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Rachel

Mir ist schlecht.

So schlecht, dass ich am liebsten im Bett bleiben und mich unter meiner Decke verkriechen würde.

Schon den ganzen Tag habe ich ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, welches ich einfach nicht loswerde. Wundern tut es mich aber nicht.

Mich würde es eher wundern, wenn es nicht so wäre.

In einer Stunde muss ich zum Abendessen bei meinen Eltern sein. Allerdings werde ich nicht alleine dort sein.

Nein, mein Bruder wird auch anwesend sein.

Alleine der Gedanke daran, dass er da sein wird, sorgt dafür, dass sich mein Magen schmerzhaft zusammenzieht und ich mich gerne übergeben würde. Doch es hilft alles nichts. Ich kann das Essen bei meinen Eltern nicht verschieden, oder irgendeine Ausrede vorbringen, warum ich nicht kommen konnte. Ich kann nur hoffen, dass ich ihm irgendwie aus dem Weg gehen kann. Denn leider kann ich den beiden nicht ewig ausweichen, auch wenn es in den letzten Wochen funktioniert hat.

Nur leider habe ich es so nicht geschafft, auch ihm aus dem Weg zu gehen, denke ich zähneknirschend, während ich mich fertig mache.

Als ich mir die Schuhe anziehe, verziehe ich bei jeder Bewegung das Gesicht vor Schmerzen. Es ist jetzt eine Woche her, dass ich mir diese Verletzungen zugezogen habe – keine Ahnung, wie ich es sonst bezeichnen soll. Doch sie schmerzen noch immer, als wäre es erst gestern gewesen. Vor allem der blaue Fleck, der sich auf meiner Hüfte befindet, springt mir jedes Mal sofort ins Auge, wenn ich mich ausziehe und einen Blick in den Spiegel werfe. Er ist riesig und besteht aus so leuchtenden Farben, dass ich froh darüber bin, dass man ihn an dieser Stelle nicht sehen kann.

Seufzend bleibe ich auf meinem Sofa sitzen und warte darauf, dass die Schmerztabletten, die ich vorhin genommen habe, endlich wirken. Auf diese Weise will ich verhindern, dass meine Eltern etwas mitbekommen, da ich mich kaum bewegen kann. Ich wüsste nämlich nicht, wie ich ihnen das erklären sollte.

Nach einigen Minuten stehe ich schließlich auf, greife nach meiner Tasche und den Schlüsseln und verlasse meine Wohnung.

Ich habe es nicht eilig, zu meinen Eltern zu kommen. Daher bin ich über jede rote Ampel froh, die sich auf meinem Weg befindet. Ich fahre sogar einen kleinen Umweg, um noch etwas Zeit zu bekommen. Dennoch kommt es mir so vor, als würde ihr Haus viel zu schnell vor mir erscheinen.

Ich habe mich immer darüber gefreut, hier zu sein. In den letzten Jahren ist diese Freude allerdings immer mehr verschwunden und ich bin ihnen aus dem Weg gegangen.

Einen Moment bleibe ich noch in meinem Wagen sitzen und betrachte es. Ich habe eine wunderbare Kindheit hier verbracht. Damals war noch alles in Ordnung und es gibt Zeiten da wünsche ich mir, dass es noch immer so ist.

Während ich versuche mich wieder ein wenig zu beruhigen, überlege ich mir schon eine Ausrede, wieso ich nicht lange bleiben kann. Auf diese Weise will ich verhindern, dass mein Bruder doch noch die Chance dazu bekommt, mit mir zu reden. Auf ein Gespräch mit ihm kann ich nämlich sehr gut verzichten.

Ein letztes Mal atme ich tief durch, ehe ich mich endlich dazu aufraffe, das Auto zu verlassen. Als ich durch den Vorgarten auf die Haustür zugehe, höre ich noch einmal in mich herein. Dabei stelle ich fest, dass die Tabletten endlich wirken und ich mich wieder so bewegen kann, als wäre nichts geschehen.

Und darüber bin ich froh. So muss ich mir keine Geschichte einfallen lassen. Ich will nicht, dass sie die Wahrheit erfahren.

Das dürfen sie niemals erfahren!

„Mein Kind“, begrüßt mich meine Mutter mit guter Laune und kommt mit großen Schritten auf mich zu, nachdem ich das Haus betreten habe.

In der nächsten Sekunde zieht sie mich für eine feste Umarmung an sich heran.

