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Kapitel 1 Der erste Kontakt

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„Ist ja schon gut, du hast ja recht, Oma“, erwidert Jan, als seine Großmutter ihm sagt, dass er mal so langsam erwachsen werden solle. Denn Jan gibt sich mit seinen 17 Jahren immer noch als Leser von diversen Comicheften und macht auch nicht wirklich vor Asterix und Obelix halt. Das Ganze wäre auch eigentlich gar nicht so schlimm, da es ja auch einzelne Comics zu kaufen gibt, die erst ab 16 Jahren empfohlen werden. Aber in einem Haushalt wie diesem? Es ist eine Familie des alten Schlages. Widerworte werden geahndet und was für ihn noch viel schlimmer ist, als Kind ertrug er jeden Sonntag den unfreiwilligen Kirchengang. Seine Oma singt als Mitglied des Kirchenchores christliche Arien, seine Tante ist auch eine überzeugte Kirchgängerin und der Rest der Verwandtschaft hat ebenfalls einen dieser eucharistischen Christenfische auf der Heckklappe des Autos kleben, die den nachfolgenden Verkehr durchweg martialisch angrinsen. Er wehrte sich immer gegen den wöchentlichen Gang zu dieser, so wie er sagt, unendlichen Wiederholung langweiliger Aneinanderreihungen von unerträglichem. Doch wie sehr er sich als kleines Kind auch dagegen wehrte, es war ein Muss und nicht diskutabel. Einst weinte er in der Kirche so sehr, dass man mit ihm dem sakralen Bauwerk entweichen musste. Diese Zeiten sind allerdings schon lange Historie, obwohl es doch immer mal wieder kleinere Querelen bezüglich dieser Thematik gibt.

Auch wenn er sich von seiner momentanen belesenen Beschäftigung nicht so recht trennen kann, ist es aber jetzt so weit, den Tag endsprechend zu beginnen.

„Du musst dich fertig machen, es ist schon zehn nach Sieben“, sagt Jans Oma, die mit ihrer Hornbrille und dem Dutt im grauen Haar ein typisches Klischeebild abgibt.

Es ist Donnerstagmorgen und die Schule beginnt gleich. An diesem Morgen war Jan ein wenig früher als sonst bei seiner Großmutter und hatte somit noch ein wenig Zeit zum Schmökern.

„Hast du denn deine Bütterkes eingepackt?“, ruft sie ihm mit plattem Dialekt hinterher, während er sich zur Haustüre aufmacht.

„Ja, alles dabei!“, erwidert er leicht genervt.

Jan geht vor der Schule immer noch bei seiner, in der Nachbarschaft lebenden Oma vorbei, die ihm dann die Verpflegung für den täglichen Schulzirkus bereitstellt. Und so verweilt er in dieser recht rustikal eingerichteten Wohnung immer noch einen Moment, bis er sich endlich entschließt loszugehen und daraufhin das Haus verlässt.

Jan wohnt mit seiner Familie in einer kleinen Stadt am unteren Niederrhein. Es ist eine Stadt, die abgesehen von ihren baulichen Reizen, momentan doch recht wenig für jüngere Leute zu bieten hat. Neben den üblichen Geschäften und Gourmettempeln, wie Dönerläden, Pizzerien und Frittenbuden, gibt es zudem nur eine überschaubare Anzahl von Gaumenfreuden in dieser, auf der einen Seite modern aussehen wollenden, aber auf der anderen Seite doch sehr verschlafenen Stadt.

Den Schulweg legt Jan jeden Morgen zu Fuß zurück. Kein Problem für ihn. Denn er wohnt nur etwa 800 Meter von der Bildungseinrichtung entfernt.

„Iss doch Easy“, sagt er.

Nachdem er das Haus seiner Oma verlassen hat, wandert er über den am Ende der Straße angrenzenden Kirchplatz zum Markt.

Er geht heute mal einen etwas anderen Weg als sonst und kommt an der alten Stadtmauer vorbei, die wie eine große Festung den Weg säumt. Moosbewachsen, die Ziegelsteine teilweise ausgebrochen, als wenn sie ihr Alter dadurch erst recht zum Ausdruck bringen will. Von dieser zirka fünf Meter breiten Mauer werfen die darauf stehenden alten Bäume einen morgendlichen Schatten auf ihn herab. Während er so auf dem Weg dahin schlendert, macht sich bei ihm auf einmal ein merkwürdiges Gefühl bemerkbar, welches er aber nicht so recht zuordnen, bzw. auch nicht wirklich beschreiben kann. Verwundert, aber nichts desto trotz geht er weiter, ohne sich näher darüber Gedanken zu machen, was es damit wohl auf sich hätte. Das letzte Stück seines Schulweges führt ihn über einen kleinen Verbindungssteg, der den Westring mit dem Schulhof des Schulzentrums verbindet. Dieser Westring ist eine kleine, vom Schulverkehr mal abgesehen, wenig befahrene Umgehungsstraße, die direkt zum Rheinufer der Kleinstadt führt.

Auf dem Schulhof angekommen, hört er auch schon den Gong, der den Schulbeginn ankündigt. Am heutigen Tag liegt unter anderem eine außerordentliche Deutschstunde an, in der alle Schüler der elften Klasse des städtischen Gymnasiums eine Bewerbung für ein Schulpraktikum am Computer erstellen sollen. Denn spätestens ab der elften Klasse sollte man sich schon mal mit dem Gedanken anfreunden, die Schule verlassen und sich der richtigen Arbeit widmen zu müssen. Alex, sein bester Freund, der sonst immer neben ihm sitzt, ist heute nicht anwesend. Er ist mal wieder krank. Das kommt bei ihm schon mal häufiger vor. Da auch noch zwei weitere Schüler fehlen, werden die Arbeitspartner von der Klassenlehrerin neu verteilt. Denn das Gymnasium hat momentan nicht genügend Rechner, um das alle Schüler der Klasse gleichzeitig schreiben könnten. So muss dann brüderlich geteilt werden.

„Computer sind mir Suspekt“, meint Jan, der mit einem weiteren Schulkollegen, Dirk, den Computerraum betritt.

Er ist zwar nicht der großartige Computerfachmann, aber eine Bewerbung zu schreiben, bekommt er wohl hin. Die Würfel sind gefallen und es sieht so aus, als müsste er sich heute einen Computer mit seiner Schulkollegin Simone teilen. Es ist zwar auf Grund wenig vorhandener Interessenspunkte zu einander nie zu Streitigkeiten zwischen den beiden gekommen, dennoch, sonderlich gemocht hat er sie bislang nicht. Auch in der Klassengemeinschaft ist sie derzeit nicht gerade eine besondere Beliebtheit. Sie war bisher immer etwas zurückhaltend und verblieb daher lieber diskret im Hintergrund. Zudem kommt, dass die Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht nun mal auch nicht auf Jans priorisierten Liste steht. Trotzdem denkt er sich, dass er mit ihr wohl irgendwie zurechtkommt.

„Dann fang mal an“, meint er zu ihr.

Simone legt los und schreibt und schreibt.

„Was schreibst du denn da so viel rein?“, fragt Jan nach einigen Minuten, ohne den Text auch nur ansatzweise mitgelesen zu haben.

„Ich möchte schließlich mit einer Bewerbung hinkommen und nicht hunderte verschicken müssen. Deshalb schreibe ich es ein wenig ausführlicher. Meine Interessen, wo ich mal beruflich hin möchte und so“, antwortet sie.

„Wer kommt denn derzeit mit nur einer Bewerbung hin? Mein Vater in seiner frühen Phase vielleicht, aber heutzutage? Und außerdem, weniger ist oft mehr! Du kennst doch den Spruch, oder?“

„Jan, ich vertraue so meinen Möglichkeiten", kontert sie.

„Was hast du denn für Möglichkeiten?“

„Warte mal ab!“

„Dann lass ich mich mal überraschen“, erwidert er mit skeptischer Miene.

„Jan, du solltest mal auf deine innere Stimme hören, die lenkt dein Leben und gibt dir gute Ratschläge.“

Jan denkt, Simone wolle ihn auf den Arm nehmen.

„Innere Stimme, so ein Quatsch“, antwortet er.

So wie er meint, haben Simones Eltern nämlich einen kleinen aber erkennbaren Stich, der sich auch auf sie übertragen haben muss. Sie tragen des Öfteren so merkwürdige Klamotten und machen auch so komische Dinge. Einmal sah er sie bei einer abendlichen Radtour am Rheinufer, wie sie ausschweifend an einem Lagerfeuer getanzt haben.

