Читать книгу Der Kubaner - Savanna de los Santos - Страница 5

Hinter der Finsterniss

Оглавление

Sie versuchte sich zu befreien, sie wollte schreien, doch sie bekam keinen Ton heraus. Regungslos lag sie da, unfähig sich zu bewegen, umgeben von Dunkelheit. Es war nur ein Traum, ein immer wiederkehrender Traum. So realistisch, als wollte er sie verschlingen. Fe wachte auf, sie zitterte am ganzen Körper. Nur keine Panikattacke, dachte sie, beruhig dich wieder, du bist wach - alles ist gut... Sie stand auf und ging in die Küche, die im grellen Neonlicht noch kälter und steriler wirkte, als es schon bei Tag der Fall war. So also sah ihre Zukunft aus. Sie setzte einen Kessel mit Wasser auf, um Tee zu kochen. Alles um sie herum schien sich zu drehen. Immer, wenn sie diesen verdammten Traum gehabt hatte, fühlte sich so, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Sie öffnete das Fenster, die kühle Nachtluft tat ihr gut. Zehn Minuten später saß sie wieder auf ihrem Bett und trank vorsichtig, und in kleinen Schlucken, von ihrem heißen Tee – allmählich beruhigte sie sich und sie fühlte sich langsam etwas besser. Sie wusste, dass ihr Unterbewusstsein ihr mit den Träumen etwas sagen wollte: Lauf weg! Geh, solange du noch kannst. Es war Zeit für eine Veränderung, höchste Zeit - und Fe wusste nur zu gut, dass sie unmöglich so weiter machen konnte. Die quälenden Träume, die Panikattacken, die Angst zu sterben, noch bevor sie richtig gelebt hatte. Vielleicht wurde sie langsam wahnsinnig? Die Zeit verging und ihr Leben, das nur noch auch zahllosen Wiederholungen zu bestehen schien, lief an ihr vorbei – ohne sie auch nur noch im Geringsten zu berühren. Langeweile mischte sich mit Hoffnungslosigkeit – und die Hoffnungslosigkeit drohte nun langsam zur Verzweiflung zu werden. Seit Jahren hatte sie für alles die Verantwortung übernommen, hatte ihre eigenen Bedürfnisse zurück gestellt und war ihrem Pflichtgefühl gefolgt, doch sie hatte dabei mehr und mehr ihre Lebensfreude verloren. Sie fühlte sich eingeengt. Während andere sie um ihr Leben beneideten, wäre sie glücklich gewesen, es hinter sich lassen zu können. Sie war längst nicht mehr die junge fröhliche Fotografin und Werbetexterin, die alle in ihr sahen. Sie war dabei, zu einer grauen, panischen Maus zu mutieren. Zu einer, die sich zurückzog und den Kontakt zu anderen Menschen scheute. Das hier, so viel war sicher, das war nicht ihr Leben. Sie hatte lange genug versucht sich anzupassen, doch sie hatte sich dabei verloren. Irgendwo zwischen Werbeaufnahmen, zwischen schnell getexteten Slogans und den bescheuerten Partys, auf denen sie ihre freie Zeit totschlug, war ihr wahres ich verloren gegangen. Und, dass sie jetzt noch immer hier war, das hatte sie einzig und allein ihrer enormen Selbstbeherrschung zu verdanken.


„Du bist jung, du bist hübsch, du bist erfolgreich und du hast Geld, was willst du noch?“, hatte ihre Mutter sie gefragt, als Fe ihr an einem Freitagnachmittag von ihren Träumen erzählt hatte und anvertraut hatte, dass sie inzwischen fast täglich unter Panikattacken litt.

„Ehrlich Ma, du bist der wohl oberflächlichste Mensch, den ich kenne!“, hatte sie gereizt geantwortet.

„Nun, vielleicht bin ich oberflächlich, und wenn schon! Aber ich bin zufrieden, Fe! Das solltest du auch sein. Du hast doch alles! Wo bitte ist dein Problem? Willst du wieder nach Kolumbien und im Dreck leben, so wie der Rest deiner nutzlosen Familie? Geh zu einem Therapeuten, Fe. Oder besser noch, heirate Antonio und schenk mir ein paar nette Enkelkinder, das wird dich schon auf andere Gedanken bringen. Es wird ohnehin langsam Zeit für dich, eine Familie zu gründen. Du wirst auch nicht jünger, meine Liebe!“.

Ein sinnloses Gespräch.

