Читать книгу Nina und die Sphinxwelt - Sarah Nicola Heidner - Страница 7
Die Sphinxen
Оглавление„Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen, Gesundheit und Freude, sei auch mit dabei“, sangen Mia, Pia, Jana und Maria im Chor. Tobias krähte: „Herzlichen Mückwunsch zum Burseltag, Ina!“
„Danke!“, lachte Nina, rollte sich aus dem Bett und nahm ihre Geschenke entgegen; ein gemaltes Bild von ihrem Bruder, zwei Bücher von Mia, eine Tasse mit ihrem Namen drauf von Pia, ein Computerspiel von Jana und zehn kostenlose Reitstunden – na klar – von Maria!
In diesem Moment hatte sie all die Sorgen der letzten Tage verdrängt und war rundum glücklich.
Die Mädchen zogen sich um, dann gingen sie mit Tobias im Schlepptau in Richtung Frühstücksraum. Als sie an dem Raum vorbeikamen, an dem Nina am ersten Abend gelauscht hatte, hörte sie Herrn Malans leise gemurmelte Stimme und drehte sich ruckartig um. Er war also wieder da?! Mit einem Mal war sie vollkommen ernst. „Ich komme gleich nach“, sagte sie zu ihren Freundinnen.
„Was willst du denn machen?“, fragte Jana misstrauisch.
„Ach, ich habe nur etwas im Zimmer vergessen“, sagte Nina betont gleichgültig.
„Sollen wir warten?“, fragte Pia.
„Nein, nein, nicht nötig“, lehnte sie ab und wartete, bis ihre Freundinnen zusammen mit Tobias um die Ecke verschwunden waren. Dann betrat Nina ohne zu klopfen den kleinen Raum mit einem runden Tisch und zehn Stühlen. Links saß Herr Malan und ihm gegenüber eine Frau mit blauen Augen und hellblonden Lockenhaaren, die ihr bis zur Schulter reichten. Sie erinnerte ein wenig an das Bild eines Engels, das Ninas Religionslehrerin einmal mitgebracht hatte, als sie über das Thema „Himmel“ und alles, was damit zu tun hatte, gesprochen hatten. Ob es wohl Blyn war?
„Ah, Nina. Wir haben dich schon erwartet! Setz dich doch“, sagte ihr Lieblingslehrer und klopfte auf den Stuhl, der rechts neben ihm stand.
Nina nahm Platz und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich höre.“
„Erst mal einem herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, fing die Frau an und reichte dem Mädchen die Hand.
„Genau, herzlichen Glückwunsch!“ Herr Malan kam dem Beispiel nach. „Nun, dein Geschenk bekommst du später. Du hattest Fragen an mich?“
„Ja“, sagte Nina. Sie beschloss, ihre Fragen offen zu stellen. „Ich habe Sie beide belauscht, Sie heißen doch Blyn, oder? Ich verstehe gar nichts mehr. So viel Merkwürdiges passiert und ich … ich weiß nicht mehr, was real ist und was nicht. Ich … verstehe das einfach nicht.“
Blyn und Herr Malan tauschten, wie Nina zu beobachten glaubte, einen unauffälligen Blick. Dann begann der Lehrer langsam zu erzählen: „Nun denn, es hat keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Also bringen wir es hinter uns: Du bist eine Sphinx, Nina – nein, unterbrich mich bitte nicht. Also, Sphinxen sind Orakeltiere in Ägypten, wenigstens waren sie das früher, wie du vielleicht weißt. Nun, es gibt aber unter allen Sphinxen nur eine, die die Orakelfragen stellt beziehungsweise gestellt hat. Das ist die Muata. Aber Sphinxen sehen anders aus als das Bild, das von antiken Sphinxen überliefert wurde. Über die Jahrhunderte haben sie sich verändert und sehen den Menschen jetzt sehr ähnlich. Allerdings haben sie von ihrem halben Löwenkörper noch etwas behalten – sie können sich in Katzen verwandeln.“
Nina war völlig durcheinander und wollte gern etwas fragen. Doch schon sprach Blyn weiter. „Du musst in diese Sphinxwelt, denn du bist die Auserwählte. Den Sphinxen ist vor … hm … vielen Jahren etwas Wichtiges gestohlen worden, nämlich die goldene Figur der ersten Muata, die vor Millionen Jahren lebte. Sie ist sehr wertvoll für die Sphinxen. Du bist aber nicht nur eine Sphinx, sondern auch eine Elementatorin. Das bedeutet, dass du mit einem Element kämpfen kannst, und zwar mit dem Feuer. Die letzte Elementatorin – das heißt, es war ein Elementator – lebte vor achttausend Jahren. Und nun bist du auserwählt und musst zur Sonnenwende, am einundzwanzigsten Juni – denn nur zur Sonnenwende gelingt diese Reise –, im Land der Sphinxen sein, wo du lernen wirst, dein Element zu beherrschen, um dann loszuziehen und die Figur zu suchen. Du bist jetzt dreizehn und hast genau das nötige Alter erreicht.“
„Moment! Sie spinnen doch!“, sagte Nina mit zittriger Stimme und strich sich nervös die Haare aus der Stirn. Wenn sie nicht bereits gesessen hätte, wäre sie sicher umgefallen. „Ich gehe zufällig noch zur Schule!“
„Es gibt dort auch Schulen, Nina“, sagte Herr Malan.