„Aber einen dezenten Splin hat ja jeder“, sind so die Gedanken, die ihm nun im Kopf kreisen.

Wie dem auch sei. Simone klickt nach gefühlten dreißig Minuten dann doch endlich auf den Druck-Button und Jan kann nun auch seine Bewerbung mit seinem Zweifingersuchsystem beginnen. Sie will ins Thema Germanistik eintauchen, doch Jan strebt eher eine praktisch orientierte Arbeit nach seiner Schulzeit an. Er möchte einen technischen Beruf erlernen. Aber so ganz hat er sich noch nicht entschieden. Dafür sei ja schließlich das Praktikum da, um sich erst einmal ein Bild von den Berufen machen zu können. Er entscheidet sich daher für ein Praktikum bei einem hiesigen Elektroinstallateur. Denn Zuhause hat er schon so manchen Kurzschluss produziert, allerdings eher unfreiwillig.

„Der Knall hört sich immer so genial an, so wie >Pock<. Dann kann ich‘s endlich auch beruflich und ganz legitim knallen lassen“, sagt er.

Simone schüttelt nur den Kopf über seine kontraproduktive Bemerkung, während sie nun ihm über die Schulter schaut. Für seine Verhältnisse rückt sie aber schon ein bisschen zu nah an ihn heran. So nah, dass er über die Formatierung des Briefkopfes erst einmal nachdenken muss. Bislang schüttelte er so einen Brief locker aus dem Ärmel.

Jan ist bei der Sache mit den Mädchen bisher noch nicht ganz so weit gekommen, denn er trifft sich viel lieber mit seinen Freunden zum nachmittäglichen Herumlungern. Obwohl auch diese altersbedingt so langsam anfangen, sich dem pubertären Treiben hinzugeben, während wieder andere der Phase bereits entronnen sind und sich erste Ausläufer der Adoleszenz bemerkbar machen. Die ganze Klasse besteht aus einem Haufen, der unterschiedlicher nicht sein kann. Ein >hormonelles Durcheinander< würde ein Analyst wohl feststellen. Als Spätzünder will sich Jan allerdings nicht bezeichnen, obwohl der eine oder andere schon ganz andere Erfahrungen gemacht hat.

Simone ist ein Mädchen, das sich schulisch so durchkämpft, allerdings doch sehr ausdrucksstark ist. Mit ihren langen gewellten Haaren sieht sie, wie Jan immer sagt, aus wie ein Mopp. Aber mit dem rötlichen Stich in Verbindung mit ihrer schlanken Figur, hat sie auf der anderen Seite für ihn doch das gewisse Etwas.

Ihm fällt nicht so recht ein, was er so alles in sein Anschreiben einbringen, oder wie er sich ausdrücken soll. Zumal ihm ja auch jemand ständig über die Schulter schaut, ohne die Aspekte der Privatsphäre zu berücksichtigen. Der Deutschunterricht bezüglich dieses Themas lief zwar schon, aber:

„Jungs in dem Alter albern doch nur rum und passen so oder so nicht auf“, sagte Tina letztens einmal.

Auch ein Mädchen aus seiner Klasse. Sie hatte vor kurzem ein extrem peinliches Erlebnis. Es geschah auf dem Schulhof. Auf dem Weg zum Unterricht wurde sie von Markus und Frank mit Himbeeren beschmissen. Eigentlich nicht so schlimm, halt ein jugendlicher Spaß soll man meinen. Nun ja, der Farbstoff ließ sich aber leider nicht kurzfristig wieder aus ihren hellen Klamotten heraus waschen. Und der Bereich, der mit dem roten Farbstoff befleckt wurde, war ein Bereich, den die Mädchen in ihrem Alter nicht so gerne Rot sehen. Es war ein prägendes Ereignis für sie. Zumal die halbe Schule das Geschehen mitbekam. Danach war es mit Jungs erst einmal Essig. Wird wohl auf Grund ihrer momentanen Zickigkeit auch noch eine ganze Weile dauern.

Frank und Markus sind ebenfalls Schüler aus Jans Klasse. Die beiden sind nicht gerade das, was man unter einfachen Charakteren verstehen würde. Streit ist ein Wort, welches die beiden auf Schritt und Tritt begleitet. Auch einen ausgewogenen Freundeskreis können sie nicht aufweisen.

Jan sitzt noch immer grübelnd vor dem Computer und versucht die richtigen Worte für das zu finden, was er alles in seine Bewerbung einbinden soll. Fast schon erstarrt schaut er auf den Monitor. Simone flüstert ihm zu:

„Hör doch mal auf deine innere Stimme.“

„Was hat denn meine innere Stimme damit zu tun? Die ist doch ein Teil von mir und ich gebe ihr vor, was sie sagen soll.“

„Das ist eben nicht so, hör einfach mal auf sie. Hast du noch nie eine spontane Idee gehabt, die tief aus deinem Inneren zu kommen schien?“

Jan kratzt sich nachdenklich am Kopf und muss ein wenig schmunzeln. Er erinnert sich in diesem Moment an die Begegnung mit ihren Eltern. Den Feuerregentanz, oder was das in seinen Augen war.

„Die sind doch alle verrückt“, denkt er so vor sich hin.

Aber er versucht es mal. Er hört in sich hinein, hält kurz inne und meint:

„Die Stimme will aber wohl nicht gehört werden. Die bleibt stumm!“

„Dann bist du wohl noch nicht so weit“, antwortet sie.

„Wie, ich bin noch nicht so weit? Fängst du nun auch schon so an wie deine Eltern, irgendwelche komischen Sachen zu machen?“

„Wie!? Komische Sachen!?“

„Ja! Die tanzen ums Feuer, du hörst irgendwelche Stimmen. Soll ich mir nun Sorgen machen?“

„Du machst dir Sorgen? Um mich?“, antwortet Simone, die überraschend schaut. „Ist es denn ein Problem für dich, die Welt ein wenig breiter zu sehen? Es gibt so viele Dinge auf dieser welchen, die selbst die klügsten Wissenschaftler nicht begründen können.“

„Ihr seid aber kein Teil irgendeiner Sekte, oder?“

„Nein, wie kommst du denn darauf. Sekten sind dafür da, Menschen auszubeuten. So wie die weltlichen Kirchen auch. Hinter allen dogmatischen Organisationen stehen Leute, die sich so richtig die Taschen füllen. Und seien wir mal ehrlich, wie viele Spenden kommen wirklich bei den Bedürftigen an? Hee?“

Jan schaut ein wenig verdutzt, als ihm Simone diese Argumente an den Kopf wirft.

„Simone, Jan, habt ihr ein Problem? Seid ihr schon fertig? Macht ihr da etwa ein Kaffeekränzchen?“, unterbricht Klassenlehrerin Frau Müller die beiden.

Einige aus der Klasse kichern neckisch.

„Bin gleich so weit“, erwidert Jan, der sich nichts anmerken lassend wieder dem Computermonitor zuwendet.

„Sei heute Mittag um drei Uhr am Pegelturm, dann erkläre ich dir alles“, haucht ihm Simone ins Ohr.

Jan bekommt eine Gänsehaut, als er den Hauch ihrer Stimme an seinem Ohr verspürt. Sie hat sich bisher noch nie so mit ihm unterhalten, was ihn jetzt doch etwas stutzig macht. Auch sich mit Mädchen nach der Schule alleine zu treffen, ist ihm ein wenig suspekt.

Der Gong ertönt nun zum zu schnell erreichten Schulschluss. Eben noch schnell die gerade fertiggestellte Bewerbung ausgedruckt und ab geht’s nach Hause. Alles stürmt jetzt unter Druck über die Treppenhäuser auf den Schulhof. Es wird gedrängelt und geschuppst. Im Erdgeschoß angekommen, wirft Jan noch einen kurzen Blick auf den Hofdienstplan von morgen. Doch er hat Glück. Morgen braucht er keine Müll- und Hofreinigungsaktion zu starten.

Nun schlendert er mit zügigem Gang vom Schulhof in Richtung Innenstadt. Die ganze Zeit denkt er dabei an die Unterhaltung mit Simone.

„Was will die mir überhaupt erzählen? Und warum hab ich mich bloß mit der komischen Simone verabredet?“, murmelt er und verspürt ein leichtes Kribbeln in der Magengegend. So viele Fragen, auf die er den ganzen Weg keine Antworten findet. Nach zwanzig Minuten erreicht er das Haus seiner Oma und betätigt die verschnörkelte Klingel. Kurz darauf öffnet sich die Türe.

