Читать книгу Unter der Drachenwand von Arno Geiger: Reclam Lektüreschlüssel XL - Sascha Feuchert - Страница 4
1. Schnelleinstieg
ОглавлениеAutor | Arno Geiger (geb. 1968), österreichischer Schriftsteller |
Erscheinungsjahr | 2018 |
Gattung | Roman |
Handlungszeit | Dezember 1943 bis Dezember 1944 (inkl. Rückblicke) |
Erzählerische Vermittlung | Vier Ich-Erzähler, ein auktorialer Erzähler |
Handlung: Der Roman hat zwei Parallelhandlungen Handlungsstränge. Die Haupterzählung entfaltet sich um den anfangs knapp 24-jährigen Soldaten Veit Kolbe, der 1944 im Krieg an der Ostfront verwundet wurde und das Lazarett schließlich verlassen darf, um sich zu Hause weiter zu erholen. In Wien bei seinen Eltern hält er es aber nicht allzu lange aus und begibt sich zu seinem Onkel Johann an den Mondsee im Salzkammergut. Der Bruder seines Vaters amtiert dort als Postenkommandant der Gendarmerie und kann Veit bei einer Quartierfrau in seiner Nähe unterbringen. Der junge Mann ist vom Krieg hoch traumatisiert und erleidet immer wieder Angstanfälle, die er schließlich auf Anraten eines örtlichen Arztes mit Pervitin, einem Metaamphetamin, zu bekämpfen sucht. In der vom Krieg noch weitgehend verschonten Gegend trifft Veit zwei junge Frauen, die ihn interessieren: Margarete, eine etwa gleichaltrige Lehrerin aus Wien, die in Schwarzindien, einem kleinen Ort am See, landverschickte Mädchen beaufsichtigt und unterrichtet, und Margot, eine junge Darmstädterin, die mit einem Soldaten aus der Gegend verheiratet und vorübergehend zusammen mit ihrem Baby in einem Zimmer neben Veit untergebracht ist. Während Margarete ihn kalt abblitzen lässt, beginnt Kolbe mit Margot bald eine Affäre, die ihm zunehmend Halt gibt. Als Nanni Schaller, eines der landverschickten Mädel, das mit ihrem drei Jahre älteren Cousin eine Liebesbeziehung hat, verschwindet und der Onkel nur zögerlich und mit wenig Empathie ermittelt, selbst als Nanni tot aufgefunden wird, erkennt Veit immer deutlicher, dass Johann Kolbe für all das steht, was er verachtet: am ›Dritten Reich‹, am eigenen Vater, an sich. Die Situation eskaliert, als der Onkel den Regimegegner Robert Raimund Perttes, einen verschrobenen Gärtner, der Veit mit seiner Haltung tief beeindruckt, festnehmen will: Der Neffe erschießt den Onkel und befreit den »Brasilianer«, der so genannt wird, weil er ein paar Jahre in Südamerika lebte. Der Mord an dem Gendarmen bleibt unaufgeklärt und Veit kehrt nach fast einem Jahr Auszeit vom Krieg an die Front zurück. Er wird – so informieren die »Nachbemerkungen« eines fiktiven Herausgebers – den Krieg überleben und Margot heiraten.
Als Parallelhandlung, die nur lose mit den anderen Figuren verknüpft ist, wird vom Schicksal des jüdischen Zahntechnikers Oskar Meyer und seiner Familie berichtet. Meyer hat einmal in derselben Gasse in Wien gewohnt wie Veit Kolbe, bevor die Judenverfolgung einsetzte. Die fortgesetzten Erniedrigungen und die enorme Gefahr, deportiert zu werden, bringen ihn 1942 dazu, mit seiner Frau Wally und seinem Sohn Georg nach Budapest zu fliehen (ein weiterer Sohn, Bernhard, konnte ins Exil nach England gehen). In Budapest geht es der Familie zunächst etwas besser. Doch 1944 marschieren die Deutschen ein und die Verfolgungen beginnen von Neuem mit großer Brutalität: Seine Frau und sein Sohn geraten in eine Razzia und werden – wie aus den »Nachbemerkungen« zu erfahren ist – nach Auschwitz deportiert und ermordet, Oskar selbst wird als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verschleppt und muss am Bau des Südostwalls mitwirken. Auch er wird den Krieg und den Holocaust nicht überleben.
Werkaufbau: Die Handlung wird nicht aus einer übergeordneten Perspektive vermittelt, sondern es kommen vier Vier Ich-Erzähler Ich-Erzähler zu Wort: Der wichtigste ist Veit Kolbe, der in einem (offenbar überarbeiteten) Tagebuch über seine Zeit in Mondsee berichtet. Ergänzend zu seinen Schilderungen treten Briefe von Margots Mutter Lore Neff, die über das Leben im vom Luftkrieg erschütterten Darmstadt und über Margots Familie berichtet, sowie von Kurt Ritler, der mit seiner 13 Jahre alten Cousine Nanni Schaller eine erste Liebe gefunden hat, die tragisch endet.
Der zweite Erzählstrang wird durch die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen Oskar Meyers vermittelt, der vom Schicksal seiner Familie in Wien und Budapest berichtet und dessen Stimme ein letztes Mal zu vernehmen ist, als er in Hainburg zur Zwangsarbeit angekommen ist. Noch einmal wird er danach in Veits Tagebuch erscheinen, der ihm zufällig begegnet, ohne ihn freilich zu (er-)kennen. Nur an dieser Stelle sind die beiden Erzählstränge direkt verbunden.
Abgeschlossen wird der Roman von den Nachbemerkungen eines fiktiven Fiktiver Herausgeber Herausgebers, der über den weiteren Lebensweg der wichtigsten Figuren informiert.
Arno Geigers Roman wurde nach seiner Publikation sofort stürmisch von der Kritik gefeiert: Geigers Entscheidung, die Ereignisse dominant von Erzählern vermitteln zu lassen, die noch nicht wissen, wie und wann der Krieg enden wird und ob sie selbst ihn überleben werden, überzeugte die Rezensenten offenbar vollends. Geiger sammelte über ein Lange Recherche Jahrzehnt hinweg Briefe und Tagebücher aus der Zeit und studierte sie genau, um diese Perspektive(n) überzeugend zu konstruieren. Dem Roman gelingt es damit, Fragen zu stellen, die auch für heutige Leser noch hoch relevant sind: Wo beginnt die Verantwortung des Einzelnen, was darf er tun, um sich einem Geschehen zu entziehen, das er für falsch und zutiefst inhuman hält? Wo beginnt die Mitwirkung an einem Verbrechen? Gibt es die Rolle des Zuschauers in einem solchen Geschehen überhaupt? Und: Welche Kraft hat die menschliche Liebe in Zeiten wie diesen wirklich?
Mithilfe einer genauen Rekonstruktion der Handlung und der sorgsamen Analyse der komplexen erzählerischen Vermittlung will dieser Lektüreschlüssel versuchen, auch diese weitereichenden Fragen freizulegen und im Kontext des Romangeschehens zu problematisieren. Immer wieder kann dabei auf Aussagen des Autors zurückgegriffen werden, der in einem Interview Aufschluss über seine Motivation und seine Arbeitsweise gegeben hat.1 Auch wenn der Leser letztendlich ›den Text macht‹, indem er mit seiner Phantasie und mit seinem Wissen die Leerstellen2 füllt, die jeder Text lässt bzw. lassen muss, kann (nicht muss!) die Stimme des Autors eine wichtige zusätzliche Ressource für das Verständnis und die eigene Interpretation sein.