Читать книгу Nina und die Sphinxwelt - Sarah Nicola Heidner - Страница 6

Malans Geschichte

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Jetzt waren alle Blicke auf Frau Barinkson gerichtet.

„Aber, aber“, sagte Herr Pikk. „Was haben Sie gerade gesagt? Ich habe Sie nicht ganz verstanden.“ Er schien erschrocken zu sein, seine „Madam“ einen solchen Kraftausdruck gebrauchen zu hören.

„Zum Teufel mit Ihnen allen!“, schrie die Lehrerin. „Nina, komm mit! Sofort!“

Die jedoch beschlich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.

„Geh nicht mit!“, zischte Herr Malan ihr aus den Mundwinkeln zu, nachdem er sich neben sie gestellt hatte. „Das dort ist nicht unsere Frau Barinkson.“

„Was? – Ich meine, was sagen Sie da?“ Nina verstand die Welt nicht mehr. „Aber das ist sie doch! Sehen Sie hin!“

„Vertraue nicht deinen Augen, sondern deinem Herzen! Es weist dir den Weg!“, entgegnete Herr Malan.

Nina schaute ihn verständnislos an, doch ihr Lehrer wandte sich ab. Das Mädchen seufzte tief und schaute auf die Schüler, die vor ihr standen und sie anstarrten. „Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe“, stellte sie klar. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wahrscheinlich war es Zufall, dass das Feuer wieder verschwunden ist.“

Um den zweifelnden Blicken zu entgehen, schwang sie sich auf das Fenstersims, kletterte zurück in das Zimmer und schloss das Fenster. Sie durchquerte den Raum, ging durch den Flur und flüchtete in die Mädchentoilette, weil sie wusste, dass Jana, Mia, Pia und Maria sofort im Zimmer aufkreuzen würden, um sie auszuquetschen. Aber ihr wurde das alles zu viel. Sie hatte ein relativ normales Leben gehabt und konnte nicht damit umgehen, dass sich jetzt alles plötzlich auf den Kopf stellte.

Sie schloss sich in der erstbesten Kabine ein, lehnte sich gegen die Tür und dachte nach. Sie musste beim Abendessen mit Herrn Malan sprechen, unbedingt! Aber wie würde es weitergehen? Konnten all diese Dinge eine normale Ursache haben? Nina musste wissen, was hier vor sich ging. Also verließ sie die Kabine, ging an den Waschbecken vorbei und linste aus der Tür. Im Flur war niemand – die Luft war rein! Sie schlüpfte durch die Tür, ging zu der Stelle, an der sie am vorigen Abend das Gespräch von dieser Blyn und Herrn Malan belauscht hatte, und wollte gerade die Hand heben, um an die Tür zu klopfen, da hörte sie aus dem Raum hinter der Tür eine Stimme, die leise um Hilfe rief. Schnell öffnete Nina die Tür und sah, dass Frau Barinkson verschnürt auf dem Boden lag.

„Oh nein!“ Schnell lief das Mädchen zu seiner Lehrerin und befreite sie. „Geht es Ihnen gut?“, fragte Nina.

„Mich hat jemand zusammengeschlagen“, berichtete die Frau, als sie ihre Beine und Arme lockerte.

„Können Sie sich an den Angreifer erinnern?“, fragte Nina, doch Frau Barinkson schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. Sie ging zum Fenster, blickte hinaus – und erstarrte. Das Kind trat neben sie und sah, was in diesem Moment die Lehrerin fassungslos die Hand vor den Mund schlagen ließ. Noch immer stand da draußen die Frau, die genauso aussah wie die Lehrerin neben Nina. Die falsche Frau Barinkson schimpfte gerade wütend mit Herrn Malan und deutete wild gestikulierend zu der anderen Seite des Hauses, wo das Fenster von Ninas Zimmer lag.

Ungläubig ließ Nina ihren Blick von der einen Frau Barinkson zur anderen wandern. Und kurz darauf wieder zurück – wie bei einem Tennismatch. Immer schneller ging ihr Blick zwischen den beiden Frauen hin und her. War denn jetzt gar nichts mehr normal? Was passierte hier gerade?

„Oh mein Gott!“, stöhnte die echte Frau Barinkson und hielt sich an einem Stuhl fest. Dann bedeutete sie Nina, ihr aus dem Raum zu folgen. Eine Minute später sahen die echte und die falsche Lehrerin einander an. Alle Schüler, Herr Pikk und Herr Malan starrten fassungslos auf das, was sich vor ihnen abspielte.

