Читать книгу Die Magie von Pax - Sarah Nicola Heidner - Страница 8

Kapitel 2

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Ein paar Wochen später folgte ich Yu Weiß nach dem Frühstück quer durch das ganze Schülerhaus (so nannten sich die Gebäude, in denen Schüler nach dem Entdecken ihrer Magie unterrichtet wurden).

»Warum gehen wir nicht wieder in einen leeren Klassenraum?«, fragte ich.

»Das wirst du sehen«, antwortete er nur. »Jetzt musst du dich an das Versprechen erinnern, das du mir gegeben hast.«

Ich kannte das Schülerhaus der Rotkutten nicht so gut, wie man einen Ort, an dem man fast die gesamte Zeit seines Lebens verbracht hatte, eigentlich kennen müsste. Das lag aber vor allem daran, dass ich es vermieden hatte, mit anderen Leuten durch die Korridore zu gehen, oder auch nur von anderen gesehen zu werden. Tatsächlich fiel mir auf, als ich gerade darüber nachdachte, dass ich eigentlich die ganze Zeit entweder in den Klassenzimmern, in der Mensa oder aber in meinem Zimmer verbracht hatte.

Schließlich drückte Yu Weiß eine Tür auf, und ich fand mich in einem Raum wieder, den man nur als eindrucksvoll beschreiben kann.

Der Raum (viel eher eine Art Saal) war riesig. Die linke Seite bestand nur aus Fenstern und das morgendliche Sonnenlicht spiegelte sich auf der gegenüberliegenden Wand des Raumes, an der die Statue stand. Natürlich hatte ich im Unterricht von den Göttern der verschiedenen Kutten gehört, aber als Nichtmagier hatte mich es nicht sonderlich interessiert. Die Götter waren sowieso nicht auf meiner Seite. Aber dennoch konnte ich nicht anders, als die Statue des Rotkuttengottes zu bewundern. Sie reichte fast bis zur Decke, und die langen, kräftigen Beine standen auf einem runden Plateau. Der Gott (ich konnte mich daran erinnern, dass er Armet hieß) hielt in der Rechten Pfeil und Bogen, das Zeichen der Rotkutten. »Du darfst auch nicht von diesem Raum erzählen, Sofia«, sagte Yu Weiß und riss mich aus meinen Gedanken. Ich wandte den Blick von der Statue ab und nickte. Obwohl ich keine Ahnung hatte, warum ich ihm diese Versprechen geben musste, vertraute ich meinem Mentor. Ich hatte nur auf die beeindruckende Statue geachtet, aber der Raum war nicht vollkommen leer. In der Mitte waren Matten auf dem glatten Mamorboden ausgebreitet, und an der Wand hingen Waffen. Fasziniert trat ich näher. Ich hatte noch nie solche Waffen gesehen, da man normalerweise seine Magie nutzte, sollte man angegriffen werden. Das dachte ich jedenfalls.

Der Großteil der Waffen waren Pfeil und Bogen, aber es gab auch lange Metallstäbe, die Yu Weiß »Lanzen« nannte, »Dolche« und »Schwerter«.

Nachdem ich mir die Waffen angeschaut hatte, setzten Yu Weiß und ich uns auf die Matten in der Mitte des Raumes.

»Wenn du kämpfst«, sagte er eindringlich, »kämpfst du nicht mit Magie, wie du vielleicht denkst. Die meisten nehmen das an, aber das liegt daran, dass sie noch nie wirklich gekämpft haben. Wenn man in einem Kampf Magie einsetzt, ist man viel zu schnell erschöpft und wird vielleicht sogar ohnmächtig und das ist das Letzte, was man sich vor einem Feind erlauben kann. Deshalb gibt es diese Waffen, die ich dir gerade benannt habe.« Yu Weiß stand auf, ging zu der Wand mit den Waffen und nahm eine in die Hand.

»Dolche sind Stichwaffen, die zur Waffenart der Messer gehören«, erklärte Yu Weiß. »Siehst du hier die Klinge? Sie ist zweischneidig, und etwa vierzig Zentimeter lang. Das Griffstück besteht hier aus Holz, es gibt aber auch weit bessere Modelle aus Jade oder Elfenbein.«

Es klingelte, die Mittagspause hatte begonnen. »Warum …«, fragte ich, »warum erzählen Sie mir das alles? Ich werde nie kämpfen, sondern irgendwo in einem Haushalt putzen oder etwas in der Art.«

Yu Weiß lächelte mich verständnisvoll an. »Allgemeinwissen«, sagte er sanft, aber ich glaubte ihm kein bisschen. Waffen oder auch nur Kämpfen hatte ganz sicher nichts mit Allgemeinwissen zu tun und das lag nicht nur daran, dass die anderen Mentoren den Schülern das nicht beibrachten.

Beim Mittagessen war ich sehr still, selbst für meine Verhältnisse, und das fiel auch Bea auf. »Alles in Ordnung?«, fragte sie leise, als Luis für uns Nachtisch besorgte, aber ich schüttelte den Kopf.

»Nur viele Hausaufgaben«, log ich und verdrehte die Augen. Ich wollte Bea von der Stunde mit Yu Weiß erzählen, aber ich hatte auch ein Versprechen gegeben. Hin- und hergerissen überlegte ich, ob ich Bea davon erzählen sollte und hatte mich gerade dafür entschieden, als Luis mit einem abwertenden Blick auf mich zwei Puddingschalen brachte und sie vor seinen und Beas Teller stellte. Bea sah mich entschuldigend an.