„Dich habe ich ja schon ewig nicht mehr zu Gesicht bekommen“, erklärt sie und sieht mich prüfend von oben bis unten an. Nichts entgeht ihr, daher versuche ich so gelassen wie möglich auf sie zu wirken. „Was hast du alles in der letzten Zeit gemacht? Du warst ja ganz schön beschäftigt.“

„Sie führt ihr eigenes Leben“, ertönt in der nächsten Sekunde die Stimme meines Vaters, bevor ich ihr antworten kann. „Da ist es nun einmal so, dass man nicht mehr soviel Zeit für seine Eltern hat.“

Kurz sehe ich ihn an und versuche herauszufinden, ob er deswegen sauer oder enttäuscht ist. Doch wenn ich ehrlich bin, macht er diesen Eindruck nicht auf mich. Stattdessen zwinkert er mir zu und bringt mich so dazu, das sich leise lache. Wenigstens für einen kurzen Moment kann ich so meine Probleme vergessen.

Nach dem Mist, der in der letzten Zeit geschehen ist, tut es gut. Gerne würde ich mich öfter so frei fühlen, wie es gerade der Fall ist. Doch das ist es nicht. Um genau zu sein, passiert das sogar sehr selten.

„Dein Bruder kommt auch gleich“, verkündet meine Mutter, nachdem sie sich von mir gelöst hat.

Daher bekommt sie nicht mit, dass ich erschrocken zusammenzucke. Mein Herz beginnt zu rasen und erneut wird mir schlecht.

Ich wusste, dass er auch hier sein wird, doch ich kann kein Geheimnis daraus machen, dass ich eigentlich keine Lust habe, ihm über den Weg zu laufen. Ich gebe zu, dass ich mich am liebsten auf der anderen Seite der Welt aufhalten würde.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe ihm gesagt, dass ich heute keinen Streit zwischen euch will“, erklärt sie als Nächstes. „Ich bin mir also sicher, dass er sich zurückhalten wird.“

Für unsere Familie sieht es so aus, als würden wir uns einfach nicht verstehen und deswegen ständig aneinander geraten. Allerdings haben sie noch nicht einmal an der Oberfläche damit gekratzt. Und darüber bin ich froh, denn unsere Auseinandersetzungen gehen sehr viel tiefer.

Ich habe keine Ahnung, wie sie reagieren würden, wenn sie die Wahrheit wüssten. Doch ich weiß, dass es diese Sache nur noch schwieriger für mich machen würde. Und das ist etwas, worauf ich sehr gut verzichten kann. Je weniger darüber Bescheid wissen, was hier los ist, umso besser ist das für mich.

Dies ist auch der Grund dafür, dass ich seit Jahren den Mund halte und es einfach über mich ergehen lasse.

„Also, was hast du in den letzten Wochen gemacht?“, fragt sie ein zweites Mal und reißt mich so aus meinen Gedanken. Dabei bedeutet sie mir, dass ich ihr folgen soll.

Gemeinsam gehen wir in die Küche, wo ich mich an den gedeckten Tisch sinken lasse. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, während ich versuche eine geeignete Antwort zu finden. So leicht ist das allerdings nicht, da ich eigentlich nichts gemacht habe.

„Ich hatte auf der Arbeit viel zu tun“, gebe ich schließlich von mir. „Und dann habe ich mich viel mit meinen Freundinnen getroffen.“

Es ist gelogen, doch das muss sie nicht wissen. Die Hauptsache für mich ist, dass sie es mir glaubt.

„Wirklich, ich weiß überhaupt nicht, wieso du dich nicht mit Jason verstehst. Ihr seid beide Arbeitstiere, wie es Opa immer so schön gesagt hätte“, murmelt sie und schüttelt den Kopf. „Manchmal frage ich mich, ob ihr euch überhaupt ein freies Wochenende gönnt. Aber vielleicht ist das auch genau euer Problem.“

„Was meinst du?“ Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie spricht.

„Ihr seid euch einfach zu ähnlich.“

Meine Mutter verzieht das Gesicht, als würde sie darüber nachdenken. Doch ich ziehe es vor, nicht weiter auf diesen Gedanken einzugehen.

„Ich mache meinen Job gerne“, gebe ich nur von mir und zucke mit den Schultern.

Einen Moment sieht sie mich nachdenklich an, bevor sie sich wieder auf das Essen konzentriert. Dennoch habe ich das Gefühl, als würde es da noch etwas geben, was sie zu diesem Thema von sich geben will.

„Und was war bei euch los?“, erkundige ich mich, bevor sie es sich anders überlegt und ihr Schweigen bricht.