„Sind m-meine Eltern a-auch Sphinxen?“, stammelte sie.
„Nein. Das ist immer so, Nina: Es vererbt sich durch ein Auswahlverfahren, das niemand erklären kann. Deine Eltern sind keine Sphinxen, das wüsstest du sonst schon. Nun, denn“, sagte Blyn und stand auf, „du solltest dich auf den Weg machen, Nina. Du hast nur noch … Jan?“
„Zehn Tage“, seufzte Herr Malan und verdrehte mit Blick auf das Mädchen kopfschüttelnd die Augen. „Immer noch ’ne Niete in Mathe!“
Nina lächelte nicht.
„Selbst wenn ich glauben sollte, dass es Sphinxen gibt, wie finde ich denn in das Land der Sphinxen?“, fragte sie zögerlich.
„Es ist ganz einfach“, erklärte Herr Malan, der jetzt ebenfalls aufgestanden war. „Du nimmst ein Zelt mit und einige andere Dinge, die du von mir bekommst. Dann verbringst du eine Zeit lang unter sternenklarem Himmel. Irgendwann wird sich dein Schutzengel zeigen. Es gibt über zehntausend Engel“, sagte der Lehrer.
Engel! Sphinxen! Nina schwirrte der Kopf. Sie lehnte sich an die Wand. „Ich will aufwachen“, wisperte sie beschwörend. „Aufwachen aus diesem Albtraum!“ Sie kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder, aber an dem Zimmer hatte sich nur Blyn verändert, die belustigt dreinsah und krampfhaft versuchte, nicht loszulachen. Auch Herr Malan sah amüsiert aus, konnte dies aber etwas besser verbergen.
„Ich gebe dir einen Rucksack, in dem alles Nötige drin sein wird. Auch wenn er dir zu leicht und zu klein für all die Sachen vorkommen mag, solltest du mir vertrauen. Ich werde dich dorthin geleiten, wo du deine erste Nacht verbringen wirst.“
„Und Tobias?“
„Ich kümmere mich um deinen Bruder“, versprach Blyn.
„Ich gehe nirgendwo hin“, murrte Nina und verschränkte die Arme. Sollte es wirklich Sphinxen geben? „Wer sind Sie überhaupt?“
„Eine Sphinx, was sonst?“, grinste Blyn und sprang von ihrem Stuhl auf. Im Sprung verwandelte sie sich, und als ihre Hände und Füße die Erde berührten, waren es schon die Pfoten einer Katze.
„Nein!“, rief Nina erschrocken. „Das ist unmöglich!“ Denn vor ihr, auf dem Boden, hockte – Schneewittchen!
Ein leises, glucksendes Geräusch kam vom Fußboden.
Lachte ihre Katze etwa gerade? „Schneewittchen war all die Zeit – ein Mensch?“, flüsterte Nina fassungslos und drückte sich die Hände gegen die Schläfen, um nicht zu hyperventilieren. Mit einem letzten, belustigten Maunzen hob die Katze die Pfote und verschwand. „Sie hat mich die ganze Zeit beobachtet. Aber wieso? Warum beschattet mich die – die Sphinxwelt?“, fragte Nina halb wütend, halb ungläubig.