„Äh … Sie – Was fällt Ihnen eigentlich ein! Verschwinden Sie!“, forderte die echte Frau Barinkson und stemmte die Hände in die Hüften.

„Ach ja?“ Die unechte Lehrerin lächelte kalt, schnippte einmal mit den Fingern und verwandelte sich in eine sehr schlanke Frau, deren ganzer Körper aus Schlangen zu bestehen schien. Angeekelt und voller Entsetzen wichen die Schüler zurück, nur Nina stand noch neben der echten Frau Barinkson, die fassungslos auf die Schlangenfrau starrte.

Die jedoch wandte sich dem Mädchen zu. „Komm“, sagte sie. „Komm mit, Nina.“

Doch in diesem Moment stellte sich Frau Barinkson vor ihre Doppelgängerin in Schlangengestalt. „Sie nehmen keine meiner Schülerinnen mit, verstanden?“, knurrte sie und wollte gefasst wirken, aber ihre Stimme schwankte leicht und ihre Finger zitterten. Die Schlangenfrau hob nur die Augenbrauen, sagte aber nichts.

Dann geschahen zwei Dinge fast gleichzeitig: Die Schlangenfrau stürmte auf die Lehrerin zu, doch diese warf sich unter den schützenden Baum. Herr Malan hob mit versteinertem Gesichtsausdruck die Hände in die Höhe, und wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt wurde die Schlangenfrau zu Boden geschleudert und verschwand dann spurlos. Alle starrten auf Herrn Malan und dessen Hände, denn er stand immer noch an derselben Stelle, hatte sich nicht vom Fleck bewegt und offenbar nur mit der Kraft seiner Hände die Schlangenfrau verschwinden lassen.

Er schaute die sprachlose Nina an, lächelte ihr zu und verschwand – ebenso wie die Frau kurz vor ihm.

„Magie“, krächzte Jonas, ein Schüler aus Ninas Klasse, „das ist Magie!“

„Quatsch!“ Frau Barinkson wirkte wieder gefasst. „Einbildung ist das, nichts als Einbildung.“ Sie schüttelte den Kopf und schien eher sich selbst als die Schüler überzeugen zu wollen. „Ihr geht jetzt zum Abendessen. – Pikk, kommen Sie bitte mit.“ Sie zeigte zum Haupthaus, in dem sich der Speiseraum befand.

„Und was ist mit Herrn Malan?“, fragte Pia.

„Ich weiß es nicht“, seufzte die Lehrerin. Und als sie sich kurz umdrehte, konnte Nina einen tiefen Schmerz in ihren Augen erkennen.

Den ganzen Abend über waren Herr Malan und die falsche Frau Barinkson natürlich das Thema Nummer eins. Nina hielt sich zurück, als die anderen wilde Vermutungen äußerten, was passiert sein könnte und ob Magie beziehungsweise keine Magie im Spiel gewesen war.

Nina verabschiedete sich früh und ging zu Bett. Ihr war einfach nur schlecht. Die Ereignisse jagten durch ihre Gedanken und sie fragte sich pausenlos, was hier überhaupt normal war. Als sie noch lange, nachdem auch ihre Freundinnen ins Bett gegangen waren, wach gelegen hatte, glitt sie schließlich in einen unruhigen Schlaf, in dem sie von Feuer, der Schlangenfrau und Herrn Malan träumte.

In der Nacht wachte sie mehrere Male auf, weil ihre Kette mit dem Namen Ignis heiß wurde und wie ein Feuer auf ihrem Hals brannte. Aber immer, wenn sie dann schlaftrunken ihre Hand auf den Anhänger legte, wurde dieser wieder kalt.

Am Morgen erwachte Nina wegen Jana, die ihren Namen rief. Schlaftrunken setzte sich das Mädchen auf und sah die anderen auf Mias Bett zusammensitzen und sich unterhalten. Schnell stand Nina auf, kletterte die Leiter zu dem Hochbett ihrer Freundin hinauf und setzte sich dazu.

„Merkwürdige Ereignisse …“, stellte Maria gerade fest.