»Ich hab sowieso keinen Hunger, danke der Nachfrage«, versetzte ich und stand auf. An diesem Abend gingen Bea und Luis zusammen in die Stadt und ich legte mich auf mein Bett und versuchte die Lektüre über Pilze und Kräuter zu lesen, die Yu Weiß mir gegeben hatte. Aber immer wieder drifteten meine Gedanken ab, zu der Stunde mit Yu Weiß und den Fakten über Dolche. Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Yu Weiß war niemand, der etwas ohne Grund machte. Und dass er mir Waffentraining gab, beunruhigte mich zutiefst. Vielleicht, überlegte ich, machte er das aber auch nur, weil ich keine Magie zu Verfügung hatte. Ich musste mich ja irgendwie verteidigen können. Allerdings – wovor sollte ich mich als Putzfrau verteidigen, etwa vor Putzlappen?

Ich konnte nicht einschlafen, und setzte mich deshalb an das Fenster. Draußen war nur der Mond zu sehen und er beleuchtete den gepflasterten Innenhof in einem sanften Licht. In diesem Moment sah ich einen Schatten, nur wenige Meter vom Haus entfernt, auf dem Boden kauern. Ich hätte ihn nicht gesehen, hätte der Mond nicht so hell geschienen. Vorsichtig rutschte ich vom Fensterbrett und schob meine Hand, ohne den Blick von der Gestalt zu lassen, zentimeterweise über die Wand, bis meine Finger den Lichtschalter ertasteten. Dunkelheit fiel über das Zimmer, sobald ich das Licht ausgeschaltet hatte. Da die Gestalt mich jetzt auch nicht mehr sehen konnte, sollte sie nach oben schauen, kletterte ich wieder auf das Fensterbrett. Ich konnte mir nicht vorstellen, was jemand vor dem Schülerhaus der Rotkutten wollte. Vielleicht vor einem der Blaukutten – wenn jemand von einer Blaukutte Goldstücke erpressen oder teure Bücher klauen wollte. Aber hier? Ich wusste nicht, was ich machen sollte, deshalb blieb ich einfach sitzen und beobachtete die Gestalt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann erhob sich die Gestalt, trat ein paar Schritte zurück und verschmolz mit der Dunkelheit. Mir lief ein Schauer über den Rücken, ohne dass ich genau sagen konnte, weshalb. Wahrscheinlich gab es eine natürliche Erklärung dafür, dass jemand in der Dunkelheit dort unten hockte, als ob er auf jemanden warten würde, nur um ihm gleich an die Kehle zu springen. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, welche.

Ich war noch wach, als Bea die Tür zu unserem Zimmer leise öffnete und im Bad verschwand. Mit geschlossenen Augen lag ich da und lauschte dem unregelmäßigen Rauschen unseres Wasserhahns. Immer wieder musste ich an den merkwürdigen Schatten unter meinem Fenster denken, und es war weit nach Mitternacht, als ich endlich einschlief.

Das Wochenende verbrachten wir wie immer; am Samstagmorgen lagen Bea und ich bis Mittag im Bett und aßen dann in der Mensa »Frühstück«. Danach zeigte Bea mir, wie sie Gegenstände verschob und wir gingen in die Stadt. Wir achteten sorgfältig darauf, nur in der Gegend der Rotkutten zu bleiben, wofür ich Bea dankbar war. Ich konnte diese riesigen Villen der Blaukutten einfach nicht ertragen, genauso wenig wie die blauen Funken Magie, die immer durch ihre Straßen zu fliegen schienen. Nachdem Bea sich neue Kleidung gekauft hatte, zog sie mich in ein Geschäft für Kräutertränke und Elixiere. Als wir durch die kleine Tür traten, klingelte eine Glocke und mir wehten die verschiedensten Düfte entgegen. Es war dunkel im Laden, und nur ein paar im Raum verteilt stehende Kerzen erzeugten ein Dämmerlicht. Überall standen Kessel und Töpfe herum, in denen wer weiß was blubberte. Bea grinste: Sie liebte diese Läden über alles. Ehrlich gesagt konnte ich mir gut vorstellen, dass Mischer ein guter Beruf für sie wäre.

Während sie mit der Mischerin im Laden fachsimpelte, (»Fünf Jahre alte Froschschenkel aus dem Sumpfteich! Eine Schande, dass er eingegangen ist. Aber wie viel kostet denn dieses Weißbuschkraut?«) drifteten meine Gedanken zu Yu Weiß’ merkwürdigem Unterricht und der Gestalt unter meinem Fenster ab.

Irgendwann (eine gefühlte Ewigkeit später!) zupfte Bea an meinem Ärmel und zog mich aus dem Laden in das gleißende Sonnenlicht, an ihrem Arm baumelten mindestens zehn Tüten, gefüllt mit kleinen Fläschchen und verpackten Kräutern.

Am Sonntag holte Yu Weiß mich schon kurz nach dem Frühstück ab. Wir gingen wieder in den Trainingsraum, wo er mir dieses Mal alles über Knauf, Parierstange, Klinge und Fehlschärfe erklärte. Ich hatte, als wir bei der Fehlschärfe angekommen waren, schon wieder alles über den Knauf vergessen.

»Ich möchte, dass du bald einmal kämpfen übst«, sagte mein Mentor am Ende der Stunde nebenbei.

»Moment! Was soll ich machen?!« Ich hoffte, mich verhört zu haben.

»Kämpfen üben«, wiederholte Yu Weiß ruhig. »Natürlich nicht mit mir«, er gluckste leise, »dafür bin ich ein bisschen alt. Morgen wirst du jemanden kennenlernen, der mir dafür geeignet scheint. Nach dem Mittagessen baue ich hier eine Zielscheibe auf, damit du mit Pfeil und Bogen schießen kannst«, erklärte er und hängte seelenruhig das Schwert, an dem er mir die Begriffe erklärt hatte, wieder zurück an die Wand.