„Du sagst es so, als wäre es etwas Schlechtes“, stellte Herr Malan beleidigt fest. „Wir haben dich nur beschützt, vor diesen zwei Frauen und dem Mann zum Beispiel. Dummerweise war Blyn zu dem Zeitpunkt gerade nicht in deiner Nähe, sonst hätte sie für dich gekämpft.“
„Das waren auch Sphinxen?“
„Was sonst?“, bestätigte der Lehrer, als wäre es das Normalste der Welt.
„Ich gehe nirgendwo hin“, betonte Nina noch einmal. „Meine Eltern … Meine Freunde … Ich werde nicht weggehen!“
„Mach dir um deine Eltern keine Sorgen. Ich hole kurz deinen Rucksack“, sagte Herr Malan und überging somit ihren Kommentar. Dann sprang auch er vom Stuhl, verwandelte sich in eine Katze und huschte leise nach draußen. Nina überlegte, ob es die richtige Entscheidung sei abzuhauen, aber das würde wahrscheinlich nichts bringen, weil Blyn und Herr Malan sie doch finden würden. Sie war zwar ängstlich, aber ein wenig Neugier hatte sich nun doch eingeschlichen. Ob sie sich wohl auch in eine Katze verwandeln konnte? Es bestand ja noch die Möglichkeit, dass alles ein großes Missverständnis war und die Sphinxen jemand ganz anderen als sie benötigten, um diese Figur zu retten. Dass sie gar keine Sphinx war, sondern ein normaler Mensch.
Nina klammerte sich an diesen Strohhalm wie ein Ertrinkender und schloss die Augen. Ich werde eine Katze, murmelte sie halbherzig. Plötzlich spürte sie den Boden. Feine Fasern eines teuren, orientalischen Teppichs! Sie öffnete die Augen. Tatsächlich, sie war eine Katze! So groß wie Schneewittchen, nur mit weißem Fell und ihren eigenen, braunen Augen. Sie sah sich suchend um. Wo waren ihre Klamotten? Nina drehte sich im Kreis und entdeckte sie auf dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Wie riesig der nun aussah! Und wie scharf sie alles erkennen konnte!
Die Tür ging auf und im nächsten Moment spürte Nina, dass sie wieder ein Mensch war und auf dem Boden lag. „Haben Sie mich erschreckt!“, rief sie Herrn Malan entgegen, der durch die Tür gekommen war.
Er hielt ihr einen winzigen blauen Rucksack hin.
„Ich gehe trotzdem nicht!“ Nina schüttelte entschieden den Kopf und rappelte sich auf. „Ich habe alles: meine Familie, meine Freunde, ich gehe zur Schule. Also nein!“
Traurig schüttelte Herr Malan den Kopf. „Du verstehst nicht“, sagte er leise. „Du hast keine Wahl, Nina. Die Entscheidung liegt nicht bei dir, so leid es mir tut.“
Herr Malan eilte voran. „Ich habe mich entschieden“, brüllte Nina immer noch, fand es aber klüger, ihrem Lehrer zu folgen. Wer weiß, vielleicht verwandelte er sich auch noch in einen Menschen mit ebenso schrecklichen Schlangenhaaren wie die falsche Frau Barinkson und griff sie an. „Ich bleibe hier! Ich habe nichts mit den Sphinxen am Hut. – Hören Sie mir überhaupt zu?!“
Aber ihr Lehrer schien sie tatsächlich voll und ganz zu ignorieren und brachte sie immer weiter. Sie durchquerten die Stadt und liefen schließlich an ein paar Wiesen vorbei. Er hatte ihr deutlich gemacht, dass er ihren Eltern und Freunden etwas vorlügen würde, wovon Nina selbstverständlich gar nichts hielt, aber was sollte sie tun?
Endlich hielt er an einer kleinen Wiese an.
„Ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin!“, rief Nina wütend. „Ich will jetzt sofort zurück! Zu meinen Eltern! Ich fahre zurück!“
„Du hast keine Wahl“, sagte Herr Malan noch einmal leise und drückte ihr sanft die Schulter. „Im Rucksack ist ein Zelt“, erklärte er dann. „Der Schutzengel wird zu dir sprechen, wenn er bereit ist. Möge die Muata bei dir sein.“ Er nickte ihr zu, verwandelte sich in eine Katze und war bald zwischen den hohen Tannen verschwunden, die die Wiese säumten.
