muss wohl der Einfluss der Missionare sein.«

»Glaubst du daran?«

»Ich würde darauf nicht mit ja oder nein antworten«, sagte Stell. »Aber es würde vor einem Anglo-Gerichtshof nicht durchkommen.« Sie lachte. »Du nimmst solchen Dingen gegenüber eine überlegene Haltung ein, und bei der nächsten Gelegenheit wachst du mitten in der Nacht auf und siehst, dass dein Bett zwei Meter über dem Boden schwebt.«

Stoner nahm das Wasserglas. »Ist es in Ordnung, wenn wir nach Beale fahren?«

»Ihr braucht dafür doch nicht meine Erlaubnis.«

»Wir brauchen dein Auto.«

»Nehmt es.« Stell scheuchte sie weg. »Wir müssen nirgendwohin, wofür wir nicht die Pferde nehmen können. Wenn es euch nichts ausmacht, ein paar Besorgungen zu erledigen, auf dem Tisch liegt eine Liste von Sachen, die ich noch vergessen hatte.« Sie nahm eine Dose Tomaten herunter. »Nimm die der alten Frau mit. Aber mach keine große Sache draus. Das ist ihnen peinlich. Stell sie einfach auf den Boden und lass sie zurück, als ob du sie übersehen hättest. Sie wird deine Absichten verstehen.«

»Danke. Wo ist Gwen?«

»Das letzte Mal, als ich sie sah, war sie unten bei der Scheune, zusammen mit Ted. Er sagte, er würde ihr beibringen, Holzscheite zu spalten. Du schreitest besser ein, bevor er sie zu einer solchen Arbeitssüchtigen macht, wie er selbst einer ist. Sie sind praktisch, aber es macht nicht viel Spaß, mit ihnen zu leben.«

Sie folgte den hämmernden Geräuschen.

Mit dem Rücken zu ihr stand Gwen vor einem großen Holzblock. Sie hob einen unbehauenen Klotz auf, stellte ihn hochkant, trat zurück und ließ krachend die Axt niedersausen. Die gespaltenen Hälften flogen zur Seite. Tom Drooley entknotete seine Beine, sammelte würdevoll die Stücke auf und ließ sie vor Gwens Füßen fallen. Sie griff nach einem weiteren Klotz.

»Hey!«, rief Stoner. »Wenn du dich jemals entschließt, die Schule sein zu lassen und dir einen richtigen Job zu suchen, dann könntet ihr beide in einem Holzfäller-Camp arbeiten.«

Gwen drehte sich um. »Mist«, sagte sie und wischte sich mit dem Hemdärmel den Schweiß vom Gesicht. »Wo wir gerade so gut in Schwung waren.«

Stoner hob einen frisch gespaltenen Scheit auf und schnüffelte daran. Der scharfe, harzige Geruch brannte in ihrer Nase. »Riecht toll. Was ist das?«

»Mesquite. Hart wie Nägel. Wenn du es nicht genau richtig triffst, kann es dir jeden Knochen in deinen Armen zerschmettern.« Sie schwang die Axt auf den Hackklotz hinunter und versenkte die Schneide tief im Holz. »Hast du eine Vorstellung davon, was die Yuppies zu Hause für diesen Stapel bezahlen würden?«

»Könnt ihr eine Pause einlegen? Da ist jemand, den ich dir vorstellen möchte, und ich dachte, wir könnten mal nach Beale fahren.«

»Sehe ich anständig aus?«

In ihren Haaren hingen kleine Holzspäne. Ihre Ärmel waren hochgekrempelt. Staub bedeckte ihre Stiefel und den unteren Teil ihrer Jeans. »Du siehst hinreißend aus.«

»Schmeichlerin. Wie sehe ich wirklich aus?«

»Deine Haare könnten einen Kamm vertragen.«

Während sie auf die Baracke zugingen, entdeckte Gwen die Dose Tomaten und das Glas Wasser. »Ich hoffe nicht, dass das unser Mittagessen ist.«

»Es ist ein Geschenk für Siyamtiwa.«

»Siyamtiwer?«

»Siyamtiwa. Eine alte Hopi-Frau. Es bedeutet ›Etwas-das-sich-über-Blumen-hinweg-entfernt‹«.