Ich stolperte aus dem Raum und rannte den Weg zur Mensa zurück. Okay, es war an der Zeit, mein Versprechen zu brechen. Ich musste unbedingt mit jemanden darüber reden! Beim Mittagessen wich Luis Bea aber leider nicht von der Seite, und danach kam Mentorin Quandri, um Bea schon vor Ende der Pause wieder abzuholen. Luis verdrückte sich danach schnell, ohne auch nur ein Wort mit mir gewechselt zu haben. (Woran das lag, kann man sich denken.)

Auf jeden Fall schlenderte ich nach dem Ende der Pause gerade in Richtung des riesigen Raumes mit der Statue von Armet, als mir Isabell und ihre Freunde über den Weg liefen. Also noch beschissener konnte der Tag eigentlich nicht werden.

»Na, Freaki? Bist du auf der Suche nach deiner verschwundenen Magie oder was treibt dich hier her?« Isabell strich sich mit den Fingern durch die lange, braune Mähne.

Ich schüttelte den Kopf. »Lass mich einfach durch«, sagte ich bestimmt, aber sie und ihre drei Mitläuferinnen versperrten mir den Weg.

»Du gehörst wirklich nicht auf diese Schule«, sagte eine von Isabells Freundinnen, Lindsay, abfällig und lehnte sich demonstrativ cool an die Wand. Ich verdrehte die Augen, obwohl mir jedes ihrer Worte wie ein Messer ins Herz schnitt. Keine Ahnung, warum es mich nach all den Jahren immer noch so traf.

Nach weiterem abfälligen Gekicher und Spötteleien ließen sie mich endlich durch und ich rannte die Strecke bis zum Trainingraum – zu spät kam ich natürlich trotzdem. Aber Yu Weiß saß ganz entspannt auf einer der Matten, Pfeil und Bogen lagen in seinen ruhigen Händen und er schien zu meditieren. Langsam trat ich näher und er öffnete die Augen.

»Ah, Sofia. Wie geht es dir?«

Ich versuchte, meinem Gesicht einen neutralen Ausdruck zu geben und murmelte etwas Unverständliches.

Mein Mentor runzelte die Stirn, winkte mich aber heran, um mir den Pfeil und Bogen zu zeigen, die er in den Händen hielt. Der Bogen sah schlicht aus, war aus Eichenholz gemacht und eigentlich nicht wirklich besonders. Ich nahm ihn auf Yu Weiß´ Kopfnicken hin in die Hand und maß die Entfernung zu der runden Zielscheibe, die er an die Wand gehängt hatte, mit den Augen.

»Das sind mindestens zwanzig Meter«, empörte ich mich. »Ich habe das noch nie in meinem Leben gemacht.«

»Gerade deshalb sind es ja nur zwanzig Meter«, versetzte Yu Weiß und bedeutete mir mit einer Handbewegung, es einfach einmal auszuprobieren. Ich seufzte und kam zu dem Schluss, dass Yu Weiß wirklich verrückt war (nicht, dass ich das nicht schon vorher geahnt hatte).

Ich spannte den Bogen (was sich übrings ziemlich anstrengend war – morgen würde ich Muskelkater in den Armen haben) und ließ den Pfeil los. Er schoss direkt auf die Zielscheibe zu und blieb in einem der äußersten Kreise stecken.

Yu Weiß nickte zufrieden. »Noch mal.«

Ich verbrachte den gesamten Rest der Stunde, den Pfeil abzuschießen (und wieder zur Zielscheibe zu rennen, ihn zu holen, und zurückzulaufen). Als es klingelte, hängte mein Mentor Pfeil und Bogen wieder an die Wand.

»Sei morgen bitte ausgeruht«, sagte er zum Abschied.

Kaum hatte ich mich auf mein Bett gefläzt und eine Packung Kekse aus meiner Schultasche herausgezogen, (die ich aus der Mensa stibitzt hatte) als Bea in unser Zimmer stürmte. Ich wollte ihr eigentlich das ganze Du-Darfst-Nichts-Erzählen-Weil-Ich-Dich-Im-Kämpfen-Ausbilde und der schwarzen Gestalt unter unserem meinem Fenster erzählen, aber ich kam nicht dazu. Denn gerade hatte ich den Mund aufgemacht, (obwohl ich überhaupt keine Ahnung hatte, wo ich eigentlich anfangen sollte) als Bea wütend fauchte: »Quandri kann mich mal, ernsthaft! Fünf Bücher über Heilkunst! Wozu brauche ich denn das? Rotkutten können doch sowieso keine Ärzte oder Heiler werden, nur Helfer von diesen, und mich würde Mischer viel mehr interessieren, aber Quandri hört ja nicht auf mich.« Als sie mein nachdenkliches Gesicht sah, (schließlich wusste ich immer noch nicht, wie ich Bea am besten auf die ganze Geschichte ansprechen konnte) schaute sie mich zerknirscht an. »Sorry, Sofia. Ich weiß ja, dass du das alles nicht werden kannst.« Sofort schüttelte ich den Kopf. »Darum geht es nicht«, sagte ich schnell, »vielmehr …«

»Dann ist ja gut. Auf jeden Fall muss ich zusätzlich zu den Büchern auch noch Hibispilze im Wald suchen. Bis morgen! Hallo?! Was denkt die Frau, wie viel Freizeit ich habe?«

Ich nickte zustimmend.