„Hallo Jan, komm rein“, empfängt sie ihn.

Im Flur legt er seine Klamotten ab und geht in die Küche, wo bereits das Mittagessen auf ihn wartet. Am Mittagstisch kehrt immer ein wenig Ruhe ein, denn hierbei flimmert ständig der stimmungsbetäubende Fernseher. Abschlussklasse 2005, na ja. Verträumt lässt er sich die Fischstäbchen mit Spinat und Kartoffelpüree schmecken.

„Hast du heute eigentlich viele Hausaufgaben auf?“, fragt sie ihn kurz.

Jan, der verträumt am Tisch in seinem Essen herum pickt, reagiert zunächst gar nicht.

„Jan?“

„Was? Nein, heute mal nichts“, erwidert er desorientiert.

„Nun ja, das wäre bei dem tollen Wetter auch nicht so schön gewesen“, antwortet sie und wendet ihren Blick zurück zum Fernseher.

„Nicht wirklich.“

Nun hat die Konversation erneut ein jähes Ende gefunden.

Aufgeregt verlässt er kurze Zeit später ihr Haus. Nachdem er seine Schulutensilien in der Wohnung seiner Eltern verstaut hat, verlässt er diese nach nur wenigen Minuten auch wieder. Er geht die Straße entlang und biegt in einen kleinen Weg ein, der an den Rhein zum sogenannten Mühlenturm führt. Am Ende dieser Flächenversiegelung steigt Jan die abgetretenen Stufen, die vor langer Zeit in die Stadtmauer integriert wurden, hinunter zur Rheinpromenade. Er geht diese ein ganzes Stück entlang, bis er vor dem Pegelturm steht. Jan ist, wie zu erwarten war, ein wenig zu früh dran. So setzt er sich dort auf einen großen Lavastein, der als einer unter vielen direkt am Rheinufer liegt. Er wartet, schnippt kleine Steine ins Wasser und schaut den Schubschiffen zu, wie diese vollbeladen und schwerfällig an ihm vorbeifahren.

„Die kommt ja eh nicht. Die hat mich bestimmt verarscht und lacht sich irgendwo um die Ecke Schrott, wenn sie mich hier so sitzen sieht“, denkt er.

Dann steht er kurz auf und plötzlich schwappt eine große Welle des an ihm vorbeifahrenden Schubschiffes ans Ufer, die ihn direkt getroffen hätte. Jan blickt auf den nun völlig nassen Stein, auf dem er gerade noch saß.

„Ui, da hab ich ja noch mal richtig Glück gehabt!“

Er schaut hoch. Da sieht er Simone, die gerade über die Promenade in seine Richtung schreitet. Als sie in seine Reichweite kommt, meint sie:

„Na, hat dir deine innere Stimme gerade mal wieder geholfen?“

„Was? Nein, das war nur Glück. Man kann ja nicht immer Pech haben, oder? Du immer mit deiner inneren Stimme“, antwortet er trotzig.

„Na ja. Komm, gehen wir ein Stück?“, erwidert Simone, die heute viel offener wirkt als sonst. „Da ich schon längere Zeit das Gefühl habe, dass du jemand bist mit dem man reden kann, erkläre ich dir mal ein paar Dinge. Auch die Geschichte mit dem Lagerfeuer und so. Wir sind nicht anders wie viele meinen. Und schon gar nicht verrückt. Bist du getauft?“

„Ja, bin katholisch. Wieso?“

„Siehst du, ich nicht. Ich bin nicht getauft und glaube auch nicht an euren Gott. Vielmehr glauben wir an mehrere Götter.“

„Seid ihr Satanisten?“, haut Jan dazwischen.

„Nein, du Schlaumeier. Würde ich Satan huldigen, hätte ich doch nicht mehrere Götter. Wir sind Asatruar.“

„He? Asa was?“, fragt Jan verdutzt.

„Asatru. So nennt man das, wenn man nach dem alten nordischen Glauben lebt. Du kennst bestimmt einige Götter wie Odin, Thor, Frigga, Freya, wo übrigens der Freitag nach benannt ist. Wusstest du, dass der Name Freitag und das Essen von Fisch an dem Tag heidnischen Ursprungs ist? Der Fisch ist einigen Überlieferungen nach Freyas Totemtier und wird ihr zu Ehren freitags gegessen. Und was dazukommt ist, das die Zahl 13 zudem auch noch eine heidnische Glückszahl ist. Sie also hier einen hohen Stellenwert hat. Sie wurde daher unter anderem von den Kirchen zur Unglückszahl erklärt.“

„Ist ja ein Ding. Aber, … Ja Odin kennt man aus Filmen. Habe letztens mal den >13ten Krieger< gesehen. Den fand ich allerdings eher ein wenig übertrieben. Ihr seid also Heiden?“

„Ja genau, wobei das Wort Heide breit gefächert ist. Es gibt hier nicht nur die Asatruar. Was viele nicht wissen, es gibt auch Menschen, die dem alten ägyptischen, indianischen oder griechischen Glauben anhängen. Die Hexen gibt es auch noch. Allerdings haben die nicht viel mit Zaubern und so zu tun. Die halten zwar auch Rituale ab, wie zum Beispiel die Wicca, aber bei vielen von denen geht es hauptsächlich um die Kräuterkunde. Die nutzen halt die Kräuter im Garten, um heilende und schmerzlindernde Tees zu brauen. So kam wohl das Gespinst mit dem Hexenkessel auf. Ist allerdings eher ´ne Verallgemeinerung.“

„Aha. Und was macht man so als Asatru?“, fragt Jan.

„Wir leben so wie ihr Christen auch, nur nicht nach Dogmen. Bei uns ist alles mündlich überliefert und wesentlich älter. Wir verstehen uns als ein Teil der Natur. Und dein sogenannter Tanz ums Feuer ist eine Art Gottesdienst, so wie ihr sagen würdet. Es ist ein Treffen mit Gleichgesinnten, so etwas wie ein Stammtisch. Dabei wird den Göttern gedacht, mit ihnen in Kontakt getreten und die Bindung zu ihnen gestärkt. Wir sagen dazu Blót. So etwas hatten wir übrigens vor ein paar Wochen zur Mittsommernacht am Rhein.“

„Blót, aha. Ich habe es übrigens satt immer daran erinnert zu werden, dass ich in dieses Schema Kirche herein gedrückt worden bin. Hier herrscht der reine Zwang. Glaube dies und Glaube das, wenn du es nicht machst, dann kommst du in die Hölle. Und dir macht sowas Spaß? Das kann ich nicht so recht glauben.“

„Spaß würde ich nicht unbedingt dazu sagen, aber ich lebe sehr gut damit. Bei uns in der Familie gibt es keinen Zwang. Eure, oh entschuldige, die Kirche ist noch nicht so alt wie unser Glaube. Sie hat aber sehr viele Dinge daraus entnommen. Eine Art Engel gibt es auch bei uns. Nur heißen sie hier Feen und Elfen. Die sind aber nicht direkt zu vergleichen. Ostern ist nordisch und heißt bei uns Frühjahrstagundnachtgleiche, bei manchen auch Ostara. Weihnachten ist die Zeit Jul, auch Julfest oder Wintersonnenwende genannt. Dann feiert man den kommenden Frühling und die wieder länger werdenden Tage. Den Sieg über die Dunkelheit also. Der von den Christen übernommene Schutzengel gleicht der unseren Fylgja oder auch Folgerin, die heute angesprochene innere Stimme. Meine Eltern könnten das alles aber viel besser erklären. Aber nun weißt du, was an mir, mit anderen Augen gesehen meine ich, so anders ist. Nur der Glaube. Essen wir ein Eis?“

„Sicher.“

Die beiden kommen gerade an einer Eisdiele vorbei und gönnen sich nun erst einmal eines von dessen Verkaufsargumenten. An einem so warmen Sommertag wie heute, ist ein kühles süßes schon mal sinnvoll. Denn die Sonne brennt ihnen unermüdlich auf den Pelz. Jan ist immer noch sehr verunsichert. Denn die momentane Situation ist schon sehr ungewöhnlich für ihn. Da er aus einer konservativen Familie stammt und eher Mädchenfremd erzogen wurde, wusste er erst einmal gar nicht damit umzugehen. Dennoch taut er so langsam auf. Nach einer Weile setzen sie sich am Marktplatz auf eine Bank, die unter Bäumen an einer Pumpe steht und betrachten das momentane Treiben im Ort. Es ist Donnerstag und bereits viertel vor sechs. Die Glocken beginnen zu läuten, denn um 18 Uhr beginnt hier die Messe im katholischen Sakralbauwerk.