Nina schaute ihm eine Zeit lang hinterher. Sie konnte sich nicht bewegen, sondern zitterte vor Angst und Wut. Wie konnte er es wagen, ihr alles zu nehmen? Wie konnte es die Sphinxwelt wagen? Ihre Freunde, ihre Familie, alles weg! Tränen rannen ihr über die Wangen und sie setzte sich auf den kühlen Boden, dessen Feuchte durch ihre Kleidung drang. Ihr Leben hatte sich in den letzten Tagen von einem normalen Teenieleben zu einem Albtraum verwandelt.
Nachdem sich Nina etwas beruhigt hatte, öffnete sie den Rucksack, schaute hinein und fand ein rotes Knäuel. Seufzend holte sie es heraus und entknotete es. Es war ein einfaches Zelt, das schnell aufgebaut war. Nach zwei Minuten saß Nina im Zelt, in einen Schlafsack gehüllt, den sie ebenfalls im Rucksack gefunden hatte. Eine Weile verharrte sie, schaute nach draußen, dachte an ihre Eltern und daran, dass sie zurückwollte. Sie fühlte sich elend. Ihr ganzes altes Leben, wie sie es kannte und auch liebte, war von einem Tag auf den anderen Vergangenheit.
Vor ihr ragten zwei riesige Felsen auf. Nina sah nur ihre Spitze, der Rest verbarg sich hinter dem Rand der Wiese und reichte bis ganz unten, wo ein kleiner Fluss in einer Schlucht seine Bahnen zog.
Sie fühlte sich allein gelassen und vergessen. Was wäre, wenn kein Schutzengel sie haben wollte? Das war ja echt ein super Geburtstag! Was brachte es ihr eigentlich, dass sie eine Sphinx war? – Ein gefährliches Leben, nichts weiter, sagte eine leise und fiese Stimme in ihrem Kopf.
Sie schaute wieder in den Rucksack und fand ein Geburtstagsgeschenk. Es entpuppte sich als eine kleine Schatulle mit einem Zettel darin, auf dem geschrieben stand: „Du kannst alles schaffen, denk daran!“ Na super, Herr Malan, dachte Nina wütend. Sie pfefferte die Schatulle in die Ecke des Zeltes und tastete nach ihrer Kette Ignis. Sie brannte heiß und glühend auf ihrer Haut. Wieso – verdammt noch mal – konnte sie dieses Ding nicht einfach ablegen?
Missmutig kroch sie aus dem Schlafsack, verließ sie das Zelt, setzte sich auf einen Felsen und ließ ihren Blick über die Schlucht wandern. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken zurückzugehen. Sie würde den idiotischen Sphinxen einen Strich durch die Rechnung machen! Doch wo sollte sie hin? Herr Malan erzählte Lügengeschichten über sie, und wenn sie dann wieder auftauchte, wusste sie nicht, was angeblich mit ihr geschehen war …
Sie drehte sich um und begutachtete ihr Zelt. Es war wirklich von einer sehr einfachen Machart. Ob es wohl einem Sturm standhalten würde? Seufzend ließ sie ihren Blick noch einmal über die Schlucht schweifen.
Dann hörte sie ein Geräusch. „Was machst du denn da?“, gluckste eine Stimme. „Wenn ich dich so ansehe, meine ich, deine Gedanken lesen zu können. Sie sagen: Spring ich oder spring ich nicht?“
Nina fuhr herum. Sie erkannte einen älteren Mann mit langem, silbernem Haar, der neben ihrem Zeltlager stand. „Was denken Sie sich eigentlich dabei, mich so zu erschrecken?“, fuhr sie ihn wütend an.
„Wenn du mich als Schutzengel nicht möchtest, dann sag es“, meinte der Mann lächelnd.
„Oh, äh …“ Verwirrt schüttelte Nina den Kopf. „Das meine ich nicht“, sagte sie schnell. „Wer sind Sie?“
„Ich heiße Unicus“, sagte der Mann mit dem silbernen Haar und lächelte leicht. „Aber nun zu dir, wie geht es dir?“
„Äh … gut, wieso?“ Misstrauisch schaute Nina ihn an.