»Na ja, ich mache mich auf den Weg zu den Hibispilzen, dann kann ich heute Abend noch mit dem ersten Buch anfangen«, Bea verdrehte die Augen. »Ich nehm deine Robe, ja? Meine ist in der Wäsche. Wir sehen uns beim Mittagessen?« Sie umarmte mich, schnappte sich meine Robe aus dem Schrank, drehte sich auf dem Absatz um und war schon aus dem Zimmer verschwunden, bevor ich auch nur »Tschüss« sagen konnte. Ich seufzte tief und nahm einen der Kekse aus der Dose. Nicht, dass ich genug Probleme damit hätte, dass ich keine Magie hatte. Nein, ich musste natürlich auch noch einen verrückten Mentor haben, der meinte, mich im Kämpfen ausbilden zu müssen (ich hatte ehrlich gesagt immer noch keine Ahnung, warum) und zu allem Übel hockte auch noch eine schwarze Gestalt unter meinem Fenster. Also zusammengefasst konnte es in letzter Zeit überhaupt nicht besser laufen.

Als ich an die Gestalt denken musste, lief mir ein Schauer den Rücken herunter und ich stand auf, um aus zum Fenster zu schauen. Aber im Hof war alles leer. Vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet, überlegte ich, als ich mich wieder auf mein Bett fallen ließ. Mich hielten ja sowieso schon alle für geisteskrank, vielleicht war ich ja wirklich ein verrückter Freak ohne Magie, aber dafür mit Halluzinationen.

Am Abend war Bea noch immer nicht zurückgekehrt, und langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Ich ging nicht zum Abendessen (schließlich hatte ich ja meine Kekse), sondern setzte mich ans Fenster und schaute nach unten in den Hof, in der Hoffnung, Bea zu sehen. Aber es wurde immer später und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte gerade von der Fensterbank aufspringen und Yu Weiß oder irgendeinen anderen Lehrer suchen, als ich die dunkle Gestalt wieder sah, aber dieses Mal rannte sie quer durch den Hof, schaute nach oben, und direkt in mein Gesicht. Wegen der Dunkelheit konnte ich nicht wirklich erkennen, wer dort unten stand, aber ich sah die hektischen Bewegungen, die derjenige vollführte. Vorsichtig öffnete ich das Fenster einen Spalt breit.

»Wer bist du?«, fragte ich so laut, dass der dort unten es hören konnte.

»Mary, aber egal! Wer auch immer du bist, du musst unbedingt kommen! Im Wald – die Schwarzkutten«, die Gestalt keuchte. »Sie haben jemanden angegriffen – ein Mädchen im Wald. Bitte, schnell!« Die Stimme klang so verzweifelt, dass ich sofort das Fenster schloss und die Wendeltreppe nach unten flitzte.

In meinem Kopf hämmerte ein einziges Wort – Bea! Ich riss die Tür zum Hof geradezu auf und rannte die schwarz gekleidete Gestalt fast um. Diese entpuppte sich allerdings als ein Mädchen, etwa in meinem Alter, mit kurzen, schwarzen Haaren und tiefen, braunen Augen. Jetzt allerdings winkte es hektisch und lief schon vor in Richtung Wald. Ich folgte ihm mit ein bisschen Abstand, denn irgendetwas störte mich an dieser Sache. Ich hatte etwas Wichtiges übersehen, aber in meiner Panik kam ich nicht darauf, was es war. Allerdings konnte ich Bea – und es hörte sich auf jeden Fall so an, als wäre sie es – nicht im Stich lassen, und so rannte ich hinter dem Mädchen in den Wald. Zwischen den Bäumen war es so dunkel, dass ich meine eigene Hand fast nicht erkennen konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir gelaufen waren, aber irgendwann stoppte das Mädchen und deutete auf eine am Boden liegende Gestalt.

Das große, stämmige Mädchen mit den langen, blonden Haaren, war – da gab es keinen Zweifel – Bea. Sofort stürzte ich auf sie zu. Im Dunkeln konnte ich nicht viel sehen, aber dennoch konnte ich das Blut auf ihren Armen erahnen. »Bea!«, schrie ich panisch und rüttelte an ihren Schultern. »Komm schon, Bea! Du musst aufwachen!«

Das Mädchen hatte sich neben mich gekniet und spähte vorsichtig durch die Bäume. Die Schwarzkutten, fiel mir ein. Vielleicht waren sie noch in der Nähe!

»Was machen wir jetzt mit ihr?«, Mary schien hilflos zu sein. Aber ich hatte genauso wenig Ahnung.

»Wir müssen sie zurückbringen, zur Schule – sofort. Kannst du mir helfen?«, ich hob Beas Oberkörper an, und das Mädchen nahm schweigend ihre Beine. Zusammen stolperten wir so schnell es ging aus dem Wald heraus und über die Straße zu dem Schülerhaus. Erschöpft legten wir Bea im Hof auf den Boden, und ich rannte so schnell ich konnte nach drinnen, um Hilfe zu holen. In der Mensa saßen, wie ich schon gehofft hatte, noch ein paar Lehrer, Mentoren und wenige Schüler. Ich musste ziemlich übel aussehen, denn sofort standen ein paar Lehrer alarmiert auf.

Yu Weiß eilte vom Lehrertisch an meine Seite. »Alles in Ordnung, Sofia?«, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. »Draußen im Hof … Bea. Kommen Sie mit!«

Ohne weitere Fragen zu stellen, folgte mein Mentor mir mit ein paar weiteren Lehrern nach draußen, wo das Mädchen noch neben Bea kniete.

Erst jetzt konnte ich meine Freundin im Licht der Laternen hier draußen näher betrachten. Auf ihren Armen waren blutige Striemen, ihre rote Robe (also eigentlich war es ja meine) war von dunklem Blut verkrustet und an der Stirn klaffte ein großes Loch.

