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Episode 2: Treffpunkt

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Nebelschwaden waberten durch den dichten Fichtenwald, der sich vom Talboden den Hang entlang bis zur Baumgrenze hochzog und über dem sich schneebedeckte Berggipfel in den Nachthimmel erhoben. Es war kurz vor der Morgendämmerung, die Sterne funkelten lebhaft am mondlosen Himmel. Stanley konnte viele erkennen, da weit und breit kein Licht brannte, sie befanden sich in einer abgelegenen, kaum besiedelten, Gegend. Zitternd rieb er sich mit den Händen an den Oberarmen, wobei er pausenlos auf dem unter einer festgefrorenen Schneeschicht versteckten Boden hin- und herstapfte um sich warmzuhalten. Sein Atem zeichnete Dampfwolken in die Luft, die er erkennen konnte, als er sich wieder der Promise zuwandte. Über dem alten Frachter flimmerte die Wärme, durch die geöffnete Laderampe fiel schwaches Licht ins Freie, doch die Schmuggler warteten lieber in der Dunkelheit und verharrten deshalb abseits im Schatten.

Die ganze Crew der Promise war versammelt. Eben brach Dan die Stille: „Ich bin mal auf der Brücke, hier draußen wird es mir allmählich zu kalt.“

Natala streckte sich. „Klar, mach nur. Wir kommen nach, sobald wir den Deal erledigt haben, du kannst schon mal die Koordinaten für den Hyperraumsprung setzen, wenn du willst.“

Sven rannte los, um Dan rasch einzuholen, wobei er rief: „Moment, ich komme mit.“

Als die beiden Männer durch das erleuchtete Viereck im Schiff verschwanden, lachte Natala: „Was haben die bloß? So schlimm ist es nun auch wieder nicht hier draußen.“

„Klar, wir wissen alle, wie robust du gegen Hitze und Kälte bist, du Angeberin“, entgegnete Stanley trocken, ehe er sich an Anaata wandte, die nahezu gierig an ihrer Zigarette zog, als wollte sie den Glimmstängel so Wärme abringen. „Das Schlimme ist, es ist ihr wirklich egal, der könnte ein Zeh abfrieren und sie würde es noch ignorieren. Wenn die Typen nicht bald kommen, gehen wir auch rein und brauen uns Kaffee.“

Anaata dachte kurz nach und antwortete ungewohnt entschlossen: „Weißt du was? Genau das tue ich jetzt. Bleib du nur hier, falls ihr auf etwas schießen müsst, ich bringe den Kaffee gleich raus.“

„Als ob man bei der Kälte vor lauter Zittern irgendwas träfe“, murrte Stanley, was Nani dazu verleitete, leise vor sich hin zu glucksen: „Wenn das Adrenalin durch deine Adern schießt, wirst du ganz schnell wieder zielen können. Und wenn nicht – nun, dann spielt es sowieso keine Rolle mehr.“

„Lass mich raten: Du wärst für eine Schießerei zu haben.“

„Es geht nichts über den Geruch von Fleischwunden am Morgen“, scherzte sie amüsiert, ehe sie ernst ergänzte: „Nein, ich bin zwar eine Abenteurerin, trotzdem ist es mir lieber, wenn ich nicht mein Leben riskieren muss, um Geld zu verdienen. Aber wenn Natala sagt, die Typen sind gefährlich, habe ich lieber als Erste den Blaster in der Hand.“

Bevor Stanley etwas entgegnen konnte, erkannte er ein schwaches, gelbliches Glimmen am Horizont, das sich rasch auf sie zubewegte und er begriff gleich, dass es das Buglicht eines Hovercrafts war. „Sie kommen.“

Die drei Schmuggler traten beisammen und Natala lockerte den Blaster an ihrem Gürtel. Manchmal, häufiger als einem lieb war, musste man sich in ihrem Geschäft auf Partner einlassen, denen man kein bisschen vertrauen konnte, nur, wenn man Geld verdienen wollte, blieb einem kaum eine andere Wahl. Nach kurzer Zeit war das tiefe, sonore Summen der Antigravitationseinheiten des alten Transporters zu hören, der sich rasch näherte. Natala atmete tief durch. „Gut. Niemand zieht eine Waffe, außer wir müssen, wir wollen diejenigen sein, die keinen Streit provozieren, immerhin brauchen wir die Kohle.“ Sie sah sich um und deutete auf die entladenen Boxen, die überall im Schnee standen. „Wenn es hart auf hart kommt, suchen wir hinter den Frachtkisten Deckung und hoffen, die Leute schießen nicht auf den Alkohol, den wir ihnen liefern.“

„Optimistin“, brummte Stanley mit steinerner Miene.

„Wird schon gutgehen“, versuchte Nani die Zuversicht zu steigern. „Wir sind besser übervorsichtig als zu riskieren, große Löcher in die Haut gebrannt zu kriegen.“

Mittlerweile war das Hovercraft herangekommen und man konnte die kantigen Schemen des vieleckigen Gefährts erkennen, als es schließlich vor ihnen aufsetzte.

Anaata summte leise die Melodie eines alten Country-Songs vor sich hin, den Sven letzthin an einem der langen Abende auf der Gitarre gespielt hatte, während sie die freistehende Metalltreppe zum Steg und dem Schott hochging, das zum Wohnbereich führte. Der Frachtraum war wegen der geöffneten Laderampe mittlerweile ziemlich kühl geworden, doch es gab nebst der Rampe und der Luftschleuse keinen anderen Ausgang aus dem Schiff, sodass Natala sie offenstehen lassen wollte, falls sie gezwungen waren, rasch zu flüchten. „Es wird sowieso wieder nichts passieren – wie immer“, murmelte Anaata gelangweilt, als sie oben anlangte und auf den Schott zuging. „Wie immer … und immer … und immer wieder …“

Die Tür glitt zur Seite und sie konnte die angenehm warme Luft auf ihren Wangen spüren, die aus dem Wohnbereich strömte und ihren langen Mantel flattern ließ. Sie betrat den geraden Gang mit den graubraunen Metallwänden, wo rechts von ihr der Durchgang zum Aufenthaltsraum lag und warf sie die Zigarette achtlos in einen Vakuum-Müllschlucker. Dabei murmelte sie selbstzufrieden „Gschlupp“, das Geräusch nachahmend, das er stets machte, wenn man ihn mit Abfall fütterte, nur um sogleich das Lied zu summen, das sie nun schon seit Tagen verfolgte. Schließlich trat sie in das Wohnzimmer, ging gemächlich auf die Getränkemaschine zu, die am anderen Ende des Raumes auf der Holztheke stand und murmelte spaßeshalber: „Gleich geht die Schießerei los – wie immer …“ Wie bei den meisten Leuten, die mit sich selbst sprachen, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, ergaben ihre Sätze nicht sonderlich großen Sinn.

Leise brummend ließ die Maschine heißen Kaffee in einen Becher laufen, wobei Anaata die Konversation mit sich selbst fortführte: „Ich muss unbedingt mal wieder was klauen statt so viel zu denken, sonst werde ich noch ganz wuschig.“

„Du musst was?“, konnte sie hinter sich Svens verwirrte Stimme vernehmen. Offenbar war er unbemerkt in den Raum getreten und stand jetzt hinter ihr, die Hände in den Taschen seiner Jeans. Sie fuhr herum, hob einen Finger, wie wenn sie etwas entgegnen wollte, das sie vergessen hatte und starrte ihn irritiert an, ehe sie erklärte, wobei sie eine verirrte Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht strich: „Wenn ich lange nichts klaue, werde ich fahrig.“

Der Mechaniker lachte herzhaft und trat an die eben frei gewordene Maschine, um sich einen grünen Tee zu genehmigen. „Na, da wünsch ich dir mal viel Erfolg damit, du verrückte Kleptomanin. Aber bleib von meiner Kabine fern, so lange du nichts geklaut hast, ja?“, fügte er mahnend hinzu. „Ich mag meine wenigen materiellen Dinge.“

Sie nickte und schlenderte in Richtung des Ausgangs, nun mit dem Kaffee in der Hand. Plötzlich blieb sie abrupt stehen und sah sich nach Sven um. „Moment mal – hält ihr mich wegen der Selbstgespräche für verrückt? Es ist allgemein bekannt, dass fast alle Leute Selbstgespräche führen.“

„Nicht nur deswegen, doch sie tragen sicher auch ihren Teil dazu bei, weil du selten aufpasst, ob dich jemand belauscht“, entgegnete Sven amüsiert und nahm einen Schluck von seinem Tee. Anaata wandte sich um und ging endgültig aus dem Raum, wieder mehr an sich selbst als an ihn gewandt erklärend: „Irgendwann werde ich es noch herausfinden.“

Gemächlich schlenderte sie zurück auf den Gang, wobei sie erneut Svens Lied zu summen begann, egal was sie tat, sie wurde die Melodie einfach nicht mehr los. Anaata trat hinaus auf den Steg, der sich über die Ladebucht schwang, während sie einen Schluck Kaffee aus ihrem Becher nahm, um die Kälte zu vertreiben. Eben als sie die Treppe hinuntergehen wollte, hörte sie das typische Zischen abgefeuerter Blaster sowie unkoordiniert anmutende Rufe und Schreie. Sie blieb für einen Augenblick wie angewurzelt stehen, dann warf sie den Kaffee achtlos über ihre Schulter und hastete die Treppe hinunter.

Stanley hatte das Gefühl, noch mehr zu frieren als zuvor, falls dies überhaupt noch möglich war. Eben öffnete sich die Laderampe des alten Hovercrafts und einige Gestalten traten heraus, die man nur als Silhouetten erkennen konnte, da das Licht im Innern des Transporters in ihrem Rücken lag. Als ihre Kunden nähertraten, gelang es den Schmugglern, ihre Gesichtszüge auszumachen. Es war eine bunt gemischte Gruppe, wobei alle Stiefel, dicke Jacken oder Mäntel und einen Blaster am Gürtel trugen. Eine schlaksige Frau in ihren Fünfzigern mit kantigen Gesichtszügen, offenbar die Anführerin, trat vor, streckte die Hand aus und rief mit rauchiger Stimme: „Natala, du alter Fuchs, na, wie geht’s?“

Die Schmugglerin lachte, machte ebenfalls einen Schritt nach vorn, schlug ein und begrüsste die Hinzugekommene: „Lynn die Abzockerin, lange nicht gesehen, hoffentlich hast du keine neuen Einschusslöcher in der Haut. Wir halten uns über Wasser, wie immer. Und selbst?“

„Ich kann nicht klagen, auf diesem Brocken verdienen wir ganz schön viel mit all dem Feuerwasser.“ Sie machte eine kurze Pause, ehe sie in kollegialem Tonfall vorschlug: „Erledigen wir mal das Geschäftliche, hier draußen frieren wir uns sonst alle noch was ab.“

„Jederzeit gern.“ Natala deutete auf die Kisten hinter sich. „Bitte sehr, die ganze Ladung. Vierzig Standard-Frachtkisten voll mit neurussischem Wodka, das Zeug knallt dich weg, wenn du auch nur daran riechst.“

„Zehntausend Lipos für die ganze Fracht, wie ausgemacht, sind alles Zweihunderter“, entgegnete Lynn, kramte einen Beutel aus ihrer Manteltasche und warf ihn Stanley zu. Er fing ihn auf, das schwere Klimpern der Kreditchips war zu hören.

„So lange ihr zählt, machen wir mal eine Kiste auf und testen die Ware.“ Lynn wandte sich an einen ihrer Leute. „John, hilf mir mal, ja?“

Der Angesprochene, ein wahrer Hüne, stapfte durch den Schnee neben seine Chefin, die bereits eine Kiste ausgewählt hatte und nun schwungvoll den Deckel öffnete, sodass er polternd hinunterfiel. Sie griff hinein und wühlte, um nicht gleich die oberste Flasche zu fassen zu bekommen. Misstrauen war in ihren Kreisen weit verbreitet und es war üblich, die Fracht kurz zu prüfen, bevor man das Geschäft abwickelte.

Stanley zählte das Geld, konnte aber aus den Augenwinkeln beobachten, wie sich Nani und Natala aufteilten. Die Abenteurerin hatte sich Lynns Leuten zugewandt, der Captain sprach noch mit Lynn und sah dabei in ihre Richtung. Obwohl solche Deals meist reibungslos über die Bühne gingen, musste man trotzdem stets auf der Hut sein, denn es konnte einem jederzeit jemand übers Ohr hauen wollen. Sollte dies geschehen, möchte man nicht in einer Position stehen, in der man einem der potentiellen Gegner den Rücken zuwandte.

Stanley war eben mit Zählen fertig geworden und meldete zufrieden: „Gut, der Betrag stimmt.“

Lynn und John hatten eine Flasche aus der Frachtkiste geholt, jetzt versuchte die Gangsterchefin, sie mit ihren von der Eiseskälte klammen Fingern aufzumachen. Sie verzog das Gesicht und brummte einige Schimpfworte vor sich hin, bis es ihr endlich gelang. Zufrieden hob sie die Flasche zum Mund und gönnte sich einen kräftigen Schluck. Nach einigem Nachdenken reichte sie die Flasche an John, der offenbar ihr Leutnant war. „Ich find’s gut, was meinst du?“

Er leerte in einem Zug fast einen Viertel der Flasche und stimmte dann mit tiefer Stimme zu: „Sehr gute Ware.“

Stanley atmete zufrieden auf – diesmal war alles gutgelaufen, dachte er, als Lynn zu Natala trat um ihr die Hand zu reichen. „Zuverlässig wie die Alyaner und das hier draußen auf dem verlassenen Spes. Hat mich gefreut, mit euch Geschäfte zu machen.“

Natala schlug ein. „Mich ebenfalls. Wir sind nur so gut sind wie die Zentralweltler, weil …“

Sie unterbrach sich, als sie erkannte, dass eben alle von Lynns Leuten, ein knappes Dutzend an der Zahl, ihre Blaster gezogen hatten und auf sie anlegten. Für mehrere Sekunden herrschte eine angespannte Stille. Natalas ungläubiger Blick wanderte von den Gegnern langsam zu Lynn. „Was um alles in der Galaxis soll diese Kacke werden?“

Lynn schüttelte langsam den Kopf. „Zieh bloß nicht deinen Blaster, Nat. Die verwandeln dich in Ragout noch bevor du den Finger am Abzug hast.“

Natala stand reglos da und fixierte Lynn, ohne eine Frage auszusprechen, bis diese schließlich erklärte: „Diesmal nehmen wir die Ware und das Geld. Sag Stan, er soll es mir zuwerfen.“

Stanley beobachtete die beiden gespannt, er wusste, hier standen sich zwei Haudegen mit einer gehörigen Portion an Sturheit gegenüber – wenn er die Situation richtig einschätzte, gäbe keine von beiden nach. Er konnte fühlen, wie sich seine Muskeln verkrampften und sich sein Körper anspannte, bereit für den Kampf, der jeden Moment beginnen konnte. Solche Schießereien endeten meist mit Toten und er gedachte, lebend von diesem Planeten wegzukommen, also wäre er besser verdammt schnell. Der Schlüssel dazu war, sich nicht von der Angst lähmen zu lassen, die ihm den Magen zusammenzog. Er sah zu Natala, um ihren nächsten Schritt zu antizipieren, denn in solchen Situationen konnte jede Sekunde über Leben und Tod entscheiden.

