Читать книгу Moonlight Romance Staffel 3 – Romantic Thriller - Scarlet Wilson - Страница 6
ОглавлениеWas vor ihr lag, war ein Grabstein! Da alles Mögliche an Land gespült wurde, warum nicht auch ein Grabstein, den jemand, weil er nicht wusste, wohin damit, einfach ins Meer geworfen hatte. Das war es nicht, was Kelly erschütterte, so sehr, dass sie sich erst einmal in den feuchten, steinigen Sand fallen lassen musste. Man konnte den Stein einer Person zuordnen. Es stand ein Name darauf, was auch nichts Außergewöhnliches war. Und es gab ein Geburtsdatum und den Sterbetag. Kelly spürte, wie sie einen ganz trockenen Mund bekam. Sie starrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf den Stein, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Ungeheuerlichkeit begriff. Es war der Grabstein einer Kelly MacCready. Nicht nur das, sie hatte, genau wie sie, am 16. September Geburtstag, nur dass diese Kelly vor hundert Jahren das Licht der Welt erblickt hatte ..., und 25 Jahre nach der Geburt gestorben war. Kelly ... 16. September ... Das allein war es nicht, es gab noch eine Gemeinsamkeit. Sie war 25 Jahre alt, und wenn das jetzt ein Omen sein sollte, dann hatte sie nicht mehr lange zu leben!
»Flucht ist kein Ausweg!« Kelly Mortimer hatte noch sehr gut die Stimme ihrer Freundin Grace im Ohr, als sie ihr von der Reise ohne Ziel erzählt hatte. Auch jetzt noch verspürte sie nichts als Bitterkeit.
Grace hatte gut reden, dachte Kelly, schließlich hatte sie nicht zwei Tage vor der geplanten und ersehnten Hochzeit erfahren müssen, dass ihr Glück, ihre Zukunft nichts als ein Lügengebäude gewesen waren und Jim Adams nicht einen Augenblick lang sie gemeint hatte, sondern das Geld, das sie einmal von ihren Eltern erben würde.
Sie war auf seine Beteuerungen, auf seine Liebesschwüre hereingefallen, dabei hatte es vor ihr diese schreckliche Mandy gegeben.
Sie hatten während der ganzen Zeit eine Beziehung zu dritt geführt.
Und Jim hatte nicht einen Moment lang daran gedacht, seine Geliebte aufzugeben.
Die beiden mussten sich doch schlapp gelacht haben, dass man eine Millionenerbin so einfach hinters Licht führen konnte.
Sie hatten es sich nett gemacht, waren zusammen gewesen, als Kelly ihren Bräutigam auf einer Geschäftsreise wähnte, und sie hatten sich sogar eine Eigentumswohnung in allerbester Lage angesehen, die ihr Liebesnest werden sollte, von der Erbin finanziert.
Und das alles war geschehen, während sie noch auf der rosaroten Wolke des Glücks geschwebt war, selig, weil sie geglaubt hatte, in Jim Adams den Mann gefunden zu haben, der sie, Kelly, meinte und nicht den Mortimer-Goldfisch.
Nun, der Absturz war schrecklich gewesen und tat noch immer weh.
»Sei froh, dass das Schicksal es so gut mit dir gemeint und beizeiten die Augen geöffnet hat«, war die Reaktion ihrer Freundin gewesen, »er hätte dich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans …, besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Ich konnte ihn nie leiden, mir war er zu glatt, und ehrlich gestanden, war er mir auch zu schön, und dabei fällt mir noch ein sehr treffender Satz ein – von einem schönen Teller isst man nicht.«
Ja, ihre Freundin Grace, die hatte auf alles eine Antwort und hatte auch immer einen Spruch parat.
Aber recht hatte sie. Wenn Kelly ehrlich war, musste sie das zugeben.
So richtig hatte sie Jim Adams nie durchschauen können, und er hatte auch nicht viel von sich preisgegeben, so stimmte das mit dem »glatt und schön sein« schon.
Auch ihre Eltern waren von ihrem künftigen Schwiegersohn nicht begeistert gewesen und hatten nur beide Augen zugedrückt, weil es ihr Wunsch war, dass ihr einziges Kind glücklich werden sollte.
Und glücklich war sie gewesen.
Zumindest hatte sie sich das eingeredet, und Jim hatte sich ja auch voll ins Zeug geschmissen. Sie seufzte. Warum grub sie die alten Klamotten immer wieder aus?
Warum konnte sie nicht loslassen? Noch einmal wollte sie das Ende durchleben, und dann würde sie einen Cut machen, wie mit einem scharfen Messer.
Und danach würde sie die Zeit mit Jim aus ihrem Leben streichen und alles daran setzen, ihn so schnell wie möglich zu vergessen, und seine grässliche Mandy auch.
Eigentlich hätte sie so kurz vor der Hochzeit überhaupt keine Zeit gehabt, die Vernissage zu besuchen, die schon ein gesellschaftliches Ereignis war, weil der Maler total angesagt war und für seine Bilder schwindelerregende Preise erzielte.
Sie wäre gern mit Jim zur Vernissage gegangen, doch der hatte einen wichtigen Termin, über den er nicht sprechen wollte.
Und da sie Peter Dunn, den Künstler, sehr gut kannte, sogar eine Einladung von ihm persönlich erhalten hatte, und weil Grace darauf drängte, die sich solche Ereignisse niemals entgehen ließ, hatte sie nachgegeben, war mitgegangen und hatte es eigentlich nicht eine Sekunde lang bereut, bis … Kelly schloss die Augen. Es war so präsent, als sei es gerade jetzt erst geschehen.
Sie hatten ganz entspannt mit dem Künstler ein Gläschen Champagner getrunken, sich mit ihm über seine Erfolge gefreut, als Grace sie heftig am Arm gepackt hatte. So heftig, dass Kelly einen leisen Schmerzensschrei nicht hatte unterdrücken können.
Ihr ›ob sie verrückt geworden sei‹, hatte Grace überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, sondern mit ausgestrecktem Arm in eine Richtung gedeutet und gerufen: »Ich kann es nicht fassen, sieh dir das an.«
Kelly hatte in die Richtung geblickt, und sie hatte es nicht glauben können.
Eine ziemlich overdressed wirkende Frau mit auffallenden roten Haaren, vielleicht einer Spur zu viel Make-up im Gesicht, und die auch eine Spur zu auffallend war, trug eine atemberaubend schöne Kette.
Eine Kette, die es nur einmal auf der Welt gab, weil sie nur für die Mortimers angefertigt worden war und deswegen auch der Mortimer-Diamant genannt wurde.
Ihre Urgroßmutter war die erste Glückliche gewesen, die dieses außergewöhnliche Stück hatte tragen dürfen, und dann war er von Generation zu Generation weitergegeben worden. Nach dem Tod der Vorbesitzerin. Ihre Mutter hatte die Kette durchbrochen und ihr den Mortimer-Diamanten jetzt schon vermacht, damit Kelly ihn an ihrem Hochzeitstag tragen konnte und weil ihre Mutter auch der Meinung gewesen war, dass ein so erlesenes Stück an einem jungen glatten Hals auf jeden Fall besser aussah, als auf alter Haut.
Sie war überglücklich gewesen und entsetzt, als sie bemerkt hatte, das der Mortimer-Diamant verschwunden war, als sie ihn aus ihrer Schmuckschatulle nehmen wollte, um ihn zu ihrem Hochzeitskleid probeweise anzulegen.
Sie hatten alles in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden und sich das Hirn zermartert, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Ein Diebstahl war ausgeschlossen, denn ein Dieb hätte sich, weiß Gott, nicht mit diesem einen Stück begnügt, sondern hätte ordentlich zugelangt, und dann auch noch die eine oder andere Kostbarkeit mitgenommen, wie alte, schwere Leuchter aus massivem Silber und vieles mehr.
Und nun sah sie die Diamantkette am Hals einer vollkommen Fremden, die sie mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit trug.
Kelly erinnerte sich, dass sie nicht in der Lage gewesen war, etwas zu unternehmen. Und hätte Grace nicht ganz resolut eingegriffen, hätte sie die Fremde vermutlich sogar entwischen lassen, die allerdings nicht den Eindruck gemacht hatte, etwas zu tragen, was ihr nicht gehörte.