Eine Lehrerin schrie auf, der Rest beeilte sich, Bea nach drinnen zu tragen. Erledigt sackte ich neben dem Mädchen auf dem Boden zusammen. Yu Weiß schaute den Lehrern hinterher, wie sie Bea nach drinnen trugen, und wandte sich dann an das Mädchen. »Ich muss dir dafür danken, dass du eine unserer Schüler gerettet hast«, sagte er mit einer so kalten Stimme, dass ich schauderte, »aber ich frage mich dennoch, warum du deinen eigenen Stamm verrätst.«

Ich schaute das Mädchen an und dann erkannte ich, was mir vorhin in der Hektik nicht gleich eingefallen war: Das Mädchen trug schwarz – Eine schwarze Robe: Sie war eine Schwarzkutte!

Sofort rappelte ich mich auf und stellte mich neben Yu Weiß. Ich machte mir riesige Sorgen um Bea und wollte eigentlich schauen, wie es ihr ging, aber dennoch verblüffte mich die Tatsache, dass eine Schwarzkutte hier war, so sehr, dass ich nur wie angewurzelt stehen bleiben konnte.

»Ich bin Mary«, sagte das Mädchen leise und verschreckt. »Und außerdem bin ich keine Schwarzkutte. »Na ja, eigentlich schon, aber … Das ist kompliziert«, sagte Mary und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie senkte den Blick, und Yu Weiß schaute sie stirnrunzelnd an.

»Nun gut. Morgen wirst du uns davon erzählen«, sagte er. »Du wirst natürlich erst einmal bei uns unterkommen. Doch sei gewiss, dass wir dich beobachten. Falls du also zu den Schwarzkutten zurücklaufen wolltest, falls du ein Spion wärst, dann würden wir es verhindern können. Verstanden?«

Mary nickte leicht, dann klopfte Yu Weiß mir auf die Schulter. »Bring sie in dein Zimmer, Sofia. Ich möchte, dass heute jemand auf sie aufpasst«, sagte er leise und fügte lauter hinzu: »Morgen müssen wir darüber reden, aber jetzt geht ihr erst einmal duschen und schlafen.«

»Ich möchte zu Bea«, sagte ich, obwohl ich vor Kälte zitterte.

»Ich bin mir sicher, dass du bald wieder zu ihr kannst. Aber erst einmal braucht ihr beide Ruhe. Morgen sehen wir weiter.« Entschieden schob er mich in Richtung Tür und wartete, bis Mary hinter mir nach drinnen gegangen war, dann schloss er die Tür. Mary und ich schwiegen, während wir die Wendeltreppe nach oben stiegen (und die Blicke der verwirrten Schüler im Rücken spürten). Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Eine Schwarzkutte hatte meine beste Freundin gerettet und sollte bei mir im Zimmer schlafen! Allerdings, überlegte ich, war ich auch keine Rotkutte. Egal, ich konnte nichts über sie sagen, bevor ich nicht wusste, weshalb sie ihren Stamm verraten hatte.

»Du kannst als erstes ins Bad«, sagte ich, als wir im Zimmer angekommen waren und gab ihr ein paar Klamotten von mir zum Überziehen; eine rote Hose, ein ebenso farbiges T-Shirt und einen roten Pullover. Sie zuckte zwar zusammen, als sie die Farben sah, aber ich trug sie schließlich auch schon mein Leben lang, auch wenn ich keine Rotkutte war. Also streckte ich ihr die Sachen wortlos entgegen und ließ mich dann zitternd auf mein Bett fallen. Eigentlich hatte ich noch gar nicht wirklich realisiert, was passiert war. Ich saß die ganze Zeit wie paralysiert auf meinem Bett, (wenn mich jetzt jemand sah, war klar, dass ich ein totaler Freak war; nicht nur ohne Magie, sondern auch mit Halluzinationen und einem gestörten Gesichtsausdruck) während Mary duschte. Schließlich kam sie in der roten Kleidung aus dem Bad und setzte sich vorsichtig auf Beas Bett. Langsam ging ich selbst ins Bad. Das warme Wasser tat mir gut, es schien nicht nur den Dreck aus dem Wald und Beas Blut abzuwaschen, sondern auch das Bild, Bea dort liegen zu sehen. Ich fühlte mich tatsächlich viel besser, als ich mich mit einem neuen Schlafanzug auf mein Bett fallen ließ.

Mary lag schon in Beas Bett, die Bettdecke bis zur Nase hochgezogen. Ich schaute sie nachdenklich an. Mich interessierte die komplizierte Geschichte, die sie anscheinend zu erzählen hatte, aber Yu Weiß hatte sie nicht ohne Grund erst zum Schlafen geschickt und mich ebenso. Wir waren beide total erschöpft und deswegen beschloss ich, Mary ihren Schlaf zu lassen. Aber gerade als ich ins Bett krabbeln wollte, hörte ich ein Geräusch vor der Tür. Ich vergewisserte mich, dass Mary die Augen geschlossen hatte, lief leise zur Tür und sah erstaunt, dass Yu Weiß vor ihr saß.

»Ich werde aufpassen – vorsichtshalber. Mary ist zwar nur ein Mädchen, aber sie ist auch eine Schwarzkutte. Nur, damit du beruhigt schlafen kannst.«

Ich lächelte ihn dankbar an und schloss die Tür vorsichtig, damit Mary nichts mitbekam (diese schlief allerdings, ich hätte mir also keine Sorgen machen müssen).

