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Kapitel 2 Die Reise beginnt
ОглавлениеNun ist es endlich soweit. Es ist Montagmorgen, sehr früh. Die Sonne lässt gerade ihre ersten Strahlen tief im Osten durch die dünnen Schleierwolken blicken. Aufstehen ist nun angesagt, denn um sechs Uhr fährt schon der Bus von der Bushaltestelle der Schule ab. Sein Köfferchen hat Jan bereits gestern Nachmittag gepackt. Sehr müde schiebt er sich ein letztes Butterbrot zwischen die Zähne und taumelt danach zur Schule. Er ist aber nicht der Einzige, der so übermüdet die Straße bevölkert. Auch Alex sieht nicht sehr agil aus. Denn der hat am gestrigen Abend noch sehr lange an der Spielekonsole gezockt. Abreagieren nennt er das. Jan stellt sein Gepäck auf dem Schulhof unter einem Vordach ab, direkt neben dem seines Kumpanen.
„Na, alles Fit?“, spricht ihn Alex mit einer leicht müden Aura an. Augenringe umschließen seine Sehorgane.
„Geht’s dir wieder besser? Mit dir war am Freitag ja mal gar nichts los.“
„Mir geht’s gut“, erwidert Jan, „Alles wieder Fit im Schritt.“
„Bin ich müde!“
„Hast gestern wieder zu lange gezockt, wa? Alter, dein Papi hat doch letztens gesagt, dass du nicht so lange aufbleiben sollst“, meint Jan mit einem sarkastischen Unterton.
„Mach dich nicht unbeliebt, mein Guter!“, kontert Alex und meint daraufhin weiter: „Oh, schau mal, da hinten kommt Simone. Nur so zur Info.“
Jan dreht sich um und sieht, dass sie wirklich daher kommt. Mit Koffer.
„Jaan, Simooone kommt!“
Alex schüttelt ihn dabei an den Schultern.
„Ja, ich seeehe es doooch. Du brauchst mir das nicht zweimal sagen.“
Jan kribbelt es erneut in der Magengegend. Sie kommt auf die beiden zu.
„Hallo Jan, hallo Alex“, sagt sie und schaut Jan dabei mit einem leichten Lächeln tief in die Augen.
„Kann ich dich mal kurz sprechen?“, erwidert Jan.
„Natürlich, was ist denn?“
Er blickt zu Alex, der mit einer neugierigen Miene interessiert zu den beiden herüber schaut.
„Alex, alleine, bitte!“
„Oh Mann. OK, ich hau ja schon ab. Pack meine Sachen schon mal in den Bus.“
Dann dreht er ab und verschwindet in Richtung Bushaltestelle.
„Was ist denn los Jan?“
„Du sagtest ja, dass ihr Heiden seid, richtig?“
„Ja, und weiter?“
„Versteh mich nicht falsch, aber ihr gehört nicht zu den braunen Glatzen, oder?“
„Sag mal, spinnst du? Wir haben doch nichts mit diesem Pack zu tun. Wie kommst du denn darauf?“, reagiert sie forsch.
„Nun ja, die Müller warnte uns am Freitag vor Naziaktivitäten an den Externsteinen. Sie meinte, die würden da regelmäßig Treffen abhalten, wegen heidnischem Kult und so. Jetzt erzähltest du, Heiden treffen sich da auch regelmäßig und da kam bei mir halt dieser Gedanke auf.“
„Mit den braunen habe ich und meine Familie so viel zu tun wie die Sonne mit flüssigem Stickstoff. Wir verabscheuen die. Die ziehen mit ihrem rechten Gedankengut die gesamte nordische Mythologie in den Dreck. Wegen denen haben wir so einen schlechten Stand in der Gesellschaft. Aber kein Problem, wenn du das nicht wusstest. Das kommt öfter vor, dass manche Leute einen dumm anschauen. Die Medien tun nun mal ihr bestes. Von wegen Unabhängigkeit und unzensiert! Ich bringe meine Sachen schon mal in den Bus. Wir sehen uns dann später. OK?“
Sie dreht ab und rollt ihr Köfferchen zur Haltestelle.
„Hui, wie hat die denn reagiert. Das war doch nur eine einfache Frage. Nun ja, wenn mich jemand für einen Rechten halten würde, wäre ich sicher auch nicht so begeistert“, denkt er beim Laufen so vor sich hin und packt dann auch sein Gepäck in den Bus. An der Haltestelle macht sich bereits eine allgemeine Aufbruchsstimmung breit. Alles wird hektisch im Bus verstaut und jeder reserviert sich mit seiner Provianttüte bereits einen Sitzplatz.
„Und Jan? Hast du alles wieder gerade gezogen. Schien mir wohl ´ne kleine Aussprache gewesen zu sein“, fragt Alex, der neben ihm Platz genommen hat.
„Alle Klarheiten beseitigt. Nein, ich habe ihr nur eine Frage gestellt, auf die sie ein wenig ruppig reagierte. Hätte allerdings an ihrer Stelle genauso reagiert, denke ich.“
„Was hast du sie denn gefragt?“
„Ob sie dunkelorange ist.“
„He?“
„Ist schon gut“, erwidert Jan.
Sechs Uhr. Die Lehrer pfeifen zum Angriff. Frau Müller fordert ihre Meute auf:
„Die Gepäcke können, wenn das noch nicht geschehen ist, im Gepäckraum verstaut werden. Wenn ihr damit fertig seid, fahren wir los.“
Nachdem dann alles im Bus verpackt und gesichert wurde, inklusive der Schüler, setzt der Fahrer sein Gefährt in Bewegung. Es wird eine lange Fahrt bis Detmold. Musik in die Ohren und erst mal eine Runde schlafen ist angesagt. Jan und Alex haben ihren Sitzplatz in der Mitte des Busses eingenommen. Jan schaut noch einmal kurz auf die Plätze drei Reihen vor ihnen, wo Simones rötliche Mähne zu sehen ist. Dann schläft er ein.
„Alex!“, ruft es von hinten. Dieser schaut sich um. Miriam wedelt mit einem Zettel, den sie über die hinteren Plätze nach vorne durchreichen lässt.
„Was ist das?“, ruft er zurück.
„Schau hinein und lese“, fordert sie ihn auf.
„Ein Liebesbrief!“, ergänzt Melanie. Übrigens auch eine Mitschülerin. Alex faltet den Zettel auseinander und verzieht die Miene.
„Tina hat heute Nacht von dir geträumt“, liest er leise vor sich hin.