„Schau mal, die alten Leute auf der anderen Straßenseite, die gehen jetzt zur Kirche“, sagt Jan und muss dabei leicht schmunzeln.

„Möchtest du da auch hin?“, grinst ihn Simone dabei an.

„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, oder?“, meint er neckisch zurück. „Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe. Ich finde, so oder so sollte keiner dazu gezwungen werden. Kinder werden geradezu gewaltsam missioniert. Sie können noch kein Wort sagen, werden aber schon getauft. Was machst du eigentlich so den ganzen Tag? Man sieht dich so selten in der Stadt.“

„Ich bin viel unterwegs, fahre viel mit dem Rad. Bin auch mal ganz gerne alleine. Dann suche ich mir einen ruhigen Platz und spanne mal aus.“

Jan wusste bis Dato noch nicht, dass Simone eine derartige Sportskanone ist und wie er viel mit dem Fahrrad fährt.

Sie denkt kurz nach und meint weiter:

„Komm, ich zeige dir mal was.“

Voller Enthusiasmus steht sie auf, eher ein wenig hektisch.

„Och, Simone. Wir sitzen doch gerade erst.“

„Kannst dich auch gleich wieder hinsetzen, wenn wir da sind. Komm einfach mal mit!“

Jan steht ebenfalls auf und folgt ihr über den Marktplatz, der aber mehr einem Parkplatz gleicht. Autos neben Autos. Vorbei an der alten Stadtbücherei kommen die beiden über eine Seitenstraße wieder zur Rheinpromenade. Die Promenade eignet sich in dieser Stadt sehr gut um einen Spaziergang zu machen. Sie liegt direkt am Rhein und hier fahren keine lästigen Autos, also ein reiner Fußweg, der zudem noch schön gestaltet ist. Entlang des Weges erstreckt sich wieder die alte Stadtmauer, die teils noch aus dem 14. Jahrhundert stammt. Und mit ihren Katakomben ist sie zudem noch ein Touristenmagnet.

„Die Mauer wurde im Mittelalter als Bollwerk gegen die Spanier erbaut“, fügt Jan nebenbei an.

„Ja, ich weiß. Komm wir gehen runter zum Rhein!“, meint sie desinteressiert und zieht das Tempo noch ein wenig an.

„Sind wir schon da?“, ruft Jan amüsiert hinterher.

„Nein!“, antwortet sie knapp.

Zwischen Promenade und Rhein windet sich ein Grünstreifen, bevor man zu den Kribben kommt, die die Gewalt des Stromes ein wenig drosseln sollen. Ein Stückchen weiter, zwischen zwei der Kribben, liegt eine kleine Halbinsel. Wie eine große Zunge streckt sie sich in den Rhein. Von außen recht unspektakulär, da es von hier wie eine Sandbank mit Wildwuchs aussieht. Also keine Struktur zu erkennen. Allerdings, wenn man sich erst einmal durch das Dickicht gekämpft hat, macht sich ein Ort auf, welchen Jan hier nie vermutet hätte. Kleine Bäume wachsen da. In Blüte stehende Sträucher stehen dazwischen und durch einige Sandwellen windet sich ein kleiner Bach, der von einem Seitenarm des Rheins gespeist wird. Überall stehen kleine Grasinseln im Sand, aus denen immer mal wieder eine blumenartige Gewächsstruktur herausschaut. Um die Halbinsel herum wuchert eine gewaltige Wand von niederrheintypischem Weidengebüsch. Es sieht inmitten dessen aus, als hätte hier ein erstklassiger Gärtner seine Hände mit im Spiel gehabt. Und das alles auf Sand gebettet.

„Komm, leg dich mal hier in den Sand und höre einfach den Geräuschen zu“, fordert ihn Simone auf.

Mal abgesehen davon, dass Jan das alles immer noch ein wenig naiv findet, folgt er doch ihrer Aufforderung und legt sich mit in den Sand. Er sieht sich zwischen Bäumen und Sträuchern liegen und neben ihm der kleine Bach. Der Wind weht durch die Baumwipfel und erzeugt mit Hilfe der Sonne ein unbeschreibliches Lichtspiel. Es fahren Schiffe vorbei, die mit ihren schweren Dieselmotoren das typische Rheinflair erzeugen. Vögel zwitschern und im Hintergrund hört man leise Kinder tobend auf einem nicht weit entfernten Spielplatz lärmen. Auch wenn er es eigentlich nicht zugeben will:

„Das ist ja echt genial. Hier könnte ich den ganzen Tag liegen bleiben.“

„Ich auch“, fügt Simone hinzu, „An solchen Orten bin ich öfter und lade meine Energien wieder auf. Hier lässt sich auch einmalig für die Schule lernen. Hier hast du wenigstens deine Ruhe. Du siehst ja, wenn man nicht weiß wie es hier drinnen aussieht, geht man doch auch hier nicht rein, oder?“

Nach dieser Anmerkung muss Jan wieder an die Schule denken.

„Nächste Woche ist ja die Klassenfahrt. Hab ja eigentlich keine Lust auf Museumstour zu gehen. Detmold, da ist ja mal gar nichts los. Da gibt es doch nur Wald. Will nicht hoffen, dass es wieder so langweilig wird wie das letzte Mal. Weißt du noch auf dem Wolfsberg bei Kleve? Nachtwanderung und Konsorten. Das war ja nicht so erbauend.“

„Wolfsberg war schon OK. Ihr Jungs habt euch allerdings auch ordentlich daneben benommen. Bist du nicht damals mit Daniel aus dem Zimmer geflogen?“

„Ja, leider“, antwortet Jan. „Aber sag nicht, dass bei euch alles gesittet zuging. Ihr habt dort auch ziemlich herum gelärmt.“

„Nee, hast ja Recht. Aber was Detmold anbelangt, freue ich mich schon tierisch darauf. Denn für mich ist das so etwas wie ´ne Wallfahrt.“

„Wie, wie ´ne Wallfahrt?“, fragt Jan verdutzt.

„Ja, die Christen latschen nach Kevelaer. Wir Heiden haben andere Orte die wir aufsuchen. So genannte Kraftorte. Manche meinen, dass an solchen Orten die Götter besonders stark in Erscheinung treten. Einen solchen Ort werden wir nächste Woche besuchen.“

„Ach ja? Detmold?“

Jan muss erneut ein wenig schmunzeln.

„Nein, nicht Detmold. Die Externsteine. Dort treffen sich regelmäßig heidnische Gruppen zum Blót oder Sumbel und laden ihre Talismane auf. Es ist dort im Sommer aber auch ziemlich überlaufen. Für die einen sind es nur unwissende Besucher, für die anderen ist es die größte Christentraube der Welt. Die sind dort nämlich auch anzutreffen.“

Beide müssen lachen.

„Christentraube! Nicht schlecht. Was ist denn ein Sumbel?“

„Ihr würdet dazu Saufgelage sagen. Wir sagen dazu Umtrunk. Ein Meeting halt.“

Nach einer kurzen Pause meint Jan:

„Die Externsteine als heidnischer Wallfahrtsort. Das wird ja immer besser. Also wenn ich das alles zu Hause erzählen würde, dann würde dort kurz darauf ein Krisenstab tagen. Bei uns heißt es, Heiden seien Spinner. Also Leute, die nicht ganz richtig im Kopf sein können. Ich wurde selbst so mit diesem Gedankengut erzogen.“

„Denkst du das denn auch wirklich?“, erwidert Simone erschrocken.

„Nein! Definitiv nicht. Bin ja nicht engstirnig. Aber Zuhause wird alles ins lächerliche gezogen, was irgendwie unter die Kategorie Fantasy fällt. Hej“, bricht Jan ab.

„Was ist denn?“

„Hast du den Schmetterling gesehen? Der sah ja merkw…, äh, …ach nichts.“

Jan traut seinen Augen nicht.

„Ich glaube, hier fliegen heute echt komische Schmetterlinge durch die Gegend.“

„Du tust ja gerade so, als hättest du eine Elfe gesehen.“

Sie schaut ihn mit neckischer Miene an.