»Die schnappen wir uns«, hatte Grace gerufen und sie zu der Frau gezogen, die um ein kurzes Gespräch gebeten und weggezerrt, ehe die hatte antworten können.
Als sie in einer ruhigeren Ecke standen, hatte Grace es auch übernommen, den Sachverhalt aufzuklären und sich ohne weitere einleitenden Worte erkundigt, woher sie die Kette habe.
Die Rothaarige hatte ziemlich frech reagiert und sich wieder entfernen wollen.
Da war auch sie aus ihrer Lethargie erwacht und hatte mit erstaunlich ruhiger Stimme gesagt, dass die Kette ihr gehöre, dass sie einmalig auf der ganzen Welt sei und man nun die Polizei holen wolle, die den Diebstahl aufklären und ihr ihr Eigentum zurückgeben solle. Polizei … Diebstahl … Das hatte die Frau panisch gemacht, und da hatte sie angefangen wie ein Wasserfall zu plaudern.
Wäre Grace nicht an ihrer Seite gewesen, vermutlich wäre sie zusammengebrochen, denn es war so ungeheuerlich, was da zutage gekommen war …
Die Erinnerung übermannte sie schmerzhaft. Kelly schloss die Augen, biss sich auf die Lippen. Das war der Augenblick des Absturzes gewesen, das Zerbersten ihrer Träume, des Schmerzes zu wissen, von Anfang an die Belogene und Betrogene gewesen zu sein.
Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, wenn sie an Mandy dachte. Um ein schönes Leben zu haben, hatte sie von Anfang an mitgemacht bei dieser entwürdigenden menage a trois.
Den Schmuck hatte sie zufällig entdeckt, und da sie davon ausgegangen war, dass Jim ihn für sie gekauft hatte, war für sie nichts dabei gewesen, ihn bei einem solchen gesellschaftlichen Anlass auch zu tragen.
Die Wege des Schicksals sind unergründlich …, wieder so einer von den Sprüchen ihrer Freundin. Doch dem konnte man nicht widersprechen.
Sie war nur zufällig zu der Vernissage gegangen. Mandy hatte den Schmuck zufällig entdeckt und ihn getragen.
Und dadurch war der Stein ins Rollen gekommen, dass er vieles mitgerissen und tiefe Wunden hinterlassen hatte, nun, dagegen konnte man nichts machen.
Kelly hatte ihren Schmuck wieder, doch um welchen Preis! Würde sie jemals wieder unbefangen und offen einem Mann gegenübertreten können?
Würde sie nicht in jedem einen Jim Adams sehen?
Aus Angst davor, mit der Polizei in Berührung zu kommen, hatte Mandy wirklich gesungen wie ein Vögelchen und den ganzen gemeinen Betrug erzählt.
Also, diesen Spruch von wegen …, die Zeit heilt alle Wunden, würde Kelly nun nicht unterschreiben. Zwei Tage vor der Hochzeit die Hölle zu erleben. So hartgesotten konnte niemand sein, der das Kapitel des Lebens abschloss und eine neue Seite aufschlug, um eben neu zu beginnen.
Sie konnte es nicht, auch nicht, obwohl Grace und ihre Eltern sich rührend um sie bemüht hatten.
Schon allein die Peinlichkeit! Eine große Hochzeit! Ein gesellschaftliches Ereignis erster Güte! Und dann ein … April, April, die Hochzeit findet nicht statt.
Die Mortimers waren, vielleicht auch, weil sie sehr großzügig waren und ihnen all ihr Geld, all ihr Besitz niemals zu Kopf gestiegen waren, sehr beliebt und angesehen.
Doch Kelly war fest davon überzeugt, dass so mancher sich ins Fäustchen lachte, dass ihrer einzigen Tochter »so etwas« widerfahren war.
Den Grund für die Absage der Hochzeit hatten sie nicht genannt, doch sofort nachdem das publik geworden war, hatte die Gerüchteküche angefangen zu brodeln.
Mitleidige Blicke … Unverholene Schadenfreude … Häme … Kelly hätte es nicht ertragen, und deswegen war es schon richtig gewesen, sich erst einmal unsichtbar zu machen und mit unbekanntem Ziel abzureisen.
Mochte Grace es nun Flucht nennen, für sie war es Selbstschutz und die Chance, wieder zu sich, zu ihrer Mitte zu finden …
*
Kelly war gefahren und gefahren, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Während einer Tankpause hatte sie einen Kaffee getrunken und sich aus einem Automaten ein grässlich schmeckendes Sandwich mit Putenfleisch geholt.
Dann war sie wieder losgefahren bis die Straße vor ihren Augen angefangen hatte zu flimmern, bis sie ihre das Lenkrad umklammernden Finger nicht mehr spürte und ihr Nacken steif war und höllisch schmerzte. Es ging nicht mehr!
Nachdem sie zu dieser Erkenntnis gelangt war, hatte sie auch überhaupt keine andere Wahl mehr, sondern steuerte ein kleines Hotel an, das ziemlich einsam in einem Niemandsland zwischen Blackham Market und Dorsey lag, und den ein wenig irreführenden Namen »The Crown« trug.
Krone brachte man mit königlich in Verbindung, und königlich war an diesem Haus nun wirklich überhaupt nichts. Es sah eher so aus, als trotze es zwar Sturm und Regen, die bestimmt häufig über es hinwegfegten, habe aber kaum eine Chance auf ein Überleben, wenn nicht bald mit Restaurierungsarbeiten begonnen würde.
Als Kelly auf den Parkplatz gefahren war, hatte sie gewusst, das »The Crown« genau das Richtige für sie war.
Das Haus spiegelte von außen das wider, wie es in ihrem Inneren aussah.
Desolat, zerzaust, gebeutelt, aber mit einem guten Fundament.
Die Mortimers stiegen normalerweise in ganz anderen Häusern ab, doch Kelly hatte sich vom ersten Augenblick an geborgen gefühlt.
Das lag ganz gewiss an der jungen Wirtin Rosalind Scott, die klein, sommersprossig, rothaarig, zielstrebig und unglaublich zäh war.
Ihr war schon bewusst gewesen, auf was sie sich da einließ, als sie »The Crown« von ihren Eltern übernommen hatte.
Es war eine hundertprozentige Umstellung ihres Lebens gewesen, das leicht, unbeschwert, erfolgreich verlaufen war.
Ein Leben, dem sie manchmal jetzt noch nachtrauerte, wenn sie nachts nicht schlafen konnte, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Rechnungen oder dringend notwendige Reparaturen am Haus ausführen lassen sollte.
Das hatte sie offen zugegeben, doch sie hatte auch gesagt, dass sie den Schritt dennoch nicht einen Augenblick lang bereut hatte und es wieder tun würde, auch, weil sie überhaupt keine andere Wahl hatte.
Vor ihr waren es vier Generationen gewesen, die »The Crown« mehr oder weniger erfolgreich geführt hatten.
Zu verkaufen und vor allem für das riesige, dazugehörende Grundstück einen fetten Preis zu kassieren, käme Rosalind nie in den Sinn.
Es war schon beeindruckend, wie sie kämpfte, und dennoch verlor sie nie ihren Humor, und sie war eine ganz hervorragende Wirtin, die alles für ihre Gäste tat, nur gab es davon zu wenige.
Das Grundstück war in seiner Ursprünglichkeit belassen worden und bestand aus Gras, üppigen Ginster- und Wacholderbüschen.
Riesige Gesteinsbrocken hatte man niemals weggeräumt, sie streckten sich nackt und kalt dem Licht entgegen, während andere zugewuchert waren und sich als grüne Hügel präsentierten.
Das Grundstück erstreckte sich bis zum Meer, wo riesige Wellen unermüdlich gegen den Felsen krachten und die Gischt nach oben spritzen ließen.
Vor und hinter den Klippen gab es Strände, die malerisch schön waren und relativ geschützt lagen. Nur wurden sie nicht genutzt, sondern verwilderten, wurden zugemüllt von dem Strandgut, das ständig angespült wurde, um das sich, außer den Möwen, niemand kümmerte. Die Möwen allerdings wüteten ungestört in allem herum, in der Hoffnung, etwas Gutes zu finden. Hinterher sah alles nur noch viel schlimmer aus, wild, wie das Wasser, das gurgelnd am Strand aufschlug, von dem es immer wieder ein Stückchen mit sich riss.