Zu Stanleys Erstaunen brach Natala das bedrückende Schweigen: „Okay, Stan, wirf das Geld herüber. Geben wir den Verrätern, was sie wollen, sie sind in der Überzahl.“

Stanley holte zum Wurf aus und schleuderte den Beutel mit aller Kraft sowie dem besten verächtlichen Gesichtsausdruck seines Repertoires in Lynns Richtung. Diese machte einen Schritt zur Seite, um ihn besser auffangen zu können und dabei den Stand zu behalten. Nun erkannte Stanley, was Natala vorhatte: Die Gangsterin wandte ihr nun den Rücken zu, eine Chance, die Natala nicht verstreichen ließ. Ehe Lynn reagieren konnte, hatte Natala ihren Blaster gezogen, sie von hinten gepackt und ihr den Lauf ihrer Waffe an die Schläfe gedrückt. Als der Geldbeutel klimpernd zu Boden fiel, brüllte Natala ihren Kameraden zu: „Jetzt!“

Stanley sowie Nani zogen ihre Waffen und huschten hinter die nächsten Frachtkisten, um Deckung zu suchen. Just in dem Moment prasselten auch bereits die ersten Lichtprojektile zischend auf sie ein. Stanley konnte hören, wie ein Schuss gefährlich nahe an seinem Ohr vorbeifauchte, er hatte noch einmal Glück gehabt. Doch als er beinahe hinter der Kiste angelangt war, konnte er einen brennenden Schmerz in seiner Hüftgegend fühlen und stolperte. Als er mit dem Kopf aufschlug, wurde alles um ihn herum schwarz.

Anaata rannte so rasch sie konnte die Treppe hinunter und huschte der Wand entlang, bis sie neben dem Zugang zur Laderampe stehenblieb. Sie konnte weiterhin Schüsse hören, ab und an schrie jemand auf, der getroffen wurde. Sie war sich sicher, sie musste rasch handeln, wenn sie ihren Freunden beistehen wollte. Insgeheim verfluchte sie sich dafür, kaum je eine Waffe zu tragen, in dieser Situation wäre ein Blaster wirklich nützlich. Eilig kramte sie in ihrer Manteltasche in der Hoffnung, irgendwas anderes zu finden, das ihr half und ertastete ein würfelartiges, metallisches Objekt – sie zog es heraus, um es zu inspizieren und erkannte, dass sie einen Zündwürfel für Sprengladungen in der Hand hielt. Vermutlich hatte sie ihn bei ihrem letzten Job im Mantel stecken lassen, manchmal musste man einen Safe aufsprengen und dazu waren Zündwürfel das ideale Mittel.

Sie lehnte sich möglichst flach an die Wand neben der Rampe und versuchte sich eine Übersicht über das Schlachtfeld zu verschaffen, ohne dabei allzu viel von ihrem Gesicht zu zeigen. Stanley lag reglos neben einer verhältnismäßig nahen Frachtkiste am Boden, Natala und Nani verschanzten sich hinter etwas weiter entfernten Boxen und lieferten sich mit den Gangstern ein Feuergefecht. Gegen die Übermacht von Lynns Leuten konnte sich die beiden nicht mehr lange halten, obwohl zwei Gegner reglos im Schnee lagen und Lynn sich ihr blutendes Bein haltend an eine weitere Kiste gelehnt saß. Schließlich entdeckte Anaata die geöffnete Frachtkiste, die inmitten des ganzen Chaos stand und versuchte abzuschätzen, ob sie mit ihrer implantierten Antigravitation bis zu ihr fallen konnte oder ob sie sich dabei etwas bräche. Sich mit einer Hand an ihr Bein fassend, wo noch ein dünner Verband die Verletzung von ihrem letzten Feuergefecht verdeckte, wog sie ab, ob sie die Verletzung einschränkte. „Wie immer – und immer wieder …“, seufzte sie resigniert, atmete scharf ein, nahm all ihren Mut zusammen und trat mitten auf die Laderampe hinaus.

Dank ihrer Antigravitation konnte Anaata den Weg zu der etwa zwanzig Meter entfernten Kiste sehr schnell zurücklegen, ohne dabei den Boden zu berühren. Sie konzentrierte sich, spannte ihre Muskeln an, dann konnte sie wie in Zeitlupe fühlen, wie sich die Welt um sie herum drehte und vorne plötzlich zu unten wurde. Dank langer Gewöhnung reagierte sie routiniert darauf, mit hoher Geschwindigkeit auf die geöffnete Kiste zuzustürzen. Einzig der Aufprall bereitete ihr Sorgen, da sie ihn dank ihrer Verletzung schlechter abfedern konnte. Sie konnte das Zischen und Blitzen von Lichtprojektilen um sich herum wahrnehmen und musste sich beherrschen, sich einzig auf ihren Fall zu konzentrieren und den Kampf auszublenden. Kurz vor dem Aufprall ließ die Diebin die Antigravitation erneut wechseln, um ihren Fall abzubremsen, wobei sie jedoch die Schneedecke berührte und die Kontrolle über ihren horizontalen Sturz verlor. Der Boden wurde wieder zu unten und mit einem unflätigen Fluch auf den Lippen schlidderte sie auf ihrem Hintern unkoordiniert auf die Kiste zu, bis sie mit einem dumpfen Knall dagegen prallte. Sie konnte die Schmerzen in ihrem verwundeten Bein spüren und versuchte, sie so gut es ging zu ignorieren, stieß jedoch einen zischenden Laut aus.

Anaata schüttelte ihre nunmehr verfilzte Mähne aus ihrem Sichtfeld und befahl sich: „Jetzt nicht jammern, sterben kann ich auch später noch.“ Offenbar hatten einige von Lynns Leuten sie erkannt, denn sie hörte nun Blasterschüsse neben sich einschlagen, vorerst war sie aber in Deckung. Mit klammen Fingern kramte sie den Zündwürfel aus ihrer Tasche, aktivierte ihn und warf ihn so hoch, dass er in die geöffnete Kiste fiel. Nun fehlte ihr bloß eine Rückzugsmöglichkeit. Eilig sondierte sie das Terrain, bis sie einen Weg fand, mehrheitlich in Deckung zwischen der Fracht hin- und herspringen zu können.

Eben als Anaata sich bereit machte, sich zurückzuziehen, kam der Hüne, der zuvor den Wodka degoutiert hatte, mit einem Blasterkarabiner im Anschlag um die Ecke und richtete seine Waffe auf sie. Für einen Sekundenbruchteil war sich Anaata sicher, dies sei das Ende, doch noch ehe sie handeln konnte, blendete sie ein heller Blitz und der Gangster stürzte mit einem klaffenden Loch im Kopf neben ihr zu Boden, wobei Blutstropfen auf ihr Gesicht spritzten. Erschrocken starrte sie zu Nani hinüber, die hinter ihrer Deckung hervorlugte und offenbar eben den Gegner erschossen hatte. Ungläubig sah Anaata wieder auf den Toten, der keine zwanzig Zentimeter vor ihr im rot verfärbten Schnee lag und entdeckte den Beutel mit dem Geld, denn er fallengelassen hatte. Mehr instinktiv denn überlegt griff sie sich den Beutel und stopfte ihn in ihre Manteltasche, bevor sie tief durchatmete und sich bereitmachte, zu ihren Kameraden zu gelangen. Ihr erster Sprung brachte sie neben Nani, wo sie wegen dem schmerzenden Bein ihren Fall nicht abfedern konnte und ziemlich plump auf ihrem Hintern landete. Keuchend kroch sie den halben Meter zur Kameradin in die Sicherheit der Deckung und fragte: „Kannst du Natala ein Zeichen geben? Wenn sie kommt, könnt ihr Stanley zurück zum Schiff tragen.“

„Klar, nur ist das eine Selbstmordmission, so wie uns diese Typen mit Feuer überzeihen“, gab Nani verbissen zurück, wobei sie hinter der Kiste hervorzielte und abdrückte. „Wir brauchen ein Zeitfenster.“

„Ich habe eine Ablenkung gebastelt, die in etwa zehn Sekunden hochgeht.“

Ohne weiter nachzufragen bedeutete Nani dem Captain, zu ihnen zu kommen und signalisierte ihr, noch zu warten. „Was wird passieren?“, erkundigte sie sich schließlich.

Anaatas Antwort vorwegnehmend, explodierte der Zündwürfel in der Kiste mit dem Wodka und eine Stichflamme von verbrennendem Alkohol schoss gegen den schwarzen Himmel. Das ganze Spektakel wurde durch das Knallen zerbrechender Flaschen begleitet, die der Hitze des Feuers nicht standhielten und ihm so mehr Nahrung lieferten. Anaata linste um die Ecke und erkannte, dass die meisten Gangster sich auf Boden geworfen hatten. Dieses Chaos nutzte Natala aus, um über das freie Feld zu ihren Kameraden zu huschen. Außer Atem langte sie bei den Dreien an, gerade ehe ihre Gegner wieder zu schießen begannen.

„Und was machen wir jetzt?“, wollte Anaata wissen.

Anaata sah sich in der weiterhin von der großen Wodkaflamme gruselig erhellten Szenerie um. Sie waren gezwungen, mindestens zwanzig Meter ohne jede Deckung zur Laderampe der Promise zurückzulegen, was in der momentanen Situation quasi unmöglich war. Vor allem, weil sie noch Stanley tragen mussten, der bewusstlos und möglicherweise schwer verletzt war.

„Anaata, du gibst uns Deckung, weil du springen kannst, wir nehmen Stanley. Nur, ohne einen zweiten großen Knall schaffen wir das niemals“, stellte Natala fest. „Wir wären bereits nach der halben Strecke Löchersiebe.“

„Wir brauchen nochmals eine Ablenkung“, konstatierte Nani, während sie mit ihrem Blaster verbissen weiter aus der Deckung heraus feuerte.

Ehe Anaata etwas sagen konnte, piepste ihr implantiertes Com. Sie nahm den Anruf entgegen und vernahm Svens Stimme in ihrem Kopf: „Ich kann euch Feuerschutz geben, wenn ihr bereit seid, euch zurückzuziehen. Dan sitzt schon auf der Brücke und fährt eben die Systeme hoch.“

„Mit was willst du denn schießen?“, fragte Anaata, wobei Natala sich nach ihr umwandte.

„Mit der Promise, ich sitze im unteren Geschützturm“, entgegnete er. „Das könnte ungemütlich werden.“ Eigentlich waren die Geschütze von Sternenschiffen dazu ausgelegt, im Flug abgefeuert zu werden, doch verzweifelte Situationen erforderten verzweifelte Maßnahmen. „Gut … wenn du meinst“, gab Anaata leicht zögernd zurück und wandte sich an ihre beiden Kameradinnen. „Okay, wir kriegen Deckung, aber das könnte eine ziemlich heiße Sache werden, Sven wird mit dem Geschütz auf die Gegner feuern.“

Natala zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Okay, ich sehe keine bessere Option. Das wird mehr als ein großer Knall, ich hoffe nur, er trifft nicht aus Versehen uns, derart nahe könnte das leicht passieren.“ Natala überlegte kurz. „Anaata, du nimmst die Waffen und gibst uns Deckung, wir tragen Stanley. Sobald wir beim Schiff sind, springst du.“

Die Diebin nickte und nahm Natalas Blaster entgegen. „Alles klar, auf drei.“

„Eins“ – immer mehr Projektile schlugen in die Frachtkiste ein, gegen die sie lehnten, die Gegner kamen näher. Der Geruch von angesengtem Metall und ausgelaufenem Alkohol lag in der Luft. „Zwei“ – Nani warf ihr den zweiten Blaster zu und sie fing ihn auf, ehe sie ohne hinzusehen mit der Waffe in ihrer anderen Hand hinter der Kiste hervor eine Salve auf die Gegner abfeuerte. „Drei“ – Nani und Natala beugten sich zu Stan hinunter, packten ihn an Schultern und Fußgelenken. Anaata hatte das Gefühl, als stünde die Welt für einen Wimpernschlag still, ehe die Hölle losbrach.

Erst war für einige Hundertstelsekunden ein unangenehmes elektrisches Knistern in der Luft zu vernehmen, das Anaata das Gefühl verlieh, alle Härchen auf ihrem Körper stellten sich auf. Dann feuerte das große Lasergeschütz der Promise mit einem schmerzhaft lauten zischenden Knall einen hellgelben Lichtblitz ab, der das Hovercraft der Gegner traf. Sie hörte das Kreischen von zerfetztem Metall, gefolgt von einigen Explosionen, als sich die Entladung in die Außenhülle des Luftschiffs bohrte und ein klaffendes Loch hinterließ. Alle Gegner hatten sich zu Boden geworfen, um dem Schuss zu entgehen, wurde man von einer solchen Kanone erwischt, blieb höchstens ein Häufchen Asche von einem übrig.