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schoss mir sofort das Bild von Bea durch den Kopf, wie sie blutend auf dem Waldboden lag. Schnell sprang ich auf und warf mir meine Robe über, (die, die an der Seite schon aufgerissen war, die andere hatte Bea schließlich im Wald angehabt) dann warf ich einen abwägenden Blick auf die schlafende Mary. Ich wollte sie nicht alleine lassen, aber andererseits musste ich unbedingt sehen, ob es Bea wieder gut ging. Aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen, denn Yu Weiß saß immer noch vor der Zimmertür.

»Ich gehe zu Bea«, sagte ich leise. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Mary aufwacht?« Mein Mentor nickte verständnisvoll und beschrieb mir den Weg zu Beas Krankenraum. Draußen war es noch dunkel, so war ich allein, als ich durch die verlassenen Gänge hastete.

Das Krankenzimmer, in dem Bea lag, war klein und überfüllt mit Tuben und Fläschchen, die sich in Regalen und auf dem Boden stapelten, sodass das Bett irgendwie fehl in dem Raum wirkte. Auf dem Bett, neben Bea, lag meine zerrissene und blutverschmierte Robe. Vorsichtig, ohne über eine der Tuben zu stolpern, trat ich näher und sah an einem Stuhl neben dem Bett Quandri sitzen. Sie schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an, schien mich dann aber zu erkennen.

»Bist du nicht Beas Freundin, dieses Mädchen ohne Magie?«, fragte sie mit einem leicht abfälligen Ton in der Stimme. (Typisch! Nicht so auffällig diskreditieren wie die Schüler – vor allem Isabell – aber dennoch verächtlich: Das zum Thema unvoreingenommene Lehrer!) Ich nickte, ohne auf ihren Ton einzugehen und stellte mich neben das Krankenbett. Bea sah besser aus: Die Wunde am Kopf war anscheinend genäht worden und auf ihren zerkratzten Armen war eine grünlich schimmernde Flüssigkeit verrieben worden (wenn ich in Kräuterkunde aufgepasst hätte, wüsste ich jetzt, dass es sich um Aloe-Vera-Extrakte handelte).

»Wie geht es ihr?«, fragte ich leise.

Mentorin Quandri runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen sollte.«

Aufgebracht schaute ich sie an. (Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was über mich kam, so mit einer Lehrerin zu sprechen, aber Bea war schließlich meine beste Freundin und nicht ihre.) »Entschuldigen Sie, aber schließlich war ich es, die sie gefunden hat. Ich bin ihre beste Freundin und ich habe die ganze Nacht mit einer Schwarzkutte in meinem Zimmer verbracht. Also: Wie geht es ihr?!«

Mentorin Quandri sah mich missbilligend an, dann zuckte sie mit den Schultern.

»Sie wird wieder. Die nächsten Tage wird sie wohl keine Gegenstände fliegen lassen können – obwohl das dringend nötig wäre! Du solltest jetzt allerdings ins Bett gehen – du wirkst ziemlich … unausgeglichen.«

Ich übersah die letzte Bemerkung und verdrehte die Augen. Wie konnte eine Kutte nur so wenig Mitgefühl besitzen? In diesem Moment öffnete Bea vorsichtig ihr rechtes Auge und stöhnte laut auf. Sofort beugte ich mich über sie. »Bea! Wie geht es dir?«

»Kopfschmerzen«, sie stöhnte und schloss ihr Auge wieder. »Sofia, was ist passiert?«

»Wir wissen es nicht genau. Eine Schwarzkutte, ein Mädchen in unserem Alter namens Mary, hat mich zu dir gebracht. Du lagst im Wald«, ich schluckte. »Verletzt.«

»So weit war ich auch schon!«, murmelte Bea und ich lächelte erleichtert. Es schien ihr wirklich besser zu gehen. »Aber ehrlich gesagt weiß ich sonst nichts von dem Angriff. Irgendetwas war mit Pilzen … dann kamen plötzlichen Gestalten auf mich zu – und danach bin ich hier aufgewacht. Ach, Sofia, tut mir leid mit deiner Robe, ich besorge dir natürlich eine neue«, murmelte Bea.

»Mach dir darüber keine Sorgen.«

Mentorin Quandri stand auf. »So, das reicht jetzt, meine Damen. Bea soll schließlich bald wieder am Unterricht teilnehmen können.«

»Ich komme später noch mal wieder«, versprach ich Bea und warf Quandri einen entschuldigenden Blick für mein patziges Verhalten vorhin zu, den sie aber ignorierte. Dann machte ich mich auf den Weg zurück in mein Zimmer.

Ein paar Stunden später saßen Yu Weiß, Quandri, der stellvertretende Schulleiter Herr Must, Mary und ich in Yu Weiß’ Büro. Ich hatte mich sehr über die Einrichtung des Büros gewundert. Rotkutten hatten normalerweise nicht viel Geld, aber Yu Weiß schien über reichlich davon zu verfügen. Die Wand war bedeckt von einem überdimensionalen Bücherregal, in dem sich vergoldete Einzelexemplare stapelten. Sein Schreibtisch war perfekt aufgeräumt und er saß auf einem Zedernholzstuhl, während wir anderen alle auf den weißen Ledersesseln im Raum, die alle in Richtung Schreibtisch angeordnet waren, Platz genommen hatten.