„Sehr lustig“, ruft er nach hinten.
„Ausgerechnet diese Zicke“, denkt er. Dann legt auch er sich auf die Seite und döst mit einem leisen Murmeln ein.
Jan wacht zwischenzeitlich immer mal wieder aus seinem zu leichten Schlaf auf und schaut aus dem Fenster nach draußen, wo alles in einem gemäßigten Tempo an ihm vorbei rauscht. Die Pappelreihen des Niederrheins, die Industriekultur des Ruhrpotts, die weiten Felder des Münsterlandes. Dennoch, nach gefühlten dreißig Minuten Schlaf, biegt der Bus auf das Gelände der Jugendherberge in Detmold ein. Der Busfahrer stoppt sein Vehikel und öffnet die Türen. Die ganze Meute drängt daraufhin ins Freie. Frau Müller betritt die Herberge und kommt nach kurzer Zeit mit der Zimmerbelegung wieder heraus. Wie in jeder Herberge sind Einzelzimmer rah gesät. Sie verliest die Liste. Frank ist mit der Einteilung jedoch sichtlich unzufrieden.
„Sechsmannzimmer, wie toll!“, winselt er genervt, „Immer diese Sechsmannzimmer, ich möchte ein Einzelzimmer! Frau Müller, ich habe Enochlophobie. Ich brauche ein Einzelzimmer!“, grölt er fordernd über das Gelände.
„Brüll nicht so, Frank. Du brauchst kein Einzelzimmer, du hast keine Platzangst! Ich fall da nicht nochmal drauf rein.“
Frank hatte bei der letzten Klassenfahrt zumindest für eine Nacht ein Einzelzimmer. Es war ein Ruheraum für besondere Delinquenten. Denn bereits vor zwei Jahren fiel er als unangenehmer Querulant auf, der nur auf Konfrontation aus ist. Als Ergebnis hagelte es Zusatzdienste für ihn. Wenn er das braucht?
„Ich liege oben!“, ruft Jan in die Runde, als er den Raum betritt, den er nun für die nächsten Nächte mit seinen Stubenkollegen teilen muss.
„Lass bloß nachts nichts fallen, du Ferkel!“, erwidert Alex.
„Ich warne dich schon früh genug vor, wenn was durchzusickern droht“, gibt Jan lachend zum Ausdruck.
Nachdem kurze Zeit später die Spinde mit sämtlichen Kofferinhalten gefüllt wurden, beruft Frau Müller noch eine Besprechung ein. Die Schüler sind derart ausgelassen, dass es sich im Flur anhört, als begehrten Horden um Einlass. Dennoch sitzen alle nach einem nicht ganz so kurzen Moment in der herbergseigenen Aula. Ihre Klassenlehrerin beginnt daraufhin mit ihren Ausführungen.
„So, nun sind wir in Detmold. Ich verlange von euch, dass ihr euch dem entsprechend benehmt.“
„Wie benimmt man sich denn in Detmold?“, ruft Frank von hinten in die Runde.
Alles lacht amüsiert. Frau Müller überkommt abermals eine innere Unruhe.
„Frank, wenn du wieder so ein Ding abziehst, wie beim letzten Mal, wirst du die restlichen Tage hier in einer örtlichen Schule einquartiert. Haben wir uns verstanden!?“
„Ist schon gut.“
Leise fügt er hinzu:
„Das werden wir mal sehen, du blöde Kuh!“
„Sag mal, du stehst wohl auf Ärger, oder?“, fragt ihn Dirk.
„Halt du dich da mal raus, Digga.“
Die Müller schaut bereits wieder derart entgeistert in seine Richtung, als ob sie gleich entgleisen würde.
„Frank, wir sprechen uns noch!“
„Frank, wir sprechen uns noch“, äfft er ihr nach.
Nach einer halben Stunde ist die Besprechung gelaufen. Nichts Besonderes, nur die obligatorische Benehmenseinweisung. Alle begeben sich daraufhin in ihre Stuben und warten erst einmal ab. Bei Jan sind auch Dirk, Mario, Alex, Daniel und Ingo einquartiert. Praktisch alle sechs aus der Clique. Frank, immer noch ziemlich entrüstet, kommt ins Zimmer sieben, dem Zimmer der sechs. Er geht auf Dirk zu:
„Wolltest du mich da gerade etwa provozieren?“
Dabei stößt er ihn unsanft gegen eines der drei Etagenbetten.
„Was ist eigentlich dein Problem? Hast du mal wieder zu tief in die Flasche geguckt?“, wirft Mario rein. Frank wechselt seinen Blick in Marios Richtung:
„Was mischt du dich denn da ein, he?“
„So und jetzt raus hier Frank und pöbele woanders rum, aber nicht hier“, geht Jan dazwischen.
„Was willst du denn, du mit deiner Heidin. Hexen hat man früher verbrannt. Wäre heute ab und zu auch noch mal nötig!“, antwortet Frank streng und verlässt daraufhin den Raum wieder.
„Sag mal, was ist denn mit dem los. So dermaßen ausgeflippt ist der doch noch nie, oder?“
„Nee Daniel, das ist ´ne ganz neue Qualität. Habe auch schon gar keinen Bock mehr.“, antwortet Jan, der ein wenig erschrocken in den Raum schaut.
„Wieso Bock, du bräuchtest doch ´ne Ziege, oder bist du schwül?“, lacht Ingo, der seinen Humor wohl immer noch griffbereit hat.
„Was meinte er wohl mit Heidin, Hexe. Jan, klär uns auf! Du bist doch mit ihr zusammen“, meint Dirk.
„Ich bin nicht mit ihr zusammen. Wer erzählt denn sowas?“, wirft er energisch zurück und schaut erneut mit leerem Blick in Richtung Zimmertüre. „Und was Frank betrifft, weiß ich doch nicht was mit dem los ist, ihr wisst doch wie der manchmal durchtickt. Der weiß doch ab und zu selber nicht was der so redet.“
„Gut gerettet“, denkt er sich.
„Na ja, wird wohl wieder einer seiner Ausbrüche sein.“
„Die Pubertät!“, meint Alex erneut.
In diesem Moment ruft Frau Müller zum Sammeln auf dem Vorhof über den Flur.
„Schon wieder? Hat die keine anderen Hobbys? Ist ja schon fast wie bei der Bundeswehr. Wir haben doch gerade erst die Kammern bezogen und nun verbreitet die schon wieder Stress!? Ich dachte immer, eine Klassenfahrt wäre so was wie Urlaub?“
„Tja, falsch gedacht, Mario. Aber woher weißt du eigentlich, wie es bei der Bundeswehr abgeht?“, fragt Jan.