Die beiden Schmugglerinnen nutzten die Verwirrung und hasteten mit ihrem bewusstlosen Freund so rasch los, wie sie konnten. Anaata hatte rasch begriffen, dass sie hinter der Kiste schlecht zielen konnte und sprang nun einige Meter senkrecht in die Höhe, wobei sie weiter auf die geblendeten Gegner schoss, bevor sie in der Hocke auf der Kiste landete. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihr Bein, sie schrie gepeinigt auf und sie musste sich beherrschen, bei Bewusstsein zu bleiben, wahrscheinlich wurde sie bloß nicht ohnmächtig, weil die Angst einen Adrenalinschub durch ihren Körper jagte. Irgendwie gelang es ihr, weiterhin ohne richtig zielen zu können auf der Box liegend auf ihre Gegner zu schießen. „Sven, wenn du das hören kannst, ich brauche hier draußen dringend Hilfe“, dachte Anaata so stark sie konnte und hoffte, das Com-Implantat konnte ihre Gedanken trotz der starken Schmerzen noch filtern und senden. Eben als sich die Gangster wieder erhoben und neu zu organisieren begannen, fauchte ein weiterer Laserstrahl von der Promise in das Chaos, diesmal traf Sven eine Kiste mit Alkohol, hinter der sich einige der Gegner versteckt hatten. Sie wurde von der Kraft der Entladung in Stücke gerissen, Glasscherben flogen in alle erdenklichen Richtungen davon und trafen mit der Wucht von Schrapnell alles, was auf ihrem Weg lag. Eine Hundertstelsekunde später explodierte das Energiemagazin eines Blasterkarabiners, den ein Gangster fallengelassen hatte, die Druckwelle der Explosion fegte Anaata von ihrer Frachtbox herunter. Sie fühlte ein Brennen an ihrer Wange und landete rücklings hart auf der angefrorenen Schneedecke, sodass ihr die Luft wegblieb.

Japsend hob sie den Kopf und sah sich um. Sie erkannte, wie die drei Schmuggler eben bei der Rampe angelangt waren, nun vor dem Viereck aus warmem Licht standen, das ihnen Sicherheit versprach. Sie schafften es, dachte sie zufrieden, als die Welt um sie herum zu wanken begann und drohte, in Dunkelheit zu kippen. Mit ihrer letzten Kraft schaffte Anaata es noch, ihre rechte Seite zu unten werden zu lassen, doch sobald die Welt um sie herum wirklich kippte und während sie auf die Frachtrampe der Promise zustürzte, verlor sie endgültig das Bewusstsein.

Als Anaata aufwachte, bemerkte sie als erstes das sanfte Vibrieren des kalten metallenen Bodens, auf dem sie lag. Die Vibration war ihr vertraut, sie musste an Bord der Promise sein und hatte das Gefühl, tief aufatmen zu können – sie waren tatsächlich entkommen. Langsam schlug sie die Augen auf und sah alles wie durch einen Schleier, verschwommen, so als ob sie gerade von einem weit entfernten Ort zurückgekehrt war. Ihre Welt fühlte sich friedlich, ruhig und entspannt an, aber eine dumpfe Vorahnung ließ sie fürchten, dem bliebe nicht mehr lange so. Wie in Zeitlupe materialisierte sich aus dem Nebel ein Gesicht heraus, Nani, die über sie gebeugt neben ihr kniete. Dahinter konnte sie die alten Deckenlampen, die an verstrebten, rostigen Stahlträgern angebracht waren und das Dachfenster über dem Frachtraum erkennen, das den Blick auf die Schwärze des leeren Raumes freigab.

Als Anaata zu sprechen versuchte, klang ihre Stimme für sie ungewohnt rau und unangenehm heiser: „Sind wir weggekommen?“

Sie konnte die Erleichterung auf Nanis Gesicht erkennen und fügte erschrocken hinzu: „Was ist mit mir passiert?“

„Alles ist okay“, murmelte Nani beruhigend. Eine kalte Furcht ergriff von Anaata Besitz: Solche Sätze kannte sie bloß aus Todesszenen in billigen Holofilmen. Sie wollte sich aufsetzen, doch sie konnte ihre Glieder nicht kontrollieren und blieb wehrlos auf dem Boden liegen, egal, wie sehr sie sich anstrengte. Ihre aufkeimende Panik mit aller Kraft beherrschend fragte sie leise: „Werde ich durchkommen?“

Sie rechnete mit dem Schlimmsten, als Nani in dieser kleinen Ewigkeit den Mund öffnete und zu einer Antwort ansetzte: „Sicher, auf jeden Fall. Du hast dir ein Bein gebrochen und den Kopf ziemlich übel gestoßen, im schlimmsten Fall trägst du eine Gehirnerschütterung davon, dazu ein paar kleine Glassplitter im Gesicht. Sonst ist alles dran.“

Anaata brauchte einen Augenblick, um die Information zu verarbeiten, dann atmete sie hörbar auf und erkundigte sich mit stärkerer Stimme: „Was um alles in der Galaxis ist denn passiert?“

Anaata stürzte mit hoher Geschwindigkeit auf die Laderampe zu, als sie das Bewusstsein verlor. Da sie damit keine Kontrolle über ihre Antigravitation mehr hatte, fiel sie zu Boden und rutschte die letzten Meter über den Schnee, wobei ihr Körper die Rampe derart schnell traf, dass sie an deren Ende in die Luft geschleudert wurde. Ihr Fuß trat Natala in den Bauch, der Captain verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf allen vieren. Schließlich prallte Anaata seitlich gegen eine im Frachtraum verzurrte Kiste, ihr Bein wurde unnatürlich angewinkelt und Nani konnte ein knackendes Geräusch hören, gefolgt von einem dumpfen Schlag, als ihr Schädel gegen das Metall des Bodens prallte.

„Jetzt begreife ich“, murmelte sie, bevor sie ungläubig nachfragte: „Ich bin zu einem Geschoß geworden?“

Nani grinste schräg. „Ein paar Zentimeter höher und du hättest Natala geköpft. Bei deinen Stiefeln bin ich ehrlich gesagt froh, hast du sie nicht mit dem Absatz voran getroffen. Wir haben dein Bein so gut wir können geschient und bandagiert.“

Anaata fühlte, wie die Schmerzen langsam stärker wurden. Immerhin bedeutete dies, dass sie bald die Kontrolle über den Rest ihres Körpers zurückhätte, hoffte sie. Sie biss die Zähne zusammen und kehrte zum Thema zurück: „Wie sind wir von hier weggekommen und was ist mit Stanley?“

Verdammt“, stöhnte Natala, die sie sich aufrappelte. „Wer wirft denn hier mit Bewusstlosen?“ Sich den Bauch haltend humpelte möglichst rasch zur Laderampe, während Nani in die Nacht hinausfeuerte, um sich die Gegner vom Leib zu halten. Ein weiterer heller Lichtblitz aus dem Geschützturm der Promise traf eine Frachtkiste, die dumpf barst und in Flammen aufging, als Natala auf den Schließmechanismus der Rampe hieb. Dan hatte gar nicht erst gewartet, sondern schon begonnen, mit offener Rampe abzuheben, sie schwebten bereits mehr als zehn Meter über dem Boden. Kaum war die Rampe geschlossen, entfernte sich der alte Frachter ruckelnd von der Oberfläche des Planeten. Das Scharren einer auf dem metallenen Boden lose herumrutschenden Kiste war zu vernehmen, als Natala sich vornüberbeugte und an einer Metallstange festhielt. „Wie geht es Stan? Und Anaata?“

Nani war gerade von Stanleys leblosem Körper zu Anaata gehastet und hatte versucht, dabei das Gleichgewicht zu behalten, da das Schiff beim Start rüttelte. „Stan hat eine Schusswunde und Blut verloren, sollte es aber schaffen, sie ist nicht allzu tief. Anaata hat sich fest gestoßen, keine Ahnung, was mit ihr ist.“

Na großartig, normalerweise verarztet Stan alle, und der ist jetzt bewusstlos“, seufzte Natala. „Ein echter Scheißtag.“

„Wie um alles in der Galaxis habt ihr uns zusammengeflickt?“, wollte Anaata wissen, ehe sie sich vorsichtig aufsetzte.

„Wir haben improvisiert. Wir begannen bei Stanley, weil er blutete, und als er wieder zu sich kam, hat er uns erklärt, wie wir dein Bein schienen müssen.“

„Was für ein Desaster“, murrte Anaata. „Und mein Kaffee ist auch kalt.“

„Bitte sag jetzt nicht ‚wie immer wieder’, den Satz habe ich schon hundertmal gehört“, gab Nani trocken zurück. „Wenn du mit dem anderen Bein gehen kannst, versuche ich dich zu stützen, damit du zum Aufenthaltsraum kommst, dort ist es wärmer und vor allem bequemer für dich als hier.“

Anaata widersprach matt grinsend. „Erstmal muss ich aufs Klo. Ich fühle mich, als ob ich eine kleine Ewigkeit ohnmächtig war.“

„Nur eine halbe Stunde“, gluckste Nani, „Keine Ahnung, woran du dabei rumgeträumt hast, ich will ja nicht wissen, wies in deinem Kopf aussieht. Okay, auf zum nächsten Badezimmer, danach lege ich dich mal auf die Couch.“

Gestützt von Nani erhob Anaata sich krampfhaft, um als nächstes die vor ihr liegende steile Eisentreppe zu sehen – dazu wollte ihr partout keine passende sarkastische Bemerkung einfallen.

Einige Stunden waren seit ihrer Flucht vergangen, als die Schmuggler alle im Aufenthaltsraum versammelt beim Abendessen saßen. Stanley und Anaata lagen beide auf dem Sofa, die Unverletzten hatten es sich auf Sitzkissen rund um den Couchtisch bequem gemacht.

„Das war mal ein Tag“, kommentierte Natala lakonisch. „Erst ein geplatzter Deal, eine blutige Schießerei und zu alledem noch Verletzte.“

Stanley streckte sich, so gut er dies mit seinen Schmerzen konnte. „Was ist eigentlich jetzt mit Lynn?“

Natala antwortete: „Die hat wohl überlebt, zuletzt habe ich sie mit einer Schusswunde im Bein gesehen. So wie ich die alte Hexe kenne, ist die schon dabei, den ganzen verbliebenen Wodka zu panschen und an die Bevölkerung zu verhökern.“

Dan stellte seinen Teller ab. „Dafür hat die Promise wahrscheinlich mehr abbekommen, als wir zuerst gedacht haben. Bis ich herausfinde, wo der Fehler liegt, können wir nicht in den Hyperraum springen. Und bei unserer momentanen Reisegeschwindigkeit haben wir ungefähr viertausend Jahre bis zum Ziel.“

„Das werden wir auch noch schaffen“, gab Sven optimistisch zurück.

„Aber wie Sven heute mit dem Geschütz umgegangen ist, war echt episch“, wechselte Nani das Thema schräg grinsend. „Du hast alles weggeputzt, was dir im Weg stand! Wer hätte gedacht, dass hinter der Fassade eines netten Mechanikers ein solcher Soziopath steckt?“

Sven zuckte mit den Schultern, ehe er seinen leergegessenen Teller auf den Tisch stellte. „Ich habe getan, was zu tun war, irgendwer musste ja euren Rückzug decken. Außerdem ist es auch nicht Anaatas Job, auf andere zu schießen oder Natalas Job, Verletzte zusammenzuflicken. Heute haben wir wohl alle improvisiert.“

„Und niemand hat wirklich gewonnen“, fügte Anaata hinzu. „Immerhin hat diese Lynn dafür das Geld und ein paar ihrer Leute verloren.“

Alle wandten sich ihr ungläubig zu und Dan rief aus: „Was, sie hat das Geld nicht? Wo soll es denn sonst sein?“

„Ich habe den Beutel mit den Kreditchips bei unserem Rückzug eingesteckt“, erklärte Anaata. „Er sollte noch in der Tasche meines Mantels sein, bleibt bloß die Frage, wo ihr den hingetan habt, als ich bewusstlos war. Irgendwer muss ihn mir ja ausgezogen haben, oder?“

Alle musterten einander fragend, bis Nani zögernd vorschlug: „Ich glaube – oder hoffe – der ist noch irgendwo im Frachtraum. Jedenfalls, wenn ihn niemand verloren hat.“

„Na gut, gehen wir mal einen Mantel suchen“, meinte Natala. „Es wäre ja eine Schande, all die Kreditchips dort unten liegen zu lassen.“

Nani grinste schelmisch, offenbar hatte sie einen Einfall. „Wer ihn zuerst findet, kriegt hundert Lipos?“

„Deal. Aber dann kümmere ich mich wieder um das Problem mit der Promise“, stimmte Dan zu, während sich die vier gesunden Schmuggler erhoben und auf die Tür zu hasteten. Anaata blickte ihnen hinterher und murrte: „So viel zu unserer Unterhaltung.“

Stanley gluckste leise, er wirkte bereits wesentlich fitter. „Aber es war schon beinahe zu erwarten, dass ausgerechnet du am Ende das Geld irgendwo findest und mitnimmst. Du denkst eben immer nur an das Eine.“

„Ich klaue hauptberuflich, was hast du erwartet?“, gab Anaata erstaunt zurück. „Wie alle halbwegs geistig gesunden Menschen mag ich Geld wirklich. Nur das ganze Geballer hätte mir gestohlen bleiben können, ich habe sowieso kaum was getroffen.“

„Ich denke, Sozialisten mögen Geld nicht“, sinnierte Stanley.

Anaata schüttelte entscheiden den Kopf. „Das ist unverständlich. Wahrscheinlich sagen die das bloß, weil sie keins haben, was meinst du?“

Er musste grinsen. „Du bist einfach ein Original – sag das bloß nie Sven, der war glaube ich mal in der Partei.“ Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Um mal ernst zu werden: Danke vielmal, ohne die Bezahlung würde wohl bald wieder was von der Promise abfallen.“

„Nein, ich muss dir danken, du hast mich einigermaßen zusammengeflickt.“

„Gern geschehen“, entgegnete Stanley, wobei er den Arm ausstreckte, um sich eine Tasse Tee einzuschenken.