„Jetzt mach dich nur lustig über mich. Elfen gibt es nicht. Aber mal im Ernst, so ähnlich hat der ausgesehen.“

„Nur weil die Christen nicht dran glauben, soll es so etwas nicht geben? Du bist ja naiv, Jan. Wenn du meinst, dass das eine war, dann wird es wohl auch so sein. Nur so nebenbei. Ich glaube nicht an Engel. Noch Fragen?“

Jan fährt fort, obwohl er erst einmal überlegen muss, wo er gerade stehen geblieben ist:

„Ähm, ja. Aber wenn ich das zu Hause erzähle, zweifeln die an meiner Erziehung. Die kommen aus dem Beten nicht mehr heraus und holen wohlmöglich einen Exorzisten. Uahhh.“

„Du musst es doch nicht sofort erzählen. Erzähle es dann, wenn der Zeitpunkt günstig ist. Außerdem sind wir alt genug. Wir sind siebzehn und für unser Gesicht mittlerweile selbst verantwortlich!“ Sie muss erneut lachen. „Ich kann übrigens nicht glauben, dass deine Familie so verkniffen sein soll.“

„Nein“, sagt Jan, “So schlimm sind die wirklich nicht. Aber ich rechne schon mit einem Umgangsverbot. Die werden mir garantiert untersagen, dass wir uns weiter treffen dürfen.“

Jan schaut auf die Uhr.

„Oh, schon acht Uhr. Ich sollte mal so langsam nach Hause gehen. Essenszeit. Wenn ich nicht pünktlich bin, flippen die wieder aus. Meine Eltern sind da sehr eigen. Du scheinst das Problem wohl nicht zu kennen, oder?“

„Nein, ich kann mir mein Essen doch wieder aufwärmen. Es gibt schließlich Mikrowellen.“

„Schon richtig. Ist bei uns aber nicht vorgesehen“, fügt Jan hinzu. „Wäre toll, wenn‘s bei mir auch ein wenig entspannter laufen würde. Das geht mir so was von auf den Zeiger. Na, dann sage ich mal bis morgen. Mögen deine Götter dich beschützen.“

Simone schaut ihn verblüfft an und antwortet:

„Mögen die Götter auch dich beschützen. Bis morgen.“

Jan kann nicht glauben, was er da gerade von sich gegeben hat. In diesem Moment überkommt ihm wieder dieses sonderbare Gefühl von heute Morgen, was er dort noch nicht so richtig zuordnen konnte. Er wusste beim Gang zur Schule doch noch gar nichts von Simones Leben, dem Heidentum und das was folgen sollte.

„Merkwürdig“, denkt er, als er auf dem Weg nach Hause ist.

Wieder an der alten Stadtmauer entlang, stiefelt er über die Promenade nach Hause. Sollte er es erzählen? Wie würde seine Familie reagieren?

Am nächsten Morgen geht er mal etwas früher los. Auf dem Schulhof angekommen, nimmt ihn die blonde Tina in Empfang.

„Was habt ihr denn gestern Mittag gemacht, he? Seid ihr jetzt zusammen?“

„Wer ihr?“

„Na, du und Simone!“

„Hast du ´nen Knall, Tina? Geht’s noch? Ich hab doch nichts mit Simone!“

„Wir haben euch aber gestern am Rhein gesehen. Ihr seid so schön in die Büsche verschwunden!“

„Wer wir? Seit wann hast du denn Freunde?“

„Ha, ha! Sehr witzig!“, sagt sie.

Ach du je, wie kommt er da nun wieder heraus. Jan denkt:

„Wir waren ja dort. Und es sah bestimmt so aus als ob.“

Aber wie soll er diese Situation jetzt klarstellen? Er kann es ja selber kaum glauben.

„Da war nichts!“, sagt er kurz.

„Natürlich“, antwortet Tina amüsiert.

Sie dreht sich um und geht zurück zu den anderen Mädchen der Klasse. Jan wartet auf Simone, doch die kommt nicht. Alex ist aber wieder da.

„Stimmt das, was hier erzählt wird? Hast du was mit der schrägen Simone? Jan, Jan!“, meint Alex und schnalzt beim schütteln des Kopfes mit der Zunge. „Jetzt ist man mal einen Tag nicht da und es spielen sich hier Dramen ab! Unfassbar.“

„Ein Feueralarm spricht sich nicht so schnell herum wie so was. Schlimm! Wir haben uns gestern nur unterhalten, mehr nicht.“

„Ja, Ja. Jan, du bist ´ne Marke.“

„Wieso heißt es immer, man wäre zusammen, wenn man nur miteinander redet?“

„Weil wir noch in der Pubertät sind“, gibt Alex lächelnd zum Ausdruck, „da ist das halt so.“

„Wenn du meinst. Aber Simone ist anders als wir denken. Sie ist nicht bescheuert wie wir immer dachten, sondern ganz normal.“

„Ja, so fängt es an. Komm wir gehen hoch, Casanova!“

„Sehr lustig, Alex! Mach heute aber mal dein Handy aus, sonst kann dein Vater das Ding wieder bei der Müller abholen! Dann gibt’s erneut einen auf den Arsch, mein Guter!“, gibt Jan zu verstehen.

„Es ist doch immer interessant, bei wie vielen man sich rechtfertigen muss, was man am gestrigen Nachmittag so gemacht hat“, denkt er sich, während die beiden auf die Eingangstüre zugehen.

Alle Schüler stürmen nun in das Schulgebäude und quetschen sich durchs Treppenhaus bis in die Klassenzimmer. Hier beginnt daraufhin auch sofort der Unterricht. Vorbereitung auf die Klassenfahrt nächste Woche.

„Wie ich sehe, fehlen mal wieder welche“, meint Frau Müller. „Simone ist ja entschuldigt krank, aber der Rest?“

„Simone ist krank? Gestern sah sie doch noch ganz gesund aus“, denkt sich Jan.

„Jan, was hast du mit ihr gemacht?“, flüstert ihm Miriam sarkastisch zu.

Miriam, eine brünette Amazone, die regelmäßig durch ihre zu auffällige und unabgestimmte Kleidung auffällt, sonst im Unterricht aber eher wenig zu sagen hat.

Ihre Klassenlehrerin ergreift erneut das Wort:

„Ihr habt hoffentlich alles soweit für die nächste Woche vorbereitet? Ich muss darauf hinweisen, dass wir beim Besuch der Externsteine Vorsicht walten lassen müssen. Dieser Ort wird oft von der rechten Szene als Kultort genutzt. Wie ihr sicher wisst, wurde im dritten Reich dieser Ort von den Nazis schon fast verehrt. Die Szene bedient sich der heidnischen Symbolik und hält dort auch gelegentlich Treffen ab.“

Jan fährt es wie ein Blitz in die Knochen. Neonazis, Heiden, Simone?

„Das kann doch nicht sein, dass Simone dieser Szene angehört, oder etwa doch?“

Jan erschaudert´s.

Enttäuscht und gleichzeitig schockiert geht er nach der Schule nach Hause. Während der Schulzeit konnte er sich keine Minute lang mehr auf den Unterricht konzentrieren. Alex begleitet ihn noch einen kurzen Moment, da er in die gleiche Richtung muss.

„Was ist los, Alter? Du wirkst momentan so komisch. Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“

„Nein Alex, ist alles in Ordnung. Ich sag dann mal bis Montag.“

Er biegt in eine Seitengasse ab, die zum so genannten >Weißen Turm< führt, einem alten Zollturm der Stadtbefestigungsanlage. Direkt nach Hause kann und will er auch noch nicht.

„Mach‘s gut Jan, bis Montag“, ruft ihm Alex hinterher.

Jan kann es immer noch nicht fassen. Dieser Gedanke macht ihn fertig.

„Muss es denn immer alles anders kommen?“

Er hat sich irgendwie in Simone verguckt, und dann wirft Frau Müller solche Argumente in den Raum? Immer wieder denkt er an den gestrigen Tag, als er die Unterhaltung mit Simone hatte. Es war ein Megatag und alles schien so einfach gewesen zu sein. Er sah zum ersten Mal die Welt mit ganz anderen Augen. Aber aus der Rosafärbung wurde gewaltsames Braun. Mit dieser Nazigesellschaft, wie er immer sagt, will er nun überhaupt nichts zu tun haben.

Das Wochenende kann sich so lange hin ziehen. Und Jan weiß noch nicht einmal, ob Simone am Montag überhaupt mit fährt. Aber mal ehrlich, will er es denn auch? Es ist ein ernster Konflikt, den er da nun bewältigen muss.