Fe Mutter kramte in ihrer Handtasche und zog kurz darauf eine Visitenkarte heraus, die sie Fe hinhielt.

„Hier mein Engel, die Nummer von meinem Therapeuten - los, nun nimm schon. Ruf ihn an, er wird dir helfen. Der Mann ist gut, ehrlich! Sieh mich doch an, Fe, mir geht es wunderbar!“

„Du kannst mich mal, Ma, ehrlich! Danke für deine Unterstützung, du warst eine große Hilfe!“

Wenigstens wusste sie jetzt, wer Antonio den Floh ins Ohr gesetzt hatte, dass es Zeit zum Heiraten wäre. Sollte das ihre Zukunft sein? Das könnte euch so passen, hatte Fe wütend gedacht, als sie wenig später das Haus ihrer Eltern, ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen, verlassen hatte.


Zuhause wurde sie bereits ungeduldig erwartet: „Wo warst du?“

Die Stimmung war schlecht. Aber war sie das nicht immer?

Antonios Stimme klang vorwurfsvoll: „Warum hast du nicht angerufen?“

Sie war sich sicher, dass er längst von dem Gespräch mit ihrer Mutter wusste und antwortete nicht.

„Helen hat angerufen - sie macht sich Sorgen um dich!“

Volltreffer! Wusste ich’s doch, Fe hatte nichts anderes erwartet.

„Ich finde deine Mutter hat Recht, wir sollten endlich heiraten, was meinst du? Im Sommer vielleicht?“

Sie sah ihn genervt an: „Nein, ich denke nicht, dass sie Recht hat, Antonio. Und ich will jetzt auch nicht darüber reden, ich bin müde.“

„Heißt das, wir gehen heute Abend nicht weg? Wir wollten doch…“

„Du wolltest!“, unterbrach sie ihn, ohne ihn dabei anzusehen. “Und du kannst meinetwegen auch gehen, ich werde jedenfalls hier bleiben!“

„Was ist bloß los mit dir?“

Sie hatte keine besondere Lust sich mit ihm zu unterhalten. Sie wäre jetzt lieber alleine gewesen und sie hoffte, dass er gehen würde. Stattdessen entschied er sich dazu, ihr Gesellschaft zu leisten.

„Also gut, bleiben wir zuhause! Was willst du machen?“

„Schlafen, lesen, keine Ahnung. Ich will einfach nur meine Ruhe haben.“

Sie verschwand im Bad.

Er ärgerte sich über Fe, doch er hielt es für besser, diesmal nichts zu sagen. Vielleicht hatte er es in den vergangenen Monaten übertrieben. Tatsächlich hatten sie immer nur das gemacht, was er wollte. Es wurde wohl Zeit, dass er wenigstens dieses eine Mal Rücksicht auf sie nahm und er hoffte sie würde das anerkennen. Zu seiner Verwunderung schien es Fe jedoch egal zu sein. Sie schenkte ihm das ganze Wochenende lang kaum Beachtung – von der erhofften Anerkennung keine Spur. Und so verbrachte er einen langen Freitagabend, einen noch längeren Sonnabend und einen geradezu endlos erscheinenden Sonntag mit seiner schweigsamen Freundin, die ihm eindeutig signalisiert hatte, dass sie keinesfalls von ihm angesprochen werden wollte.

Das ereignislose Wochenende war vergangen und wie immer folgte darauf ein gewöhnlicher Montagmorgen. Nichts deutete darauf hin, dass etwas Besonderes passieren würde. Fe hatte in der vergangenen Nacht wenig geschlafen und sich etwas verspätet auf den Weg zur Arbeit gemacht, war aber dennoch fast pünktlich in der Agentur angekommen, wo bereits die übliche Hektik herrschte. Fe ließ sich Zeit. Wie jeden Morgen ging sie in Ihr Büro, kontrollierte ihre Anrufe und die E-Mails und ließ sich von der Empfangsdame einen schwarzen Kaffee bringen, den Sie in aller Ruhe trank, bevor Sie mit Ihrer eigentlichen Arbeit begann. Sie hatte noch verschiedene Fotos für eine Werbekampagne zu bearbeiten – eine langweilige Aufgabe, die sie zu ihrer Erleichterung dann jedoch schneller als geplant erledigt hatte. Als sie kurz darauf das Büro ihres Vaters betrat, um ihm das Ergebnis ihrer Arbeit zu präsentieren, schien es, als hätte er sie bereits erwartet.

„Ein neuer Kunde“, sagte er und reichte ihr einen Ordner.