„Wenn wir schon sinnlos hier rumliegen, kann ich dich mal etwas fragen“, begann Anaata zögernd. Stanley zog wortlos die Augenbrauen hoch und sie fuhr fort: „Warum halten mich alle für verrückt? Das scheint letzthin zu einem Running Gag zu werden.“

Er musste losprusten und ließ beinahe seine Teetasse fallen. „Nun ja, auf diesem Schiff haben alle einen Hau“, entgegnete er, als er sich etwas beruhigt hatte. „Du bist bloß noch etwas, wie soll ich das sagen, schräger?“

„Das ist kein bisschen hilfreich“, schmollte Anaata und widmete ihre Aufmerksamkeit stattdessen der Fruchtschale auf dem Couchtisch.

Die vier Kameraden waren nun schon geraume Zeit in der Ladebucht unterwegs, doch bisher hatte niemand von ihnen Anaatas Mantel gefunden. Sie hatten bereits hinter allen Kisten nachgesehen und manche gar herumgeschoben. Sven kickte genervt gegen eine Box, die ein metallisches Scheppern von sich gab und murrte: „Egal, wo das Geld jetzt ist, wir haben es nicht.“

Natala setzte sich auf eine kleine Holzkiste. „Wenn es noch in Anaatas Mantel ist, dann müssen wir uns fragen, wo der hingekommen sein kann. Klingt einfacher als gedacht.“

„Bevor oder nachdem sie dir in den Bauch getreten hat?“, erkundigte sich Dan grinsend.

Natala starrte ihn böse an, aber mit einem Mal hellte sich ihre Miene auf. „Warte mal, dein Witz war gar nicht so schlecht! Wenn ich darüber nachdenke, da hatte sie ihn noch an, also kann sie ihn nur an Bord verloren haben.“

„Er kann immer noch rausgefallen sein“, wandte Dan ein. „Ihr hattet die Laderampe offen, als wir abhoben.“

Nani brach plötzlich in Gelächter aus. Auf den fragenden, ja schon fast hoffnungsvollen Blick der anderen erklärte sie: „Sorry, ich habe keine Ahnung, wo das Geld ist. Mir ist nur gerade aufgefallen, wie absurd die Situation ist, bei denen vier Erwachsene ihr halbes Sternenschiff zerlegen, um etwas zu finden, das eigentlich ziemlich groß ist.“

Sven entgegnete genervt und ungeduldig: „Mach eine verdammte Kaffeepause und erhol dich von der Ironie. Falls es dir nicht aufgefallen ist: Wir brauchend das Geld dringend, an der Promise fällt andauernd wieder was ab, wir können im Moment noch nicht mal springen und haben keine Ahnung, warum.“

„Ist ja gut, sorry“, brummte Nani mit gerötetem Kopf, ehe sie wesentlich leiser ergänzte: „Ironie ist trotzdem anders definiert, hol dir ein Wörterbuch.“

„Halt mal – das ist es!“, frohlockte Natala mit plötzlichem Enthusiasmus und hastete durch den Frachtraum los auf die Laderampe zu. Die anderen folgten ihr rasch neugierig und Dan fragte: „Was denn?“

„Wir konnten nicht in den Hyperraum springen, weil wir einen Systemfehler hatten. Was, wenn der Mantel in der Luftschleuse steckt? Das würde das Problem erklären.“

„Du hast Recht“, stimmte ihr Dan zu. „Das Schiff verhindert einen Sprung, wenn der Computer glaubt, die Hülle sei beschädigt.“

„Und darum brauchen wir das Geld, um die Sensoren bei der Luftschleuse zu ersetzen, dann hätten wir eine korrekte Fehlermeldung zu sehen gekriegt“, fügte Sven hinzu, als er neben die anderen trat, die schon an dem kleinen Fenster standen, das in die innere Schleuse der Laderampe eingelassen war.

Sie versuchten angestrengt in der Dunkelheit auf der anderen Seite etwas zu erkennen, ein Unterfangen, das bei der Suche nach einem schwarzen Kleidungsstück keineswegs einfacher wurde. Schließlich rief Nani, nach oben deutend: „Ich sehe was, da in der Ecke rechts steckt Anaatas Mantel fest.“

„Das ist ihr Lieblingsmantel, sie wird uns sowas von umbringen“, ächzte Dan überzeugt.

Sven lachte, wurde jedoch von Dan ungewohnt harsch unterbrochen. „Hey, die Trulla kann der Decke lang gehen, ich will mich nicht mit ihr anlegen.“

„Wichtigere Frage“, unterbrach Stanley das Geplänkel. „Wie kriegen wir ihn da raus? Wenn wir die Schleuse zum Weltraum hin öffnen, schwebt er im Vakuum davon. Jemand muss in einem Raumanzug da raus.“

„Na großartig“, schnaubte Nani. „Das bleibt dann wohl an mir und Sven hängen, richtig?“

„Immer erst die Jobbeschreibung lesen, wenn du einen Vertag unterzeichnest“, gab Natala trocken zurück. Ehe sie weiter planen konnten, wurden sie von dem lauten sonoren Horn eines Alarms unterbrochen, gefolgt von der Computerstimme der Promise, die gleichgültig durch die Ladebucht schallte: „Annäherungsalarm. Unidentifiziertes Schiff auf Kreuzungskurs, ETA in fünfzehn Minuten.“ Dan wandte sich um und rannte als erster die Treppe hoch, dichtauf gefolgt von Natala. Die Treppe hochhastend beschwerte sie sich: „Welcher Trottel ist denn noch hier draußen?“

Natala und Dan erreichten als erste die Brücke und ließen sich auf die beiden Kommandosessel an den Pilotenkonsolen fallen. Ihre Kameraden traten hinter sie, als Dan bereits die Steuerung vom Autopiloten übernahm und Natala das unbekannte Schiff scannte, das ihren Kurs kreuzte. Einige Sekunden herrschte gespannte Stille, die von Stanley unterbrochen wurde, der langsam in den Raum humpelte und fragte: „Was haben wir?“

Natala sah von den Hologrammen auf, ihrer Stimme war die Frustration anzuhören. „Ein Kanonenboot der Flotte.“

„Na großartig, das Militär der Vereinten Systeme, ausgerechnet hier draußen. Was jetzt?“

Natala atmete tief durch, um sich kurz Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. „Wahrscheinlich ist das eine Zollpatrouille, wir rechnen besser damit, dass die uns kontrollieren wollen. Wir haben einen Mantel mit Geld in der Tasche in der Laderampe stecken, zwei Verletzte an Bord, Stan hat sogar eine Schusswunde, also könnte das hässlich werden, obwohl wir keine Konterbande geladen haben.“

„Flüchten ist erst eine Option, wenn die Luftschleuse frei ist“, bemerkte Dan. „So lange wir nicht springen können, holen sie uns in wenigen Minuten ein.“

Stanley wandte sich an Nani. „Du warst doch früher bei der Flotte, oder? Könnte uns das in dieser Situation etwas bringen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, die machen keine Ausnahmen, geschweige denn Gefälligkeiten. Da müsste ich schon Admiral gewesen sein, um Einfluss zu haben.“

Für einige Sekunden herrschte gespanntes Schweigen auf der Brücke, bloß das leise Summen der Elektronik war zu vernehmen. Schließlich unterbrach Natala die Stille, als Captain musste sie eine Entscheidung fällen. „Okay, wir halten Kurs und hoffen, wir können springen, bevor die bei uns anlangen. Sven und Nani, ihr habt zehn Minuten, um die Luftschleuse freizukriegen und wenn möglich das Geld dabei nicht zu verlieren, ich versuche die Offiziellen so lange zuzuquatschen und Zeit zu schinden. Los, wir müssen uns beeilen.“

Stanley trat von der Tür weg, um Sven und Nani durchzulassen. Vor seinem geistigen Auge sah er bereits einen längeren Aufenthalt in einem Bundesgefängnis der Vereinten Systeme auf sich zukommen. Wie sie alle hatte auch er stets gewusst, auf was für ein Risiko er sich bei dem Leben als Schmuggler einließ. Wurden sie von den Offiziellen, wie die meisten Schmuggler die Flotte der Vereinten Systeme und die Bundespolizei nannten, erwischt, liefen sie Gefahr, verhaftet zu werden und für eine ganze Weile hinter Gitter zu wandern.

Dan wandte sich wieder seiner Konsole zu und studierte die Hologramme. „Wenn ich die Geschwindigkeit leicht verringere, kann ich Zeit schinden, so treffen wir erst drei Minuten später auf sie. Mehr kann ich nicht herausholen, ohne verdächtig zu wirken.“

„Gut, tu das“, stimmte Natala zu und aktivierte das Bordcom. „Nani, Sven, wie ist die Lage?“

„Ich habe gleich den Raumanzug fertig angezogen und gehe raus“, erklang Nanis Antwort. „Sven kümmert sich so lange um die Steuerung der Schleuse und sichert mich ab.“

„Gut.“ Natala warf einen Blick aus dem facettenreichen Brückenfenster in den leeren Raum – noch war das Kanonenboot von bloßem Auge nicht auszumachen.

„Das wird verdammt knapp“, murmelte Stanley skeptisch. „Dazu kommt, bei so viel Eile ist Nanis Job relativ gefährlich.“

Der Captain gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Auf jeden Fall, aber wir schaffen das. Wir wären heute schon fast gestorben, ich bleibe jetzt einfach mal optimistisch.“

Die Tür zur Brücke glitt zischend zur Seite und Anaata humpelte hinein, Natala konnte ihr die Schmerzen ansehen. Die Diebin ging zum letzten freien Sessel an der Rückwand des Raumes und setzte sich vorsichtig. „Ihr habt meinen Mantel gefunden, richtig?“, fragte sie.

Stanley seufzte, ihm schien es kaum besser zu gehen. „Ja, und wir stecken mal wieder in der Patsche.“

Nani hatte ein flaues Gefühl im Magen, als sie im Laderaum stand und sich das Seil am Gürtel ihres weißen Raumanzugs festhakte. Ein Ausflug in das Vakuum des leeren Raumes hatte etwas ganz Besonderes an sich, einerseits, weil die Unendlichkeit der Leere ein Gefühl von Ewigkeit sowie Orientierungslosigkeit hervorrief und andererseits, weil insbesondere ein rasch improvisierter Spacewalk seine Gefahren mit sich brachte. So wäre es für ihre Kameraden sehr schwer, sie zurückzuholen, wenn das Seil reißen würde und es gab da draußen nichts, woran man sich festhalten konnte, weswegen es ratsam war, stets dicht am Schiff zu bleiben. Nun, da alles rasch geschehen musste, glaubte Nani regelrecht, ihr Adrenalin zu fühlen, als wäre es etwas Substantielles. Sie verkrampfe ihre Hände und nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie sich Sven zuwandte, der ebenfalls einen Anzug trug – da der Mantel in der hochgeklappten Rampe eingeklemmt war, mussten sie die Atmosphäre aus der Ladebucht entweichen lassen. Sven zeigte ihr an, er sei bereit und fragte über sein Com in die Runde: „Sind alle auf der Brücke?“

„Positiv“, kann Natals Antwort. „Das Schott ist versiegelt, ihr könnt die Rampe aufmachen.“

Da der Weg von der Brücke zum Wohnbereich ein im Laderaum hängender Steg war, mussten sie nun die Brücke abriegeln, um nicht im entstehenden Vakuum zu ersticken – eine Tatsache, die Nani an der geistigen Gesundheit der Schiffsbauer zweifeln ließ. Sven sah Nani fragend an, sie hegte den Verdacht, ihm war bei der Sache ebenso unwohl wie ihr, weshalb sie sich Mühe gab, möglichst gelassen zu wirken: „Alles klar, kannst loslegen.“

Sven beugte sich über die Steuertafel der Laderampe. Nani spannte ihre Muskeln an, bereitete sich auf den Sog des entweichenden Sauerstoffs vor. „Du hast immer das Abenteuer gesucht, jetzt kannst du nicht plötzlich Angst haben“, schalt sie sich mit ihrer inneren Stimme, während der Mechaniker eifrig auf dem Interface tippe, ehe er kurz seine Sicherheitsleine prüfte. Ein markerschütternder Alarm schellte, die Computerstimme der Promise verkündete laut: „Achtung, Dekompression der Ladebucht in zwanzig Sekunden.“

„Zehn Sekunden“, war die Promise zu vernehmen. Nanis Mund war trocken und sie sehnte sich einen guten Drink herbei. Sie erinnerte sich an ihre mustergültige bürgerliche Kindheit auf Deron und wunderte sich, welcher Dämon sie wohl geritten hatte, dass sie nun hier draußen im Niemandsland an Bord eines Schmugglerschiffs lebte, jeden Tag von neuem ihre Grenzen auslotete, anstatt einen Job als Bürokratin angenommen zu haben. Andererseits konnte sie einfach nicht anders, sie wollte hier sein, trotz der vielen Macken des Schiffes, der Streitereien, der verrauchten Luft, vielleicht sogar trotz der nun bevorstehenden brenzligen Situation. „Wie man sich bettet, so liegt man“, murmelte sie, als der Countdown null erreichte. Nani zuckte zusammen und griff instinktiv mit beiden Händen nach einer Haltestange neben der Rampe, keine Sekunde zu früh. Die großen Metalltore, der innere Teil der Schleuse für die Laderampe, schoben sich knarrend langsam zur Seite, die Luft wurde mit einem pfeifenden Geräusch durch den Spalt in der hochgeklappten Rampe in den freien Raum gesogen. Nani hielt sich fest, so gut sie konnte, doch der Sog war trotz des kleinen Spaltes zu Beginn sehr stark und riss sie von ihren Füssen. Sie rutschte einige Zentimeter hinaus, die reichten, um sie in den Bereich ohne künstliche Gravitation zu bringen, wobei sich plötzlich ihre räumliche Wahrnehmung veränderte, und ihr leicht übel wurde. Insgeheim überlegte sie sich für einen Moment, ob sich Anaata so fühlte, wenn sie von ihrer implantierten Antigravitation Gebrauch machte.