Von Rosalind wusste sie, dass der Strand einstmals viel breiter gewesen war. Das sah man auch an den alten, leicht vergilbten Fotos, die sie ihr zur Untermauerung ihrer Worte gezeigt hatte. Es wuchs nicht viel hier unten. Man sah struppiges Grün, aber auch Stranddisteln, die ein karges Dasein führten im Sand, und dennoch erblühten sie, wenn es an der Zeit war, in ihrer allerschönsten Pracht und in den sattesten Farben.
Rosalind hatte ihr einen Weg gezeigt, den man mühelos gehen konnte, um unten an dem weitläufigen Strand anzukommen.
Am Wasser entlang konnte man bis Blackham Market gehen und lief dabei keine Gefahr, dass man jemandem begegnete.
Kelly liebte es, so ganz für sich allein daherzulaufen. Es war beinahe so etwas wie Meditation.
Erst kurz vor Blackham Market gab es so etwas wie ein Bade- und Strandleben. Doch auch hier mangelte es leider ebenfalls an Touristen, und so waren die Besitzer der Strandbuden froh, wenn sich mal jemand zu ihnen verirrte und dann auch noch etwas verzehrte.
Für Kelly war es eine liebe Gewohnheit geworden, bis zu einer dieser Strandbuden zu laufen und dort etwas zu essen, zu trinken, ihren Gedanken nachzuhängen und von diesem geschützten Platz aus hinaus aufs Meer zu schauen, das seine Farbe ständig zu ändern schien, vom beinahe bedrohlichen Schwarz, bis zu einem smaragdenen Blau.
Es gab ganz gewiss schönere Strandbuden. Doch diese hatte den Vorteil, in der ersten Reihe zu stehen, mit einem unverbaubaren Blick aufs Wasser.
Für schlechtes Wetter gab es ein riesiges Panoramafenster, da konnte man von innen alles genau betrachten. Bei schönem Wetter konnte man sich draußen auf die Terrasse setzen und war dem Meer so nah, dass man es schmecken konnte.
Diese Strandbude wurde von einem alten, hochgewachsenen Mann betrieben, mit einem vom Leben gezeichneten Gesicht, das aber durchaus interessant wirkte.
Der Betreiber hieß Jonathan, und Kelly hatte noch nie zuvor in ihrem Leben einen so wortkargen, mürrischen Menschen erlebt.
Kelly wäre kein zweites Mal zu ihm in die Strandbude gegangen, hätte Rosalind ihr das nicht ans Herz gelegt und wärmstens empfohlen, nicht nur, weil man bei Jonathan am besten essen konnte, sondern weil er auch ein weitgereister Mann mit einer interessanten Biografie war. Ein Mann, der sich, trotz vieler guter Möglichkeiten, irgendwann entschlossen hatte, den Rest seines Lebens in Blackham Market, in seiner Strandbude, zu verbringen, und nirgendwo sonst.
Mittlerweile hatte sie sich schon so etwas wie seine Sympathie verdient, denn er lächelte sie an, wenn sie hereinkam, und das war ja wohl schon etwas.
Über sein früheres Leben wusste Kelly nichts, obwohl sie das schon interessierte. Aber Rosalind hatte kein einziges Wort darüber verloren, und sie hatte auch nicht gefragt. Das Gute an Rosalind Scott war, dass sie keine Klatschtante war und Geheimnisse für sich behalten konnte. Vermutlich war das auch der Grund dafür, warum Kelly ihr an einem stürmischem Abend, nach mehr als nur einem Glas Wein, ihre Geschichte erzählt hatte.
Kelly hatte es nicht bedauert, denn dadurch hatte sich ihr Verhältnis zueinander geändert, und sie waren dabei, Freundinnen zu werden.
Es war so angenehm gewesen, dass Rosalind nicht angefangen hatte, sie voller Wehklagen zu bedauern, sondern dass sie gesagt hatte, dass wohl jeder sein Päckchen zu tragen hatte.
Auch Rosalind hatte in ihrer Beziehung Schiffbruch erlitten, sie war nicht kurz vor der Hochzeit dahinter gekommen, dass ihre ganze Beziehung auf Lug und Trug aufgebaut gewesen war, sondern sie war vorzeitig von einer Geschäftsreise zurückgekommen, und hatte den Mann ihres Lebens und ihre allerbeste Freundin zusammen im Bett erwischt.
So etwas war schrecklich, denn das war ein doppelter Vertrauensbruch, und man konnte nicht sagen, wen es stärker getroffen hatte.
Betrug war Betrug, auch wenn er vielschichtig ausfallen konnte.
So wie Kelly nicht wusste, ob ihr Ex und diese Mandy dennoch weiterhin zusammen waren, hatte auch Rosalind keine Ahnung, was aus ihrer allerbesten Freundin und ihrem Freund geworden war.
In einem war Rosalind ihr allerdings voraus, obwohl ihre Geschichte auch noch nicht lange zurücklag, sie blickte nach vorn und hoffte nach wie vor auf die große Liebe. Die wahre Liebe und nicht etwas, was sie dafür gehalten hatte.
Kelly war sich da nicht so sicher, aber sie würde auch nicht die Worte ihrer Freundin Grace ganz von sich weisen, dass man nie nie sagen sollte.
Auf der Suche war sie auf jeden Fall nicht. Außerdem … Die Liebe konnte man nicht suchen, etwa so, wie Pilze im Wald. Liebe kam einem auf den Weg, die fand man oder wurde von ihr gefunden …
*
Nach zwei Tagen mit sehr viel Regen und Sturm war der Himmel auf einmal wieder blank geputzt. Er war klarblau, und dazwischen tanzten Schäfchenwolken. Es war windstill und sonnig. Es zog Kelly hinaus. Sie war fest entschlossen, eine ihrer geliebten Strandwanderungen zu machen.
»Ich beneide dich«, sagte Rosalind. »Kämen heute nicht ein paar Gäste an, von denen ich keine Ankunftszeit weiß, würde ich mitgehen.« Sie seufzte.
»Tage wie diese haben wir nicht so oft, die muss man dann voll auskosten, denn morgen kann schon wieder alles anders sein. Wenn das Wetter umschlägt, ist es da unten besonders schön. Nach diesen Stürmen aus Nord-Ost werden viele Muscheln an den Strand getrieben. Man kann Prachtexemplare darunter finden. Nimm eine Tasche oder Tüte mit, damit du welche sammeln kannst.«
Muscheln sammeln?
»Tun das nicht immer nur die Touristen?«, erkundigte Kelly sich.
Kelly hatte Rosalind nicht gesagt, wer sie war, und sie hatte ihre Reise ins Unbekannte auch nicht mit ihrem heißem Sportflitzer angetreten, sondern einem der kleineren Firmenwagen.
Und so konnte Rosalind auch nicht wissen, dass sie mit ihren Eltern oder auch mit Freunden an den schönsten Fleckchen der Erde gewesen war, mit traumhaften Stränden, an denen man Muscheln finden konnte, wie man sie sich eigentlich überhaupt nicht vorstellen konnte, weil sie so schön waren.
Sicherlich hatte sie sich hier und da nach der einen oder anderen gebückt, sie sich angesehen, manchmal mit ins Hotel genommen, um sie letztlich dann bei ihrer Abreise zu vergessen.
Sie brauchte keine Erinnerungsstücke, um sich an etwas zu erinnern, ihre Erinnerungen hatte sie in ihrem Herzen.
Rosalind nickte. »Schön, dass du das jetzt gesagt hast, denn das beweist mir, dass du dich nicht als Tourist siehst, sondern dich heimisch fühlst, das gefällt mir.«
Kelly wollte das jetzt nicht vertiefen, zumal sie in ihrem Inneren den tiefen Drang verspürte, sofort hinunter zum Strand zu müssen.
Dort hielt sie sich gern auf, heute zog es sie hinunter, und so sagte sie rasch: »Also ohne Tasche oder Tüte. Wenn ich ein Prachtexemplar von Muschel finde, dann bringe ich sie dir mit. Ich habe gesehen, dass du auf dem Geländer der Terrasse bereits eine stattliche Sammlung hast.«
»Die von Touristen immer wieder geräubert wird. Eigentlich liegen die Muscheln nur für meine Gäste dort.«
Rosalinds Telefon klingelte, sie rannte zurück ins Haus, und Kelly konnte endlich zum Strand gehen.