„Aus dem Fernsehen. Die hatten da letzte Woche so eine Reportage laufen. Brüllattacken und Konsorten. Hat mich halt daran erinnert.“
„Du schaust zu viel in die Röhre, Junge“, sagt Daniel, als sie das Gebäude verlassen.
Auf dem Hof gibt Frau Müller nun noch einige Instruktionen, bevor es zum Mittagessen geht.
„So, in wenigen Augenblicken werden wir Essen fassen und danach sammeln wir uns wieder hier vor dem Gebäude. Sagen wir mal“, sie schaut kurz auf die Uhr, „Um 13:00 Uhr, danach fahren wir dann zu den Externsteinen. Und ich will keinen Ärger haben! Vor allem nicht von dir Frank!“
Mit ernster Miene schaut sie zu ihm rüber. Wenn Blicke töten könnten, hätte er zumindest jetzt einen Genickbruch erlitten. Im leidenden Tempo quetscht sich der ganze Bulk in den Speisesaal. Auch Jan. Denn bei 30 Grad Außentemperatur darf man sich die schmackhafte Erbsensuppe nun wirklich nicht entgehen lassen.
Er steht mit seinen Kumpeln in der Schlange, als plötzlich Simone zu ihm herüber kommt.
„Und? Lust auf die Externsteine?“, fragt sie.
„Na klar, wieso nicht? Hast du denn auch deinen Talisman dabei?“
„Sicher! Was sagt deine innere Stimme?“
„Ich glaube, ich werde mich mit meiner Fylgja mal auseinandersetzen.“
„Super, dann sehen wir uns gleich.“
Danach stellt sie sich hinten mit in der Schlange an.
Alex guckt perplex.
„Was war jetzt das? Und was ist Fylgja? Hee? Alter, jetzt klär mich mal langsam auf!“
„Alles zu seiner Zeit.“
„Ich hasse es warten zu müssen und das weißt du.“
„Ich weiß“, antwortet Jan zufrieden.
Zehn Minuten später haben Jan und Alex dann ihre Suppenteller vor sich stehen. Das Mittagessen wird nun im Eiltempo herunter gewürgt, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren. Frei nach dem Motto: Der Hunger treibt’s rein, der Ekel runter und der Geiz hält es drin. Nach dieser kleinen Aufwärmphase mit Hilfe der zähflüssigen Mahlzeit, macht sich die Klasse nun Busfertig. Die ganze Meute drängelt sich wieder durch die kleinen Türen des normalerweise ausreichend großen Busses. Die alten Plätze von der Hinfahrt werden wieder eingenommen. Die Lehrer zählen noch mal durch und geben grünes Licht.
„Gib Schub Rakete!“, ruft einer von hinten dem Busfahrer zu und der setzt das Massenbeförderungsmittel in Bewegung. Nun ja, mit dieser Klasse einen Ausflug zu machen, ist wohl nicht jedermanns Sache. Aber dafür werden, nach Meinung vieler, die Lehrer nun mal bezahlt. Der Bus ist nicht einmal warmgefahren, da ist das Ziel auch schon erreicht. Keine zehn Kilometer weiter heißt es: „Endstation Externsteine.“
„Das hätten wir auch laufen können“, meint Melanie in Tinas Richtung.
„Hättest du gerne machen können! Mir hat aber keiner gesagt, dass wir Wanderschuhe mitnehmen sollen. Dadurch fall ich bei solchen Unternehmungen schon mal raus“, antwortet sie.
„Alles vor dem Bus sammeln“, ruft Begleitlehrer Herr Bernds. Wie ´ne Eins stellt sich die ganze Bagage vor dem Bus auf. Die Ecke der Eins wird mal wieder gebildet vom Sonderling Frank.
„Der steht wohl gerne im Abseits, oder?“, murmelt Tina.
„Wir werden nun in dieser Richtung weitergehen und dort auf das Gesteinsgebilde treffen.“
Frau Müller zeigt dabei auf eine kleine Essens- und Souvenierbude, vor der ein Weg nach rechts ab weiterführt.
„Wir treffen uns um sechs wieder hier am Bus. Dann fahren wir wieder rein. Und, ich will keinen schon nach fünf Minuten da vorne im Biergarten sehen! Verstanden?“ Dabei weist sie auf das Restaurant hin, das sich direkt vor ihnen befindet. „Und schaut euch bitte an den Steinen die Informationstafeln an! Die Infos werden wir später brauchen.“
„Fast vier Stunden? So lange? Was sollen wir denn hier die ganze Zeit machen?“, jammert Melanie Tina an.
„Kannst dich ja mal in die Sonne setzen, damit du mal ein wenig Farbe ins Gesicht bekommst. Aber da sind vier Stunden wohl noch zu wenig!“, wirft Tina trotzig zurück.
Nun setzt sich die Schülerwurst in Bewegung. Simone bleibt unübersehbar an Jans Seite.
„Schau mal Alex, Jan und Simone. Was sollen wir denn davon halten?“, fragt Dirk.
„Lass die beiden doch. Endlich taut Jan mal auf. Und auch Simone wirkt seit dem viel offener als sonst.“
Es ist ziemlich voll und es bilden sich auch gleich die allzu bewehrten Grüppchen. Jan und Simone setzen sich zügig ab.
„Simone, ich habe mal darüber nachgedacht. Die Geschichte mit deinen Göttern, ja wie soll ich das sagen, es interessiert mich zunehmend. Und was ist eine Fylgja genau?“
„Erstens, ich möchte hier niemanden Missionieren, OK? Nicht das du nachher sagst, ich hätte dich dazu genötigt.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Und zweitens freut es mich aber, dass du Interesse zeigst. Es ist teilweise echt scheiße, wenn man mit keinem darüber sprechen kann, ohne dumm angemacht zu werden“, sagt sie mit einer geballter Faust und meint weiter: „Bist du denn sicher, dass du das auch wirklich willst? Ich meine deine Familie und so. Nicht dass die sich am Ende noch das Leben nehmen?“
Beide schmunzeln.