Er winkte lächelnd ab. „Also, ich soll dir helfen … hm … also, du musst einfach meinen Namen sagen, wenn du in die Welt der Sphinxen gelangen möchtest. Die Tore öffnen sich aber erst um Mitternacht der Sonnenwende und schließen sich wieder bei dem ersten Sonnenstrahl. So ist es auch am einundzwanzigsten Dezember, der Wintersonnenwende. Nun, Nina“, Unicus räusperte sich, „wir müssen uns beeilen, denn zehn Tage, um bis zur Sphinxwelt zu kommen, sind wahrlich nicht viel.“
„Aber wieso können wir denn nicht, also ich weiß ja nicht, wo das ist, aber wie wäre es, wenn wir mit dem Flugzeug …“
„Wir?“ Unicus lachte. „Du willst ins Land der Sphinxen, nicht ich. Ich gebe dir nur den Hinweis, wo du hinmusst. Es ist an einem Ort, an dem früher die mächtigste Sphinx, die je gelebt hat, einen Teil ihrer Magie gespeichert hat. Sie lebte in Nordbayern, wenn sie nicht im Land der Sphinxen war, und hieß Elisabeth Salser.“
Er holte eine Karte aus der Tasche seiner langen, goldenen Jacke – die übrigens nicht sehr mit seinem silbernen Haar harmonierte – und rollte sie aus.
„Ist das – Pergament?“, fragte Nina und versuchte verzweifelt, nicht loszulachen.
Unicus sah sie stirnrunzelnd an. „Äh … ja“, sagte er ein wenig irritiert. „Die heutigen Schulen nutzen natürlich Papier.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung, „aber Pergament ist immer noch das bessere Papier.“
„Ah ja“, machte Nina verständnislos.
„Auf jeden Fall“, Unicus deutete auf die Karte, „musst du hier lang.“ Er deutete auf einen rot eingezeichneten Weg, der einige Kilometer lang zu sein schien, auf das Symbol eines Flugzeuges und schließlich auf einen großen, grünen Punkt. „Das ist Stonehenge. In England, wie du sicher weißt. Du musst daran denken: Es ist der einzige Weg in die Sphinxwelt!“
„In Ordnung. Das da ist eine Straße?“, fragte Nina und deutete auf einen gestrichelten Weg.
Unicus nickte.
„Dann kann ich vielleicht einen Bus nehmen … wenn es dort eine Haltestelle gibt“, überlege Nina.
Unicus räusperte sich. „Ich müsste dann weiter. Hast du noch irgendwelche Fragen?“
Nina musste nicht lange überlegen. „Was können Sphinxen eigentlich?“
„Sie können sich telepathisch verständigen, also per Gedankenübertragung. Und sie sind geübte Schwertkämpfer und beherrschen Schwerter, wie du das Feuer beherrschst. Du wirst Schwerter noch besser schmieden können als die anderen Sphinxen, denn die haben immer Probleme mit dem Feuer. Deine Schwerter werden gut werden. Nun denn, ab nach England. Auf zu Stonehenge, Nina!“ Unicus hob den Zeigefinger. „Ich bin immer bei dir!“ Die letzten beiden Worte klangen noch nach, als Unicus schon verschwunden war – er war einfach weg.
Sphinxen waren also Künstler der Waffen. „Ich hasse Krieg und will keine verdammte Sphinx sein!“, schrie Nina, um ihrer Wut Luft zu machen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, schalt sie sich selbst. Sie war nun mal eine Sphinx – und dazu noch die Auserwählte – und konnte daran nichts ändern.
Also packte sie das Zelt zusammen, stopfte das ganze Zeug in ihren Rucksack, setzte ihn auf und begann schweren Herzens den Berg hinabzusteigen, etwas, wozu sie nicht die geringste Lust verspürte. Deshalb achtete sie auch nicht auf die wunderschöne Umgebung, die Pflanzen und den Ausblick, der sich ihr bot, und wenn sie später jemand gefragt hätte, wie der Berg, auf dem sie gerade wanderte, ausgesehen hatte, hätte sie die Frage wahrscheinlich nicht beantworten können.
Es dauerte nicht lange, da war Nina schon im engen Tal angekommen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, wohin sie musste, geschweige denn, wo das nächste Dorf war! Und sie wusste auch nicht, was sie überhaupt erwartete. Nina biss sich auf die Lippe und blieb stehen. Vor sich sah sie nur einen flachen Hügel, der leicht aufwärts führte, und einen Weg durch die vielen grünen Wiesen und Gräser.