„Ah, Nina.“ Pia lächelte ihr zu. „Weißt du, was da gestern los war?“

Als das Mädchen den Kopf schüttelte, fuhr Pia fort: „Nun, es schien irgendwie um dich zu gehen.“

„Ja“, sagte Jana, „genau!“

„Etwas ist mit dir! Und was war das eigentlich mit dem Feuer? Wir sind gestern nicht mehr dazu gekommen, dich danach zu fragen.“ Mia sah Nina prüfend an, doch die winkte ab.

„Da ist nichts. Alles Zufall“, sagte sie und sprach damit die Hoffnung aus, die tief in ihrem Herzen schlummerte. Mit dieser Schlangenfrau und womöglich noch schrecklicheren Kreaturen wollte sie nichts zu tun haben. „Ich habe Hunger. Bestimmt hat der Speisesaal schon geöffnet“, wechselte sie geschickt das Thema. „Lasst uns frühstücken gehen.“

Die anderen stimmten ihr zu, und so zogen sie sich Shorts und T-Shirts an und gingen ins Haupthaus. Dort stand das Buffet bereit. Sie holten sich Brötchen, Butter, Marmelade, Schinken und Käse und setzten sich an einen Sechsertisch, möglichst weit weg von Herrn Pikk und Frau Barinkson, die ganz in der Ecke an einem Vierertisch saßen und auf den leeren Teller neben sich starrten, den sie anscheinend für ihren Kollegen mit gedeckt hatten.

„Sie sehen so aus“, flüsterte Jana, nachdem sie die beiden eine Weile beobachtet hatte, mit vollem Mund, „als ob sie auf Herrn Malan warten würden!“

„Dass er weg ist, ist nicht witzig“, zischte Mia.

„Das war kein Scherz oder so was“, sagte Jana beleidigt.

„Hmpf“, machte Mia, die im Gegensatz zu Jana nicht mit vollem Mund sprach und deshalb nur einen Laut von sich geben konnte.

„Was haben wir heute für ein Datum?“, fragte Pia, die einem Streit der beiden aus dem Weg gehen wollte.

„Den neunten Juni“, antwortete Maria, die gerade den letzten Bissen ihres Brötchens in den Mund schob. „Da fällt mir ein, kommt mal mit! Nein, Nina, du bleibst hier. Wir müssen etwas wegen deines Geburtstags am Elften besprechen, also komm bitte nicht in unser Zimmer, ja?“

Nina nickte und sah zu, wie Jana mürrisch ihre Arme mit Brötchen und Schinken belud und ihren Freundinnen eilig aus dem Speisesaal folgte. „Ich war noch nicht fertig“, hörte Nina sie rufen, bevor die Tür des Speisesaals ins Schloss fiel.

Doch allein mochte Nina nichts mehr essen, und so räumte sie ihren Teller und die ihrer Freundinnen weg und setzte sich draußen unter die Eiche. Plötzlich nahm sie eine Bewegung hinter dem Bungalow ihrer Klasse wahr.

Sie kam leise hoch, duckte sich und schlich hinter das Haus. Und was sie dort sah, ließ sie ungläubig blinzeln. „Tobias, was zum Teufel machst du denn hier?“ Erst ihre Katze, dann ihr Bruder. Was – verdammt noch mal – ging hier vor!? Nina hätte es nicht gewundert, wenn jetzt auch noch ihre Eltern auftauchen würden.

„Toto muss A-a“, krähte der kleine Junge und zupfte an seiner Windel.

„Oh nein, Tobias, bitte nicht!“, stöhnte das Mädchen. „Komm mit, wir gehen jetzt zu Frau Barinkson, dann wechsle ich dir die Windeln und danach fährst du nach Hause zu Mama und Papa, ja?“

Tobias nickte.

„Wie bist du eigentlich hergekommen?“

„Gefogen.“

„Ja, ja, sicher, geflogen. Toller Scherz.“ Aber eigentlich musste Nina zugeben, dass Tobias’ Geschichte nach den letzten Ereignissen gar nicht mal so unvorstellbar klang. Sie nahm ihren Bruder auf den Arm und trug ihn zu Frau Barinkson.

Die schnappte nach Luft.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, erkundigte sich das Mädchen vorsorglich.