Was war denn nur los mit ihr? Warum rannte sie? Sie war doch nicht auf der Flucht.
*
Schon von Weitem sah Kelly, dass das Meer eine ganze Menge angespült, aber auch sehr viel mit sich weggerissen hatte. Es bot sich ihr ein völlig verändertes Bild, doch darauf hatte Rosalind sie auch vorbereitet.
Ein Schwarm Möwen pickte an etwas herum. Als Kelly näher kam, sah sie, dass es sich um einen relativ großen Fisch handelte. War er hier gestrandet? War er mit einer Schiffsschraube in Berührung gekommen, hatte es nicht überlebt und war beim Sturm an den Strand gespült worden?
Die Möwen hatten auf jeden Fall ein Festmahl, und sie ließen sich von Kelly nicht stören, obwohl die dicht an diesem Kadaver vorbeiging.
Jetzt bedauerte sie doch, ihren Fotoapparat nicht mitgenommen zu haben.
Sie kannte viele Arten von Fischen, so einen wie diesen hatte sie noch nicht gesehen. Doch Rosalind kannte sich erstaunlich gut aus, das hatte sie bereits bemerkt. Aber das war kein Wunder, schließlich war sie hier aufgewachsen und hatte ihre Heimat erst verlassen, um zu studieren und dann in der Stadt zu arbeiten.
Kelly blieb stehen, nicht nur, um sich das Äußere des Fisches einzuprägen, so weit das überhaupt noch erkennbar war, sondern auch, um den Möwen zuzusehen.
Es war beinahe wie bei den Menschen. Obwohl genügend Futter da war, gönnte eine Möwe der anderen nichts. Anstatt in aller Ruhe zu fressen, gingen sie aufeinander los, wollten einander vertreiben.
Kelly ging weiter, doch sie drehte sich immer wieder um, um das Treiben der Möwen im Auge zu behalten.
Weil sie unachtsam war, lief sie gegen etwas Hartes, stieß sich ganz empfindlich den Zeh. Verflixt noch mal!
Sie kannte diese Strecke bereits ziemlich gut, und hier hatte vor dem Sturm nichts gelegen, gegen das sie hätte laufen können.
Sie stieß einen Schmerzenslaut aus, hüpfte ein wenig herum, ehe sie sich um den »Stein des Anstoßes« kümmerte. Und das war es in der Tat – ein Stein, an dem sie sich gestoßen hatte.
Er war relativ groß, mit Schlamm und Schlick bedeckt, einem großen Stück Plastik, das an einer Schnur hing, die sich in dem ebenfalls angeschwemmtem Geäst verfangen hatte.
Neben dem Stein lag eine leere Flasche, ein Stückchen weiter ein verrotteter Kanister.
Es war unglaublich, was die Menschen so alles ins Meer kippten wie auf eine Müllhalde. Kelly schob alles beiseite, versuchte mit einem Taschentuch den Sand und Schlick von dem Stein zu entfernen.
Es war ein mühseliges Unterfangen. Auf jeden Fall konnte sie erkennen, dass es sich dabei um Granit handelte. Nicht nur das, es war ganz eindeutig, dass der Stein bearbeitet worden war.
Doch wie war er ins Meer gekommen?
Kelly konnte sich ihre Aufgeregtheit einfach nicht erklären. Wie unter einem Zwang drehte sie den Stein um. Es war schwer, doch es war machbar. Von der unteren Seite war er sauberer, denn er war, seit er hier im Sand lag, vom Wasser unterspült worden. Was vor ihr lag war ein Grabstein!
Da alles Mögliche an Land gespült wurde, warum nicht auch ein Grabstein, den jemand, weil er nicht wusste, wohin damit, einfach ins Meer geworfen hatte.
Das war es nicht, was Kelly erschütterte, so sehr, dass sie sich erst einmal in den feuchten steinigen Sand fallen lassen musste.
Man konnte den Stein einer Person zuordnen.
Es stand ein Name darauf, was auch nichts Außergewöhnliches war.
Und es gab ein Geburtsdatum und den Sterbetag.
Kelly spürte, wie sie einen ganz trockenen Mund bekam.
Sie starrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf den Stein, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Ungeheuerlichkeit begriff.
Es war der Grabstein einer Kelly MacCready.
Nicht nur das, sie hatte, genau wie sie, am sechzehnten September Geburtstag, nur dass diese Kelly vor hundert Jahren das Licht der Welt erblickt hatte …, und fünfundzwanzig Jahre nach der Geburt gestorben war. Kelly …
Sechzehnter September …
Das allein war es nicht, es gab noch eine Gemeinsamkeit. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, und wenn das jetzt ein Omen sein sollte, dann hatte sie nicht mehr lange zu leben! Der Himmel war noch immer blau. Die Sonne schien. Und die Möwen stritten um den Fisch, und deren Gekreische zerriss die Stille des Morgens. Diese Ungeheuerlichkeit nahm ihr den Atem. Das konnte doch kein Zufall sein! Machte alles Sinn?
Ihre Trennung von Jim, mit dem sie ja längst verheiratet wäre. Ihre Reise ohne Ziel. Ihr Drang, ganz schnell an den Strand zu wollen. Der Grabstein …
Wie oft wurden eigentlich Grabsteine ins Meer entsorgt und dann irgendwo an Land gespült? Kelly hatte keine Vorstellung, doch eines wusste sie. Das, was ihr hier widerfuhr, war ein Einzelfall, und das war ganz gewiss ein Zeichen – kein Zufall.
Kelly MacCready … Sie verspürte auf einmal Wärme, ein merkwürdiges Gefühl von Vertrautheit. Sie fasste mit ihrer rechten Hand nach dem Stein, fuhr sanft über die leicht aufgeraute Fläche. Kelly MacCready …
Sechzehnter September …
Fünfundzwanzig Jahre … Kelly Mortimer war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war irr! Solche Geschehnisse waren nicht von dieser Welt!
Das musste etwas mit einem parapsychologischem Phänomen zu tun haben.
Man musste es sich mal vorstellen, die andere Kelly war vor fünfundsiebzig Jahren gestorben.
Es konnte doch nicht sein, dass deren Seele nach einer so langen Zeit noch immer ruhelos herumwanderte.
Und wenn es so etwas tatsächlich geben sollte, war es dann nicht so, dass diese Geistwesen sich als Schatten zeigten?
Dass sie sich bemerkbar machten durch das Quietschen von Türen, unerklärbare Öffnen von Schubladen, durch Geräusche, durch Weinen, durch Wärme und wer weiß nicht was sonst noch.
Dass sie, um ein Zeichen von sich zu geben, ihren Grabstein vorausschickten, das war ja wohl ein Ding der Unmöglichkeit, das war so etwas von schräg.
Als Kelly das bewusst wurde, begann sie, hysterisch zu lachen.
Sie konnte sich überhaupt nicht mehr einkriegen. Allmählich beruhigte sie sich. Sie musste mit jemandem reden! Unbedingt! Mit Rosalind?
Nein, das war keine so gute Idee, die wartete auf Gäste und deswegen stand der wahrhaftig nicht der Sinn danach, sich eine mehr als nur merkwürdige Geschichte anzuhören.
Jonathan, dessen Familiennamen sie nicht einmal kannte und mit dem sie nicht mehr Worte gesprochen hatte, als sie Finger an den Händen hatte?
Warum hatte Kelly auf einmal das Gefühl, dass sie mit diesem Mann und sonst keinem über dieses nicht erklärbare Erlebnis sprechen konnte, für das es als Beweis nur diesen Grabstein gab?
Sie wusste es nicht, doch sie hatte es auf einmal sehr, sehr eilig.
Sie sprang auf, klopfte sich den nassen Sand von ihrer Hose, dann zerrte sie den Grabstein ein ganzes Stück weiter bis hin zu den Klippen, die den Strand begrenzten. Nicht nur das, sie hob ihn mit aller Kraft auf einen höher liegenden Gesteinsbrocken, um nur ja zu vermeiden, dass er zurück ins Meer gespült werden konnte.
Danach sah es derzeit war nicht aus, das Meer war spiegelglatt, und die Wellen rollten so sanft am Strand aus, dass es unvorstellbar war, dass sie von jetzt auf gleich mit elementarer Kraft alles zerstören konnten, was sich ihnen in den Weg stellte.