Auf einmal fiel ihr ein: Sie brauchte Geld! Hektisch wühlte sie in ihrem Rucksack und fand schließlich fünf Hundert-Euro-Scheine. Mensch, was ihre Freundin Jana für ein solches Abenteuer gegeben hätte! Der hätte so etwas Freude bereitet, während sie, Nina, noch nie der große Abenteurer gewesen war.
Nina nahm die Wasserflasche aus dem Rucksack – Herr Malan hatte wirklich an alles gedacht –, trank etwas und aß zum Schluss noch ein Brot mit Frischkäse. Dann ging sie ständig blinzelnd weiter, da – oh Wunder, ein wichtiges Utensil hatte Herr Malan doch vergessen! – sie keine Sonnenbrille dabeihatte. Sie folgte dem sich öffnenden Tal, das verlassen vor ihr lag.
Wieso tue ich das eigentlich?, fragte sie sich mehr als einmal.
Als der Sonnenuntergang nahte, ließ sich Nina erschöpft auf einen Stein fallen und schloss für einen Moment die Augen. Dann baute sie ihr Zelt auf, kramte den Schlafsack aus ihrem Rucksack und schlüpfte hinein. Einschlafen konnte sie jedoch nicht. Was hätte sie dafür gegeben, eine ihrer Freundinnen bei sich zu haben!
Sie erwachte am frühen Vormittag. Träge rollte sie sich auf die andere Seite, bis ihr einfiel, wo sie sich befand! Rasch sprang sie auf, krabbelte aus dem Zelt und blickte sich hektisch um. Alles schien ruhig. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und schulterte den Rucksack.
Um die Mittagszeit erreichte sie endlich eine Stadt. Sie nahm ein wenig Geld aus ihrem Rucksack und erkundigte sich nach einem Bus in Richtung des Flughafens, der auf der Karte eingezeichnet war.
Die Sonne brannte heiß auf die Haltestelle nieder, an der sie mit etwa dreißig anderen Männern und Frauen auf den Bus wartete. Als sie endlich eingestiegen war, ließ sie den Kopf an die Fensterscheibe sinken und schloss die Augen. Was für ein Chaos! Hätte sie nicht – wie jedes normale Mädchen im Alter von jetzt dreizehn Jahren – eine ganz normale Klassenfahrt erleben und ebenso normal weiter zur Schule gehen können? Nein, natürlich nicht. Sie musste eine mühselige Reise bewältigen, um dann vor Stonehenge zu stehen und dort – wahrscheinlich – festzustellen, dass dies alles nur mit einem einfachen Trick zu erklären war, dass jemand die Katzen dressiert hatte und es gar kein bescheuertes Land der Sphinxen gab.
Sie hatte mal eine Fernsehsendung gesehen, bei der so etwas passiert war. Misstrauisch sah sie sich nach Kameras um, konnte aber keine erkennen.
Nach einer Weile hielt der Bus und etwa zehn Personen stiegen ein. Ein dicker Mann ließ sich neben Nina auf den Sitz fallen und grinste sie an. „Hallo, ich bin Werner, Werner Schmitz. Du schaust ja merkwürdig aus der Wäsche. Geht’s dir nicht gut?“
Nein, ich finde es nur etwas merkwürdig, von einem wildfremden Mann angequatscht zu werden, hätte sie am liebsten geantwortet, stattdessen sagte sie vage: „Ach, da ist dies und das.“
„Dir geht’s nicht gut, fehlt dir der Mut? Oder ist was mit dir? Sag’s mir!“, reimte Werner.
„Sind Sie Dichter?“, fragte Nina mit einem leicht spöttischen Unterton.
„Du!“
„Was du?“
„Du sollst ‚du‘ zu mir sagen! Und außerdem bin ich tatsächlich Dichter.“
„Ah ja, was für eine Überraschung!“, bemerkte Nina verwundert und versuchte sich das Lachen zu verkneifen. „Aber kein sehr guter“, murmelte sie dann noch so leise, dass der dicke Mann sie auf keinen Fall verstehen konnte.
„Hast du was gesagt?“, erkundigte er sich sofort.