„Nein, aber Herr Malan sagte etwas in der Art, dass, wenn dein Bruder hier auftaucht, irgendeine Reise beginnt.“

Nina runzelte die Stirn. „Welche Reise?“

„Das hat er nicht gesagt, nur dass du dich dann aufmachen musst, um irgendetwas zu retten.“

„Aha“, sagte Nina gedehnt und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie absurd das alles klang. „Wissen Sie, was das bedeutet?“, fragte sie, doch Frau Barinkson schüttelte nur den Kopf.

„Ich hoffe, er kann dir darauf eine Antwort geben, wenn er wieder da ist“, sagte sie.

„Toto A-a“, sagte Tobias jetzt fast weinerlich.

„Ja, komm. Wissen Sie zufällig, ob es hier Windeln gibt?“, fragte Nina ihre Lehrerin.

„Ich glaube, im Badezimmer in der untersten Schublade welche gesehen zu haben.“

„Danke!“, rief Nina und ließ sich von Tobias wegziehen. Sie nahm ihn auf den Arm und trug ihn zum Badezimmer, weil das schneller ging, und da sie gelernt hatte, wie man die Windeln wechselte, ging es ihr zügig von der Hand.

Zehn Minuten später saß sie zusammen mit ihrem Bruder unter der Eiche. Er spielte Hund und krabbelte auf allen Vieren aufgeregt um den Baum herum, während Nina über die merkwürdigen Dinge nachdachte, die sie auf dieser Klassenfahrt bisher erlebt hatte: ein Gespräch zwischen einer Frau namens Blyn und Herrn Malan, zwei Frauen und ein Mann, die sie umbringen wollten, eine Kette, die sich nicht abnehmen ließ. Nicht zu vergessen Schneewittchen, ein Stück Papier, auf dem Herr Malan ihr mitteilte, dass die Kette Ignis hieß, ein Zettel mit dem Zeichen der Sphinxen, was aber vielleicht auch zu den merkwürdigen Dingen rund um Schneewittchen gehörte, eine Schlangenfrau, die sich in Frau Barinkson verwandeln konnte und sich genauso wie Herr Malan in Luft aufgelöst hatte, eine rätselhafte Botschaft von Herrn Malan an Frau Barinkson und zu guter Letzt ihr Bruder, der einfach so aufgetaucht war. Sie hatte noch nie etwas wirklich Ungewöhnliches erlebt und diese Klassenfahrt schien den Rahmen alles Denkbaren zu sprengen. Herr Malan musste damit zu tun haben. Irgendwie hing ihr Lieblingslehrer in dieser Sache mit drin, dachte sie.

Da rief Tobias: „Da, der Mann! Er ist mit Toto gefogen!“

Ninas Kopf schoss herum. Auf der Wiese, etwa zehn Meter von ihr entfernt, stand Herr Malan in der frühen Mittagssonne und lächelte sie an.

„Herr Malan, da sind Sie ja!“, begrüßte ihn Nina und rannte, gefolgt von ihrem Bruder, auf ihn zu. „Ich habe jetzt sehr, sehr, sehr, sehr viele Fragen an Sie!“

„Nicht jetzt, Nina“, beschwichtige Herr Malan seine Schülerin und hob abwehrend die Hände. „Komm morgen früh um zehn in das Zimmer, an dessen Tür du gelauscht hast.“

„Woher wissen Sie …?“, fragte Nina, doch der Lehrer lächelte nur milde, drehte sich um und ging.

„He, lassen Sie mich hier nicht so stehen! Ich habe Fragen an Sie, verstanden?“ Wutschnaubend lief das Mädchen Herrn Malan hinterher, doch der hatte sich schon wieder in Luft aufgelöst. „Er ist ein Magier“, durchfuhr es Nina. „Er und die Schlangenfrau sind Magier!“

„Nein, is er nich“, widersprach Tobias. Anscheinend hatte das Mädchen in seinem Erstaunen laut gesprochen.

„Was nicht?“, fragte Nina.

„Kein Mackir“, sagte Tobias und lächelte. „Zu Toto er sag, sei ein Slinx.“

„Sehr lustig“, fauchte Nina. „Das ist kein Scherz, okay? Hier stimmt irgendetwas überhaupt nicht! Außerdem gehörst du nach Hause.“

„Ja, nach Ause“, pflichtete Tobias ihr bei und klatschte in seine Patschhändchen. „Ja, ab nach Ause, Ina.“

„Heute wird das nichts mehr. Bis morgen wirst du wohl hierbleiben müssen“, entschied Nina. „Am besten, wir rufen zu Hause an.“ Doch zunächst einmal lehnte sie sich gegen die Eiche und starrte in den wolkenlosen Himmel.