Nach der Schule geht Jan immer zu seiner Oma Mittagessen. Denn seine Eltern sind beide berufstätig und somit sieht er sie auch erst ab dem späten Nachmittag. So kam es, dass er dafür hier einquartiert wurde. Ist aber auch nicht das Problem, da sie ja fast genau neben Jan und seinen Eltern wohnt. Dort angekommen, setzt er sich an den Tisch. Seine Oma bereitet gerade einen Teller mit Spaghetti vor und stellt ihm die Portion hin.

„Was sind Heiden?“, schmettert er beim Essen mit halbvollem Mund in den Raum.

Seiner Oma fallen beinahe ihre dritten Zähne heraus. Sie hustet.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Ach, wir müssen so einen Bericht in der Schule schreiben. Und da dachte ich, ich frag erst einmal dich, bevor ich die Bücher wälze.“

Jan weiß bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was er sich mit dieser Frage eingebrockt hat. Dann aber antwortet sie:

„Weißt du Jan, Heiden sind Leute, mit denen in der Regel keiner was zu tun haben will. Die haben eine Menge Götzenbilder, laufen meist in Lumpen herum und sind asozial. Halten sich auch meistens im Wald auf. Kurz, die gehören nicht so recht in unsere Gesellschaft. Früher hat man viele bekehren können und die, die das nicht wollten, verschwanden einfach. In der heutigen Zeit sind die auch kein Umgang für uns.“

„Ach ja?“, denkt sich Jan, der daraufhin keine weiteren Fragen mehr hat und selber gerne verschwinden möchte.

„Wie kann sie nur so etwas sagen?“, denkt er weiter.

Er ist geschockt und macht auch keine weiteren Andeutungen mehr. Nach dem Essen geht er los zur Bücherei um sich ein wenig Lektüre anzuschauen. Auf dem Weg dorthin grübelt er noch einmal über die Argumente seiner Oma nach.

„Wieso ist sie bei dieser Frage nahezu ausgeflippt? Was hat sie gegen diese Menschen. Von Moslime oder Juden redet sie nicht so.“

Er schlendert am Bürgerhaus vorbei, von wo aus er schon die Bücherei sehen kann.

Dort angekommen geht er die drei steinernen, abgetretenen Stufen hinauf, die zum Eingang des alten Gebäudes führen. Es ist eines der wenigen Häuser der Stadt, die den zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überdauert haben. Somit sticht es auch deutlich aus der Nachkriegsarchitektur des übrigen Marktplatzes hervor. In der ersten Etage angekommen, wendet er sich den Sachbüchern zu.

„Heiden, Heiden, worunter fällt denn das?“, flüstert er leise.

Jemanden zu fragen traut er sich aber irgendwie auch nicht. Nicht nachdem er zu Hause solche Antworten bekam, die schon fast faschistischen Charakter hatten.

„Unter Geschichte vielleicht? Religion?“

Jan durchstöbert ratlos die Regale.

„Nein, hier auch nicht. Ich frage besser doch mal nach“, murmelt er vor sich hin.

Er wendet sich an eine Angestellte, die in einem anderen Bereich der Etage wiedergebrachte Bücher einsortiert.

„Hallo. Wir müssen für die Schule ein Referat ausarbeiten und nun suche ich Bücher über Heiden und deren nordischen Götter.“

Ihm steckt die Frage wie ein Kloß im Hals.

„Bücher über Heiden allgemein, oder hauptsächlich über die alten nordischen Völker?“

„Eher die Nordischen“, antwortet er.

„Also, direkt über Heiden haben wir momentan nichts da. Aber warte mal!“ Sie überlegt kurz. „Komm mal mit zu den Erzählungen!“

„Zu den Erzählungen?“, denkt sich Jan. „Ich wollte doch Tatsachen und keine Erzählungen.“

„So, hier habe ich was. In diesem Buch stehen Heldensagen und Göttergeschichten der nordischen Mythologie drin. Was anderes haben wir im Moment wie gesagt leider nicht da. Ich könnte mal in der Datenbank nachschauen, ob wir was aus den anderen Büchereien bekommen können. Es gibt Bücher über die Germanen und Kelten, da müsste was bei sein. Könnte ich bestellen. Die wären dann Anfang nächster Woche hier.“

„OK, danke. Das reicht aber erst einmal. Würde mich dann nächste Woche noch mal melden“, erwidert Jan. Er schaut: „Die Edda, aha. Kenn ich nicht.“

Aber trotzdem blättert er mal kurz rein.

„Völus..pa, was? Was bedeutet denn das?“, Jan tut sich bereits mit der Überschrift schwer.

Es ist ein Buch, dass die darin befindlichen Geschichten in Fersen und Stabreimen widergibt. Es ist relativ schwer zu lesen. Zumal für einen unbelesenen Jugendlichen.

„Ich leih es mir mal aus und lese es durch. Hab ja auf der Klassenfahrt bestimmt viel Zeit dafür.“

So soll es sein. Er lässt den Barcode des Buches scannen und packt es ein. Lesen möchte er es bei dem heutigen schönen Wetter allerdings noch nicht. Lieber will er noch mal raus, an die frische Luft. Dabei geht er wieder die Rheinpromenade entlang und denkt noch einmal über einige Worte nach, die Simone gestern sagte.

„Asatru, ich weiß nicht. Was heißt denn das genau? Wieso sind Heiden bei manchen so verhasst? Hat es wirklich damit zu tun, dass Heiden Nazis, oder Nazis Heiden sind? Habe eigentlich noch nie was davon gehört. Aber wenn es so wäre, dann hätte sich Simone doch bestimmt anders verhalten, oder? Ist bestimmt wieder so ´ne bekloppte Pauschalisierung.“

Fragen, worauf er wieder keine Antworten hat. Sollte er doch noch mal zu Hause nachfragen?

„Zuhause reagieren die immer so komisch bei derartigen Themen. Wen könnte ich denn mal fragen? Meinen Onkel Hermann? Nein, besser nicht, der ist Mitorganisator bei der Christlichen-Arbeiter-Jugend. Unser Nachbar Thomas vielleicht? Mist, der ist, meine ich zumindest, Gruppenführer bei den Pfadfindern. Das gibt‘s doch nicht! Jeder in unserer Familie und Umgebung ist irgendwie kirchlich tätig. Eventuell doch meine Eltern? Die fragen sich dann bestimmt selber was Heiden sind und ziehen einen dann wieder auf, wie damals bei Katja vor sechs Jahren. Ach keine Ahnung!“

Katja war seine erste bessere Freundin, mit der er auch mal Hand in Hand durch die Stadt ging. Bei diesem Thema wurden seine Eltern selber wieder pubertär.

Langsam geht er die Promenade entlang, wieder vorbei an der Stadtmauer und dem alten Mühlenturm, zu der Stelle von gestern. Hingehen will er aber nicht. Dafür setzt er sich aber auf eine Bank, von wo aus er eine ausgezeichnete Sicht auf die kleine Halbinsel hat. Es ist warm, die Blätter rascheln leicht im Wind. Vom angrenzenden Spielplatz kommen wieder die Geräusche von Kindern, die dort toben. Jan schließt die Augen und entspannt sich.

„Was sagte Simone, sie tankt so Energie? Dann versuch ich‘s doch auch mal.“

Eine Zeit lang verweilt er da so, bis plötzlich sein Freund Alex auftaucht.

„Na Jan, schläft du?“

Jan erschrickt.

„Alex, spinnst du? Musst du mich so erschrecken?“

Jan ist sichtlich sauer und meint weiter mit leicht erhobener Stimme:

„Nein, ich tanke Energie.“

„Dann tank mal fertig und komm einfach mal mit. Mal ´ne Runde durch die Stadt“, fordert Alex.

„OK, ich komme.“

Jan will eigentlich noch ein wenig hier sitzenbleiben, aber drücken mag er sich nun auch nicht.

„Was war denn nach der Schule mit dir los? Ist jemand gestorben?“

„Ich will es nicht hoffen. Ich kann aber noch nicht darüber sprechen.“

„Ist es wegen Simone?“, fragt Alex. „Das war doch nur ein Witz heute Morgen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du so ruppig reagierst.“

„Wegen Simone? Jain, äh, ja auch. Aber ich erzähle es dir noch.“

„Hey Alter, sie ist doch nur krank und nicht aus der Welt.“

„Darum geht es ja nicht. Ich sag ja, ich erzähle es dir bei Gelegenheit.“

„Wie du willst. Hast du schon alles vorbereitet für Montag? Bin mal gespannt, wie die Jugendherberge da so ist. Was ich noch nicht so ganz verstanden habe ist, warum wir uns eigentlich so komische Steine anschauen müssen.“

„Wir schauen uns doch nicht nur die Steine an, wir fahren doch auch zum Hermannsdenkmal. Das finde ich persönlich uninteressanter. Steine sind Natur und irgendwie sind diese Steine auch etwas mystisch.“

„Wie mystisch, geht’s noch? Sind doch nur Steine die im Wald herumstehen. Von wegen mystisch. Sind noch nicht mal Mineralien, da könntest du ja wenigstens dran rumlutschen“, albert Alex herum.