„Lass das mal meine Sorge sein, die werde ich bei Gelegenheit schon impfen.“
Nun scheint für die beiden alles, zumindest für einen kleinen Moment, in bester Ordnung zu sein. Dann legt Simone los:
„Tja, die Fylgja ist ein Wesen, das dich unerkannt begleitet. Ich sagte ja bereits, sie ist halbwegs vergleichbar mit dem Schutzengel der Christen. Sie lenkt und beschützt dich. Gibt dir Rat und tritt oft als innere Stimme oder Intuition auf. Sie ist meistens andersgeschlechtlich. Soll heißen, dass du eine weibliche haben wirst und ich eine männliche. Sie zeigt sich gegebenenfalls als das Tier, welches deiner Seele gleicht. Jeder hat eine Fylgja. Manche sogar mehrere, was aber eher seltener vorkommt. Sie begleitet dich seit deiner Geburt und stirbt auch mit dir. Manche meinen, dass sie nach dem Tot auf jemand anderen übergeht. In anderen Sagen wird aber auch beschrieben, dass sie sich nach dem Tod mit dir in Liebe vereinigt und dann die Partnerin an deiner Seite wird. Das stelle ich mir persönlich aber etwas schwierig vor. Sehen kann man sie nicht, erst vor besonderen Ereignissen, zum Beispiel dem eigenen Tod. Es heißt, dass sie aber auch schon mal in Träumen auftauchen kann.“
„Ich glaube, ich weiß was du meinst. Ich hatte letztens mal ein Erlebnis. Ich fuhr mit dem Fahrrad so meine Tour. An einer Straßeneinmündung habe ich aus irgendwelchen Gründen nicht richtig aufgepasst. Ich hörte nur einen Wagen voll in die Eisen gehen, sah ihn noch gerade ausweichen. Auf der anderen Seite der Straße, das macht nun Sinn, sah ich ein supernettes Mädel stehen, das zu mir rüber schaute und lächelte. In dem Moment fing der Fahrer an mich anzuschnauzen. Ich war somit einen Moment unaufmerksam. Wenig später war sie weg.“
Simone schaut ihn überrascht an:
„Wow, sieht ja beinahe danach aus, als wärst du da deiner Fylgja begegnet. Und, hast du sie danach nochmal wieder gesehen? Ich meine so in der Stadt?“
„Nein, ich hab dieses Mädel bisher noch nie bei uns im Ort gesehen und nachher natürlich auch nicht. Aber dennoch schien sie mir sehr vertraut zu sein.“
„Ja, da scheinst du wohl eine sehr mächtige zu haben. Glückwunsch! Schau mal, wir sind gleich da. Ich sehe die Steine schon.“
Die beiden gehen gerade eine Biegung entlang. Man kann durch die blätterbehangenen alten Bäume bereits einen kleinen Blick auf Simones angepeilte Ziel werfen.
„Trägst du Schmuck?“, fragt sie.
„Nein, eigentlich nicht. Hab auch keinen. Ich bin kein direkter Schmuckfan.“
Simone legt einen Zahn zu, wie man so schön sagt.
„Och Simone, renn doch nicht so!“
„Doch, komm schon Jan!“
In der Zwischenzeit zerbrechen sich die etwas zurückliegenden Jungs den Kopf.
„Was meint ihr“, wirft Mario ein, „Ist Simone wirklich eine Heidin? Ich meine so mit Riten und so?“
„Meinst du, sie wird Jan noch heute irgendeinem Satan Opfern? So mit gaaanz viiieel Blut und so?“
Dabei macht Dirk mystische Fingerbewegungen.
„Ich habe mal ‘nen Film gesehen…“
„Nö, nicht schon wieder diese Schote. Daniel und seine Filme“, unterbricht Alex.
„Ja, mal im Ernst. Da war ´ne Hexe, die hat ihren Freund gegessen nachdem sie ihn geopfert hat.“
„Deine Eltern zeigen dir auch alles, nur damit du endlich einschläfst, oder?“, lacht Dirk.
„Komm wir setzen uns da vorne auf die Bank und warten mal ab was passiert. Wir könnten ja da hoch klettern, aber dazu hab ich bei dieser Hitze überhaupt keinen Bock.“
„Du brauchst doch eher ´ne…“
„´Ne Ziege, ich weiß Ingo“, unterbricht ihn Dirk genervt.
„Guckt mal“, ruft Mario, „da vorne sind Jan und Simone wieder.“
„Wo“, ruft Dirk.
„Na da vorne, da zwischen den Steintürmen, dadada da.“
„Ja, beruhige dich doch erst einmal, Junge“, meint Alex.
„Was machen die denn da?“
„Keine Ahnung Dirk, wir schauen mal. Wir haben ja hier den idealen Platz. Gugst du!“
„Ich Gug!“
Die beiden Betrachtungsobjekte gehen den kleinen Weg zwischen den mehr als 40 Meter hohen Felsbrocken der Externsteine entlang und Simone kommt aus dem schwärmen kaum heraus. Sie war bisher auch noch nie hier und hat sich nur durch Erzählungen von diesem Ort ein Bild machen können.
„Ich wollte immer mal zur Walpurgisnacht oder der Sommersonnenwende hier hin, das soll atemberaubend sein“, meint sie. „Viele heidnische Gruppen feiern zu diesen Zeiten hier ihre Jahreskreisfeste.“
„Simone?“, Jan schaut sie an, „Frank kam vorhin in unsere Stube, pöbelte mal wieder herum. Als ich dazwischen ging meinte er zu mir: >Du mit deiner Heidin<. Woher weiß der das eigentlich?“
„Ach, weißt du, ich war mal mit dem eine kurze Zeit zusammen.“
„Was, du?“, geht Jan dazwischen.
„Ja. Ist aber schon ein Jahr her. Ich habe es aus ganz bestimmten Gründen beendet. Er scheint wohl bis heute nicht darüber hinweg gekommen zu sein.“
Sie setzen sich auf eine Wiese mit perfektem Blick auf das Felsengebilde von Horn.
„Du warst mit diesem Penner zusammen? Das habt ihr aber schön vertuscht. Das wusste keiner von uns. Zumindest soweit ich das weiß. Wieso ging es schief?“
„Du hast mir doch heute Morgen eine Frage gestellt. Bezüglich brauner Gülle und so.“
„Ja, warum?“
„Das muss jetzt aber erst einmal unter uns bleiben, Jan. Frank und Markus gehören dieser Brühe an.“
„Was? Das ist nicht dein ernst, oder?“
„Doch, und ich sagte dir ja bereits, ich möchte nichts damit zu tun haben. Deswegen ging‘s halt schief.“
„Weshalb bist du dann überhaupt erst mit dem zusammen gekommen?“
„Ich wusste es anfangs noch nicht. Das hat sich allerdings schnell geändert. Ich suchte halt Kontakt zu Leuten, die dieselben Interessen haben und da kam ich an Frank. Nun ja, dass er die nordische Mythologie nur missbraucht, war auf Anhieb nicht zu erkennen. Aber nun Schluss mit diesem Fatzken.“
Simone schaut von ihrem Rasensitzplatz rüber zu den Felsen und schweigt eine Weile.