„Anufen?“, fragte Tobias.

„Hm“, brummte Nina. „Gleich.“ Doch irgendwann – sie spürte es und konnte doch nichts dagegen tun – glitt sie in die Welt der Träume.

Mia weckte sie wutschnaubend und verkündete, dass die Jungen Pias Fotoapparat geklaut hätten.

„Och Mensch! Kann man nicht mal in Ruhe schlafen?“, gähnte Nina und rappelte sich auf. Doch die Eiche war nicht gerade der perfekte Ort zum Schlafen gewesen, denn ihr Rücken schmerzte.

„Tobias schläft im Zimmer“, rief Mia, die schon vorgerannt war. „Wir haben ihn dort hingebracht. Ist doch okay, oder?“

„Klar. – Wer hat ihn geklaut?“, wollte Nina wissen und rannte Mia hinterher. „Also nicht Tobias, den Fotoapparat meine ich.“

„Alle zehn Jungen. Sie haben uns abgelenkt!“

Stöhnend lief Nina hinter ihrer Freundin her, quer über das gesamte Gelände der Jugendherberge und hinein in den Wald.

„Wo sind sie?“ Jana schaute sich suchend um.

Alle Mädchen hatten sich an einer Weggabelung eingefunden. „Ich habe keine – ah!“, kreischte Pia, denn einer der Jungen hatte sich von hinten an sie herangeschlichen und war ihr in den Nacken gesprungen. Jetzt lagen sie beide im Schlamm und lieferten sich eine Schlacht, bei der sie nach ein paar Sekunden an Erdferkel erinnerten.

„Gebt meine Kamera her, sofort!“, rief Pia und spuckte Schlamm auf den Boden.

„Wir helfen dir!“ Die Mädchen kamen hinzu, nur leider auch die Jungen, und die waren in der Überzahl. Nach etwa fünfzehn Minuten rückten die Jungen endlich den Apparat heraus und behaupteten, sie hätten ihn sich nur ansehen wollen.

Zurück in ihrem Zimmer stürzten die Mädchen nacheinander unter die Dusche. Danach schlichen sie ins Zimmer der Jungen, dessen Tür, wie Tobias, der inzwischen wieder wach war, netterweise für sie herausgefunden hatte, nicht verschlossen war, und klauten den Jungen alle Schuhe, die sie finden konnten.

„Oh, die stinken!“ Jana hielt sich die Nase zu, während sie zwei Paar Turnschuhe hin und her wedelte. „Wo verstecken wir sie?“, fragte sie mit zugeklemmter Nase, was sich ziemlich witzig anhörte.

„Am besten bei uns, oder?“ Jana hielt Jonas’ Schuhe so weit es ging von sich weg und verließ vor den anderen das Zimmer der Jungen.

„Nee, am besten im Mädchenklo“, schlug Pia vor und ging voraus.

Nina verließ das Zimmer der Jungen als Letzte, stellte die Schuhe ab und schloss die Tür, bevor sie den anderen hinterherrannte. Sie versteckten die Schuhe sorgfältig in verschiedenen Kabinen der Mädchentoilette und gingen danach wieder in ihr Zimmer.

„Das war super.“ Mia zwinkerte mit den Augen, warf sich auf ihr Bett, kramte ihr Tagebuch aus dem Koffer und begann darin zu schreiben. Jana und Pia begannen eine Schachpartie und Maria erklärte, sie würde jetzt ihr Pferdebuch weiterlesen, was niemanden außer sie selbst interessierte.

Nina seufzte und stand eine Zeit lang unschlüssig im Raum. Dann entschwand sie im Badezimmer, um sich den restlichen Dreck abzuwaschen, der sich trotz Duschens hartnäckig in ihren Haaren festgesetzt hatte.

Eine halbe Stunde später saß die Klasse im Hauptgebäude und aß zu Mittag. Nina war etwas hibbelig, weil sie es nicht erwarten konnte, Herrn Malan am nächsten Tag endlich all ihre Fragen zu stellen. Was hatte er noch mal gesagt? Zehn Uhr morgens in dem Raum, vor dem sie gelauscht hatte? Woher wusste er das? Und was wollte er ihr wohl sagen?