Nachdem sie den Grabstein in Sicherheit gebracht hatte, verschnaufte sie, atmete tief durch.
Schon wollte sie loslaufen, als sie innehielt, wie unter einem Zwang den Stein berührte, über die längst verblichene abgebröckelte Goldschrift strich, deren Buchstaben kaum noch zu erkennen waren.
Kelly MacCready … Kelly Mortimer hatte keine Ahnung, warum dieses Gefühl auf einmal in ihr war. Nein, korrigierte sie sich sofort.
Es war kein Gefühl, sondern die untrügliche Gewissheit, dass ihr Leben mit dem der toten Kelly MacCready unlösbar verbunden war, sie wusste nicht, woher dieses Wissen kam. Musste man für alles eine Erklärung finden?Als sie los lief, warf sie einen letzten Blick auf den toten Fisch. Die Möwen hatten ihr Interesse an ihm verloren, vielleicht waren sie aber auch nur satt.
Sie war innerlich sehr aufgewühlt, und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie auch Angst. Eine Angst, die nicht ganz unbegründet war.
Identische Vornamen, identischer Geburtstag, da konnte man schon ins Grübeln kommen, wenn man wusste, dass Kelly MacCready in dem Alter gestorben war, in dem sie sich jetzt befand. Sie versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, doch es wollte Kelly einfach nicht gelingen.
*
Als Kelly die Strandbude sah, blieb sie stehen.
War es nicht verrückt, zu einem Mann zu laufen, der keine drei Worte sprach, der mürrisch war?
Es war eine verrückte Idee gewesen, als ihr das bewusst wurde, machte sie eine Kehrtwendung, lief ein paar Schritte zurück.
Das war es auch nicht.
Rosalind hatte keine Zeit. Sie konnte sie jetzt unmöglich mit der Neuigkeit behelligen, dass sie diesen Grabstein am Strand gefunden hatte.
Es wurden ganz andere Sachen angeschwemmt.
Rosalind hatte ihr von großen Wrackteilen eines Schiffes erzählt, das ganz woanders untergegangen war. Und das hatte sie ziemlich leidenschaftslos erzählt, eigentlich nur, um zu demonstrieren, was alles möglich war.
Vielleicht würde sie der Tatsache dieser Übereinstimmungen überhaupt keine Bedeutung beimessen und es als etwas nicht Außergewöhnliches registrieren, während sie selbst sich direkt damit identifizierte.
Als ihr das bewusst wurde, und sie sich fragen musste, ob sie da jetzt nicht überreagierte, konnte sie nicht weiterlaufen, also erneut eine Kehrtwendung, wieder zurück in Richtung Blackham Market, Richtung Strandbude.
Weil das Wetter so schön war, hatten sich ein paar Touristen eingefunden, die draußen auf der Terrasse saßen und, obwohl es noch so früh war, Bier tranken und dabei gut gelaunt waren. Ob wegen des Biers oder einfach nur, weil sie Urlaub hatten, konnte Kelly nicht sagen, und es interessierte sie, ehrlich gesagt, auch nicht.
Sie freute sich für Jonathan, der gewiss jeden Umsatz brauchen konnte, um für den Winter, in dem der Strand öde und verlassen war, vorzusorgen.
Sie grüßte freundlich, lehnte den ihr spontan angebotenen Platz ab und ging in die Strandbude hinein.
Jonathan hantierte an seinem Grill herum, es konnte durchaus sein, dass die Gäste jetzt schon etwas von dem köstlichem gegrilltem Lachs essen wollten, den er im Angebot hatte und für dessen delikate Zubereitung er bekannt war.
Als er Kelly erblickte, kam er um die Theke herum, nachdem er vorher nach einer Flasche gegriffen und etwas in ein Glas geschüttet hatte.
Kelly saß, wie immer, an ihrem Stammplatz am Panoramafenster, doch diesmal sah sie nicht hinaus, sondern ihm entgegen, weil sie sich fragte, ob sie ihm wirklich erzählen sollte, was sie gesehen hatte.
Jonathan blieb vor ihrem Tisch stehen, stellte das Glas vor sie hin, mit den Worten: »Das brauchen Sie jetzt.«
»Was ist das?«, wollte sie wissen, und er antwortete, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt: »Whisky.«
Whisky? Es war nicht so, dass sie den niemals trank. Aber morgens? Das war noch niemals vorgekommen.
Er bemerkte ihren irritierten Gesichtsausdruck. »Trinken Sie«, wiederholte er seine Aufforderung, »es ist etwas geschehen, was Sie aus der Bahn gebracht hat. Aber es war unausweichlich. Seinem Schicksal entgeht man nicht, und wenn Sie …«
Er brach seinen Satz ab, weil die fröhliche Runde von der Terrasse mehr Bier haben wollte, und einer von ihnen wollte wissen, wann man denn wohl mit dem Lachs rechnen könne.
Geschäft war Geschäft.
Jonathan trollte sich, und Kelly blickte ihm vollkommen perplex hinterher.
Was war das jetzt gewesen? War er ein Hellseher? Er konnte doch unmöglich von dem Grabstein wissen, und sie hatte sich, ehe sie die Strandbude betreten hatte, zusammengerissen und vollkommen unter Kontrolle gehabt.
Äußerlich gesehen war alles gewesen wie immer. Was meinte er mit unausweichlich? Woher wusste er, dass etwas sie aus der Bahn gebracht hatte, was ja auch stimmte. Und dann seine Worte seinem Schicksal entgeht man nicht … Das alles war ziemlich mysteriös.
Kelly ärgerte sich. Meistens war sie der einzige Gast, wenn sie morgens hierher kam. Warum, zum Teufel, musste ausgerechnet heute diese trinkfreudige Gesellschaft hier herumsitzen, warum ausgerechnet hier und ausgerechnet jetzt?
Sie starrte auf das Glas, aus dem der Whisky honigfarben funkelte.
Sollte sein? Nein. Wenn sie jetzt von diesem Whisky trank, würde sie vermutlich den Rest des Tages knicken können. Kelly war hin- und hergerissen. Ja? Nein? Ach, was sollte es.
Jonathan musste sich etwas dabei gedacht haben, ihr den Whisky auf den Tisch zu stellen.
Sie hatte kein Programm für den Verlauf des Tages gemacht, und durch den Fund des alten Grabsteins an einem höchst ungewöhnlichem Ort dafür, war sie ganz schön durch den Wind, und Jonathans Worte hatten ihre Verfassung auch nicht verbessert, ganz im Gegenteil.
Kelly griff nach dem Glas, trank einen kleinen Schluck. Der Whisky brannte in ihrer Kehle, doch danach breitete sich wohlige Wärme in ihr aus, sie spürte, wie sie sich entspannte. Sie nippte ein zweites Mal, dann schob sie das Glas von sich weg, beobachtete den alten, hageren Mann, wie er in aller Ruhe eine weitere Runde des dunklen Starkbiers nach draußen brachte, diesmal in größeren Gläsern. Danach nahm er den Lachs vom Grill, der nicht nur köstlich aussah, sondern auch so gut roch, dass einem das Wasser im Munde zusammenlaufen konnte.
Er brachte den Lachs ebenfalls hinaus, was mit einem lauten Hallo begrüßt wurde. Es war eine höchst merkwürdige Situation, zumindest empfand Kelly das so. Dort die fröhlichen Menschen, und sie hier drinnen mit ihren aufgescheuchten Gedanken.
Sie bekam mit, wie Jonathan mit sehr autoritärer Stimme sagte, dass er erst einmal nicht gestört werden wollte und er wieder hinauskäme, wenn es weitergehen könne.
Dann wandte er sich ab, schloss die Tür hinter sich, kam an Kellys Tisch, setzte sich.
Kelly hatte auf einmal das Gefühl, dass es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Und das lag nicht an den vorher von ihm gemachten Äußerungen.
Zwischen ihnen war auf einmal eine unglaubliche Vertrautheit, die es auch vorher schon gegeben haben mochte, ihr nur nicht bewusst gewesen war.
Er blickte sie lange an. Es war kein unbehagliches Schweigen.
