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3.2.2 Welche Sprachen wandeln sich (und welche nicht)?

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Die Frage danach, welche Sprachen sich wandeln – oder richtiger: welche Sprachen durch das Handeln der Sprecher gewandelt werden –, hängt eng zusammen mit der Frage, ob es Sprachen gibt, die vom Wandel verschont bleiben. Ein Beispiel für eine Sprache, in der keine Wandelprozesse ablaufen, ist das IthkuilIthkuil. Warum diese – wie viele andere künstliche Sprachen – vom Sprachwandel verschont bleibt und wieso sich alle natürlichen Sprachen, die aktiv gebraucht werden, zwangsläufig wandeln müssen, möchte ich Ihnen an dieser besonderen Sprache zeigen.

Das IthkuilIthkuil ist eine konstruierte Sprache, die von niemandem gesprochen wird, die aber von JOHN QUIJADA in den 1970er-Jahren mit dem Ziel erfunden wurde, alle Prinzipien natürlicher Sprachen zu vereinen. Das Resultat ist mehr ein sprachphilosophisches Spiel als der ernstzunehmende Versuch, eine natürliche Sprache zu erschaffen (was QUIJADA auch nicht beabsichtigt hatte). Das Ithkuil ist eine künstliche Sprache, die absolut perfekt wäre, wäre sie eine natürliche Sprache. Mit einem Haken: Das Ithkuil ist so perfekt, das es zum Sprechen nicht geeignet ist.

Man kann mit einigem Recht behaupten, dass es sich bei dieser Kunstsprache um die wohl schwierigste Sprache der Welt handelt, weil es zugleich auch die wahrscheinlich komplexeste Sprache ist. Sie ist so komplex, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass man sie überhaupt erlernen kann. Das Deutsche ist – wie alle natürlichen Sprachen – ein überaus komplexes Zeichensystem, wie wir in Kapitel 1 erkennen konnten. Aber im Vergleich zum IthkuilIthkuil ist es eine eher einfache Sprache. Dabei ist das Deutsche gemessen an seiner grammatischen KomplexitätKomplexitätgrammatische auch insgesamt nicht so schwer zu erlernen wie andere Sprachen. Im Deutschen gibt es bekanntlich vier Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ) – nicht viel, wenn man sich die 15 Kasus des Finnischen vor Augen führt.

Doch im Vergleich zum IthkuilIthkuil ist das Finnische eine Kindersprache. Das Ithkuil verfügt über 81 Kasus, es gibt insgesamt 65 Konsonanten (darunter aspirierte Konsonanten, Ejektive und Knacklaute) sowie 17 Vokale und es besteht lexikalisch aus 16200 Stämmen, die aus 900 Wurzeln abgeleitet sind. Auch das Schriftsystem ist nicht mit dem der deutschen Sprache vergleichbar: „Im Schriftsystem ist lautliche und morphologische Information kodiert, die Schreibrichtung ist wie bei alten griechischen Inschriften bustrophedonal […], d.h. sie geht von links nach rechts und von rechts nach links“ (SCHLOBINSKI 2014: 35). Damit Sie sich ein besseres Bild von einer bustrophenodalen Schreibweise machen können, versuchen Sie einmal, den folgenden Text in englischer Sprache zu lesen:

THE ITHKUIL SCRIPT IS WRITTEN IN A HORIZONTAL BOUSTROPHEDON

TNEUQESBUS YREVE DNA TSRIF EHT HCIHW NI ,RENNAM (GAZ-GIZ ,.E.I)

ODD-NUMBERED LINE OF WRITING IS WRITTEN LEFT-TO-RIGHT, WHILE

-TIRW FO ENIL DEREBMUN-NEVE TNEUQESBUS YREVE DNA DNOCES EHT

ING IS WRITTEN RIGHT-TO-LEFT.

Die Schrift des IthkuilIthkuil, die man Içtaîl nennt, ist eine morpho-phonemische Schrift, eine Schrift also, die Angaben zur lautlichen Realisierung der Schriftzeichen enthält. Wenn man alle möglichen Kombinationen von Teilsymbolen zusammenrechnet, ergibt sich eine Summe von 3606 Schriftzeichen in der Ornamentalschrift das Ithkuil.