„Du bist wirklich fasziniert davon, oder?“
„Ja. Es ist einmalig. Man spürt hier förmlich die enorme Kraft der Götter.“
Jan kratzt sich nachdenklich am Kopf.
„Wenn du das sagst. Ich bin auch ein wenig aufgeregt. Das scheint aber nicht an deinen Göttern zu liegen.“
„Nein? Woran denn dann?“
Sie rückt etwas näher an ihn heran, nimmt seine Hand, legt sich auf den Rasen und schließt die Augen. Jan kann es nicht fassen. Er sitzt hier in der Nähe von Detmold an einem Ort, den seine Großmutter wohl nicht mal im Traum besuchen würde und hält die Hand von Simone. Ebenfalls legt er sich hin, ihre zarte Hand fest im Griff.
„Erst einmal Kraft tanken, oder?“
„Ja genau. Tankst du mit?“
„Natürlich“, antwortet Jan. Simone lächelt leicht.
Die beiden liegen nun da und hören den Geräuschen zu, die sich über den Ort ergießen. Es ist zwar relativ voll heute, dennoch bekommen die beiden kaum ein klares Wort der anderen Passanten mit. Nur das Rauschen der Blätter und das Zwitschern der Vögel nehmen sie gezielt war.
„Weist du was über Thor?“ unterbricht sie nach kurzer Zeit die Ruhe.
„Nur den Namen.“
„Es ist der Gott, der die Menschheit, Midgard und auch die anderen Götter vor Unheil beschützt. Er ist Odins Sohn und lenkt den Blitz und Donner. Er jagt mit seinem Wagen, der von zwei Ziegenböcken gezogen wird, über den Himmel. Bei Gefahr schwingt er seinen Hammer Mjöllnir, der wie ein Bumerang immer wieder zu ihm zurückkehrt. Mjöllnir zermalmt alles.“
Dabei fährt sie mit ihrem Zeigefinger träumend den Himmel ab.
„Du erzählst das mit einer Hingabe, Wahnsinn.“
Zur gleichen Zeit bekommen die Jungs auf der anderen Seite der Steine Langeweile.
„Jetzt sitzen wir hier schon eine halbe Stunde rum und der Löres brennt mir so was von auf den Pelz. Ich besteig mal den Gipfel. Kommt wer mit?“, fragt Dirk.
„Ja, ich komme mit, du auch Mario?“, erwidert Alex.
„Natürlich! Meinst du etwa, ich bleibe hier alleine sitzen? Kostet das was?“
„Ja, ich glaube einen Euro. Aber nicht für uns. Die Müller hat doch bei der Einweisung gesagt, dass wir mit unseren Schülerausweisen umsonst da hoch können. Hat die Namen hinterlegt. Ist wohl schon bezahlt.“
„Na Alex, dann mal los“, meint Mario.
Die drei stellen sich nun an der Schlange vor dem Kassenhäuschen an, die heute extrem lang zu sein scheint.
„Ist ja schon so wie in der DDR damals. Gibt’s da vorne irgendwo Bananen?“, ruft Dirk niedergeschlagen in Richtung Hütte.
Alex wird leicht rot und meint:
„Kannst du dich mal mit solchen Äußerungen zurück halten? Ist ja peinlich. Wenn hier nun einer aus dem Osten in der Schlange steht?“
„Na, dann fühlt er sich gleich wieder wie zu Hause!“, kontert Dirk.
„Woher kennst du denn die damalige Situation von drüben?“, fragt Mario.
„Bin DDR Flüchtling in zweiter Generation. Das Gefühl vererbt sich, Junge.“
„Na klar!“
Nach etwa zehn Minuten geht’s aber schon weiter. An dem kleinen Holzhäuschen kurz die Ausweise gezeigt und dann beginnt der Aufstieg. Die Stufen wurden vor langer Zeit in den Stein gehauen und sind aus diesem Grund schon sehr abgetreten. Immerhin schaffen sie es ohne körperliche Blessuren bis auf die Spitze des ersten Steins.
„Alter, bin ich fertig!“, hechelt Mario.
„Ich mach aber keine Notbeatmung bei dir. Schon gar nicht ohne Desinfektionsspray.“
„Dirk, willst wohl ärger haben, oder?“
„Schau mal da hinten!“
Sie blicken von oben über den angrenzenden See in Richtung Wald, der in etwa 80 Meter beginnt.
„Sind das nicht Frank und Markus? Und was sind das für Typen, mit denen die da quatschen?“
„Glatzen, Alter. Das sind Glatzen“, erwidert Alex schockiert, als er sich die Genossen näher betrachtet.
„Die beiden sind braun wie Scheiße?“
„Schaut fast so aus. Die Asis! Wo kreucht denn die Müller rum. Müssen wir das melden?“
„Ja, würde ich, Mario. Ist glaub‘ ich sogar unsere Pflicht. Aber mal was anderes. Schaut mal in die andere Richtung“, wirft Dirk in die Runde.
Nachdem sie sich einen Platz auf der anderen Seite des Felsenplateaus erkämpft haben, schauen sie nun von dort auf die Wiese am Fuße des Steins.
„Wer liegt denn da unten auf dem Rasen?“
„Nee, oder? Das sind ja unsere beiden Strategen. Guckt mal, Jan hält Händchen!“, merkt Alex belustigt an.
„Also doch. Der Aufstieg hat sich ja tierisch gelohnt. Der Ausblick ist ja jede Schweißperle wert. Und wir dachten, unten auf der Bank würden wir alles sehen.“
„Jetzt weiß ich es, Dirk ist das, der hier nach Schweiß stinkt, aha. Ich dachte schon ich wäre es.“
„Mario, kannst du fliegen?“
„Nee, warum?“
„Schau mal da runter und denk nach!“
Während die drei sich da oben mal wieder besonders gut verstehen und erneut die Seite der Plattform wechseln, steht Simone auf.
„Was ist?“, fragt Jan.
„Komm wir gehen mal ein Stück. Ich will ja schließlich auch noch mal hoch auf die Steine.“
Doch bevor die beiden weitergehen, wühlt Simone in ihrer Gürteltasche und holt einen Anhänger hervor.