»Ich habe es geträumt, dass etwas geschehen würde, etwas, was Ihr Leben grundlegend verändert. Genauso, wie ich wusste, dass Ihr Weg hierhin führen musste, als ich Sie zum ersten Male sah.«
Das musste Kelly erst einmal verdauen, und jetzt wünschte sie sich, sie hätte Rosalind ausfragen sollen, nachdem die ein paar vage Andeutungen über Jonathan gemacht hatte.
Wer war er? Besaß er übersinnliche Fähigkeiten, oder deutete sie etwas in ihn hinein, weil sie es so haben wollte, nachdem das mit dem altem Grabstein geschehen war?
Das konnte sie nur herausfinden, indem sie seine Worte hinterfragte, auch wenn ihr ein wenig unbehaglich dabei war.
Er blickte sie wieder lange an, dann sagte er: »Ich bin kein Hellseher, sondern ein intuitiver Mensch, und ich träume, wenn ich einer verwandten Seele begegne …, wir zwei … Sie und ich …, wir kennen uns schon sehr lange …, aus einem früheren Leben …, nun ist es an der Zeit …«
Er brach seinen Satz ab, seine Gedanken waren ganz weit weg. Kelly wagte kaum zu atmen.
Wäre das mit dem Grabstein nicht passiert, würde sie das, was er gesagt hatte, als spinnert abtun. Doch so einfach war es nicht.
Er hatte ihr noch keine Frage gestellt, hatte noch nichts Konkretes gesagt.
Sie hatte auf einmal das Bedürfnis, ihm zu erzählen, was ihr widerfahren war. Hatte er ihr eigentlich zugehört? Seine Haltung war unverändert, sein Blick verlor sich noch immer im Nirgendwo.
Umso überraschter war Kelly, als er sagte: »Vor einigen Jahren gab es hier in der Gegend eine schreckliche Sturmflut, die alles, was unterhalb der Klippen lag, mit sich riss, Dörfer, Anwesen. Auch der alte Friedhof von Dorsey wurde samt Kapelle niedergewalzt. Es ist nichts übrig geblieben. Der Grabstein muss ein Überbleibsel jener Katastrophe sein.«
Das hörte sich logisch an, aber Kelly gab sich damit nicht zufrieden.
»Wenn das Jahre her ist, kann der Grabstein unmöglich hier in der Gegend herumgedümpelt sein, wenn überhaupt. Schließlich ist er sehr schwer, und da besteht eher die Möglichkeit, dass er untergegangen ist wie die anderen Grabsteine und die Überreste der Kapelle.«
Er wandte ihr wieder seinen Blick zu. »Warum wollen Sie auf alles eine Antwort haben? Das Meer zerstört, verschlingt und gibt wieder preis, wenn es an der Zeit ist. Und nun ist es an der Zeit. War er in einem Gestrüpp verfangen? Wurde er beim letzten Sturm wieder hochgespült? Ist das wichtig? Entscheidend ist, dass Sie ihn gefunden haben, weil Sie ihn finden sollten. Kelly …, sechzehnter September …, das ist kein Zufall, sondern Vorbestimmung.«
Jetzt bekam sie eine Gänsehaut.
»Und ist es dann auch eine Vorbestimmung, dass die andere Kelly nur fünfundzwanzig Jahre alt geworden ist? Das bin ich jetzt auch und ich …«, ihre Stimme wurde leiser, »ich habe Angst.«
Er schob seine knochige Hand über den Tisch, umschloss ihre Rechte mit einer sanften, behutsamen Geste.
»Sie müssen keine Angst haben, alles wird gut, wenn noch ein paar Widerstände überwunden sein werden.«
Er wollte sie trösten, weil er spürte, wie aufgewühlt sie innerlich war. »Danke, dass Sie mich trösten wollen, Mr ….«, jetzt fiel ihr ein, dass sie von ihm nichts als seinen Vornamen kannte und dass es etwas Außergewöhnliches in seinem Leben gegeben hatte vor seiner Zeit in Blackham Market und der Strandbude.
»Jonathan«, sagte er, »nennen Sie mich einfach Jonathan, das tun hier alle, und das reicht. Was sind schon Namen …«
Er lächelte, und so etwas auf seinem sonst mürrischem Gesicht zu sehen, war unglaublich, denn erst jetzt sah Kelly, dass er das besaß, was man einen »Charakterkopf« nannte. Und er war ganz gewiss ein äußerst attraktiver Mann gewesen mit vielen Chancen in der Damenwelt.
Ob er je verheiratet gewesen war? Hatte er Kinder?
Schon verrückt, dass ihr angesichts ihres eigenen Elends solche Gedanken durch den Kopf schossen.
»Ich will Sie nicht trösten«, sagte er, »ich weiß es. Ich weiß auch, dass Sie das Letzte unerfreuliche Kapitel Ihrer Vergangenheit sehr schnell vergessen haben werden.«
Wie gern würde sie ihm glauben.
»Wissen Sie etwas über die MacCreadys, Jonathan?«
Wieder dieses unbeschreibliche Lächeln, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, mag sein, dass ich jemanden von ihnen kenne, aber, wie gesagt, Namen sind bedeutungslos …, für mich. Sie allerdings … Sie werden mit diesem Namen schicksalhaft verbunden sein.«
Er erhob sich.
»Tut mir leid, ich muss mich um meine Gäste kümmern«, er deutete auf das Glas, das noch immer auf dem Tisch stand. »Sie sollten es austrinken, es ist nicht genug drin, um sich zu betrinken, und Alkoholikerin werden Sie davon auch nicht.«
Er ging zur Tür, öffnete sie, dann rief er: »Meine Herrschaften, nun stehe ich Ihnen wieder zu Diensten.«
Das wurde mit dankbarem Applaus begrüßt, denn die Gläser waren bereits wieder leer.
Sie hatte ihn nicht fragen können, woraus er sein Wissen schöpfte. Auch vieles sonst war unbeantwortet geblieben.
Dennoch fühlte Kelly sich besser. Viele seiner Worte verwirrten sie, doch sie war absolut davon überzeugt, dass er glaubwürdig war.
Er hatte gesagt, dass sie nichts hinterfragen sollte.
Sie zögerte.
Sollte sie auf eine weitere Gelegenheit warten, um mit ihm reden zu können? Das eine oder andere wollte sie schon gern wissen.
Noch während sie darüber nachdachte, kamen weitere Gäste an, die teilweise draußen Platz nahmen oder, wie sie es ja auch getan hatte, in die Strandhütte kamen.
Für Jonathan war es ein guter Tag. Gäste brachten Geld in die Kasse.
Für sie war es schlecht, denn nun würde es keine Möglichkeit mehr geben, mit ihm zu sprechen, ihm noch die eine oder andere Frage zu stellen, die ihr schon auf der Seele brannte.
Kelly erhob sich, wollte gehen, dann besann sie sich, griff nach dem Glas, trank den Whisky aus, nicht, weil sie das Gefühl hatte, ihn jetzt nötig zu haben, sondern weil er es ihr mehr oder weniger aufgetragen hatte und sie ihn nicht verärgern wollte, wenngleich dieses Argument ein wenig töricht war.
Dieser Ansturm auf seine Strandbude schreckte ihn nicht. Er ging souverän von Tisch zu Tisch, nahm die Bestellungen entgegen.
Als er wieder rein kam, lief Kelly rasch auf ihn zu und sagte: »Danke …, vielen, vielen Dank. Es ist zwar noch vieles ungeklärt, aber ich bin wenigstens nicht mehr panisch.«
Er strich ihr behutsam über die Wange. »Dazu haben Sie auch überhaupt keinen Grund, mein Kind …, es ist alles klar, es ist alles vorbestimmt, Sie müssen den Weg nur noch gehen …, alles ist gut.«
Er lief behende hinter seine Theke und begann dort zu hantieren.
Kelly wusste, dass sie hier nichts mehr verloren hatte.
Sie ging hinaus, lehnte erneut die Einladung der trinkfreudigen Gesellschaft ab, an ihrem Tisch Platz zu nehmen.
Sie machte sich auf den Weg zurück.
Auch wenn Jonathan ihr davon abgeraten hatte, alles zu hinterfragen, konnte sie es nicht lassen. Was wusste er? Was hatte er noch gesehen?
Konnte man das Schicksal eines anderen Menschen wirklich träumen?
Oder hatte er nur zu viel Fantasie, konnte sich in einen anderen Menschen hineindenken?