„Wir unternehmen heute einen Ausflug auf eine weitere Insel, die ihr euch nach eurem Belieben anschauen könnt“, verkündete Frau Barinkson, als sich alle Schüler nach dem Essen um sie versammelt hatten. „Wir fahren wieder mit einer Fähre, aber vorher erst ein paar Kilometer mit dem Bus. Macht euch also fertig und kommt dann zum Parkplatz, dort werden wir nämlich schon erwartet.“

Nach vierzig Minuten langweiliger Busfahrt, die die Mädchen damit zubrachten, sich gegenseitig zu fotografieren, kamen sie endlich am Hafen an und mussten sich in eine lange Menschenschlange einreihen, wo sie auf die Fähre warteten. Tobias war nicht mitgekommen, der Leiter der Jugendherberge hatte sich freundlicherweise bereit erklärt, ihn mit in sein Büro zu nehmen und ein bisschen mit ihm zu spielen.

„Guckt mal, ich sehe die Fähre!“ Maria hüpfte hoch und holte ihren Fotoapparat aus dem Rucksack, um ein paar Fotos zu machen.

Das Einschiffen ging endlos langsam voran und Nina begnügte sich damit, mit Jana über ihre Sommerferienpläne zu sprechen.

„Wir fahren nach Italien“, sagte Jana, während sie sich Schokolade in den Mund schob. „Ganze drei Wochen! Meine Eltern wollen sich Museen anschauen – mh, die Schokolade ist wirklich lecker, Luftschokolade, musst du auch mal probieren! –, doch ich habe darauf keine Lust und bleibe lieber am Strand. Das gibt bestimmt wieder Streit.“

„Und wir“, Nina nickte und nahm ein Stück Schokolade, „fliegen nach Spanien. Meine Eltern haben Verständnis dafür, dass ich keine Lust habe, in den Ferien ins Museum zu gehen. Zum Glück. Und ich glaube, Tobias würde es auch nicht sonderlich gefallen.“ Sie kicherte.

Frau Barinkson gab dem Mann an der Kasse die vorab gebuchten Tickets und die gesamte Klasse durfte die Fähre betreten.

„Wenn die Fähre nachher anlegt, treffen wir uns draußen, dort, wo Herr Pikk und ich warten!“, rief Frau Barinkson. Dann zog der Mathelehrer sie weg.

„Wer als Erstes an Deck ist, bekommt eine Tüte Gummibärchen!“, rief Mia, und sie rannten alle los, die Treppe nach oben.

„Erster!“, keuchte Nina und nahm die versprochene Tüte entgegen. Sie setzten sich auf die Plastikbänke und schauten auf das Meer, das sich weit und schön vor ihnen ausbreitete.

Doch plötzlich …

„Nina!“

Das Mädchen, das ganz in Gedanken versunken war, schreckte hoch. Verständnislos schaute Nina die anderen an, die fassungslos auf sie zeigten.

„Du brennst regelrecht!“, sagte Maria kopfschüttelnd.

Nina saß an sich herunter – es stimmte. Aber das Feuer wurde schwächer und erlosch schließlich gänzlich.

„Was geht hier vor?“, kreischte Mia hysterisch. „Das geht doch alles nicht mit rechten Dingen zu! Ich halte das nicht mehr aus! Was hast du mit der Sache zu tun?!“ Sie fuchtelte mit ihren Armen vor Ninas Nase herum.

Auch die Mitschüler starrten gebannt auf das Mädchen.

„Ich weiß es doch nicht!“, brüllte Nina zurück. „Was kann ich denn dafür? Hier passieren unnormale Dinge, klar! Aber ich weiß genauso wenig wie du!“

Herr Malan, der gerade in der Nähe stand, ging dazwischen. „Das war bestimmt Einbildung“, erklärte er sachlich. „Sonnenstrahlen werden gebrochen und wirken dann so, als würden Gegenstände in der Nähe brennen, was sie aber nicht tun.“

Ninas Freundinnen schienen sich mit der Theorie zufriedenzugeben, vor allem weil sie von einem Lehrer stammte, dem sie wegen seines umfassenden Wissens nur zu gern glauben wollten. Aber all die merkwürdigen Ereignisse – nein, da stimmte etwas nicht. Das war zumindest Nina klar. Und dass Sonnenstrahlen, wenn sie gebrochen wurden, Gegenstände oder Menschen aussehen ließen, als würden sie brennen, davon hatte sie noch nie etwas gehört. Ihre Freundinnen redeten unbefangen weiter, während Nina schweigend auf das brodelnde Wasser unter dem Kiel der Fähre schaute.