„Jan, ich habe hier ein Geschenk für dich. Es ist ein Symbol, das die Asatruar tragen.“
„Für mich?“
Jan kann es nicht glauben. Er hat bis vor einer Woche lediglich ein paar Worte mit ihr gewechselt und jetzt steht er mit Simone vor den Externsteinen und hält ein Geschenk von ihr in der Hand.
„Was bedeutet es?“
„Das ist der Hammer Thors, Mjöllnir also. Ein sehr starkes Symbol. Ich selbst trage es auch.“
„Ist das sowas, wie bei den Christen das Kreuz?“
„Ja, so ähnlich. Er wurde damals bei der Missionierung der Heiden von denen als Pendant zum Kreuz getragen und das hat sich wohl bis heute gehalten.“
„Sieht toll aus, danke!“
Er hängt sich den Mjöllnir sofort um.
„Weißt du?“, sagt Simone, „Da du jetzt auch einen Talisman hast, vergiss ihn gleich nicht mit aufzuladen. Er ist für sich allein schon mächtig, aber wenn zusätzlich Kraft verliehen wird, dann spürst du es noch mehr.“
„Und wie lade ich ihn auf?“
„Ich zeige dir gleich, wie ich es mache. Jeder hat da so seine eigenen Methoden, weißt du? Sind halt Erfahrungswerte. Was für dich die beste Methode ist, musst du aber selber herausfinden. Jeder bündelt die Kräfte anders. Du kannst allerdings erst einmal meinen Ablauf wählen, bis du deinen eigenen gefunden hast.“
„Du bist auch sicher, dass du hier vor all den Leuten diese Aufladung starten willst? Die erklären uns doch für verrückt.“
„Siehst du Jan, das ist das Problem. Es wird den Leuten eingetrichtert, dass jemand, der solche Sachen macht, einen an der Waffel haben muss. Nehmen wir mal an, dass du bei dieser Richtung bleibst, dann wirst du das später auch anders sehen. Ich sag immer, lass die Leute doch reden was sie wollen. Ich kenne die nicht und die kennen mich nicht. Außerdem denken sich die meisten auch nur ihren Teil.“
„Ich wünschte, ich konnte deinen Enthusiasmus teilen. Aber ich bin wohl noch nicht so weit.“
„Wie gesagt, das kommt noch. Guck mal da oben. Da stehen Alex, Dirk und Mario.“
Die fünf winken sich zu.
„Wie ist denn die Luft da oben?“, brüllt Jan herauf.
„Ist genau so warm wie da unten. Obwohl, bei euch scheint es noch viel heißer zu sein“, ruft Mario zurück.
„Jan, wir haben interessante Neuigkeiten. Wir kommen mal runter“, informiert Alex.
Daraufhin machen sich die drei Bergsteiger wieder auf den Weg nach unten. Währenddessen bereitet sich Simone auf die Aufladezeremonie vor.
„Ich brauche Erde, Wasser, Feuer und Luft. Die vier Elemente helfen dabei die Kräfte so zu bündeln, damit das Amulett gereinigt werden kann.“
Sie wühlt erneut in ihrem Beutel. Atmet erleichtert auf, als sie ein aus der Kantine entwendetes Feuerzeug aus der Tasche zieht.
„Wieso gereinigt? Wasch es doch einfach ab.“
„Der Hammer kann sich durch irgendwelche Kräfte negativ aufladen. Um nun für die Neuladung einen definierten Punkt zu bekommen, neutralisiere, reinige ich ihn. Schau mal, da vorne ist der ideale Ort dafür.“
Sie zeigt auf eine weniger besuchte Ecke neben den Steinen.
„Komm, Jan!“
„Ja, ich komm doch schon.“
„Man ist die nervös“, denkt er sich. „Hoffentlich geht das gut. Was ist, wenn sie Recht hat? Was ist, wenn das Amulett tatsächlich Kräfte entwickelt?“
Alles Gedanken, die ihm jetzt so durch den Kopf kreisen.
„Komm, wir setzen uns hier auf den Rasen. Nimm dein Amulett ab.“
„OK, und was nun?“, fragt Jan misstrauisch.
„Nimm etwas Erde in die Hand und reibe es da durch. Jetzt brauchen wir die Wasserflasche aus meinem Rucksack.“
Sie kramt mit der anderen Hand in ihrer Tasche und holt die Notration Wasser hervor.
„Waschen wir nun die Erde mit dem Wasser wieder ab.“
Wie gesagt so getan. Dabei macht Simone einige mystisch anmutende Handbewegungen. Jan schaut dabei die ganze Zeit auf die bald schon beißenden Blicke der Passanten. Eine Mutter meint zu ihrer Tochter:
„Schau mal, da sitzen wieder so Esoterikspinner. Die siehst du ganz oft hier.“
Jan wird es so langsam unangenehm. Allerdings, für ein wenig Aufsehen zu sorgen, macht ihm zunehmend Spaß.
„Hör nicht auf die. Die haben keine Ahnung von der Materie, das hört man. Nimm nun das Feuerzeug, mach es an und halte es kurz unter dein Amulett. Dann hole tief Luft, puste das Feuer wieder aus und lass durch deinen Atem den Hammer erkalten.“
Diese schon eher magische Zeremonie wirkt auf Jan ein wenig beängstigend. Zumal ihm solch ein Vorgehen immer als Ketzerei beschrieben und eingetrichtert wurde. Aufregend ist es aber dennoch für ihn.
„Noch alles in Ordnung, Jan?“
„Natürlich! Und was jetzt?“
„Nun ist der Hammer, abgesehen von seiner Symbolik, neutral. Also quasi durch die vier Elemente gereinigt. Jetzt geht’s ans Aufladen. Vieleicht fällt es dir noch schwer, aber jetzt rufen wir Thor an, um das er das Amulett weiht. Ist es geweiht, kann auch die Energie von den Steinen mit einfließen. Allerdings müssen wir hierzu an Thor ein Gebet richten. Machst du mit?“
„Dann fang mal an“, erwidert Jan, „Ich spreche dir dann nach.“
In diesem Moment kommen die drei Jungs um die Ecke.
„Wo sind die beiden?“, schaut Mario sich fragend um.
„Keine Ahnung. Vorhin lagen die doch noch da vorne auf dem Rasen.“
„Alex, schau mal, vor dem Stein da hinten in der Ecke. Da sind sie.“
„Komm wir gehen mal hin“, meint Dirk.