„Nein, nichts“, beteuerte Nina schnell.
„Ich habe sogar ein Buch mit Gedichten geschrieben!“
Nina hüstelte spöttisch. War dieser Mann etwa verrückt? Vorsichtshalber rückte Nina so weit es ging von Werner weg zum Fenster und presste ihren Rucksack an sich. Vielleicht war er ja auch eine Sphinx – die waren doch allesamt verrückt!
„Müsstest du nicht in der Schule sein?“
„Klassenfahrt“, murmelte Nina leise. „Ach, Klassenfahrt!“, wiederholte Werner und schien ein neues Thema gefunden zu haben. „Früher, ja, das war lustig. Wir haben den Mädchen immer Zahnpasta an die Türklinke geschmiert und sie haben dafür Seife in unserem Zimmer verteilt. Wir haben uns köstlich amüsiert! Ja, und abends haben wir dann alle zusammen eine Party gefeiert, aber die Lehrer haben uns erwischt und wir haben Ärger bekommen. Und doch war es lustig. Und im Bus haben wir Papierkügelchen mit Nachrichten durch die Reihen geworfen, weil der Busfahrer stinkig war und uns aufgefordert hat, still zu sein. Und am Ende mussten wir dann jeder einen Bericht über die gesamte Klassenfahrt schreiben, das war vielleicht nervig. Und dann gab es auch noch Noten dafür! Als Entschädigung hat die Lehrerin uns eine Überraschung versprochen. Aber du kannst dir gar nicht denken, was das für ein Reinfall war! Wir waren in einem stinklangweiligen Museum über die Römer und sind fast eingeschlafen vor Langeweile, als einer der Jungen als Mutprobe den Feueralarm auslöste und wir nach draußen mussten. Die Feuerwehr kam, aber als sich herausstellte, dass kein Feuer brannte, durften wir wieder rein. Unsere Lehrerin war so aufgewühlt, dass wir frühzeitig nach Hause konnten! – Ist etwas?“
Nina schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Wie konnte jemand so viel reden und nicht bemerken, dass er total nervte?
„Noch eine Stunde!“, brüllte der Busfahrer nach hinten.
„Siehst du, nur noch eine Stunde! Ich geh dann gleich zu mir nach Hause und werde weiter Gedichte schreiben. Der Sommer ist jetzt da, der Himmel ist schön klar, die Wolken sind aus Dunst, sehen aus wie Kunst.“
„Schön“, brummte Nina, um seinen Redefluss zu stoppen. „Ich schlafe jetzt.“ Sie schloss die Augen, aber Werner tippte ihr auf die Schulter und nickte Nina zu, die nun gezwungen war, ihn wieder anzuschauen. „Genauso wichtig wie …“
„Essen und Trinken.“ Sie verdrehte die Augen. „Das haben mir meine Eltern auch immer gesagt.“
„Ja, das kann nervig sein! Auch meine Eltern haben das immer gesagt. Und ich habe unter der Bettdecke gelesen, auch wenn das schlecht für die Augen war, also mach das nie, hörst du?“
Bist du mein Vater?, hätte Nina am liebsten gefragt, sie biss sich jedoch auf die Zunge und murmelte: „Nee.“
Doch Werner redete schon weiter. „Aber jetzt schreibt ihr abends doch nur noch SMS, oder? Das ist ja klar! Nur mit Smartphone beschäftigt, dem Fernseher, der Wii, dem Computer oder der PlayStation. Und keiner von euch denkt mehr an Bücher! Oder schaust du, wenn du etwas wissen willst, in der Bibliothek nach?“ Werner wartete ihre Antwort nicht ab und setzte seinen Redefluss fort: „Nein, natürlich nicht! Bücher sind viel zu umständlich, einmal bei Google was eingeben und abschreiben – fertig ist das Referat! Und die Schule wird immer unwichtiger! Dabei ist ein gutes Abitur für ein Studium und einen Beruf, der einem gefällt, sehr wichtig!“
„Ach nee“, sagte Nina ironisch. „Ich geh mal auf die Toilette!“ Sie drängte sich an Werner vorbei, stieg die drei Stufen hinunter und öffnete die kleine Tür zum WC. Sie trat ein, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich stöhnend dagegen. Wie anstrengend konnten Menschen sein! Am liebsten würde sie die ganze restliche Fahrzeit hierbleiben, weit weg von der Quasseltante oder eher dem Quasselonkel Werner Schmitz! Doch das ging natürlich nicht. Nach fünf Minuten kehrte sie notgedrungen wieder auf ihren Platz zurück, schloss die Augen und versuchte das Gerede des Mannes auszublenden. Sie schaffte es sogar einigermaßen und schnappte nur die Worte „Politiker“, „Schulden“, „Schule“ und „Mathematik“ auf, also wechselte Werner mal wieder zwischen Tausenden von Themen hin und her.