Nun hingen ihre Beine bereits in der Schleuse, wobei sie sich weiterhin angestrengt festhielt. Gepresst stieß sie eine Frage hervor, sie musste trotzdem sehr laut sein, um das Pfeifen der entweichenden Atmosphäre zu übertönen. „Sven, ist die Seilwinde aufgewickelt?“

Die Antwort in ihrem Headset war von Statik überlagert. „Ja, kannst loslassen.“

Nun musste sie einzig und allein der Technik vertrauen – das Seil sollte straff sein und ihr Gewicht halten, sonst schleuderte sie die entweichende Luft sie ziemlich hart gegen die Laderampe und die Crew der Promise könnte eine Verletzte mehr oder ein Mitglied weniger beklagen. Normalerweise hätte sie nun gewartet, bis alle Luft aus der Ladebucht entwichen war, was bei dem großen Raum sowie dem kleinen Spalt noch einige Minuten dauern konnte und dies war Zeit, die sie nicht hatten. Also biss sie die Zähne zusammen und ließ die Haltestange los, wobei sie kurz das Gefühl hatte, ihr Magen drehe sich um. Sie wurde tatsächlich beinahe einen Meter in die Schleuse gerissen, bevor das Seil sie mit einem unsanften Ruck auffing. Erschrocken stieß sie einen kurzen Schrei aus und konnte sofort Dans besorgt in ihrem Com hören: „Nani, alles okay?“

„Ja, alles klar“, rief sie über das Getöse hinweg, das an einen Sturm erinnerte. Sie warf einen Blick zu Sven hinüber und fügte hinzu: „Du kannst mich jetzt abrollen lassen.“

Nach und nach gab er ihr mehr Seil und sie verschwand tiefer in der Luftschleuse, bis ihre Füße auf der Rampe zu stehen kamen. Langsam arbeitete sie sich zu der Stelle vor, an welcher der Mantel eingeklemmt war.

„Nani, uns bleibt nur noch wenig Zeit“, konnte sie Natalas Stimme in ihrem Ohr hören, was sie genervt quittierte: „Ich tue hier draußen, was ich kann.“

Die vier auf der Brücke der Promise versammelten Schmuggler sprachen nicht viel, dazu war die Stimmung zu angespannt. Stanley, dessen Stimme noch matt klang, brach die Stille: „Das wird verdammt knapp werden, wir stehen bereits mit einem halben Fuß im Gefängnis.“

„Ich weiß“, stimmte ihm Natala zu. „Und nein, Optimismus steht dir wirklich schlecht.“

„Sollen wir das Transpondersignal fälschen?“, wollte Dan wissen. „So können sie uns zwar nicht mehr identifizieren und verfolgen, wenn wir rasch genug wegkommen, doch wenn sie uns sehen sollten, können sie den Namen auf dem Rumpf lesen und gleich herausfinden, dass wir Schmuggler sind.“

Natala versuchte, die beiden Optionen abzuwiegen. Da beide gewaltige Nachteile mit sich brachten, entschied sie sich, ihrem Bauchgefühl zu folgen: „Tu es. Setzen wir alles auf eine Karte.“

Dan tippte auf der interaktiven Tastatur seiner Konsole einige Kanji-Symbole an. „Gut, wir heißen jetzt ‚Wildcard‘, ich hoffe mal, wir kommen vorher weg oder die schauen nicht allzu genau aus dem Fenster.“

Eben wollte Natala etwas entgegnen, als sie über das Bordcom einen erschrockenen Schrei hören konnte. Dan fragte: „Nani, alles okay?“

„Ja, alles klar“, war die Antwort nach einigen Sekunden zu vernehmen. Das Piepsen des Coms unterband weitere Nachfragen. Natala las die holographische Anzeige ab und meldete dann bedrückt: „Das Kanonenboot ruft uns.“

„Na, dann quatsch sie mal in den Boden, dass sie nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht“, entgegnete Stanley, der seine Schmerzen stoisch auszuhalten schien. „Am besten, du lässt die Bildübertragung gleich aus, je weniger die von uns sehen, desto besser.“

Natala nickte, ehe sie in Richtung des Bordcoms rief: „Nani, uns bleibt nur noch wenig Zeit.“ Die gereizte Antwort geflissentlich ignorierend, nahm sie den Anruf an.

„Unbekannter Frachter, hier spricht Captain Ron Morgan vom Kanonenboot Spirit of Zisun der Flotte der Vereinten Systeme. Erbitten Identifikation.“

Natala räusperte sich. „Spirit of Zisun, hier ist die Wildcard, Captain Sandra Ying.“

„Wildcard, wir führen eine Zollkontrolle durch. Halten Sie den Kurs und bereiten sie sich aufs Andocken vor.“

„Verstanden Spirit of Zisun, wir halten Kurs. Wir haben nichts vor dem Gesetz zu verbergen. Kontakt in sechs Minuten.“

Anaata meldete sich, sobald Natala die Verbindung trennte: „Das nennst du die in den Boden quatschen?“

„Sollen sie doch glauben, wir spielen mit, bis wir springen können“, wandte Stanley ein. „Das macht die Sache einfacher.“

„Auch ein Argument. Viel wichtiger: Ich will hoffen, mein Mantel ist ganz geblieben, das war mein liebster.“

„Vergiss es“, kommentierte Stanley trocken. „Weißt du, wie viele Tonnen Druck die Laderampe ausüben kann?“

Dan wandte sich nach hinten und wetterte: „Wir sind noch einige hundert Klicks plus ein paar Minuten weg von einem Leben in Gefängnis und machst dir Sorgen um deine Kleidung?“

„Man muss Prioritäten setzen“, entgegnete Anaata, kramte eine Zigarette hervor und zündete sie an. Mit einem Seufzen wandte sich der Pilot wieder dem Brückenfenster zu und fragte sich, ob Stanley wirklich so gelassen war oder bloß Fatalismus vorschob. Mittlerweile konnte er weit entfernt einen hellen Punkt erkennen, der stärker glomm als die weit entfernten Sterne. „Wir kommen schnell näher an den Kreuzer, die da unten sollten sich besser beeilen.“

Das Zischen der entweichenden Luft, die Nani unsanft gegen die geschlossene Laderampe drücke und ihr Bewegung nahezu verunmöglichte, ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Sie atmete auf, offenbar war die ganze Atmosphäre aus dem Laderaum entwichen. Dafür hatte sie nun das Problem, nicht mehr vom Druck gegen die Rampe und damit in die Nähe des eingeklemmten Mantels gepresst zu sein und es im leeren Raum schwerer war, gezielt zu navigieren. Rasch rief sie: „Sven, kannst du die Rampe öffnen, sobald ich den Mantel habe?“

„Klar, bereit, wenn du es bist.“

„Erst muss mich mal an das Mistding rankommen“, gab Nani zurück und fischte in einer Tasche am Hosenbein des Anzugs nach einem Minijet. Minijets funktionierten ähnlich wie Jetpacks und gaben der Person, die sie hielt, einen leichten Stoß, sodass man in eine Richtung driftete, waren aber relativ klein. Das Gerät, das sie hervorkramte, war ein kleiner weißer Zylinder, den man gut in der Hand halten konnte. Nani hielt es bereit, richtete das Ende ins Innere der Promise und bat: „Gib mir mal etwas mehr Seil.“

Sven rollte die Winde ab, bis das Seil lose in der Schleuse schwebte. Nun drückte sie kurz auf den Knopf am Minijet und konnte einen blauen Strahl aus dem Ende des Rohrs feuern sehen, wobei sie fühlte, wie sie nun rasch gegen die obere rechte Ecke der Rampe gezogen wurde. Sie ruderte unbeholfen mit dem Armen, bis sie einen Zipfel des Mantels zu fassen bekam. „Ja, verdammt!“

„Die Zeit wird knapp“, konnte sie Natalas kurz angebundene Stimme im Com hören, versuchte aber den Stress zu ignorieren und sagte an Sven gewandt: „Jetzt, aufmachen!“

Der Mechaniker drückte auf den Schalter, die Rampe öffnete sich langsam, was etwas Schauriges an sich hatte, weil dies normalerweise mit Quietschen und Knarren verbunden war, das nun in der absoluten Stille des Vakuums ausblieb. Nani hielt den Mantel fest, zog ihr hastig zu sich, dann fiel ihr Blick durch den etwa einen Meter breiten Spalt hinaus ins All. Endlos breitete sich die Schwärze vor ihr aus, einzig unterbrochen von den unzähligen, weit entfernten weißen Punkten der Sterne. Nani konnte nicht mehr bestimmen, was unten oder oben war, ob sie nun in einen Abgrund oder den Himmel starrte, da sie selbst keinen Boden unter ihren Füssen hatte, keine Gravitation spürte. Ein wunderbares Gefühl der Unendlichkeit überkam sie, da sie nun Teil dieser Leere, dieses universellen Nichts war. Das Wissen darum, nur von einem Seil gehalten zu werden, jagte ihr kalte Schauer den Rücken hinunter. Instinktiv hob sie den Minijet und feuerte nochmals einen Strahl ab, damit sie rückwärts schwebte, hinein in die Sicherheit der Promise. Sven schloss die Rampe, sobald Nani etwas von ihr entfernt war, doch noch während sich die dicke Metallplatte langsam nach oben schob, konnte sie weit entfernt den Schemen des Kanonenboots erkennen. Fasziniert starrte sie durch den kleiner werdenden Spalt hinaus und vergaß völlig, dass trotz der fehlenden Atomsphäre im Innern der Promise noch immer die künstliche Schwerkraft herrschte – ein Fehler, den sie gleich bereute, als sie aus anderthalb Metern Höhe unsanft auf ihren Rücken fiel und nach Luft japste. Sie sah schwarze Punkte in ihrem Sichtfeld tanzen, fühlte die Angst, die ihre Eingeweide regelrecht zusammenzog und sie kämpfte mit aller Willenskraft gegen die Ohnmacht an. Svens Stimme in ihrem Com klang weit entfernt, ja wattig. „Vorbereiten zum Sprung, innere Schleuse schließt sich.“

Die Antwort der Brücke konnte Nani nicht vernehmen, denn der Mechaniker hatte sie gepackt und schleifte sie unsanft über den Boden, um sie von dem inneren Schleusentor wegzuziehen, das sich nun zu schließen begann. Nach einigen Sekunden konnte Nani wieder einigermaßen klar denken und, viel wichtiger, atmen. Langsam setzte sie sich auf, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich ein Meter vor ihren Füssen die dicken Stahltore zuschoben.

„Nani und Mantel gesichert, bereit zum Sprung“, meldete Sven.

Einige Sekunden war es still, dann erklang Natalas unangenehm ruhige Antwort: „Zu spät, wir sind im Einzugsbereich ihrer Kraftfeldprojektoren. Sie können uns am Springen hindern.“

„Und was jetzt?“, fragte Stanley, die Umrisse des sich rasch nähernden Kanonenbootes musternd. Es war ein längliches, mattgrau schimmerndes Sternenschiff, das in seiner Form entfernt an den Torso einer Ameise erinnerte, da es aus drei breiteren Sektionen bestand, die mit schmaleren Teilen verbunden waren. Es war mindestens zehnmal grösser als die Promise und hätte jedes Feuergefecht problemlos gewonnen. Da die Schmuggler nun nahe genug an das Kanonenboot herangekommen waren, konnte es sie mit seinen Kraftfeldprojektoren heranholen, wenn sie zu flüchten versuchten. Natala wandte sich mit einem Seufzen vom Fenster ab. „Wir haben keine Wahl: Wir lassen die Offiziellen an Bord.“

„Und der Name?“, erkundigte sich Dan. „Der ist ja auch auf den Rumpf gepinselt, hoffen wir einfach, sie übersehen das und achten bloß auf den Transponder?“

Stanley zuckte mit den Schultern. „So ziemlich, ja. Die wenigsten Leute lesen im Raum den aufgemalten Schiffsnamen, hoffen wir einfach, dass keiner allzu aufmerksam hinschaut und man uns die falsche ID abkauft. Kommt darauf an, wie gut die Dokumente für die Wildcard und Captain Sandra Ying sind.“

„Mein Kontakt hat dabei gute Arbeit geleistet, sowohl das Schiff als auch Natalas Alter Ego sind in den gängigen Datenbanken“, versicherte Anaata ihr überzeugt, bevor sie hinzufügte: „Es gibt dafür ein anderes Problem: Das USBI hat meine biometrischen Daten.“

„Dann müssen wir dich verstecken, genauso wie das Geld“, stellte Natala fest. „Für das Geld nehmen wir irgendeine Nische in der Küche, aber bei dir wird’s schwerer, Bioscanner können durch fast alles sehen.“

„Was ist mit dem Fusionsgenerator im Maschinenraum?“, schlug Stanley vor. „Da schaut kaum jemand lange nach, weil es ungemütlich ist, und außerdem verwirrt die abgestrahlte Wärme und die Radioaktivität im Gerät die Bioscanner. Als Diebin hat sie sicher noch irgendwo eine Tarnfelddecke, damit sieht man sie auch nicht auf den ersten Blick.“

Natala gab ein anerkennendes Geräusch von sich. „Stan, du bist ein Genie. Sobald wir wieder Atmosphäre in der Ladebucht haben, kann Sven Anaata nach achtern bringen, ich denke, eine Person mit Verletzungen können wir sowieso besser erklären als zwei. Ist sonst noch jemand in der Datenbank des USBI? Letzte Chance.“

Alle verneinten und Dan rekapitulierte: „Also nur fürs Protokoll, einzig Natala hat einen falschen Namen, alle anderen nutzen die richtige ID, die Promise heißt Wildcard, Anaata ist nicht an Bord, vom Geld wissen wir nichts und wir sind keine Schmuggler sondern aufrichtige Frachtleute?“

„Genau“, stimmte Natala zu. „Wir haben im Moment keine Fracht, wir sagen einfach, wir seien auf dem Weg nach Lerbina, das passt zu ehrlichen und armen Frachtercrews.“

„Arm sind wir auch so“, warf Stanley trocken ein, was Natala geflissentlich ignorierte und sich stattdessen an Dan wandte, der die Promise langsam längsseits zum Kanonenboot lenkte. „Wie lange, bis wir Atmosphäre haben und die Offiziellen an Bord kommen?“

Dan prüfte die Daten in seinen Hologrammen. „Atmo in dreißig Sekunden, Andocken in zwei Minuten, wenn die von der Flotte sich ans Protokoll halten, sind sie in fünf Minuten in unserem Laderaum.“

Natala erhob sich. „Gut, lasst die Scharade beginnen.“

Sven hatte eben seinen Raumanzug abgelegt und war froh, in seinen normalen Klamotten in der Ladebucht zu stehen, in der die künstliche Atmosphäre nun wiederhergestellt war. Derweil verstaute Nani die Anzüge in dem Fach neben der Luftschleuse, als über ihnen die Tür der Brücke zischend zur Seite glitt und Stanley zusammen mit Anaata auf den Steg trat. Sie humpelte und versuchte, so rasch als möglich voranzukommen, wobei die beiden Verletzten sich so gut sie konnten gegenseitig stützten. Anaatas Absätze und Stanleys Stiefel machten laute, klackende Geräusche auf dem Metallboden, die durch die nahezu leere Ladebucht hallten. Sven hastete die Treppe hoch los, um den beiden zu helfen, Nani folgte ihm, den ramponierten Mantel auf dem Arm.