Nein! Das wurde ihm nicht gerecht.
Es gab da etwas Unerklärliches zwischen ihnen, das spürte Kelly, und er war auch kein Schwätzer, auch wenn sie ihm das mit dem Kennen aus einem früherem Leben nicht so richtig abnahm, weil es ihr einfach zu esotherisch war.
Doch hatte sie, nachdem sie den Grabstein gefunden hatte, nicht auch den Gedanken gehabt, mit Kelly MacCready schicksalhaft verbunden zu sein?
Ihre Gedanken schwirrten umher wie aufgescheuchte Bienen in einem Bienenstock, und dennoch kam sie zu keinem Ergebnis.
Zu welchem denn auch?
Alles war vage, und dennoch wusste Kelly, dass sich etwas verändert hatte.
War das mit Jim Adams geschehen, weil der nicht auf ihrem Weg gehörte?
Nein, jetzt nicht auch noch an Jim denken. Das Kapitel war doch abgeschlossen, warum kramte sie es wieder hervor? Weil es erfassbar, durchschaubar war, während alles Andere in einem diffusem Licht, im Nebel lag?
Sie beschleunigte ihren Schritt, dachte sogar daran, einfach abzureisen, den Grabstein zu vergessen, auch Jonathans Worte.
Sie hatte es noch nicht einmal zu Ende gedacht, als sie wusste, dass sie das niemals tun würde.
Sie konnte es einfach nicht, weil dieses Gefühl, diese Wahrheit in ihr, es einfach nicht zulassen würden.
Eines allerdings schaffte sie.
Sie bezwang sich und lief nicht noch einmal zum Grabstein, nachdem sie sich aus der Ferne davon überzeugt hatte, dass er noch immer an seinem Platz lag und davon auszugehen war, dass selbst heftige Wellen ihn davon nicht wegspülen würden.
Auch wenn es ihr schwerfiel, ging sie weiter.
Von dem Fischkadaver war nichts mehr zu sehen.
Entweder hatte das Meer sich ihn zurückgeholt, oder jemand hatte ihn hineingeworfen, weil dieser zerfledderte Fisch ziemlich unappetitlich ausgesehen hatte.
Wie waren noch Jonathans Worte gewesen?
Das Meer nahm, das Meer gab …, es riss mit sich, es gab wieder preis.
Im Grunde genommen war es wie das Leben. Es gab Höhen, es gab Tiefen. Es gab Freude, es gab Schmerz.
Möwen flogen kreischend über sie hinweg, um danach mit unglaublicher Eleganz über das smaragdschimmernde Wasser zu gleiten.
Möwen im Flug waren etwas so Schönes, in Schwärmen an Land, laut kreischend, machten ihr ein wenig Angst.
Kelly wandte sich ab, zögerte.
Sollte sie nicht doch noch mal zum Grabstein gehen?
Sie musste sich regelrecht zwingen, es nicht zu tun, sondern trat den Rückweg an, noch ein Stück am Strand entlang, dann den Weg nach oben.
Rosalinds Gäste waren angekommen.
Vor dem »Crown« standen ein paar Autos, junge Leute schleppten lachend ihr Gepäck ins Haus. Das war so normal, so alltäglich. Kelly merkte, wie sie sich entspannte, und sie konnte sogar lachen, als einer der jungen Männer, ein höchst attraktiver Bursche, der in ihrem Alter sein mochte, anfing, heftig mit ihr zu flirten und sich freute, dass sie ebenfalls Hotelgast war.
Er versprach sich davon einiges, sie wusste, dass er sich umsonst Hoffnungen machte. Ohne die traurige Erfahrung mit ihrem Ex und ohne das mit dem Grabstein, ohne Jonathans Worte, hätte sie sich sogar mit ihm auf einen Flirt eingelassen und ganz bestimmt viel Spaß gehabt, denn diese Clique war unkompliziert, und sie freuten sich ihres Lebens und auf ein paar schöne, unbeschwerte Tage im Nirgendwo zwischen Blackham Market und Dorsey.
Da sie ihre Fahrräder dabei hatten, war das »Crown« der perfekte Ausgangspunkt für wunderschöne Radtouren in einer ursprünglich unvergleichlich schönen Landschaft, die jeden, der ein bisschen Gefühl für Natur hatte, in den Bann ziehen musste.
Rosalind war in ihrem Element.
Sie wirbelte herum, und Kelly stellte voller Bewunderung fest, dass sie tatsächlich in der Lage war, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Dabei konnte sie auch noch Fragen beantworten und lachen.
Kelly winkte ihr zu, dann ging sie hinauf in ihr im ersten Stock gelegenes Zimmer, von dem aus sie einen wundervollen Blick aufs Meer hatte, das direkt hinter den bizarr geformten Klippen an Land schlug.
Sie blickte auch auf üppige Ginsterbüsche, deren Ableger es geschafft hatten, in winzigen Felsspalten zu wachsen und zu blühen.
Wenn man es nicht persönlich sah, war es eigentlich unvorstellbar. Und war es nicht auf das Leben übertragbar?
Wenn man die Kraft besaß, wenn man es wollte, konnte man alles erreichen, sogar zur vollen Schönheit an den kargsten Plätzen erblühen.
Kelly war davon sofort entzückt gewesen, heute allerdings hatte sie keinen Blick dafür, obwohl das Gelb und Weiß des Ginsters im hellen Sonnenlicht besonders leuchtete. Sie musste an den Grabstein denken, der da unten am Strand lag, und von dem sie so sehr berührt worden war, der ihr auch die Vergänglichkeit des Lebens zu Bewusstsein gebracht hatte, das man manchmal vertrödelte, mit Hass und Streit vergiftete, ohne sich bewusst deutlich zu machen, wie endlich es doch war, für jeden.
Man hatte seine Zeit und konnte sich mit allem Geld der Welt keine Verlängerung kaufen.
Kelly MacCready hatte nicht viel Zeit gehabt, sich am irdischem Leben zu erfreuen.
Ihr war es nicht vergönnt gewesen, Kinder aufwachsen zu sehen, Enkel schon überhaupt nicht.
Und wenn sie Kinder gehabt hatte, so waren diese armen Wesen beizeiten Waisen geworden, die ganz ohne Mutterliebe aufwachsen mussten. Ein schrecklicher Gedanke! Kelly hatte sehr liebevolle Eltern, und sie lief noch heute mit ihren Problemen zu ihnen, um sich von ihnen trösten zu lassen. Das hatte die jüngste Vergangenheit gezeigt, als sie als die Betrogene zu ihnen gelaufen war und deren ganze Unterstützung gefunden hatte.
Kelly konnte nicht anders, sie ließ sich wieder voll in die Geschehnisse am Strand hineinfallen, erinnerte sich an Jonathans Worte, über den sie auch so gern mehr erfahren würde.
War es nicht schrecklich?
Jonathan hatte normalerweise kaum Gäste, und für Rosalind sah es in der Regel auch ziemlich mau aus.
Sie wünschte beiden von ganzem Herzen ständig ein volles Haus.
Doch musste das gerade jetzt sein, da sie sie beide brauchte?
Der Grabstein … Den konnte sie doch unmöglich einfach so da unten liegen lassen. Wenn es MacCreadys hier in der Umgebung geben sollte, dann mussten sie davon erfahren.
MacCready war nicht gerade ein seltener Name, und so konnte es durchaus sein, dass diejenigen, die hier in der Gegend lebten, nichts mit Kelly zu tun hatten. Sie musste es herausfinden. Sollte der Grabstein vorher nicht in Sicherheit gebracht werden?
Unter den angekommenen Gästen waren ein paar kräftige junge Männer.
Sollte sie die nicht bitten, den Stein hochzuholen und erst einmal in der Nähe des Hotels abzulegen?
Keine so schlechte Idee, doch dann müsste sie erklären, warum sie das um jeden Preis wollte, und das bedeutete, dass sie auch eine Menge über sich preisgeben musste. Wollte sie das? Nein!
So also musste sie wohl oder übel abwarten, bis sich eine Möglichkeit bot, mit Rosalind zu sprechen.
Oder sollte sie noch mal zu Jonathan gehen und ihn fragen, ob man den Stein zu seiner Hütte bringen könnte?
Das war nun keine gute Idee, denn der Weg bis dorthin war viel zu weit.