Alex erwidert plötzlich:
„Nein, wartet mal. Was machen die denn jetzt schon wieder?“
„Das wird mir so langsam aber echt zu merkwürdig“, fügt Mario an. „Was halten die denn da an den Stein? Beten die da?“
„Nee Mario, ich denke Heiden beten nicht mit Christen. Es sei denn, einer von denen ist übergesprungen. Aber wer? Was meinst du Alex?“
„Ich denke, Jan hat sie zurückgeholt. Aber was machen die denn jetzt schon wieder? Warte mal, die hängen sich was um den Hals. Ein Kreuz war das aber nicht. Das war, Moment mal.“
Alex denkt kurz nach.
„Das war so ein Thorshammer, den die Nazis tragen. Ich werde wahnsinnig hier. Sind die denn alle bekloppt geworden? Kommt, wir melden das jetzt der Müller.“
Jan und Simone haben von alledem nichts mitbekommen. Die Sonne brennt zudem weiter erbarmungslos auf die Besuchergruppen hernieder. Nur die Blätter der hier stehenden Bäume bieten zumindest einen leichten Schutz.
„Komm, wir gehen jetzt mal da hoch.“
Simone zeigt auf die kleine Brücke, die sich von dem einem zum anderen Stein erstreckt.
„Das kostet doch Eintritt, oder?“
„Nein, für uns nicht. Hasst doch deinen Schülerausweis dabei, oder?“
„Ja, sicher.“
„Dann komm mit!“
Sie nimmt Jan an die Hand und geht mit ihm zu der kleinen Holzhütte, an der sich immer noch eine enorme Warteschlange windet.
„Müssen wir da wirklich hoch?“, fragt er.
„Hast du Angst?“
„Nein, aber bei der Hitze?“
„Komm, mir zu liebe.“
„Was meint sie denn schon wieder damit? Sind wir jetzt wirklich zusammen? Komisches Gefühl. Wäre aber toll“, denkt er sich.
Langsam kommen sie dem Kassenhäuschen näher. Jan fasst sich an den Kopf und stellt fest, dass dieser bereits nicht unerheblich durch die Sonne erhitzt wurde. So ganz ohne Kopfbedeckung? Nach gefühlten dreißig Minuten haben die beiden es aber geschafft und können nun endlich ihre Ausweise vorzeigen und passieren.
„Was sind denn das für Bildhauerwerke da an der Wand?“
Jan zeigt auf das Kreuzabnahmerelief, auf das sie gerade zugehen.
„Das ist so ein Christending, was die mal im Mittelalter dort eingeritzt haben. Der ganze Stein soll so um 1200 zu einer Christenhöhle umgebaut worden sein. Hat irgendein Kloster aus Paderborn damals gekauft. Genaues weiß ich aber nicht. Du siehst, nicht nur Heiden pilgern hier hin. Sieh mal! Da unter dem Kerl, dem sie die Füße abgeschlagen haben, ist eine abgeknickte Irminsul.“
„Eine was? Irminsul?“
„Ja, übersetzt >gewaltige Säule<, auch ein altes nordisches Heiligtum. Irminsul repräsentiert die Weltenesche, die die neun Welten mit einander verbindet und mythologisch den Himmel stützt.“
„Simone, du sprichst in Rätseln. Aber war das nicht so, dass hier auch astronomische Beobachtungen getätigt worden sind?“
„Kann sein. Weiß ich aber nicht so genau. Du stellst Fragen.“
Sie wollen gerade den ersten Felsen besteigen, als Jan durch eine Öffnung im Stein in einen Raum blickt.
„Man, was haben die denn hier für Höhlen rein gehauen?“
„Das sind alte Grotten. Ich wüsste auch mal gerne, was die hier damals alles so gemacht haben. Wurde von den Christen, wie gesagt, damals umgebaut und soll eine Nachbildung eines Gebäudes aus dem alten Jerusalem sein. Darüber wird viel spekuliert. Hier bei den Steinen soll vor dem Umbau auch eine große Irminsul gestanden haben. Daher noch mal zurück zur Weltenesche. Es existieren in der nordischen Mythologie neun Welten, die durch diesen Baum verbunden sind. Eine davon ist Midgard. Hier wohnen die Menschen. Dann gibt es noch Asgard, wo die Götter leben. Genau genommen die Asen unter ihnen. Hier kommt übrigens der Name Asatru her und heißt so viel wie Asentreue, oder den Asen zugehörend. Wenn du stirbst, kannst du zu unterschiedlichen Orten kommen. Tapfere Krieger kommen nach Walhalla, zu Odin an den Hof, also nach Asgard. Die normal gestorbenen gehen nach Hel über.“
„Was, hier kommt jeder Normalo in die Hölle?“
„Nein! Hel wurde von den Christen mit übernommen. Die machten dann die Hölle draus. Hel ist in erster Hinsicht ein kalter nebliger Ort, über den die gleichnamige Göttin herrscht. Man sagt, sie ist zu einer Hälfte wunderschön, auf der anderen Seite bereits verwehst. Sie herrscht in einer unwirklichen Burg. Die Wände bestehen aus Schlangenhaut. Kein Sonnenlicht durchdringt die Mauern. Trotz dass es eine seltsame Welt ist, ist es aber erst mal kein Ort der Bestrafung. Diese Welt ist wie ihre Göttin, auf der einen Seite wunderschön, auf der anderen Seite aber Grausam. Mit der Hölle hat die Totenwelt Hel aber nichts zu tun. Zumindest nicht für die, die keine Verbrechen begangen haben. Verbrecher und Mörder kommen zwar teilweise auch nach Hel, allerdings müssen sie dort die wilden Flüsse durchwaten, die die Burg der Hel umgeben. Dort lebt der Drache Nidhögg, der sich von den Leibern der Verbrecher ernährt. Die, die dem Drachen doch noch entkommen können, werden anschließend von einem Wolf zerfleischt.“
„Die dunkle Seite Hel‘s, nicht?“
„Genau. Es ist ein Ort in Hel, wo sie die schlimmsten Qualen erleiden müssen. Hier kam wahrscheinlich die Höllenvorstellung her, denke ich. Dann gibt es noch ein weiteres Totenreich. Das von Ràn, der Frau vom Meeresgott Ägir. Hier, auf dem Grunde des Meeres, ziehen die ertrunkenen ein.“
Während sie erzählt, schaut sie sich konzentriert die Örtlichkeit an. „Dann gibt es noch Reiche wo Elben, Zwerge und Riesen leben. Leihe dir mal das Buch >Die Edda< aus, darauf stützt sich das ganze Wissen dieser Mythologie.“
„Du erzählst gerne, oder? So kenn ich dich ja noch gar nicht. Aber du wirst lachen, das Buch habe ich sogar dabei.“
„Wirklich? Und schon was gelesen?“
Simone schaut ihn mit großen Augen an. Dabei hat sie ein breites Lächeln auf ihren Lippen.