„Ach, lass dich einfach mal überraschen, Alex.“

„Du bist aber echt sehr komisch drauf im Moment.“

„Lass mich auch mal. Komm, du wolltest doch in die Stadt, oder?“

Sie gehen los und kommen an der Stelle von gestern vorbei. Doch Jan will sich gegenüber Alex nichts anmerken lassen.

„Hast du das heute mit der Ableitregel in Mathe verstanden?“

„Jan, es ist Wochenende und kein Matheunterricht!“

„Ja, ich weiß. Wie spät haben wir?“

„Haste keine Uhr?“

„Würde ich sonst fragen, du Ei?“

„Es ist gleich 16 Uhr. Sollen wir mal auf den Mühlenturm steigen?“

„Na klar“, antwortet Jan.

Am Rhein steht dieser alte Mühlenturm, wovon nur noch die Grundmauern erhalten sind. Er wurde so ausgebaut, dass man von innen über ein Treppengerüst aus Holz, bis oben hinaufsteigen kann. Auf der Spitze befindet sich eine Aussichtsplattform, von der man die ganze Stadt und den Rhein überblicken kann.

„Warum warst du eigentlich gestern nicht in der Schule?“, fragt Jan beim Aufstieg.

„Ach, gestern ging es mir echt scheiße. Ich hatte oralen Auswurf.“

„Wovon denn das? Zu viel gesoffen?“

„Nein. Einen schlecht gewordenen Joghurt hab ich da im Verdacht. Müsste mal gerichtsmedizinisch ergründet werden. Das war aber nichts Ernstes.“

„Dann geht´s ja noch. Der Ausblick ist ja genial“, sagt Jan, als sie oben angekommen sind. Dabei lässt er seine Blicke keinen Moment von der ihm zu Füßen liegenden bestrüppten Halbinsel weichen, auf der er sich ja gestern mit Simone unterhalten hat.

„Ja, ist schon toll hier. Nichts als Bäume, Dächer und Antennen. Super.“

„Komm, ein bisschen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf. Genieße doch einfach mal die Aussicht über den Rhein! Hast du eigentlich dein Moppet wieder hinbekommen?“

„Nein, noch nicht. Hat `nen Kolbenfresser. Hab derzeit auch nicht die Kohle, um mir einen neuen Motor zuzulegen. Kostet nun mal ein wenig.“

„Da bekommst du doch bestimmt auch schon ein Austauschmoppet für, oder? Kauf dir mal ein Fahrrad. Ist günstig, macht kein Krach und zudem ist radeln noch gesund.“

„Nee, lass mal. Du vergisst einen ganz bedeutenden Punkt! Ein Fahrrad hat keinen Motor.“

„Du willst mich wohl veräppeln, oder? Motor! Wie sieht es denn mit der holden Weiblichkeit aus! Hast du mal so langsam was in Aussicht?“

„Nicht wirklich. Läuft momentan auch nicht so viel Schmuckes herum.“

„Ich weiß! Für dich muss es ja was ganz besonderes sein. Madame Durchschnitt reicht dir ja nicht.“

„Ich kann noch warten. Hab‘s noch nicht so eilig damit.“

„Wer es glaubt, Alex. Dich muss man auch glücklich schlagen, oder? Nicht das deine faulen Eier irgendwann platzen!?“

„Komm wir gehen weiter, du Witzbold“, fügt Alex an.

Die beiden steigen den Turm wieder herunter und setzen ihren Gang auf dem Weg fort, der über die Stadtmauer führt. Dabei kommen sie über ein Rondell zum Skulpturenpark. Dieser liegt geschützt hinter dem Deich, der an die Stadtmauer anschließt. Hier stellen diverse Künstler ihre Plastiken und Skulpturen zur Schau. Manchmal wird die Kunst aber auch zur Kunst, wenn mal wieder die einen oder anderen Vandalen ihre Schmierereien hier verewigen. Auf einer Bank zwischen den skurril anmutenden Kunstwerken, erkennen die beiden einige unliebsame Gesellen.

„Schau mal, da sitzt der Stadtabschaum ja wieder. Ich fühle mich nicht wohl in deren Umgebung. Der eine, das ist doch Guido Tülling aus Empel, oder?“

„Abschaum, Alex. Abschaum. Egal wer das ist. Schau dir die doch mal an. Die sehen schon so aus, als ob die Ärger machen wollen.“

Guido schaut verdächtig zu ihnen herüber. Interessiert sich aber derzeit nicht sonderlich für die beiden. Er ist bezüglich seiner Aggressionen in der Stadt bekannt wie ein bunter Hund. Welcher eigentliche Ruf hinter ihm und seinen Kumpanen steckt, wissen die beiden allerdings nicht so genau. Doch lässt sein nicht vorhandener Haarschnitt einen gewissen Gedanken nicht ganz verdrängen. Die Gang lungert einfach überall herum und pöbelt nicht gerade diskret durch die Gegend. Keiner traut sich wirklich in ihre Nähe und das färbt auch auf alle anderen Jugendlichen ein wenig ab.

„Was liegt denn morgen an?“, fragt Jan, als die beiden die Fallstraße entlang gehen, einer der Einkaufsstraßen der Kleinstadt.

„Morgen bin ich zum Geburtstag von Bernd eingeladen.“

Bernd ist der Patenonkel von Alex.

„Ok. Dann haste morgen wohl keine Zeit, oder?“

„Nein, leider nicht.“

„Werde dann mal ´ne Fahrradtour machen.“

„Bei der Hitze?“, fügt Alex verwundert hinzu.

„Natürlich. Nur gut eincremen und dann geht‘s schon.“

„Wo willst du denn hinfahren?“

„Mal schauen. Vielleicht nach Emmerich, oder so. Weiß ich noch nicht so genau.“

„Fünfzehn Kilometer einfache Strecke? Bei dreißig Grad? Ohne mich. Wie sieht es eigentlich mit dem Judo aus, bist du noch aktiv?“

„Im Moment ist es ein wenig eingeschlafen. Habe halt keine richtige Zeit mehr dafür. Wenn ich nicht gerade lerne, ach was erzähle ich, du hast doch auch nie Zeit.“

„Tja, Gymi ist nicht einfach. Welchen Dan hast du denn bisher erreicht?“

„Habe letztens den grünen Gürtel erworben. Aber wenn du nicht im Training bleibst, ist das wie beim Fußball. Du verlierst Kondition, wirst Träge und danach Fett.“

Alex schaut an sich herunter.

„Ich sollte in nächster Zeit auch mal wieder etwas mehr Sport machen. Habe in den letzten Wochen wieder zugenommen.“

„Du hast zugenommen? Wo? Unter den Achseln?“

„Ne, mal im Ernst. Zwei Kilo.“

„Du fette Sau!“, gibt Jan prompt lachend zum Ausdruck. „Aber ein Fahrrad mit Motor haben wollen. Ist schon klar.“

„Geht’s noch? Komm du mal in mein Alter!“

„Du Nase, du bist gerade mal drei Monate älter als ich.“

„Schau mich mal ganz genau an, dann weist du was drei Monate anrichten können. Aber mal Spaß bei Seite. Ich muss irgendwie dringlichst auf den Donnerbalken, einen Riegel aus den Rücken drücken.“

„Bah! Aber trotzdem danke für diese nicht uninteressante tiefgründige Analyse. Ekelig. Also, manche Äußerungen solltest du wirklich besser für dich behalten, Alex!“

„Wollte dich nur mal daran teilhaben lassen. OK?“

Nach einer kleinen schöpferischen Pause auf der städtischen Toilette, geht es Alex dann wieder den Umständen entsprechend. Sie gehen weiter und gelangen zum Marktplatz. Dort angekommen, kommen den beiden Katja und Miriam entgegen.

„Schau mal, die kennen wir doch, oder?“, fügt Alex an und gibt Jan einen in die Seite.

Jan denkt zwischendurch immer mal wieder an seine erste Liebe. Er kam die ganze Zeit nicht so richtig über die Trennung hinweg. Obwohl es auf der einen Seite nur eine Art Spiel war, hat diese kleine Turtelei vor sechs Jahren bei ihm doch gewisse Spuren hinterlassen. Mehr als ein „Hallo“ bekommt er aber nicht heraus, als die beiden Mädchen an ihnen vorbei gehen.