Gwen fuhr sich mit einem Kamm durch die Haare und nahm ihre Schultertasche. »Hast du das Gefühl, du bist mitten in einem John Ford-Epos?«

»Nein. In einem Stephen King-Epos. Komplett mit Werwölfen.«

»Dieser Ort ist sonderbar«, sagte Gwen. Sie pfiff nach Tom Drooley. Der große Hund kroch, ein Bein nach dem anderen, auf die Ladefläche des Lieferwagens und rollte sich auf einer alten Decke zusammen.

»Meinst du, es ist in Ordnung, ihn mitzunehmen?«

»Ted sagt, er fährt dauernd mit in die Stadt. Er wird einfach da hinten rumliegen. Er stellt schon nichts an.«

»Das glaube ich ohne weiteres«, sagte Stoner. Sie schwang sich hinter das Lenkrad und drehte den Zündschlüssel herum. »Also, los geht’s.«

***

»Ich weiß, dass sie hier war, als ich wegging.« Die Wüste war leer. Der Boden war uneben und zertreten.

»Genug Durcheinander habt ihr ja angerichtet«, sagte Gwen.

»Sie muss hier irgendwo sein.«

»Vielleicht wurde ihr das Warten zu lang.«

»Selbst dann könnte sie nicht weit gekommen sein.« Sie wandte sich in alle Richtungen. »Ich hoffe, es ist nichts passiert.«

»Vielleicht hat sie Schatten gesucht oder sich von jemandem mitnehmen lassen.«

»Du verstehst nicht. Diese Frau ist uralt.«.

»Na ja, sie hat es fertiggebracht, bis hierher zu kommen, oder? Ich wette, sie findet sich in der Wüste besser zurecht als du.«

Stoner beschloss, darauf nicht einzugehen. Ihre morgendlichen Erfahrungen waren nichts zum Angeben.

Sie rutschte zum Fuß des Hügels hinunter und schaute sich um. Nichts. Kein Körper, keine Spuren, kein Abfall. Nur eine kleine graue Spinne, die nicht ganz richtig im Kopf sein konnte, sponn ein Netz zwischen zwei Felsen.

»Willst du warten?«, fragte Gwen.

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte so ein Gefühl, dass Siyamtiwa nicht kommen würde.

»Ich sag dir was«, sagte Gwen. »Wir stecken das Wasser und die Tomaten in irgendeine Ritze, und vielleicht wird sie sie finden.« Sie gab Stoner die Dose und das Glas. »Vorsicht damit. Wenn du es verschüttest, könnten wir die ganze Ökologie verändern.«

Stoner lachte.

»Ich meine es ernst«, sagte Gwen. »Hier draußen gibt es Samen, die Hunderte von Jahren hindurch im Sand liegen und auf eine ganz bestimmte Kombination von Regen und Temperatur warten, um schlagartig zum Leben zu erwachen. Vielleicht würdest du gerne die Wüste zum Blühen bringen, aber ich will diese Verantwortung nicht.«

***

Was jetzt?

Adlerin schnellte von ihrem Aussichtspunkt hoch auf dem Tewa Mountain hinunter, als der Lieferwagen der Handelsstation aus der Einfahrt herauskam.

Verrückte Weiße, nörgelte sie. Immer in Bewegung. Haben Angst, dass Masau sie holt, wenn sie stillsitzen. Sie kreiste hoch oben und beobachtete, wie der Lieferwagen nach Süden auf die Asphaltstraße abbog.

Mittag, und die Sonne heiß wie glühende Kohlen.

Verrückt, verrückt, verrückt.

GEHT NACH HAUSE!, kreischte sie. Setzt euch in den Schatten. Zählt euer Geld. Glotzt in eure Geisterkästen. Denkt euch neue Arten aus, euch gegenseitig umzubringen. Aber lasst mich in Frieden, um taiowas willen.

Kein Zweifel, sie hatte die Zweibeine immer gehasst, vor allem die weißen. Ihr Alter hatte sie deshalb eine Rassistin genannt, aber seht doch, wohin ihn all seine Aufgeschlossenheit gebracht hat. Ein toleranter toter Adler ist genauso tot wie ein intoleranter.