Nani war alleine schneller als die anderen drei und trat in die Küche, wo sie den Beutel mit den Kreditchips aus der Manteltasche kramte, das lädierte Kleidungsstück warf sie achtlos über eine Stuhllehne. Hastig sah sie sich auf der Suche nach einem geeigneten Versteck für das Geld um – in alten automatischen Küchen wie jener der Promise gab es viele Nischen, doch sie musste einen Ort finden, den die Offiziellen bei ihrer Durchsuchung übersähen. Sie wusste, dass sie schnell sein musste und keinen Fehler machen durfte, fänden die Offiziellen das Geld, hätte die Crew der Promise einiges zu erklären. Zu ihrer Rechten stand der abgenutzte Holztisch neben einer Trennwand aus Bambusstangen, direkt links vor ihr war eine Bartheke und dahinter entlang der ganzen Außenwand die eigentliche Küche mit den Koch- und Reinigungsautomaten sowie der Anrichte. In den Schränken mit Lebensmitteln konnte sie den Beutel kaum verstecken, da sah ein guter Zöllner der Flotte wohl nach. Schließlich fiel ihr Blick auf den automatischen Backofen und ihre Miene hellte sich auf. „Kuchen ist immer etwas Gutes“, murmelte sie, als sie zu einem der Schränke ging, eine Box mit Kuchenmischung hervorkramte, aufmachte und in eine Backform kippte. Danach schüttete sie die Kreditchips aus ihrem Beutel auf den noch flüssigen Kuchen, wo sie rasch auf den Grund sanken. Zufrieden schaltete Nani den Ofen ein und verließ die Küche. Bis die Offiziellen an Bord waren, stünde der Lauchkuchen längst fertig wie ein vorbereitetes Abendessen im Ofen bereit – nein, einen Kuchen durchsuchte nun wirklich kein vernünftiger Zöllner, dachte sie, zurück in Richtung der Ladebucht schreitend.

Stanley humpelte in den Aufenthaltsraum und ließ sich vorsichtig auf der Couch nieder. Es machte kaum Sinn, wenn er mit seiner Verletzung den Helden spielte und Sven half oder gar in der Ladebucht auf die Zöllner wartete, seine Verletzung konnte er sowieso kaum verbergen. Er musste sich eine plausible Erklärung für seine auffällige Wunde ausdenken und seinen Freunden mitteilen, damit ihre Geschichten übereinstimmten. Nur war das nicht, was ihn am meisten beschäftigte, denn ihn störte, unnütz herumzusitzen, normalerweise war er als Erster Maat derjenige, der in solchen Situationen der Crew gut zuredete und gemeinsam mit Natala einen Plan ausheckte, doch jetzt war er zur Untätigkeit verdammt. Mit einem unterdrückten Stöhnen streckte er sich auf der großen braunen Couch aus und versuchte sich zu entspannen – ihm blieb bloß die Option, auf die kommenden Geschehnisse zu warten, egal, wie sehr er die Untätigkeit hasste.

Sven stützte die Diebin, so gut er konnte, als sie gemeinsam durch den langen Gang zum Heck der Promise gingen. Er hatte unterwegs eine Tarnfelddecke aus ihrem Apartment geholt, unter der sich Anaata verstecken konnte. Eine solche Decke, die normalerweise vor allem Militärs verwendeten, erzeugte eine optische Illusion, sodass die darunter verstecke Person nahezu unsichtbar war. Als professionelle Diebin hatte Anaata ein ganzes Sortiment an solchen Hilfsmitteln, die bei ihrem Job nützlich waren. Die Maschinensektion lag in dem hinten angefügten Segment des Schiffes und sie mussten eine kleine Treppe hochgehen, um durch den engen Schott in den kurzen Verbindungsgang zu gelangen. Mit den drei Stufen hatte Anaata bereits Probleme, mit der Hilfe des Mechanikers schaffte sie es aber. „Na super, ich freue mich schon auf die Treppe im Maschinenraum“, schmollte sie, als die beiden durch den schummrigen Verbindungstunnel gingen. Sie wandte sich an Sven: „Bist du sicher, das mit dem Fusionsgenerator klappt?“

Er lachte mit einem unsicheren Unterton in der Stimme, als vor ihnen die rostige Tür zum Maschinenraum zur Seite glitt. „Ja, ziemlich. Auch wenn der Generator ungefährlich ist, sobald auf einer Maschine ein Radioaktivitäts-Symbol aufgesprüht ist, geht niemand gern in ihre Nähe. Und außerdem produziert das Teil genug Abwärme, um alle Scanner auszutricksen, also so lange niemand in den Dreck kriechen will, bist du sicher.“

„Falls einer genauer hinschauen sollte, hat es mich gefreut, dich gekannt zu haben“, entgegnete Anaata, um sogleich hinzuzufügen: „Okay, so gut kennen wir uns eigentlich auch wieder nicht, trotzdem …“

Sven fasste sich seufzend an die Stirn und sie traten auf den Metallsteg, der sich vor ihnen im Maschinenraum in mehrere Richtungen ausbreitete. Die Halle erstreckte sich über die ganze Höhe des Schiffes, wobei die Ebenen mit Treppen und Leitersprossen verbunden waren. An der Rückwand waren Teile der Triebwerke zu erkennen, oben, gleich neben dem Eingang, stand der Zentralrechner, auf dem unteren Deck breiteten sich die schweren Geräte und Antriebe aus. Der Geruch nach Metall und Öl lag in der warmen Luft, verschiedene Geräusche der schweren Maschinen erweckten den Eindruck eines unkoordinierten mechanischen Orchesters. Sven deutete auf eine rostige Treppe, die nach unten führte. „Kommst du da runter?“

Sie sah sich kurz um, ehe sie fragte: „Der große dunkelgraue Kasten da unten an der Seite ist der Fusionsgenerator, richtig?“

Der Mechaniker nickte. „So lange du dahinter bist, solltest du vor Scannern sicher sein, auch wenn jemand von hier oben aus scannt.“

„Gut, ich springe lieber, das schmerzt weniger“, meinte Anaata. Sie ließ rücklings über das Geländer nach unten fallen und bremste den Sturz mit ihrer Antigravitation ab, bis sie relativ elegant auf dem Generator zu sitzen kam. Dann sah sie nach oben. „Von hier an schaffe ich es allein, geh du nur zu unserem Empfangskomitee, sonst fällst du noch auf. Ach ja – kreuz mir die Finger.“ Damit zog sie sich die Tarnfelddecke über den Kopf und war kaum mehr zu erkennen.

Sven grinste halbherzig, er war bei der Sache nicht besonders zuversichtlich. „Wir werden schon rasch genug in einem Bundesgefängnis landen, keine Angst. Viel Glück.“ Damit wandte er sich um und ging den Gang entlang zurück in Richtung Bug, wobei er vor sich hinmurmelte: „Das wird verdammt knapp.“ Bevor er den Gedankengang weiterführen konnte, war das metallische Klacken zu hören, das beim Andocken einer Gangway entstand und ein sanfter Ruck durchlief die Promise.

Die vier übrigen Schmuggler waren in der Ladebucht versammelt und hatten sich der Luftschleuse zugewandt, die nebst der Rampe der einzige Eingang zur Promise war. Der kleine Raum der Schleuse lag links in der Ladebucht, sie würden die Offiziellen gleich zu Beginn gut eintreten sehen. Als Nani sich umschaute, konnte sie die Nervosität aller ziemlich gut erkennen. Natala stand breitbeinig in der Mitte der Ladebucht der Schleuse gegenüber wie ein typischer Captain, der Gäste auf seinem Schiff erwartete. Oberflächlich wirkte sie gelassen, wohl weil sie vor sich ihren ungebetenen Gästen keine Blöße geben wollte, nur kannte Nani sie lange genug, um ihr Pokerface zu durchschauen. Dan und Sven hatten sich auf die Treppe gesetzt und unterhielten sich leise miteinander – Nani konnte ihr Gespräch nicht verstehen, vermutete aber, es ging um ihre Chancen bei der Zollinspektion. Sie selbst war oben auf dem Steg stehen geblieben, um einen möglichst guten Überblick zu haben und rauchte ans Geländer gelehnt eine Zigarette. Sie mochte es, sich im Hintergrund zu halten, wollte beobachten, wie die Crew dieses Kanonenboots arbeitete. Ihr war bei der Vorstellung, wie die Promise gleich von Soldaten und Zollbeamten durchsucht wurde, unwohl zumute. Nani hatte selbst auf der Flottenakademie die Ausbildung zur Offizierin gemacht, sie kannte die Gründlichkeit und Umsicht, mit der Raumsoldaten der Flotte vorgingen. Hätte sie sich gegen eine Existenz als Abenteurerin entschieden, könnte sie jetzt genauso gut die Truppe anführen, welche gleich an Bord kam.

Auch wenn die Promise in erster Linie einfach ein alter Frachter war, der aussah, als hätte er seine besten Tage hinter sich, so würde sie wegen vieler Details auf die Offiziellen wahrscheinlich wie ein Schmuggler- oder Abenteurerschiff wirken. Natürlich könnte sie auch einer aufrichtigen Frachtercrew gehören, doch im Gegensatz zu den normalen Besatzungen kleiner Frachtschiffe hatten Schmuggler ihre eigene Art von Raumfahrer-Subkultur, die man sowohl dem Schiff als auch dessen Bewohnern ansah. Ob es nun die vielen Souvenirs von unterschiedlichsten Welten waren, die im Wohnzimmer an der Wand hinter der Bar hingen, die Blaster an den Gürteln von Natala, Stanley und ihr selbst oder Stans Verletzung, alles deutete auf einen Lebenswandel hin, der kaum typisch für das legale Frachtgeschäft war. Nur, solange die Offiziellen weder Anaata noch das Geld fanden, hätten sie nichts gegen die Schmuggler in der Hand, davon war Nani überzeugt. Ihr Gedankengang wurde von dem tutenden Signal der Luftschleuse unterbrochen, die Gangway war gesichert, nun handelte es sich bestenfalls noch um Minuten.

„Okay, sie kommen“, begann Natala gut vernehmbar. „Für die von euch, die noch nie eine Zollkontrolle erlebt haben: Es macht nichts, wenn wir etwas nervös und unsicher wirken, wir sind ja offiziell keine abgebrühten Schmuggler, sondern einfache Frachtleute. Also macht euch möglichst wenig Sorgen, bleibt einigermaßen ruhig und wir werden das schon überstehen.“

„Na, das nenne ich mal Optimismus“, raunte Sven dem Piloten sarkastisch zu, was Dan noch mehr zu verunsichern schien. Natala trat nach vorne und öffnete die dicke, metallene Tür der Luftschleuse, die leise knarrend aufschwang.

Wenige Sekunden später traten zwei Raumsoldaten der Flotte in olivfarbenen Kampfanzügen in die Ladebucht, ihre Blastergewehre im Anschlag. Sie sahen sich um, prüften, ob Gefahr herrschte, erst dann folgte der Captain in seiner blauen Uniform aus der Schleuse, offenbar hatte er sich entschieden, höchstpersönlich an Bord zu kommen. Er war ein dunkelhäutiger, stämmiger Mann in mittleren Jahren, dessen trainiertem Körper und Haltung man ansehen konnte, dass er in seinen Tagen als Soldat ein guter Kämpfer gewesen sein musste. In angemessener Geschwindigkeit schritt er auf Natala zu und bot ihr die Hand dar. „Guten Tag, ich bin Captain Ron Morgan, Kommandant der Spirit of Zisun.“

„Freut mich, Captain Sandra Ying von der Wildcard, willkommen an Bord. Und das ist meine Crew“, begrüsste ihn Natala und deutete in einer ausladenden Bewegung auf ihre Kameraden. „Ich nehme an, Sie wollen eine Zollkontrolle durchführen?“

Morgan nickte bedächtig. „Genau, wir hatten einige Meldungen, Schmuggler treiben sich in der Gegend herum. Ich nehme an, Sie kennen das Prozedere bereits? Meine Leute sehen sich etwas um, während ich mit Ihnen das übliche Gespräch führe.“

„Klar, tun Sie sich keinen Zwang an“, entgegnete Natala möglichst ruhig. „Wenn Sie wollen, können wir uns auf der Brücke unterhalten, da sind wir ungestört.“

„Ich denke, ich mache lieber erst einen kurzen Rundgang, danach können wir uns hinsetzen. Als Captain ist man immer froh, wenn man die Gelegenheit zu etwas Bewegung hat.“

Natala hatte mittlerweile begriffen, mit was für einem Mann sie es zu tun hatte: Morgan war gut in dem, was er tat und er ließe sich wohl nicht leicht hinters Licht führen. Anstatt sich auf ihren Vorschlag einzulassen, wollte er sich selbst ein Bild machen – er musste ein guter, gründlicher Beobachter sein und sie zweifelte keine Sekunde daran, er würde jede ihrer Antworten skeptisch hinterfragen. Natala war überzeugt, sie hätte es kaum schlechter treffen können, doch sie ließ sich nichts anmerken und führte ihn durch den Gang im Untergeschoß nach achtern, wo er einen Blick in den hinteren Laderaum und den kleinen Flitzer-Hangar warf.