Yu Weiß sah uns ernst an. »Was sich ereignet hat, darf unter keinen Umständen noch einmal vorfallen. Mary, es ist von absoluter Wichtigkeit, dass du uns alles, was du weißt, erzählst. Vor allem, warum die Schwarzkutten Bea angegriffen haben und aus welchem Grund du Hilfe geholt hast.«

Mary saß auf dem Sessel neben mir, und als sich alle zu ihr umwandten, rutschte sie ein bisschen tiefer hinein. Ihr kurzes Haar war zerstrubbelt und ihre Augen blickten stumpf, als sie schließlich (nach endlosem Schweigen und nach Quandris Räuspern) endlich anfing zu sprechen:

»Meiner Familie hat die Art, wie die restlichen Schwarzkutten leben, nie gefallen. Aber meine Großeltern haben uns zum Bleiben gezwungen – sie … sie wollten nicht, dass wir die Schwarzkuttentradition brechen. Doch nach dem Tod meines Großvaters vor drei Tagen haben wir den Stadtteil der Schwarzkutten verlassen«, ihre Stimme brach. »Auf jeden Fall hatten meine Eltern das alles langfristig geplant. Sie wollten bei Verwandten von ihnen unterkommen, meinem Onkel. Er ist eine Rotkutte.« Sie schaute nicht hoch, während sie sprach, und ihre Stimme klang merkwürdig emotionslos, als ob sie die Geschichte überhaupt nicht berühren würde. »Aber wir sind nicht weit gekommen. Wir waren gerade im Wald, als die Schwarzkutten uns gefunden haben. Verräter haben sie uns genannt und dann haben sie meine Eltern getötet. Ich konnte nichts machen. Ich stand hinter einem Busch versteckt und sah die Schwarzkutten, wie sie mich suchten. Ich bin … ich bin einfach losgerannt. Bis sie mich gesehen haben, hatte ich einen großen Vorsprung. Ich bin auf den Hof hier gelaufen und habe mich unter einem Fenster versteckt. Die Schwarzkutten haben das Gelände des Schülerhauses nicht betreten. Ich glaube, sie sind umgekehrt. Auf jeden Fall hatte ich vor, zu meinem Onkel zu gehen. Aber erst musste ich zu meinen Eltern – ich wollte mich von ihnen verabschieden. Ich war gerade im Wald, da sah ich dieses Mädchen dort liegen. Ich wollte einfach nicht … nicht, dass noch jemand wegen der Schwarzkutten stirbt, wenn ich es hätte verhindern können.«

Als sie geendet hatte, schauten sich alle sprachlos an. »Das mit dem Fenster kann ich bestätigen«, ich räusperte mich. »Ich habe sie gestern Abend dort hocken sehen.«

Yu Weiß sah mich enttäuscht an, was eigentlich noch schlimmer war, als wenn er wütend geworden wäre. »Es war grob fahrlässig, das nicht zu erzählen«, stellte er fest, richtete seine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf Mary.

»Wir müssen darüber beraten, was mit dir geschieht«, sagte Yu Weiß nüchtern. »Du kannst nicht zu deinem Onkel, weil Kinder und Jugendliche ab ihrem sechsten bis zum achtzehnten Lebensjahr in Schülerhäusern leben und lernen müssen – ob nun bei den Schwarz- oder den Rotkutten. Quandri, könnten Sie Mary vielleicht vor die Tür geleiten, während wir uns beraten?«

Quandri sah mich erbost an; wahrscheinlich fragte sie sich, weshalb ich bleiben durfte (ehrlich gesagt fragte ich mich das auch!). Sie bedeutete Mary mit einer unwirschen Handbewegung, ihr zu folgen, dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und hüllte uns in Schweigen. Es dauerte einige Zeit, bis der stellvertretende Schulleiter Herr Must seinen Vorgesetzten anblickte. »Ich weiß nicht, was Sie denken, Yu. Die Geschichte scheint sehr … verrückt zu sein. Zu verrückt, zu unglaublich, um wahr zu sein. Dennoch bezweifele ich, dass dieses Mädchen lügt. Ich würde ihr die Wahl lassen. Kehrt sie zurück zu ihrem Stamm, haben wir kein Problem. Will sie bei uns bleiben, müssen wir sie bewachen. Wir können nicht ausschließen, dass sie ein Spion ist und wir können uns nicht leisten, dass sie eine Horde Schwarzkutten auf uns hetzt.«

Yu Weiß nickte bedächtig und fuhr langsam mit der Hand über das Holz seines Schreibtisches, bevor er mich anblickte. »Was meinst du, Sofia?«

Ich starrte ihn perplex an. Wollte er jetzt wirklich von mir, einer magielosen, sechzehnjährigen Schülerin, eine Antwort für dieses Problem?!

»Ähm … ja. Also sie macht auf mich nicht den Eindruck einer Lügnerin und Herrn Musts Idee … finde ich gut«, stammelte ich.

Yu Weiß schaute uns zustimmend an. »Dann ist es beschlossen. Quandri, kommen Sie rein!«

Sofort öffnete sich die Tür, als ob Quandri nur darauf gewartet hätte, dass sie hereingerufen werden würde. Beas Mentorin setzte sich schnell, während sich Mary ziemlich erschöpft in einen der Ledersessel fallen ließ, kurz für einen Moment die Augen schloss und Yu Weiß dann ängstlich ansah.

»Wir haben beschlossen, dich selbst entscheiden zu lassen, in welches Schülerhaus du möchtest. Natürlich wäre das der Schwarzkutten für deine Fähigkeiten am besten geeignet, doch wir verwehren niemandem, der seinem Stamm den Rücken gekehrt hat – vor allem nicht dem Stamm der Schwarzkutten – die Hilfe«, sagte Yu Weiß langsam und schaute Mary abwartend an.

Ein Ausdruck unglaublicher Erleichterung breitete sich in ihrem Gesicht aus und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Schnell wischte sie mit dem Ärmel über ihr Gesicht. »Ich will – ehrlich gesagt würde ich lieber hier bleiben«, sagte sie mit zittriger Stimme.