Die nächsten Minuten berichtet meine Mutter mir, was in der bei ihr und Dad passiert ist. Allerdings ist es nicht ganz so viel, wie ich von ausgegangen bin. Die meiste Zeit sind die beiden auf der Arbeit beziehungsweise mit dem Ausbau des Dachbodens beschäftigt, aus dem sie eine Art Hobbyraum für die Modellautos meines Vaters machen wollen.

Ich bin so sehr auf die Unterhaltung mit ihr konzentriert, das sich erschrocken zusammenzucke, als ich plötzlich die Stimme meines Bruders dicht hinter mir wahrnehme. Langsam drehe ich mich um und stelle fest, dass er mich keine Sekunde aus den Augen lässt. Dann wendet er sich jedoch von mir ab und begrüßt unsere Mutter, als wäre nichts.

Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich mich wieder im Griff habe, doch dann schaffe ich es, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen.

Während des Essens spüre ich die ganze Zeit seinen Blick auf mir. Mir ist bewusst, dass ihn unsere letzte Unterhaltung nicht gefällt, doch es ist mir egal. An meiner Meinung wird sich nichts ändern. Dieses Mal werde ich standhaft bleiben!

Ich versuche mich auf das Gespräch zu konzentrieren, das um mich herumgeführt werden. Doch ich schaffe es nicht. Dies geht soweit, bis ich nicht einmal mehr in der Lage bin, am Tisch sitzen zu bleiben.

Plötzlich packt der Fluchtinstinkt mich, den ich nicht mehr unter Kontrolle behalten kann.

„Ich bin gleich wieder da“, verkünde ich und stehe so energisch auf, dass der Stuhl mit einem scharfen Ton über die Fliesen rutscht.

Als ich den überraschten Blick meiner Mutter erkenne, merke ich, dass es vielleicht etwas zu energisch war, doch darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Ohne sie ein letztes Mal anzusehen oder noch etwas zu sagen, verlasse ich die Küche und gehe ins Bad. Ich habe nur noch den Wunsch von hier zu verschwinden und soviel Abstand wie möglich zwischen Jason und mich zu bringen. Doch gerade muss ich mich damit begnügen, das Zimmer zu verlassen.

Nachdem ich die Tür des Badezimmers hinter mir abgeschlossen habe, lasse ich mich dagegen sinken.

Einige Sekunden stehe ich dort, habe die Augen geschlossen und versuche mein wild schlagendes Herz wieder unter Kontrolle zu bekommen. Erst dann gehe ich zum Waschbecken und werfe einen Blick in den Spiegel.

Ich bin blass im Gesicht, sodass es mich nicht wundert, dass meine Mutter mich so angesehen hat. Außerdem zittert mein gesamter Körper.

Wahrscheinlich wird sie mir nachher noch einmal sagen, dass ich mal Urlaub machen soll, denke ich.

Und das würde ich gerne, allerdings ist auch das nicht so einfach, wie sie es sich vielleicht denkt.

Da ich nicht ewig im Bad bleiben kann, schiebe ich das schnell wieder zur Seite und sammle mich. Erst als ich mir sicher bin, dass ich nicht jeden Augenblick etwas machen werde, was ich wahrscheinlich bereuen werde, gehe ich wieder hinaus. Doch kaum habe ich die Tür geöffnet, bereue ich es bereits wieder.

Nur wenige Zentimeter von mir entfernt steht mein Bruder und sieht mich von oben bis unten an.

„Du solltest mehr schlafen. Schließlich hast du bald eine wichtige Verabredung“, stellt er dann fest.

Ein hinterhältiges Grinsen hat sich auf seinem Gesicht breit gemacht, während seine Worte langsam bei mir ankommen.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich diesen Termin nicht wahrnehmen werde“, kontere ich entschieden.

Ich lasse keinen Zweifel daran, dass ich es genauso meine, wie ich es gesagt habe. Doch ich erkenne auch, dass er nicht zufrieden mit meiner Antwort ist. Um genau zu sein, spannen sich seine Muskeln an und seine Lippen bilden nur noch eine dünne Linie. Mir ist bewusst, dass er wütend ist und leider weiß ich auch, was nun kommen wird.

Bevor ich die Chance habe, einen Schritt nach hinten zu gehen, umgreift er fest meinen Arm und zieht mich hinter sich her in das Arbeitszimmer unseres Vaters. Nachdem er leise die Tür hinter sich geschlossen hat, baut er sich bedrohlich vor mir auf.