Sie konnte es noch sehen, im schwindenden, überlieferten Gedächtnis ihrer Ahnen, wie es damals war in der alten Zeit. Die ununterbrochenen Weiten des Landes, die sich vom Ort der Morgendämmerung zum Ort des Abends ausdehnten. Das Büffelgras und die Pinienwälder, Fichte und Mesquite und Kreosotbusch und Kaktus. Stille Schluchten und schnelle Flüsse. Die spätnachmittägliche Parade des Wolkenvolks, das Regen brachte. Lange, kalte, schweigende Winter unter dem weichen Schnee. Die leichte Jagd, das schnelle Töten. Und die Dineh, ihre Dineh, die die Weißen Navajo nannten, mit ihren Schafen und Hunden, ihre Sommerunterkünfte in den kühlen, grünen Canyons, der würzige Rauch der Winterfeuer, der von ihren hogans aufstieg. Und überall Harmonie, überall hozro.

Im Rückblick konnte sie sogar einen freundlichen Gedanken für die Hopi aufbringen, diese breitnasigen Fanatiker.

Sie hatte sie genossen, die vieltägigen Zeremonien, die Mysterienspiele, die die Schöpfungsgeschichten erzählten, die kachina-Tänzer mit ihren grell bemalten Masken, die Glöckchen und Rasseln, die Opfer der Mais-Mutter. Mehr als einmal hatte sie ein köstliches Mahl eingenommen, wenn das Nagetier-Volk kam, um die Körner- und Samenlinien aufzufressen, die den Weg markierten, dem die kachinas folgen würden. Ja, selbst die Hopi hatten ihre guten Seiten.

Aber die Weißen …

Weiße standen für Gewehre und Zäune und Pony-Soldaten und Kämpfe. Weiße standen für Stoßen und Schreien, Menschen hierhin und dorthin gestoßen, ein paar starben immer. Weiße standen für die eisernen Gleise mit ihren rauchatmenden Wagen, die harten, schwarzen Straßen und die Blechpferde, die Viel-Räder, die Tag und Nacht über das Land dröhnten und das Rehvolk überfuhren und niemals anhielten. Weiße standen für die Riesenpilze, die giftigen Regen brachten, die großen hogans, die schwarzen Qualm ausspien. Weiße standen für Maschinen, die mit Zähnen und Klauen die Berge zerrissen und weiterzogen, während das Land hinter ihnen starb.

Das Leben war gut gewesen in der alten Zeit, solange man sich von der Schwarzen Mesa fernhielt, wo die Zweibeiner Adlerfedern für ihre Gebetsstäbe sammeln. Man konnte die Nachmittage auf einer felsigen Klippe verbringen und ein Schwätzchen mit dem Wind halten. Das Adlervolk war zahlreich, und auch wenn sie sich nicht besonders viel aus Nachbarn machte – nicht wie die Hopi, die einer im Schatten des anderen lebten –, war es doch beruhigend zu wissen, dass es sie gab. Nun war auch das Adlervolk beinahe verschwunden, ihre Nistplätze zerstört, die Futtertiere vergiftet. In ihrem letzten Gelege waren die Eier steril gewesen, die Schalen zerbrechlich wie feines Gewebe. Danach, obwohl die Paarung gut gewesen war, gab es keine Eier mehr, und sie hatte über dem leeren Nest geweint.

Und die Zweibeiner hatten sich verändert. Der dunkle Wind wehte durch sie hindurch. Gezänk, Gemeinheit, Kämpfe zwischen der alten Art und der neuen, unter den Klans, innerhalb der Klans, jeder sah seinen Nachbarn schief an.

Und hier kam nun die alte Großmutter, die vielleicht die älteste Indianerin war, die sie je gesehen hatte, vielleicht älter als die älteste, vielleicht noch etwas ganz anderes. Die alte Großmutter, die von Schlachten sprach und sich an die grünäugige pahana ranmachte.

Es ermüdete sie, daran zu denken.

Der Lieferwagen bog nach Osten ab, in Richtung Beale. Nicht viel, was du dort durcheinanderbringen kannst, Grünauge.

Sie stieß tief hinab, kreischte eine Beleidigung und flog zurück zum Großen Tewa-Gipfel.

Stoner McTavish - Grauer Zauber

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