Als die Fähre anlegte und die Klasse sich zusammengefunden hatte, marschierten sie auf eine quietschbunte und lustige Bahn zu. Darin war es proppenvoll und sie mussten sich auf ihren Stehplätzen gut festhalten, damit sie nicht umfielen, als die Bahn losfuhr. Doch die Fahrt dauerte nur etwa zehn Minuten, dann fuhren sie in den Hauptbahnhof ein.

Frau Barinkson verkündete: „Jeder kann jetzt für drei Stunden machen, was er möchte. Um halb fünf treffen wir uns wieder hier.“

„Kommt, ab zum Strand“, kam Pia Nina zuvor und sie rannten hinter einigen Pferdekutschen entlang Richtung Meer.

„Los!“, sagte Maria, und auch sie, Jana, Mia und Nina liefen los.

Nach etwa fünf Minuten kamen sie an einen sandigen Weg, der einen Hügel hinaufführte. Rechts und links des Sandweges befanden sich weitere Hügel, die mit Gras und Sträuchern bewachsen waren. In dieser für die Gegend so typischen Dünenlandschaft machte der Weg eine Kurve, und jetzt sahen sie das Meer. Staunend verharrten die Mädchen ein paar Sekunden, doch dann machten sie sich auf und gingen in Richtung der bunten Strandkörbe. Sie zogen sich in einem Strandkorb um und liefen dann an die Wasserkante, um zu schwimmen und Muscheln zu sammeln.

„Kalt!“, sagte Nina und nahm ihren Fuß aus dem Wasser.

„Es geht“, meinte Maria, die ihren Zeh ins Wasser hielt.

„Das ist doch voll warm!“, freute sich Jana, die Wasserratte, und sprang mit einem lauten Platsch in die Nordsee.

„Iiihh!“, kreischten Mia, Pia und Nina, als das Wasser auf sie spritzte.

„Na warte!“ Schon war Maria ebenfalls im Wasser und kraulte hinter Jana her.

Die übrigen drei Mädchen einigten sich darauf, trotz dieses heißen Tages nur Muscheln zu sammeln. Sie schlenderten zehn Minuten lang am Strand entlang, und als Jana und Maria wieder aus dem Wasser kamen, setzten sich alle fünf in die Strandkörbe und aßen das, was sie mitgenommen hatten. Ihre Vorräte bestanden aus aufgeweichter Schokolade, Gummibärchen, Kaugummis, Chips, Flips und – echt klasse! – einem Apfel. Die drei Stunden am Strand vergingen ziemlich schnell, und als sie nach der Rückfahrt mit Fähre und Bus wieder in der Jugendherberge angekommen waren, aßen sie zu Abend und verbrachten den Rest des Tages in ihrem Zimmer mit Kniffel, Monopoly und anderen Spielen, die sie von zuhause mitgebracht hatten.

Am nächsten Morgen war Nina zu aufgeregt, um bis zu ihrem Termin um zehn Uhr zu warten. Entweder dachte sie an Herrn Malan oder an ihren Geburtstag am nächsten Tag, und deshalb fragte sie Frau Barinkson, die sie beim Frühstück traf, ob ihr Lehrer überhaupt wieder aufgetaucht war. Doch die schüttelte nur den Kopf und sagte etwas Ähnliches wie: er sei ein Narr und würde jedes Mal verschwinden.

Mia, Pia, Maria und Jana trafen sich wegen Ninas Geburtstag dieses Mal in der Stadt, während Nina um Punkt zehn Uhr an die Tür des Raumes anklopfte, an dem sie am ersten Abend gelauscht hatte. Doch niemand antwortete ihr, und so ging das verstimmte Mädchen wieder in sein Zimmer und kümmerte sich um Tobias, den der Herbergsvater gestern lachend wieder abgeliefert und dabei gemeint hatte, Nina hätte einen „ustigen“ Bruder.