Endlich hielt der Bus und Nina sprang auf, drängelte sich an Werner vorbei, der „Tschüss, war schön, dich kennenzulernen – äh, wie heißt du überhaupt?“ rief, und sprang aus dem Bus.
Als Werner, der ebenfalls den Bus verlassen hatte, neben sie trat, murmelte sie: „Nina. – Tschau!“ und blickte sich um. Sie hatten auf ihrem Weg zum Flughafen am Ende der Stadt angehalten. Laut Karte führte sie auf ihrer Weiterreise ein breiter Feldweg in die richtige Richtung.
Eine plötzliche Stichflamme vor ihrer Nase ließ Nina hektisch mit der Hand wedeln. Sie versuchte das Feuer zu verscheuchen. Wenn das jemand sah? Die anderen Reisenden waren jedoch schon weitergegangen und hatten nichts bemerkt. Schon tanzte das Feuer ein paar Meter nach vorn und schien darauf zu warten, dass Nina ihm folgte. „Die Leute …“, knurrte Nina und verdeckte die Stichflamme schnell mit ihrer Hand.
So führte das Feuer sie den Feldweg zurück in Richtung Innenstadt, durch kleine Gässchen und verwinkelte Straßen. „Ich hoffe, du zeigst mir später auch den Weg zurück“, brummte das Mädchen missmutig. Sollte es doch alles wahr sein?
Plötzlich hielt das Feuer an. Sie standen vor einem ordinären Einkaufsladen, der Mode für junge Leute anbot. „Was soll ich da? Klamotten kaufen?“, spottete Nina. Und tatsächlich führte das Feuer Nina in das Geschäft. Kinder und Jugendliche liefen durch den Laden und zogen ihre Eltern hinter sich her, die sich geduldig der Warteschlange vor den Umkleidekabinen zugesellten.
Das Feuer formte einen Pfeil, der auf die Rolltreppe wies, und verschwand danach. Zittrig folgte Nina der angezeigten Richtung und legte die Hand auf das Rolltreppengeländer. Ihr war, als würde sie in einen Strudel gesogen werden, und plötzlich stand sie in einem kleinen, dreieckigen Raum mit dunkelgoldenen Wänden, einem silbernen Sessel und Tausenden von Regalen mit ausgefallener Kleidung. Es gab Strumpfhosen, die lila-neongelb gestreift waren und mehr aus Löchern als aus Stoff zu bestehen schienen, knallbunte T-Shirts mit Sphinxen darauf, die sich in Katzen und wieder zurück verwandelten, und viele andere merkwürdige Kleidungsstücke.
„Wow!“, staunte Nina. Sie griff sich ein schwarzes, schmal geschnittenes T-Shirt, auf dem eine vergoldete Sphinx abgedruckt war, die sich bewegte! Dann nahm sie noch eine schwarze Leggings mit goldenen, auf und ab tanzenden Punkten aus einem Regal. Außerdem gefiel ihr eine schneeweiße Jacke. Auf einem Tresen erschien wie von Zauberhand das Bild eines dicken Buches. „Was soll ich denn damit?“, fragte Nina verwundert. Da ihr niemand antwortete und sich auch das Feuer nicht zeigte, suchte sie den ganzen Laden nach diesem Buch ab, konnte es aber nirgendwo entdecken. In ihrem Rucksack wurde sie schließlich fündig. Sie nahm das Buch heraus und legte es auf den Tresen, doch es verschwand in derselben Sekunde.
Nina warf einen Blick auf die Rolltreppe. „Und das hat es jetzt gebracht?“, murmelte sie, legte sich die neuen Kleidungsstücke über den Arm und berührte wie schon zuvor das Rolltreppengeländer.