„Gestaltung der Website, Broschüren, das übliche eben – dein Auftrag.“

„Nein! Es tut mir Leid, Pa, sei mir nicht böse, aber diesmal nicht. Ich mache das ständig, weißt du. Am Ende ist es dann immer das Gleiche, Tag für Tag das Gleiche, es ist langweilig – schlicht und einfach sterbenslangweilig! Ich will das nicht mehr!“

Er sah sie überrascht an. Natürlich war es langweilig, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Tochter den Auftrag deshalb ablehnen würde. Dafür hatte er sie für zu professionell gehalten. Sie arbeite schnell und routiniert und beklagte sich für gewöhnlich niemals. Die Kunden waren stets mehr als zufrieden mit ihrer Arbeit und viele seiner Auftraggeber verlangten immer wieder nach Fe. Natürlich, sie braucht dringend eine Abwechslung, dachte er kopfschüttelnd und er fragte sich, warum er nicht schon längst von selbst darauf gekommen war. Er erhob sich von seinem Stuhl und lehnte sich auf den Rand seines Schreibtisches, um mit seiner Tochter auf Augenhöhe zu sein.

„Also gut Fe, ich verstehe! Wie wäre es mit Portugal? Willst du nach Lissabon?“

„Lissabon?“ Fe war überrascht. „Wann?“

„In etwas zwei Wochen.“

Er reichte Fe eine blaue Mappe.

„Wir brauchen Fotos von der Stadt.“

Sie nickte.

„Sehenswürdigkeiten, Hotels, Freizeitangebote. “

Fe musste nicht lange überlegen. Das hier war die Chance, auf die sie schon lange gewartet hatte. Raus aus Hamburg, weg von all den Langweilern und weg von Antonio, der sie immer mehr einengte. Nach dem vergangenen Wochenende, und nach fünf Jahren Beziehung, bezweifelte sie, dass es noch viel Sinn haben würde, weiterhin mit ihm zusammen zu leben. Sie hatte das Gefühl, dass er sie langsam aber sicher erdrücken würde, er nahm ihr die Luft zum Atmen und trieb sie mit seiner ständig wachsenden Eifersucht in den Wahnsinn. Der gut aussehende Italiener, hatte sich zu einem echten Arschloch entwickelt. Im Grunde hatten sie sich schon lange nichts mehr zu sagen und in den vergangenen Monaten hatte Fe es aufgegeben mit ihm zu reden. Ganz gleich worum es ging, sie waren nie einer Meinung. Jetzt stellte sie sich vor, wie er wohl darauf reagieren würde, wenn sie ihm sagte, dass sie, ganz sicher ohne ihn, nach Lissabon fahren würde. Sie musste lächeln. Die Vorstellung daran erschien ihr zu komisch.

„Du bist der Beste!“, sie umarmte ihren Vater „Danke!“

Frederico Luengo Martinez kannte seine Tochter. Er hatte schon seit langer Zeit das Gefühl gehabt, dass sie unzufrieden war. Doch sie hatte nie etwas gesagt, und so hatte er sich keine weiteren Gedanken gemacht. Sie hatte nie besonders gut in diese heile Welt gepasst, das war ihm schon vor einigen Jahren klar geworden. Er hatte gemerkt, wie sich seine Tochter, während eines mehrmonatigen Kolumbienaufenthaltes, von einer nachdenklichen, und für ihr Alter viel zu disziplinierten, jungen Frau, zu einer lebensfrohen und ausgelassenen Persönlichkeit entwickelt hatte. Zurück in Deutschland war sie dann jedoch schnell wieder ihren alten Gewohnheiten verfallen: Sie machte ihren Job, so perfekt, wie sie es immer getan hatte und spiele das perfekte „Glamourgirl“, das, was Antonio so liebte. Wer sie nicht kannte, der hätte sie leicht für die verwöhnte Tochter wohlhabender Eltern halten können, für eine, die überheblich war und den Luxus liebte. Doch Fe war wie ihr Vater, der aus einer ärmlichen kolumbianischen Großfamilie stammte - sie wusste den Wohlstand zu schätzen, doch sie hasste das verschwenderische und großspurige Leben. Sie belächelte ihre Mutter, die ein Vermögen für Kleidung, Wellness und kosmetische Behandlungen verschwendete und sie verabscheute die arroganten Fahrer der überteuerten Sportwagen, die Tag für Tag vor der Agentur parkten – und zu denen auch Antonio gehörte. Fe selbst fuhr voller Stolz ihren alten Geländewagen, den Sie sich vor einigen Jahren von ihrem ersten selbst verdienten Geld gekauft hatte.