„Hallo, ihr“, erwidern die femininen Objekte und lächeln.

„War schon ein geiles Gefühl damals“, meint Jan einige Schritte später.

„Tja, wenn du nicht mal langsam selber die Initiative ergreifst, dann wird es wohl auch noch eine Zeit lang dauern, bis du dieses Gefühl wieder erlangst.“

„Ja, ich weiß es. Ich traue mich halt nicht. Für mich war die Unterhaltung mit Simone gestern schon eine Herausforderung.“

„Wäre Simone nicht eine geeignete Kandidatin?“

Alex verdreht die Augen.

„Weiß ich nicht so genau. Du kannst ja sagen was du willst, aber ich hatte es halt noch nicht so mit den Mädels. Obwohl die Sehnsucht schon da war, weißt du? Bin halt in dieser Beziehung zu schüchtern.“

„Du und schüchtern? Glaub ich nicht. Kommt mir nicht so vor, als ob du schüchtern wärst.“

„Doch. Gestern bei der Unterhaltung mit Simone hatte ich durchaus Überwindungsprobleme. Dazu kamen dann auch noch Schmetterlinge in der Magengegend.“

„Das ist doch schon mal ein Anfang. Dann bewirkt Simone doch was bei dir. Ich würde an deiner Stelle dran bleiben, Alter!“

„Ich weiß aber nicht, ob das alles so gut gehen würde.“

„Wieso?“

„Hat tief sitzende Familiengründe, Alex.“

„Familiengründe? Wollen deine Eltern etwa einen Schwiegersohn?“

Alex muss lachen.

„Du bist ja lustig! Ich glaube einfach nicht, dass sich meine Eltern und Simone auch nur ansatzweise verstehen würden. Mental gesehen zumindest.“

„Woher willst du das wissen? Hast du doch noch nicht versucht, oder?“

„Nein, aber einige Sachen spürt man einfach.“

Nach dieser Äußerung fällt Jan wieder die Sache mit der inneren Stimme ein, von der Simone gestern gesprochen hat. Aber warum sollte seine innere Stimme eine Zusammenkunft beider Seiten nicht befürworten? Spricht da gegebenenfalls eine Art Angst im Hintergrund, oder ist es nur Vorsicht, um dem unvorhersehbaren auszuweichen?

Beim Spaziergang durch die kleine Stadt kommen die beiden über die zweite Einkaufsstraße in Richtung Wallanlage. Sie gehen die leichte Steigung des kleinen Weges, der zurück zum Rhein und dem Schulzentrum führt, hinauf. Der Weg ist geschottert und bespickt mit diversen Tretminen von Hunden rücksichtsloser Herrchen. Alex ist erstaunt:

„Ist ja interessant, dass man hier in der Stadt keinen aus unserer Klasse sieht.“

„Denen ist es bestimmt zu heiß heute. Viele schauen sich auch bestimmt gerade die penetranten Gerichtssendungen an, die sich kontraproduktiv auf die Libido auswirken.“

„Jetzt haust du aber auf die Kacke, Alter“, ergänzt Alex und meint weiter: „Normalerweise hängen einige von denen ja im Stadtpark ab. Sollen wir mal nachschauen?“

„Ne, lass mal. Die hab ich nächste Woche noch lange genug um die Ohren. Und außerdem laufen wir auch gerade in die entgegengesetzte Richtung.“

„Ist doch noch früh!“

„Ja, nein, ich werde mal so langsam nach Hause gehen, muss gleich noch zur Fahrschule.“

„Fahrschule? Seit wann gehst du denn da hin?“

„Heute das erste Mal. Hatte mich letztens mal angemeldet“, meint Jan.

„Du musst ja Kohle haben!“

„Sponsored, Alex.“

„Na denn. Man kann sich‘s ja leisten!“

Kurze Zeit später kommen sie an das Ende des mit Bäumen umsäumten Wallweges.

„So, dann biege ich hier mal ab, wir sehen uns spätestens am Montag, Jan.“

„Ja der Montag. Habe ich schon gesagt, dass ich darauf überhaupt keine Lust habe?“

„Du erwähntest es bereits. Aber es kommt doch eh alles anders als man denkt, oder? Hat das nicht irgendein Dichter mal verfasst?“

„Da war was, bis denne, Alex.“

„Ciao Jan.“

Jan verschwindet durch die Rünkelstraße, einer direkten Verbindung zum Markt, in Richtung seines Zuhauses. Dort, am anderen Ende der Stadt, betritt er das Elternhaus. Seine Eltern sind aber noch nicht von der Arbeit zurück. Er geht in sein Zimmer und legt sich auf sein Bett, setzt die Kopfhörer auf und hört Musik. Als er nach einer Weile gerade einzuschlafen droht, klopft es an der Tür.

„Jan, bist du da?“, ruft sein Vater, der nun, von der Arbeit zurück, im Flur steht.

„Ja, bin da!“, antwortet er, nachdem er bei einer leisen Passage seiner Musik den Klopfruf seines Vaters hörte. Er setzt die Kopfhörer wieder ab und bittet ihn herein.

„Du bist schon da?“

„Darf ich nicht?“

„Doch, natürlich.“

„Was machst du bei einem solchen Wetter hier im Haus?“

„Schon vergessen? Ich habe gleich Fahrschule.“

„Oh ja, stimmt. Dann mal viel Spaß bei deiner ersten Theoriestunde“, erwidert er und verlässt den Raum wieder.

Jan legt sich erneut auf sein Bett und blickt an die Wand, wo unter anderem einige seiner selbst gemalten Ölbilder hängen. Zwischen all diesen teils sehr guten Werken, blickt er auf ein kleines Kreuz, dass er zu seiner Firmung bekommen hat. Dabei denkt er an Simone und den heutigen Ereignissen in der Schule. Er fühlt sich schlecht.

„Das Kreuz muss weg!“, flüstert er.

Kaum gesagt, ist es auch schon verschwunden. Er wirft es erst einmal auf seinen Schreibtisch, der vor dem Zimmerfenster, sonnenbestrahlt da steht.

„Mist das wir kein Internet haben, dann wäre das Leben bestimmt einfacher. Ich könnte mich dann mal über die ganze Sache informieren. Aber meine Eltern wollen das ja nicht“, denkt er so vor sich hin. „Aber was nicht ist?!“

Nach einer depressiven minutenlangen Pause meint er weiter:

„Na komm, ich gehe mal los zur Fahrschule.“

Wie gesagt so getan. Er steht auf und verlässt das Haus. Damit war es das dann auch mit dem Freitag. Auch der Samstag bringt immer wieder dieses Kribbeln. Die Ablenkung in Form des Radfahrens bringt aber keine wesentliche Besserung. Er kann einfach nicht den kommenden Montag abwarten, an dem er vielleicht eine Erklärung auf seine Fragen bekommt. Doch wie soll er mit der Wahrheit klarkommen, wenn diese gegebenenfalls nicht seinen Erwartungen entspricht. Denn es schwebt immer noch das Damoklesschwert der Braunen über seinen Gefühlen. All das zerstreut ihn doch sehr. So sehr, dass er glatt vergessen hat, sich vor der Radtour gegen die Sonne einzucremen. Den Endeffekt bekommt er am Abend nach seiner Rückkehr zu spüren. Denn da wo seine Armbanduhr den Arm umschloss, klafft nun ein runder weißer Fleck.

„Wo warst du denn?“, fragt ihn seine Mutter, die ganz erschrocken schaut. „Hast du den ganzen Tag in der Sonne gelegen?“

„War mit dem Rad in Emmerich. Hab aber leider vergessen mich vorher einzucremen.“

„Das sieht man. Bist ganz schön rot. Das muss doch höllisch wehtun!“

Kurz berührt sie Jans Haut an der extrem roten Stelle im Nacken.

„Au! Lass das!“

„Du siehst ja aus wie ein rot gekochter Hummer.“

„So fühle ich mich auch.“

„Ja, selbst Schuld kann man da wohl nur sagen, oder? Creme die Haut aber jetzt nachträglich noch mal mit Feuchtigkeitscreme ein, ja?“

Dann verlässt sie sein Zimmer wieder.

„Und, das Essen ist gleich fertig!“, ruft sie nochmal zurück, als sie schon fast wieder in der Küche verschwunden ist.

„OK, ich komme gleich!“

Midgards Erben

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