Yu Weiß nickte. »Dann soll es so sein. Sei dir allerdings im Klarem darüber, dass deine Fähigkeiten hier nicht so leicht auszubilden sind, wie in einem Schülerhaus der Schwarzkutten. Mit Nekromantie hat niemand hier Erfahrungen, wir werden dich also nicht auf diesem Gebiet unterrichten. Außerdem wird dich immer jemand bewachen. Nimm es nicht persönlich, aber du bist immer noch eine Schwarzkutte. Nun denn – Sofia, wir sehen uns beim Nachmittagsunterricht. Mary, bleibst du bitte noch kurz hier? Wir müssen über deinen Mentor und über deinen Schlafraum sprechen.«

»Sie kann bei Bea und mir im Zimmer schlafen«, schlug ich vor, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht hatte. Alle Blicke richteten sich auf mich und Herr Must hob überrascht die Augenbrauen.

»Na ja, sie kennt ja nur mich und außerdem haben wir auch nicht so viele Zimmer frei«, sagte ich verlegen, aber Yu Weiß nickte zustimmend.

Ich verließ hinter Quandri den Raum (die mich übrigens aus zusammengekniffenen Augen musterte. Das zum Thema patziges-Verhaltenvergessen).

Am Nachmittag ging ich mit einem mulmigen Gefühl zu der Unterrichtsstunde. Ich wollte Bea eigentlich nicht in den Klauen (okay, das war jetzt vielleicht etwas übertrieben) Quandris lassen, aber dennoch wurde mir bewusst, dass ich das Kampftraining ernster nehmen sollte, als ich es am Anfang getan hatte.

Yu Weiß war nicht alleine, als ich den großen Raum mit der Statue des Armet betrat (was er ja auch angekündigt hatte). Neben ihm stand ein Junge, etwa in meinem Alter, mit schwarzen Haaren und dunklen Augen. Er war groß und muskulös, aber seine Gesichtszüge waren weich – ein typischer Mädchenschwarm. (Isabell wäre ihm wahrscheinlich sofort um den Hals geflogen.) In seinen Händen hielt er ein dickes Buch – kein gutes Zeichen! Mein Mentor lächelte mir zu, als ich näher trat. »Das ist Merl Kerner. Er wird dich im Kämpfen unterrichten.«

Ich nickte Merl einmal kurz zu und erkundigte mich dann bei Yu Weiß nach Mary.

»Im Moment passt Herr Must auf sie auf. Mach dir keine Sorgen, Sofia.«

Yu Weiß setzte sich unter die Armetstatue, während Merl näher trat. »Also, wir werden erst einmal mit Taekgyeon anfangen. Das ist eine Kampftechnik, bei der unter anderem Tritte, Schläge und Sprünge eingesetzt werden. Das wichtigste beim Taekgyeon ist eigentlich, dass du immer in Bewegung bist, niemals stehen bleibst und dich fließend bewegst. Auf diesem Bild hier«, er klappte das Buch, das er in der Händen gehalten hatte, auf und deutete auf zwei in einander verknäulte Blaukutten, »zeige ich dir erst einmal den sogenannten Gyeot Chigi, auch gewundener Tritt genannt.«

Wir verbrachten die gesamte Stunde mit Theorie. Merl zeigte mir verschiedene Stellungen auf Arbeitsblättern und in Büchern und bläute mir ein, sie bis zum nächsten Tag nicht zu vergessen. Wir sprachen nur über Kampftechniken, und insgeheim fragte ich mich, wo Merl so gut kämpfen gelernt hatte. Es war nicht üblich, dass eine Rotkutte kämpfen lernte.

Als ich den Trainingsraum schließlich wieder verließ, schwirrte mir der Kopf von all denn Informationen und Techniken.

Als ich in mein Zimmer kam, saß Mary auf einer Matratze, die zwischen Beas und mein Bett gelegt worden war (sodass wir nur über die Betten zu unseren Schränken kamen). Auf der Fensterbank saß Herr Must mit einem Stapel Arbeiten vor sich und begann eifrig mit seinem roten Korrigierstift zu schreiben. Ich warf ihm einen mürrischen Blick zu. (Also ehrlich, musste er denn unbedingt in unser Zimmer, um Mary zu bewachen? Ein bisschen Privatsphäre wäre eigentlich wirklich nicht schlecht, auch vor Lehrern!)

»Hi«, sagte ich demonstrativ nur zu Mary, kletterte über mein Bett und hängte meine (jetzt einzige, schließlich hatte Bea die andere so zugerichtet, dass sie nicht mehr tragbar war) rote Robe in den Schrank. Wieder warf ich einen grimmigen Blick auf Herrn Must. Musste er denn unbedingt im Zimmer sein und mich in Leggins und T-Shirt sehen?!

»Wie geht’s dir?«

»Ganz gut, danke«, sagte sie und fügte schüchtern hinzu: »Ich habe gehört, dass du keine Magie hast. Stimmt das?« Ich verdrehte die Augen (also so langsam war ich das Thema wirklich leid).

»Ja, das stimmt«, sagte ich etwas patziger als beabsichtigt und schob deshalb noch hinterher: »Aber ich komme hier ganz gut aus, auch wenn ich keine Rotkutte bin. Das wird dir genauso gehen, Mary.« Damit machte ich mich auf den Weg zu Bea. Einerseits wollte ich sie wirklich sehen, andererseits konnte man sich nicht im Zimmer entspannen, wenn Herr Must direkt neben einem hockte. Insbesondere nicht, wenn ich eigentlich vorhatte zu Duschen. Aber darauf, dass der stellvertretende Schulleiter meinen Gesang (na ja, also das Gekreische des Huhns in mir, wie Bea es immer nannte) hörte, konnte ich getrost verzichten.

Die Magie von Pax

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