Und dann spüre ich nur noch, wie seine Hand in meinem Gesicht landet.

Der Schlag ist so fest, dass mein Kopf zur Seite fliegt. Sofort gehe ich ein wenig in die Knie und fasse ich mir an die Stelle, an der er mich getroffen hat. Ich spüre das Brennen, welches von ihr ausgeht. Mir schießen die Tränen in die Augen, doch ich halte mich zurück. Ich will ihm nicht diese Macht über mich geben.

„Ich habe eigentlich gedacht, dass wir das schon ausführlich geklärt haben“, brummt er. „Du machst, was ich sage und wann ich es sage. In den letzten Jahren hat es doch auch funktioniert. Ich verstehe nicht, wieso du jetzt so ein Drama deswegen machst. Dieser Mann ist ein sehr einflussreicher Geschäftspartner von mir und er würde gerne meine Schwester kennenlernen. Ich rate dir, diesen Job ordentlich zu erledigen. Es geht für mich um eine Menge Geld.“

„Bitte“, flehe ich ihn an.

Meine Stimme ist brüchig, da ich versuche, die Tränen für mich zu behalten.

Sein heiseres Lachen ertönt und zeigt mir, dass es ihn nicht interessiert. In der nächsten Sekunde greift er nach meinem Kinn und hält es fest, sodass ich ihm nicht ausweichen kann.

Nun läuft mir doch eine einzelne Träne über die Wange bis zu meinem Kinn.

„Ich habe dir bereits beim letzten Mal gesagt, dass es mir egal ist. Es wird Konsequenzen haben, wenn du dich nicht an meine Anweisungen hältst. Und du kannst mir glauben, dass du das nicht erleben willst.“

Einige Sekunden starrt er mich finster an, ehe er mich so ruckartig wieder freigibt, dass ich nach hinten stolpere.

„Und jetzt wirst du nach Hause fahren und dich ins Bett legen. Schließlich will ich mir nicht anhören müssen, dass ich meine Schwester nicht gut behandle. Bei den anderen Mädchen wäre mir das egal. Wenn ich diesen Vorwurf allerdings bezüglich meiner Schwester bekomme, ist das doch etwas anderes.“

Ich kann nicht verhindern, dass ich ihn mit zusammen gekniffenen Augen ansehe.

„Das wirst du früher oder später dir aber anhören müssen“, flüstere ich.

Ich habe keine Ahnung, woher ich den Mut nehme, ihm diese Worte gerade entgegenzuschleudern, doch ich bin froh darüber, dass ich ihn habe.

„Wenn du nicht willst, dass ich dir noch eine scheuere, was ich sofort machen würde, hältst du jetzt den Mund und fährst nach Hause. Und ich hoffe, dass du wieder etwas Farbe im Gesicht hast, wenn du noch ein paar Stunden im Bett verbracht hast. Nicht, dass du krank wirst. Das könnte ich gerade überhaupt nicht gebrauchen.“

Nachdenklich betrachtet er mich.

„Ich muss mich noch von Mom und Dad verabschieden“, erkläre ich ihm.

„Oh nein, die beiden sollen dich so nicht zu Gesicht bekommen. Das würde nur weitere Fragen aufwerfen. Ich werde ihnen einfach sagen, dass es dir nicht gut ging und du deswegen schon gefahren bist.“

Mit diesen Worten macht er Platz, sodass ich das Zimmer wieder verlassen kann. Einerseits bin ich froh darüber, dass er mich bei ihnen entschuldigen wird. Andererseits würde ich ihnen gerne endlich die Wahrheit sagen. Doch ich schaffe es nicht, diese Worte in ihrer Gegenwart auszusprechen.

Als ich endlich in meinem Wagen sitze und mich ein wenig von dem Haus entfernt habe, bleibe ich stehen und lasse meinen Tränen freien Lauf. Meine Wange brennt noch immer und mittlerweile hat sich dort ein roter Fleck gebildet, der nicht zu übersehen ist.

Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich meinen Bruder hasse. Seit Jahren zwingt er mich schon dazu, dass ich seinen Geschäftspartnern zur Verfügung stehe und sie alles mit mir machen lasse, was sie wollen.

Würden andere von dieser Geschichte hören, würden sie wahrscheinlich sagen, dass ich einfach zur Polizei gehen soll. Doch ich weiß, was mit den Frauen passiert ist, die genau diesen Schritt gegangen sind.

Man hat sie tot in irgendeiner Gasse aufgefunden!

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