„Für das Alter sieht Ihr Schiff ziemlich gut aus“, bemerkte Morgan, als sie durch den Verbindungsgang zum Maschinenraum gingen.

„Ja, die EC-1500 ist eine gute Serie, sehr robust und beständig. Fällt selten vom Himmel.“

Er nickte bedächtig. „Schmuggler benutzen sie auch ziemlich gern, weil sie einiges aushält und viele Nischen hat, in denen man Güter verstecken kann.“

Natala verkrampfte sich leicht und gab sich Mühe, ihre Fassade aufrecht zu erhalten und locker zu wirken. „Das kann ich mir vorstellen. Wir haben nichts zu befürchten, wir haben nur etwas Gemüse für uns selbst geladen. Eigentlich ist das eine Leerfahrt, weil wir keine richtige Fracht bekommen haben.“

„Dann ist ja alles bestens“, meinte der Captain der Flotte, als sie den Maschinenraum betraten. Sie gingen bloß wenige Meter neben Anaatas Versteck durch, aber obwohl er sich ohne anzuhalten umsah, bemerkte er sie unter der Tarnfelddecke nicht. Als die beiden die Treppe hochgingen, deutete er auf den Blaster an Natalas Gürtel: „Sie tragen eine Waffe?“

Da sie voranging, wandte sie sich zum Sprechen um und schaute über ihre Schulter. „Ja, es gibt hier bei den Randwelten zu viele Freibeuter, wehrhaft zu sein ist aus meiner Sicht alles andere als ein Luxus. Ich denke kaum, jemand aus meiner Crew fiele gerne einem Sklavenring in die Hände.“

„Gutes Argument“, stimmte er zu. Trotz seiner Einsilbigkeit wirkte er freundlich, was Natala verwirrte, denn sie war sich ziemlich sicher, dass er sie verdächtigte. Mit einem Blick zu einigen Modifikationen an den Maschinen, welche die Promise schneller und wendiger machten, fügte er hinzu: „Ich nehme an, darum haben Sie auch die Systeme verbessert?“

„Vorsicht ist besser als Nachsicht.“ Natala wurde immer unwohler – er verstand sogar etwas von den Maschinen, das konnte ja heiter werden! Wenn er jetzt noch nicht begriffen hatte, mit was er es hier zu tun hatte, grenzte das an ein Wunder, daran hegte Natala keine Zweifel mehr. Da Captain Morgan schwieg, traten sie ohne zu sprechen in den oberen Durchgang und gingen von der Maschinensektion zurück zum Hauptschiff, wo sie bald darauf im Wohnbereich anlangten. Natala führte ihn durch den langen Gang nach vorn und hoffte, er hätte kein Interesse am Wohnzimmer, wo Stanley lag, doch er blieb an der Abzweigung des Ganges stehen. „Gehen wir noch da lang.“

Sie stimmte hilfsbereit zu und folgte ihm. Als er in den Aufenthaltsraum trat, sah er sich kurz um wandte sich sogleich an Stanley, der auf der Couch lag. „Oh, was ist denn mit Ihnen geschehen, haben Sie sich verletzt?“

Der erste Maat, auf die Frage vorbereitet, antwortete: „Ja, ich habe mich verbrannt, als ich dem Mechaniker mit einem Triebwerk helfen wollte, offenbar war das verdammte Ding noch heiß. Sollte in ein paar Tagen wieder verheilt sein.“

„Ja, die liebe Technik, immer für eine Überraschung gut. Gute Besserung, Sir“, murmelte Morgan, ehe er sich Natala zuwandte: „Ich habe genug gesehen, danke. Wenn Sie wollen, können wir uns nun auf der Brücke hinsetzen und die Formalitäten klären.“

„Natürlich“, stimmte sie ruhig zu, obwohl sie mit jeder seiner Fragen mehr den Eindruck hatte, er durchschaute ihr Spiel. Sie wandte sich um und ging ihm voran durch den Gang zurück. Als sie schließlich auf den Steg traten, plauderte er lächelnd weiter: „Sie müssen schon weit gereist sein, wenn man an all die Souvenirs über der Bar denkt. Die meisten Frachtercrews immer dieselben paar Strecken.“

„Ja, wir kommen rum. Vor allem, weil wir kaum Stammkunden haben, da nimmt man einfach die nächste Ladung, die man kriegen kann, ganz egal, wohin sie gehen soll.“

„Das sehe ich ein. Eure Crew scheint sowieso erstaunlich gut zusammenzuhalten, das spricht für den Charakter des Captains.“

„Nicht unbedingt, wir haben uns einfach im Laufe der Zeit gut angefreundet“, entgegnete Natala, ob dem Kompliment verwirrt. „Man wird zu einem eingespielten Team, auf das man sich wenn es darauf ankommt verlassen kann.“

„Ja, das ist vieles wert, ist im Frachtgeschäft nur allzu selten der Fall“, entgegnete er nachdenklich, als sie durch die Tür auf die Brücke traten. Natala setzte sich auf ihren Sessel und bot ihrem Gast den Platz am Schreibtisch an.

Der Captain streckte seine Beine gemächlich aus und gab ein zufriedenes Geräusch von sich. „Wollen wir rasch alles durchgehen, Captain Ying?“

„Natürlich. Die Daten der Crew habe ich bereits an die Spirit of Zisun gesendet.“

Er zog sein Com aus der Tasche und tippe etwas in dem über dem Gerät angezeigten Hologramm, wobei er sprach. „Gut, das ist Sache meiner Bürokraten, die haben die Personalien und die Schiffs-ID wohl bald überprüft.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Können Sie fürs Protokoll nochmals das Schiff identifizieren?“

„Frachter, EC-Klasse, Typ 1500, registriert auf Berdeg als Wildcard.“

„Gut, dann müsste ich noch die Route wissen.“

„Wir kommen von Spes und sind unterwegs nach Lerbina, geladen haben wir einige Kisten Lebensmittel für den Eigengebrauch.“

„Nicht gerade einträglich“, bemerkte er nachdenklich.

„Man nimmt, was man kriegen kann.“ Natala bemühte sich, gleichgültig zu wirken. „Dafür werden wir in Lerbina gute Aussichten auf eine bessere Fracht haben.“

Morgan lächelte. „Ja, aber seien Sie vorsichtig, von da werden besonders viele illegale Güter verschifft. Sonst werden Sie am Ende noch verhaftet, weil sie ein allzu gutes Angebot angenommen haben.“

„Danke für den Hinweis, man kann nie vorsichtig genug sein.“

Er nickte. „Auf jeden Fall. Also, alle offiziellen Fragen wären abgehakt, einzig ein paar Details muss ich noch abklären.“

Natala hatte das Gefühl, als ob er wie ein Geier über seiner Beute kreiste und weiterfragte, darauf wartend, dass sie sich selbst verriet. „Bitte, nur zu.“

„Wieso sind Sie nicht bereits bei Spes in den Hyperraum gesprungen? Von da gibt es eine gute Route nach Lerbina.“

„Das werden Sie kaum glauben, wir hatten noch einen Mantel in der Laderampe stecken, der die Luftschleuse blockiert hat. Den mussten wir da erst wieder herausbekommen, wir waren erst bereit zum Sprung, als Sie bereits mit uns Kontakt aufgenommen hatten.“

Der Captain gluckste leise. „Das habe ich auch noch nie gehört, die Geschichte könnte zu einem Klassiker werden, den man sich in Raumhafenbars erzählt.“ Er wurde rasch wieder sachlich, Natala hatte weiterhin das unangenehme Gefühl, hinter jedem seiner freundlichen Worte die Absicht zu bemerken, weiter nachzubohren. Der Captain schien ein Meister darin zu sein, Dinge zu fragen, ohne sie auszusprechen und jemanden in die Enge zu treiben, ohne ihn anzugreifen. „Da ist es eindeutig besser, seid ihr nicht gesprungen, eine Dekompression im Hyperraum wünscht sich niemand.“ Er dachte kurz nach, ehe er beiläufig mit der Handfläche auf den Schreibtisch tappend erklärte: „Gut, das war’s schon, jetzt müssen wir nur noch auf den Bescheid meiner Leute warten, keine Konterbande gefunden zu haben, dann können Sie weiterreisen. Halb so wild, wie ein Zahnarztbesuch.“

Natala hatte das erste Mal das Gefühl, aufatmen zu können – vielleicht ginge doch noch alles gut. Sie musste sich ihre Überraschung eingestehen, denn sie hätte von dem Captain nach ihrem bisherigen Gespräch mehr Skepsis und Nachbohren erwartet. „Bestens, Danke“, antwortete sie, bevor sie sich ihrer Manieren entsann und einer alten Raumfahrertradition nachkam: „Möchten Sie einen Whisky, wenn Sie sowieso noch warten müssen? Ich sollte hier noch ein paar Gläser und eine Flasche haben.“

„Gern, mein Dienst heute ist sowieso gleich zu Ende. Und nennen Sie mich doch Ron, von Captain zu Captain.“

Sie erhob sich, kramte den Whisky aus einem Schränkchen und goss zwei Gläser ein. „Freut mich, du kannst mich Sandra nennen.“

Sie gab ihm ein Glas und schenkte ein. Ron hob sein Glas: „Auf einen freien Himmel.“

„Auf einen freien Himmel“, wiederholte Natala, prostete ihm zu, schwenkte ihren Drink und nahm einen kleinen Schluck. Derweil lehnte er sich zurück und erkundigte sich: „Wie kamt ihr auf den Namen Wildcard?“

Natala überlegte kurz, nun musste sie sich etwas einfallen lassen – sie hatte die gefälschte Registration einfach gekauft, den Namen hatte sie sie dabei nicht gewählt. „Nun, wir sind immer anderswo und transportieren fast jede Ladung, die wir finden können.“ Mit einem Grinsen fügte sie hinzu: „Natürlich nur, wenn sie legal ist.“

Ron lachte und nahm einen Schluck von seinem Whisky. „Keine Angst, du musst dich nicht rechtfertigen. Ich habe großen Respekt vor Leuten wie dir und deiner Crew, die sich durchs Leben schlagen, unabhängig sind und loyal zueinanderhalten.“

„Danke. Ich denke mir, ein Leben bei der Flotte kann auch alles andere als einfach sein. Wie kam denn die Spirit of Zisun zu ihrem Namen? Sie scheint ja ein ziemlich neues Schiff zu sein.“

Sie konnte Ron ansehen, dass er gerne über sein Sternenschiff sprach. „Ja, sie ist ziemlich neu und wurde im Gedenken an die guten Soldaten, die ihr Leben in der Schlacht um Zisun im letzten Jahr verloren haben, getauft. Am Ende waren nur noch vier Offiziere übrig, gestrandet auf dem Planeten. Sie haben letztlich im Alleingang eine feindliche Basis eingenommen, um Hilfe rufen zu können. Um diesen Kampfgeist geht es, du weißt schon, niemals aufgeben und der Bedrohung ins Auge starren.“

Natala glaubte, in seinem Gesicht etwas lesen zu können und zählte rasch Eins und Eins zusammen. „Du warst einer der vier?“

Er nickte bedächtig. „Ja, das war hässlich, aber wir haben es geschafft.“ Es herrschte einige Zeit Schweigen und Natala sinnierte, wie viele Kameraden Ron in diesem Krieg verloren hatte. Gleichzeitig konnte sie nur einen großen Respekt vor einem Kämpfer wie ihm empfinden, er hatte bei einem solchen Einsatz mit Sicherheit alles riskiert.

Die Stille wurde von dem Piepsen seines Coms unterbrochen. Ron erklärte, bevor er den Anruf annahm: „Das müssen meine Leute sein, die sollten mittlerweile mit der Wildcard durch sein.“

Eben beendete Ron sein Gespräch. Natala hatte bewundert, wie er im Laufe der ganzen Unterhaltung keine Miene verzogen hatte, zudem ließen seine einsilbigen Antworten Natala kaum eine Möglichkeit, zu erkennen, ob es für sie einen Grund zur Sorge gäbe. Er steckte gemächlich das Com weg und nahm einen Schluck von seinem Drink, ehe er sich wieder an sie wandte. „Gut, alles ist klar. Meine Leute sind durch und haben keine Konterbande gefunden.“

Natala entspannte sich, offenbar war alles gutgegangen. Ron atmete tief und gut hörbar durch und fuhr fort, bereits beim ersten Wort fiel der Schmugglerin seine veränderte Stimmlage auf und diesmal glaubte sie, gleich gefröre ihr Blut. „Doch ich muss dich noch etwas fragen: Deine Crew besteht aus fünf Leuten, nur, es gibt sechs bewohnte Zimmer an Bord dieses Schiffes.“

„Ja, das stimmt“, entgegnete Natala möglichst ruhig. Nun kam es darauf an, wie gut sie ihren Bluff verkaufen konnte. „Wir hatten noch eine Passagierin, eine Anhalterin, die von Tenowia nach Spes mit uns reiste. Sobald wir auf dem Planeten angekommen sind, ist sie verschwunden, ohne ihre Sachen mitzunehmen. Da wir weiterreisen mussten, haben wir sie gar nicht erst gesucht, sondern sind einfach abgehoben. Irgendwann werden wir das Quartier wohl ausräumen, außer sie meldet sich noch.“

Ron lächelte und erklärte, ohne seine zufriedene Miene zu verlieren: „Sandra, ganz ehrlich, und nur unter uns: Ich glaube dir kein einziges Wort.“

Natala erstarrte und es dauerte eine kleine Ewigkeit, ehe sie verwirrt ansetzte: „Was …?“

Er unterbrach sie. „Nein, du solltest jetzt schweigen. Wie gesagt, ich respektiere deine Loyalität zu deiner Crew und ich denke, irgendwo an Bord dieses Schiffes, das wohl nicht Wildcard heißt, ist oder war noch jemand versteckt. Und ja, ich bewundere, wie ihr alle das Risiko eingeht, für diese Unbekannte ins Gefängnis zu wandern, wenn euer Schiff ausnahmsweise sogar mit legalen Gütern beladen ist – und dass das eine Ausnahme ist, musst du genauso wenig bestreiten.“ Er machte eine Pause und schien nachzudenken. Natala schwieg, denn sie wusste nicht, was sie entgegnen sollte. Alles, was ihr einfiel, machte ihre Lage nur noch schlimmer.