Und was sollte sie jetzt tun? Tobias lag in Ninas Bett, hatte einen neuen Schnuller – diesen hatten sie gestern nach dem Strandbesuch auf der Insel gekauft – im Mund und schlief seit etwa dreißig Sekunden. Und sie selbst saß immer noch neben ihm und überlegte, wie sie ihn wieder nach Hause bekam. Als sie Frau Barinkson gefragt hatte, wie sie das bewerkstelligen solle, hatte die Lehrerin nur „Nicht jetzt!“ gemurmelt und sich wieder in ihr Buch über das Wattenmeer vertieft. Also war heute ein Tag zum Langweilen. Das Wetter war auch nicht gerade super. Dunkle Wolken waren aufgezogen und im Radio hatten sie Regen angekündigt. Hoffentlich wurde das Wetter bis morgen noch besser! Nina hatte wirklich keine Lust, ihren Geburtstag im Regen zu feiern!

Draußen kam ein kräftiger Wind auf und einige der tiefgrünen Blätter der Eiche wirbelten durch die Luft. Nina stand ein paar Minuten vor dem Fenster und starrte missmutig hinaus, dann legte sie sich auf ihr Bett und fing an zu lesen. Nach kurzer Zeit begann es zu donnern und zu blitzen, Regentropfen fielen erst langsam, dann immer schneller vom Himmel und klatschten lautstark gegen die Fensterscheibe. Schemenhaft konnte sie draußen vier Gestalten auf dem Weg zum Bungalow erkennen. Zehn Minuten später waren Mia, Pia, Maria und Jana geduscht, hatten ihre Geschenke versteckt und saßen auf ihren Betten.

Mia und Jana stritten sich mal wieder – sie hatten es erstaunlich lange ohne Streit ausgehalten, fand Nina –, dieses Mal ging es um das Mittagessen:

„Wir gehen nicht hin, wir haben noch genügend Süßigkeiten“, meinte Jana mit vollem Mund, weil sie dabei war, tonnenweise Chips in sich hineinzustopfen.

„Hörst du wohl auf!“ Wütend entriss Mia ihr die Chipstüte und warf sie von Janas Hochbett, auf dem sie beide saßen, nach unten, wo Nina sie auffing und auf den Tisch legte – nicht ohne selbst vorher noch einmal in die Tüte zu langen.

„Die sind für abends!“, fuhr Mia fort. „Außerdem gibt es gesunden Salat und Nudeln! Das tut dir gut, du wirst sehen!“

„Chill mal!“, sagte Jana genervt und verdrehte mit Blick auf Mia die Augen. „Wir sind hier auf Klassenfahrt, da kann man wohl mal etwas Süßes essen. Und es sind ja auch nur zwei …“

„Siehste! Ganze zwei Wochen! Wie soll bitte schön unser Vorrat reichen, wenn du alles allein wegfrisst? Und außerdem hast du richtig bemerkt, man kann ‚mal‘ etwas Süßes essen. Mal ist in Ordnung, doch du verwechselst anscheinend ‚mal‘ und ‚immer‘, kann das sein?“

Mia warf Jana ein Kissen an den Kopf. „Das ‚Fressen‘ nimmst du zurück, du dumme Salatkuh!“

„Die, die zum Mittagessen gehen wollen, die gehen, und die anderen lassen es sein“, unterbrach Pia sie genervt, hüpfte von ihrem Bett, schlüpfte in die Hausschuhe, zog sich die Regenjacke über und verließ, gefolgt von Nina, Mia und Maria, das Zimmer.

„Na schön“, brummte Jana, „na schön“, und folgte ihnen.

Am Nachmittag verzogen sich die Wolken und die Sonne kam heraus. Die Mädchen liehen sich beim Herbergsvater Tischtennisschläger und belagerten die Tischtennisplatte.

Den Rest des Abends verbrachten sie größtenteils gelangweilt. Sie waren alle nicht so richtig bei der Sache, egal ob sie Monopoly oder Tischtennis spielten, denn die Gedanken der Mädchen kreisten um die ungewöhnlichen Ereignisse der letzten Tage.

Schneewittchen war nicht wieder aufgetaucht, was Nina zwar Sorgen bereitete, aber da sie nichts daran ändern konnte, rannte sie nur die Gänge ein paar Mal suchend rauf und runter. Und Frau Barinkson um Hilfe bitten konnte sie auch nicht – die Lehrerin hatte sich wegen Schneewittchen schon genug aufgeregt.

Nina und die Sphinxwelt

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