„Na dann los, Schatz, gehen wir essen und besprechen die Einzelheiten.“ Frederico war aufgestanden, er hatte zufrieden nach seiner Jacke gegriffen und lächelte, die noch immer vor Begeisterung strahlende, Fe an. „Zum Mexikaner?“, fragte er. Sie nickte und lief in ihr Büro um ihre Sachen zu holen.

Fe war aufgeregt. Gleich nachdem sie sich, nach einem fantastischen Essen, vor dem Restaurant von ihrem Vater verabschiedet hatte, begann sie mit der Reiseplanung. Das Hotel war bereits gebucht, den Flug hatte sie abgelehnt, sie wollte lieber mit dem Auto fahren, denn das würde ihr mehr Zeit geben und die Möglichkeit, sich auf Lissabon vorzubereiten. Sie liebte es allein mit dem Wagen unterwegs zu sein. Jede längere Strecke, die sie in ihrem alten Defender zurücklegte, war eine willkommene Gelegenheit, um über all die Dinge nachdenken zu können, für die sie sonst weder die Zeit noch die Ruhe fand. Fe nutzte ihre gute Laune für einen Stadtbummel. Sie versorgte sich mit Sonnencreme, kaufte eine neue Sonnenbrille und ein paar weitere Kleinigkeiten, von denen sie meinte, sie auf ihrer bevorstehenden Reise gebrauchen zu können. Bevor sie sich dann, glücklich und erschöpft, auf den Heimweg machte, suchte sie eine Buchhandlung auf. Sie kaufte einen Reiseführer, eine Karte von Lissabon und einen Sprachkurs für Selbstlerner. Schließlich konnte es nichts schaden, sich schon einmal mit der portugiesischen Sprache vertraut zu machen. Oder?

In den folgenden Tagen war sie damit beschäftigt ihre Fotoausrüstung auf den neuesten Stand bringen. Das Auto hatte sie in die Werkstatt gebracht, um es auf die bevorstehende Fahrt vorbereiten zu lassen. Der alte Wagen brauchte dringend einen Ölwechsel und hatte sich ein paar neue Reifen verdient. Immerhin musste er in ein paar Tagen eine Strecke von rund 2.800 Kilometern zurücklegen – die Rückfahrt nicht mitgerechnet. Antonio hatte überraschend gelassen auf Fes Pläne reagiert, nicht etwa, weil ihm gefiel, was sie vorhatte, vielmehr lag es an dem Gespräch, das er mit Frederico geführt hatte. Er bewunderte Fes Vater und so respektierte er mürrisch, dass dieser sich unumstößlich dazu entschlossen hatte, seine Tochter nach Portugal zu schicken.

„Meine Entscheidung steht fest.“, hatte Frederico gesagt: „Felicitas fährt nach Lissabon!“

Seine Worte hatten keine Diskussion zugelassen und Antonio hatte gewusst, dass es sinnlos gewesen wäre, ihm zu widersprechen. Später hatte er dann mit Helen gesprochen und sie gefragt, ob sie nicht noch einmal mit Frederico zu reden könnte. Vielleicht, hatte er gedacht, würde sie ihn umstimmen. Zu seiner Überraschung fand Fes Mutter die Angelegenheit jedoch weit weniger schlimm als er. Im Gegenteil, sie hielt es für ausgesprochen klug von ihrem Mann, Fe für ein paar Wochen nach Lissabon zu schicken. Sie war sogar der Meinung, dass ihrer Tochter diese Auszeit gut tun würde. Was war nur los mit ihr?

Die Woche war rasend schnell vergangen und der Freitag kam schneller, als Fe ihn erwartet hatte. Bis zum ersten Geschäftstermin, den Fe in Portugal wahrnehmen musste, verblieben zehn Tage. Sie hatte ihre Reiseroute bereits sorgfältig geplant. Sie beabsichtigte einen Zwischenstopp in Paris einzulegen und einen weiteren in Bordeaux – und sie hatte ein oder zwei Übernachtungen in Madrid eingeplant, wo sie eine Freundin besuchen wollte. Ihre Sachen waren gepackt und Fe war voller Vorfreude und bereits in Aufbruchsstimmung. Sie verstaute ihr Gepäck im Geländewagen und kündigte, zu Antonios Missfallen, an, dass sie beabsichtigte, bereits am nächsten Morgen aufzubrechen.


Der Kubaner

Подняться наверх