„Sind wir mal ehrlich: Meine Soldaten haben die Wildcard, wenn dies überhaupt der echte Namen deines Schiffes ist, durchsucht, ohne etwas zu finden. Außerdem ist ihre Schicht sowieso zu Ende und sie wollen zurück zur Spirit of Zisun und ihr wohlverdientes Abendessen genießen.“

Natala starrte ihn ungläubig an: „Soll das heißen, du willst nichts unternehmen?“

Ron schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe keine Beweise. Ich kann dich gut leiden und bin nicht wegen eines Gefühls oder einer Ahnung verpflichtet, weiterzusuchen, ja, es wäre sogar gegen das Protokoll. Ich gehöre zur alten Garde und arbeite streng nach Protokoll, also ist meine Arbeit hier erledigt, alle Punkte sind abgehakt. Ich möchte dir aber etwas klipp und klar machen, Sandra, oder wie auch immer du wirklich heißt: Verwechsle Sympathie niemals mit mangelndem Pflichtgefühl. Ich habe der blauen Flagge die Treue geschworen und ich werde die Wildcard sowie den Namen Sandra Ying in den Akten der Flotte als verdächtig markieren. Das bedeutet, ihr werdet beim nächsten Mal sehr genau unter die Lupe genommen, wenn ihr einer Patrouille begegnet. Ergo kannst du einzig hoffen, dann entweder wieder eine Leerfahrt zu haben oder rasch genug zu einem neuen Alias zu kommen.“

Einige Sekunden herrschte Schweigen und Natala fragte sich, was sie von der Situation halten sollte. Es hatte keinen Sinn mehr, etwas abzustreiten, nur konnte sie genauso wenig etwas zugeben. Schlussendlich erkundigte sie sich, weiterhin ziemlich unsicher: „Wieso tust du das? Wieso willst du uns noch eine Chance geben, wenn du dir so sicher bist?“

Ron sah nachdenklich aus dem Brückenfenster auf sein Kanonenboot hinüber und sinnierte: „Ich könnte nun behaupten, weil ich nichts in der Hand habe. Oder weil ich glaube, ihr seid keine schlechten Menschen, sondern habt bloß schlechte Entscheidungen getroffen. Oder weil ich eure Loyalität für außergewöhnlich halte, manche wären bei meinen Fragen eingeknickt und hätten versucht, einen Deal auszuhandeln. Ich war in der Schlacht von Zisun, ich weiß, was es bedeutet, kaum eine Chance zu haben und trotzdem zu seinen Leuten zu stehen, das kannst du mir glauben. Doch um ehrlich zu sein – ich weiß es nicht.“

Wieder herrschte Schweigen, ehe Natala sich zu einer Frage durchrang. „Und was jetzt?“

Ron erhob sich gemächlich, trank seinen Whisky aus und stellte das Glas gut hörbar auf die alte, zerkratze Glasplatte zurück. „Jetzt werde ich gehen. Es hat mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen, Captain Ying.“

Er bot ihr seine Hand dar, die sie perplex schüttelte. Danach wandte er sich ab und schritt gemächlich von der Brücke. Bevor sich die Tür hinter ihm schloss, konnte sie ihn noch durch die Ladebucht rufen hören: „Wir rücken ab, Leute, wir sind hier fertig.“

Einige Minuten waren vergangen, in denen Natala alleine auf der Brücke gesessen und nachgedacht hatte. Beinahe versteinert hatte sie den halben Ring aus Kondenswasser angestarrt, den Rons Glas auf der Schreibtischkonsole hinterlassen hatte und sich gefragt, was gerade geschehen war. Nun traten allmählich ihre Freunde in den Raum, erst Dan und Sven, dann Stanley und Nani, die wohl noch überwacht hatten, ob die Gangway gut getrennt worden war, nachdem die Soldaten die Promise verlassen hatten. Der Pilot und der erste Maat setzten sich hin, Sven und Nani blieben stehen. Nach einer kurzen Pause wandte sich Natala an Dan: „Bereit zum Sprung, wenn du es bist.“

Dan prüfte die Daten in seinen Hologrammen und ergriff die manuelle Steuerung. „Mein Raumer“, meldete er, die Kontrolle zu haben, was Natala sogleich bestätigte: „Dein Raumer.“

Mit einem Summen erwachte der Antrieb zum Leben, der alte Frachter setzte sich in Bewegung und der Captain beobachtete, wie zu ihrer Linken das Kanonenboot geräuschlos in die entgegengesetzte Richtung davonglitt, eine matt silbern schimmernde mächtige Silhouette, auf der groß das marineblaue Emblem der Vereinten Systeme aufgemalt war. Dan beschleunigte die Promise und beschrieb eine weite Schlaufe, bis sie auf Kurs waren und das Kanonenboot nur noch im Display der Heckkameras zu erkennen war. Dan tippte auf die schwarze Glasplatte der Konsole, auf der eine Tastatur eingeblendet war und meldete: „Sprung in fünf Sekunden.“

Natala konnte an der Position der Sterne erkennen, wie der alte Frachter rasch schneller wurde, wobei sie das zunehmende Vibrieren unter dem Boden fühlen konnte, als der Hyperantrieb aufwärmte. Schließlich flackerte das Licht kurz und Natala hatte das Gefühl, der Raum um sie herum zog sich für einen Wimpernschlag zusammen, ehe ein Ruck das Schiff durchlief, ihre räumliche Orientierung für eine Hundertstelsekunde aussetzte und sie ein Kribbeln in ihrem Rückgrat verspürte: Die Promise war eben in den Hyperraum gesprungen.

Natala lehnte sich zurück und atmete gut hörbar durch. „Das war verdammt knapp.“

„Immerhin haben sie uns nicht durchschaut“, meinte Sven zufrieden. „Das was haarscharf.“

„Doch, das haben sie“, gab der Captain nachdenklich zurück. „Er hätte uns erwischen können und hat uns laufenlassen.“

Seit ihrem Sprung in den Hyperraum waren einige Stunden vergangen, mittlerweile war nach Bordzeit die Nacht hereingebrochen. Die Schmuggler saßen gemeinsam im Wohnzimmer und waren in Gespräche vertieft, Sven hatte derweil seine alte Gitarre hervorgeholt hatte und begann das Instrument zu stimmen. Anaata saß vor den säuberlich auf dem Couchtisch aufgestapelten Kreditchips, die sie früher am Abend aus dem Lauchkuchen gepult und gewaschen hatte, ganz vertieft darin, sie zu zählen. Einen hatte sie mit der Begründung eingesteckt, sie müsse sich unbedingt einen neuen Mantel kaufen. Niemand von den Schmugglern hatte gewusst, was sie von Rons Verhalten denken sollten, von dem Natala nicht eine Sekunde bezweifelte, dass er trotz seinem Handeln der pflichtbewussteste und patriotischste Offizier der Flotte war, mit dem sie es je zu tun gehabt hatte. Sie grübelte weiter darüber nach, als Nani sie aus ihren Betrachtungen riss: „Die ganze Sache war auf jeden Fall sehr knapp, vor allem, weil wir offenbar auf das Wohlwollen des Captains angewiesen waren.“

Anaata sah von ihrem Geldberg auf und konnte sich eine Stichelei nicht verkneifen. „Und jetzt siehst du das als Weckruf und bewirbst dich bei der Flotte?“

„Ich habe schon im Militär gedient und finde Uniformen langweilig. Nein, ich bleibe bei unserem Geschäft, es beschäftigt mich nur, wenn etwas so knapp ausgeht.“ Nani winkte energisch ab, hob ihr Glas und nahm einen Schluck. „Klar, hätten wir ihn hinters Licht führen können, wäre das besser gewesen – aber sind wir mal ehrlich: Wenn wir mal ins Schwitzen kommen, hilft uns das wohl dabei, auf dem Boden zu bleiben und weniger überheblich zu werden.“

„Ha, die Oberklasse-Lady analysiert mal wieder“, brummte Sven ohne den Kopf zu heben, weiter an den Saiten zupfend.

„Pass auf, sie kann dich mit bloßen Händen töten“, warf Stanley grinsend ein.

Dan gluckste und wandte sich an Nani. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du als Oberklassegör mit langem Haar und in einer Schuluniform ausgesehen haben magst.“

„Ich auch nicht“, gab sie zurück. „Mein Haar war schon immer kurz, sogar in der virtuellen Schule im ComNet.“ Sie stellte ihr Glas ab und überlegte dann: „Wenn ich darüber nachdenke, glaube ich, dass du mal auf einer eleganten Schule warst.“

„Weder die billigste, noch die beste, dafür eine gute Uni“, entgegnete Dan. „Typisch Mittelwelten eben. Dafür konnte ich schon mit fünfzehn ein IX-500-Racoon Hovercraft fliegen.“

„Wie kamst du denn von deinem Kulturantrhopologie-Studium dazu, Pilot zu werden?“, wollte sie wissen, nun war ihr Interesse geweckt.

„Na, ganz einfach, ich will sehen, was ich gelernt habe“, erklärte Dan mit unverhohlenem Enthusiasmus. „Schau dir die Galaxis an, es gibt so viele wunderbare Welten, auf denen ich noch nie war, so viele Dinge, die ich noch nie erkundet habe. Außerdem bin ich gut im Umgang mit Technik.“

Stanley hatte bisher nur zugehört, nun wandte er sich an Anaata: „Und du hast in dem Alter Warenhäuser leergeräumt, was?“

„Weil darin die wahren Waren waren“, reimte sie abwesend vor sich hin, ehe sie die Kreditchips weglegte und eine ernstere Antwort gab. „Ab und an, doch das war eigentlich eher meine Phase als Einbrecherin und Taschendiebin. Das wunderbare Leben auf einem Internat“, schwärmte sie in Erinnerungen schwelgend.

„Wenn wir schon bei komischen Dingen sind“, unterbrach Dan die Diskussion, „Welcher Idiot hat eigentlich seinen Kaffee an die Wand neben der Treppe gekippt? Das ist eine Riesensauerei.“

Anaata musterte ihn eine Sekunde verwirrt und murmelte dann: „Ups.“ Sehr rasch wandte sie sich Sven zu und bat ihn: „Spiel schon einen Song, sonst findet Natala noch heraus, wer es war!“

Alle an Bord der Promise waren in ihren Quartieren verschwunden, vermutlich schliefen die meisten bereits. Nur Natala stand auf dem Steg, auf dem sie den Eindruck hatte, ihr Schiff überblicken zu können, und starrte geistesabwesend in die beinahe leere Ladebucht hinunter, in der einsam einige Frachtkisten standen. Ein weiteres Abenteuer überstanden, das sie als Strich in die Rostschicht an der Wand über der Treppe ritzen konnte. An dieser Stelle prangten bereits viele Fünfergruppen von Strichen, bei jeder neuen Fracht, welche die Promise transportierte, kam ein weiterer hinzu. Wahrscheinlich hatte diese brachiale Art der Buchführung bloß einen sentimentalen Wert für Natala, um sie daran zu erinnern, wo sie die Promise schon überall hingetragen hatte, wie viele Versprechen ihr Schiff eingelöst hatte, sie alle sicher wegzubringen – oder zumindest einigermaßen sicher.

Natala erschrak, als sie hinter sich humpelnde Schritte hören konnte, Stanley kam über den Steg auf sie zu. Bei ihr angelangt, lehnte er sich schweigend neben sie ans Geländer, sie hatte den Eindruck, er wolle sich mit ihr unterhalten. Nach einer längeren Pause erkundigte sich Natala: „Was ist?“

„Das wollte ich eigentlich dich fragen“, entgegnete Stanley. „Wir sind schon lange genug beste Freunde, ich weiß, wenn dich etwas beschäftigt.“

Sie überlegte kurz. „Er hat uns gehen lassen. Wieso?“

Er zuckte mit den Schultern. „Hm. Vielleicht aus Respekt, wie er gemeint hat. Oder aber du gefielst ihm einfach, egal was das nun heißen mag.“

„Hätte er weniger Spielraum gehabt, er hätte keine Sekunde gezögert und uns verhaftet, da bin ich mir sicher. Ich habe ihm einfach ausreichend gute Antworten geliefert und seine Leute haben zu wenig gefunden. Er hätte mich nicht durchschauen müssen, obwohl er es getan hat.“

„Ich denke, er wollte uns entkommen lassen“, entgegnete Stanley nach längerem Überlegen. „Wir sind alle auf unseren Seiten, mussten sie wählen, nur manchmal sind die Grenzen fließender als man es erwartet. Und irgendwo in dieser Grauzone können Dinge geschehen, die jeder Erwartung widersprechen.“ Er streckte sich. „Ich glaube, du gefielst ihm.“

Natala lachte rau und kurz, es klang beinahe wie ein leises Schnauben. „Ich einem anderen Leben, Stan. In einem anderen Leben.“

Promise

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