„Nein, hatte bisher noch keine Zeit dafür.“
„Du verblüffst mich Jan.“
Sie gehen in die Grotte hinein, die am heutigen Tag geöffnet ist. Vorbei an der Weihinschrift zu der großen Rune.
„Was ist das denn für ´ne umgedrehte Antenne?“
„Das ist eine Rune. Runen dienten auf der einen Seite als Schriftzeichen und andererseits werden ihnen noch heute magische Kräfte nachgesagt, die man ebenfalls durch Aufladung Verstärken kann. Jede einzelne hat eine ganz besondere Bedeutung. Man kann ihre Kräfte auch gezielt einsetzen, wenn man die eine oder andere miteinander koppelt. Sogenannte Binderunen. Die hier an der Wand heißt zum Beispiel Algiz. Sie ist eine Schutzrune.“
„Kennst du dich damit auch aus?“
„Ein wenig. Meine Eltern schon mehr. Meine Mutter stellt selber Binderunen her. Komm wir gehen jetzt hoch.“
Sie verlassen die Höhle wieder und steigen über die alten ungleichmäßigen Stufen den Felsen drei hoch. Immer wieder kommen ihnen beim Aufstieg auf den sehr engen Stufen Personen entgegen.
„Die Treppe ist aber auch mal eng“, meint Jan.
„Wenn man sich überlegt, das die bestimmt nicht für diesen Betrieb konzipiert war.“
„Hast ja recht, aber so langsam sollten wir doch mal oben sein, oder?“
„Ich glaube, nach der nächsten Biegung.“
Jan laufen die Schweißperlen nur so von der Stirn. Aber ihr zu liebe würde er jetzt sogar durch die glühende Sahara laufen.
„Schau. Da ist die Brücke!“ ruft sie Jan hinterher, der ihr auf wenige Schritte nachfolgt.
„Ja, bin gleich da“, fügt er an.
Simone bleibt nun mitten auf dem mit Brettern ausgelegten, stählernen Übergang stehen. Jan folgt ihr sehr schnell nach und stellt sich neben sie an die Brüstung. Sie schauen herunter auf die Wiesen und den See.
„Das ist bestimmt wahnsinnig romantisch, wenn die Felsen abends von der untergehenden Sonne bestrahlt werden. Aber leider bleiben wir nicht so lange hier, um das noch miterleben zu können.“
„Es ist doch schon romantisch genug, oder?“, hechelt Jan, der gerade doch ein wenig aus der Puste zu sein scheint.
„Hast ja Recht.“
„Was die anderen jetzt wohl machen?“
„Die sitzen bestimmt irgendwo herum und langweilen sich zu Tode. Komm wir gehen weiter.“
„Schau mal Simone, eine Art Altar.“
Sie stehen gerade vor dem Altarstein mit dem Sonnenloch.
„Genau, ich glaube hier beobachteten die den Sonnenstand bei der Sommersonnenwende. Aber was die dabei gemacht haben und warum, keine Ahnung.“
„Das kann durchaus sein mit der Sonnenwende. Was du nicht alles weißt. Ich meine so als Christ!“
„Simone, ich bitte dich!“
„Worum?“, antwortet sie und lächelt ihn an.
„Du weißt schon! Bitte derartige Witze unterlassen, danke.“
„Schon gut. Ich verbessere mich. Ich meine so als Asatruar.“
Darauf antwortet er sicherheitshalber mit Schweigen und schaut sie mit großen Augen an.
„Was ist, Jan?“
„Nichts. Ist schon in Ordnung.“
Sie drehen sich um und stehen wieder vor der kleinen Brücke. Immer noch hat Simone Jans Hand fest im Griff.
„Komm wir gehen wieder rüber. Ich möchte ja auch noch mal kurz auf den anderen Stein rauf“, sagt sie.
Unten, von der Suche nach der Klassenlehrerin zurück, sitzen Mario, Dirk und Alex wieder auf der Bank, die sie sich bei diesem Betrieb mühsam zurück erkämpft haben. Frau Müller schaut sich indessen das Treiben ihrer Bagage mal aus der Nähe an.
„Wo habt ihr Frank und Markus gesehen?“, fragt sie die drei.
„Da vorne am Waldrand. Jan und Simone sind oben auf dem Felsen“, zeigt ihr Mario.
„OK.“
Sie geht langsam in Richtung Wald und macht sich ihr eigenes Bild von den beiden Quertreibern. Simone und Jan stehen nun mitten auf der kleinen Brücke.
„Sieh mal, da unten sitzen die drei ja wieder“, meint sie. „Aber von den anderen ist immer noch nichts zu sehen.“
„Die sind bestimmt im Wald und halten Händchen“, lacht Jan.
„Das machen wir doch auch, du Flitzpipe.“
„Ich geb´ dir so Flitzpipe, meine Kleine. Hast ja Recht. Schau mal!“, er traut seinen Augen nicht, „Da ist wieder so ein komischer Schmetterling. Ich dachte immer Elfen leuchten.“
„Wer sagt denn so was? Schaust zu viel Fern, oder? Wenn die leuchten würden, dann würden sie doch sofort von jedem erkannt. So bemerkt sie nur derjenige, der genau hinschaut und sie auch sehen will.“
Dabei schmunzelt sie leicht.
„Nun ja, das hört man doch immer. Da ist noch einer!“, dabei zeigt er in die andere Richtung.
„Hey Alter, wie sieht es aus“, fragt Dirk Mario unten auf der Bank. „Sollen wir gleich auch mal auf Brautschau gehen? Hier läuft ja genug Freiwild herum.“
„Entspann dich doch mal. Du bekommst sicher auch noch eine ab. Wir fahren aber in einer Stunde auch schon wieder rein. Da lohnt sich das doch gar nicht mehr.“
„Stimmt schon. Morgen ist ja auch noch ein Tag.“
Derweil macht sich oben auf der Brücke eine deprimierende Stimmung breit.
„Gleich fahren wir leider schon wieder los. Ich könnte hier noch Stunden verbringen“, meint Jan.
„Ja, ich auch. Aber wir kommen bestimmt noch mal hierhin zurück. Das spüre ich.“
Dabei wird ihre Stimme merklich ruhiger. Sie umarmen sich und ihre Gesichter kommen sich langsam immer näher. Dann küssen sie sich.