Der folgende Beispielsatz soll Ihnen die KomplexitätKomplexität vor Augen führen (die englische Übersetzung finden Sie unter dem Beispielsatz):1


Tram-mļöi hhâsmařpţuktôx.

On the contrary, I think it may turn out that this rugged mountain range trails off at some point.

Die Idee hinter der Erfindung des IthkuilIthkuil war, eine Sprache zu konstruieren, die absolut exakt ist und die all das ausschließt, was in natürlichen Sprachen zu Verständigungsproblemen führen kann.

Exaktheit einer Sprache führt aber zwangsläufig dazu, dass sie für Sprecher nicht taugt: Deren HandlungsmaximenMaximeHandlungs- beim Kommunizieren sind nämlich nicht auf völlige Vermeidung von Missverständnissen und auf sprachliche Präzision ausgerichtet, sondern auf die BeeinflussungBeeinflussung des Gegenübers. Damit das gelingen kann, muss eine Sprache offen sein für InnovationenInnovation, was gleichbedeutend ist mit einer Offenheit für sich wandelnde individuelle kommunikative StrategienStrategie.

Das IthkuilIthkuil hingegen ist ein komplexes und in sich geschlossenes System. Diese Sprache ist so perfekt, dass sie sich nicht verändern kann. Es gibt hier weder einen Grund noch eine Möglichkeit zur Veränderung. Wäre dies eine natürliche Sprache, dann würde jeder Sprecher ganz exakt dieselbe Sprache sprechen, VariationenVariation wären völlig ausgeschlossen. Damit wären weder der fehlerhafte Gebrauch von Sprache möglich noch innovative Wortverwendungen abseits der Norm, aus denen sich nicht selten neue sprachliche KonventionenKonvention ergeben, die man dann mit zeitlichem Abstand als Sprachwandel bezeichnen kann. Ein solches System wäre völlig unflexibel – und damit für sprachliches Handeln untauglich. Denn: Sprache haben wir eben nicht, damit wir uns präzise und exakt ausdrücken können. Sie dient uns nicht zur verlustfreien Übermittlung von Botschaften. Im Gegenteil: Sprachliche Kommunikation löst kein Transportproblem. Vielmehr dient sie uns als Mittel, unsere kommunikativen Ziele erreichen zu können. Damit das von Fall zu Fall individuell gelingen kann, muss Sprache offen und dynamisch sein. Eine geschlossene und statische Sprache wie das Ithkuil ist also zwar exakt, aber zum Kommunizieren nicht geeignet – ganz abgesehen davon, dass es wohl fast unmöglich wäre, eine solche Sprache zu erlernen.

Halten wir daher als Grundsatz für die Möglichkeit bzw. hypothetische Unmöglichkeit sprachlichen Wandels in einem Sprachsystem fest:

[bad img format]Je exakter und formalisierter eine Sprache ist, desto weniger Wandel ist möglich. Und: Je weniger Variationsmöglichkeiten ein sprachliches System bereithält, desto weniger eignet es sich als zweckrationales Mittel sprachlichen Ausdrucks.

Sprachen, die sich nicht eignen, werden erfunden, aber nicht gesprochen. Eine Sprache nicht zu sprechen ist die beste Möglichkeit, sie so zu bewahren, wie sie ist: Dadurch, dass niemand diese Sprache verwendet, ist sie statisch – sie verändert sich nicht.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass eine natürliche Sprache nie etwas Stabiles ist. Dies gilt für den individuellen Sprachgebrauch, vielmehr jedoch für die Sprache in ihrer Gesamtheit als System und die auf dieser Basis entstehenden Texte. Für natürliche Sprachen gilt daher:

[bad img format]Natürliche Sprachen sind exakt genug, damit Missverständnisse weitgehend ausgeschlossen werden und zugleich offen genug, um das Potenzial der Anpassung an veränderte Nutzungsbedingungen in sich zu tragen.

Das bedeutet: Sprachen, die verwendet werden, wandeln sich. Sprachwandel ist dabei ein Resultat der Sprachverwendung. Sprachwandel ist also ein deutliches Zeichen für die kommunikative Tauglichkeit einer Sprache; er ist kein Zeichen für Unvollkommenheit.

Sprachwandel - Bedeutungswandel

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