Kelly setzte sich, versuchte, ihre Eltern zu erreichen. Auf dem Festnetzanschluss war nur der Anrufbeantworter zu hören, und das auch noch mit ihrer eigenen Stimme.
Sie sprach ein paar Worte darauf, und danach hatte sie keine Lust mehr, es auf den Smartphones ihrer Eltern zu versuchen.
Ihre Mutter nahm ihres meistens ohnehin nicht mit, und ihr Vater vermied es ebenfalls, es an zu lassen, wenn er gemeinsam mit seiner Frau unterwegs war, weil sie ohnehin nicht viel Zeit miteinander privat verbringen konnten, weil er viel beschäftigt war und sie auch viele gesellschaftliche Verpflichtungen hatten.
Sollte sie noch mal hinunter zum Strand gehen und nachsehen, ob der Stein wirklich gut abgesichert war?
Und wenn ihn nun jemand fand und einfach mitnahm? Die Leute sammelten alles Mögliche, und wenn es dann noch umsonst war und eine Rarität, die vor fünfundsiebzig Jahren entstanden war für eine Frau, die mittlerweile hundert Jahre alt wäre?
Auch wenn es ein wenig makaber war, wusste Kelly, dass es Menschen gab, die sich so etwas in den Garten stellten.
Oh Gott! Warum konnte sie nicht aufhören, nur an diesen Grabstein zu denken?
Sie wünschte sich schon, ihn nicht gefunden zu haben!
Aber eines wusste sie jetzt. Sie musste raus, und warum sollte sie eigentlich nicht mit ihrem Auto ein wenig in der Gegend herumfahren?
Vielleicht ergab sich ja irgendwo, in einem Tearoom, in einem Café, die Gelegenheit, etwas über die MacCreadys zu erfahren, die früher ihre Toten auf dem weggeschwemmtem Friedhof begraben hatten?
Ja, das war eine gute Idee!
Kelly stand auf, griff nach ihrer Tasche, dann rannte sie die Treppe hinunter, vorbei an dem gut aussehendem Mann, der nicht die geringste Chance für einen Flirtversuch hatte und ihr enttäuscht hinterherblickte. So etwas war er wohl nicht gewohnt.
Sie rannte weiter zu ihrem Auto, stieg hinein und ärgerte sich, dass sie das erste Mal den Motor abwürgte, weil sie so aufgeregt war.
Dieser Teil des Landes war wild und von ursprünglicher Schönheit.
Man musste so etwas mögen, doch Kelly merkte immer mehr, wie sehr ihr alles gefiel.
Die kleinen Ortschaften, die einzelnen, mitten auf Wiesen oder Hügel gebauten Häuser. Sie erfreute sich an Ginster und Wacholder, an von Wind gezausten Bäumen und an Schafen, die auf weitläufigen Wiesen weideten.
Merkwürdig …
Kelly war noch nie zuvor in dieser Gegend gewesen, und dennoch war ihr alles auf merkwürdige Weise nicht nur vertraut, sondern sie genoss es, fühlte sich geborgen und heimisch.
Gab es so etwas wirklich? Oder war sie so durcheinander, dass sie seit diesem merkwürdigem Fund in alles etwas hinein interpretierte?
Kelly fuhr ins Landesinnere, dann zur Küste zurück, weil es ihr dort erheblich besser gefiel, und eigentlich wollte sie den kleinen Ort Somerby durchfahren, als sie unvermittelt auf die Bremse trat, nicht nur, weil sie ein nettes kleines Café entdeckt hatte, sondern weil ihr Blick magisch von einem Haus angezogen wurde, das oberhalb des Ortes auf einer Klippe stand, beinahe so, wie an den Felsen geklebt.
Es war bizarr und schön, und sie konnte ihren Blick einfach nicht von diesem Haus lösen.
Erst nach geraumer Zeit gelang ihr das, weil sie bemerkte, dass man sie vom Can aus beobachtete.
Sie stellte ihr Auto ab, dann ging sie über die Straße, grüßte und sagte, um ihre Neugier ein wenig zu rechtfertigen: »Ein unglaublicher Anblick. Ich habe mich gerade gefragt, ob da jemand wohnt und wie man dorthin gelangt, Hinaufzuklettern wäre ja wohl zu mühsam.«
Die rundliche Frau, die sie am interessiertesten angesehen hatte, bemerkte, ehe sie sich ein Stück Kuchen in den Mund schob, lachend: »Das haben wir uns auch schon gefragt.«
Kelly nickte den Leuten zu, dann durchquerte sie den Raum, um an einem Tisch Platz zu nehmen, von dem aus man denen guten Blick auf das Haus auf den Klippen hatte.
Erst dann nahm sie ihre Umgebung in Augenschein.
Es war ein altes Café mit seiner ursprünglichen Ausstattung, was den besonderen Charme ausmachte.
Nur die Kuchentheke war neu und entsprach den neuesten Standards, und das war natürlich auch bei den Maschinen für die Zubereitung der Getränke der Fall.
Die Espressomaschine war auf jeden Fall das derzeitige Highlight auf dem Markt. Das wusste Kelly, weil ihr Vater damit auch vor nicht allzu langer Zeit angekommen war. Ihre Mutter war ziemlich ungehalten gewesen, dass ihr Vater für eine solche Spielerei so viel Geld ausgegeben hatte. Auch wenn die Mortimers eine ganze Menge davon besaßen, warfen sie es doch nicht sinnlos aus dem Fenster hinaus.
Da sie, ebenso wie ihr Vater, sehr gern Espresso trank, hatte sie diese Anschaffung genossen, weil der Espresso ganz vorzüglich schmeckte, und da sie das wusste, bestellte sie bei der herbeigeeilten Bedienung auch sofort einen doppelten Espresso, ohne in die Karte zu blicken.
Der Kuchen, der ringsum bestellt wurde und hier eine Spezialität zu sein schien, verkniff sie sich und überlegte stattdessen, sich ein Roastbeef-Sandwich zu bestellen, das gerade an den Nebentisch gebracht wurde und verlockend aussah.
Doch das verschob sie auf später.
Sie blickte aus dem Fenster, sah hinauf zu dem Haus und war so sehr berührt davon, dass sie nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten konnte.
Der Espresso wurde serviert.
Die Bedienung hatte ihren faszinierten Blick wohl bemerkt, denn sie sagte, ohne dass Kelly eine Frage gestellt hatte: »Jeder ist von diesem Anblick begeistert. ›The Seagull‹ ist schon etwas Besonderes, und ich kann die MacCreadys schon verstehen, dass sie das Haus nicht verkaufen wollen, obschon sie es kaum noch nutzen.«
Kelly hielt den Atem an.
Was hatte die Frau da gesagt?
Nichts war davon hängen geblieben, nur der Name »MacCready«, und dennoch wusste Kelly, dass der Grabstein zu den Menschen auf den Klippen gehörte.
Sie war wie im Fieber, vergaß das Sandwich, das sie eigentlich hatte essen wollen, trank hastig ihren Espresso, dann winkte sie die sehr irritierte Bedienung heran, um zu bezahlen.
»Ich komme gleich noch mal wieder«, sagte sie und war sich beinahe sicher, dass sie das auch tun würde. Allein schon, um noch mehr zu erfahren. Doch erst musste sie etwas anderes herausfinden.
»The Seagull« – die Seemöwe, ein treffender Name für etwas, was an den Klippen klebte, autark, für sich allein. So waren die Möwen auch. Sie konnten in Schwärmen auftreten, doch im Grunde genommen waren sie Einzelkämpfer.
Kelly hatte weiche Knie, als sie zu ihrem Auto ging, und als sie drinnen saß, brauchte sie eine Weile, um starten zu können.
Die dicke, neugierige Frau vergaß, sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund zu schieben, und ihr war anzusehen, dass sie sich fragte, warum dieser Gast sofort wieder gegangen war.
Tja, diese Frage würde ihr nun leider niemand beantworten.
Kelly fuhr las, ein Stückchen die sich nicht gerade im besten Zustand befindliche Landstraße entlang, dann sah sie einen Abzweig und wusste, ohne dass es ein Hinweisschild gab, das sie richtig war.
Sie fuhr hinauf.
Was von unten ziemlich abenteuerlich ausgesehen hatte, erwies sich als sehr viel weniger gefährlich, wenn man hinauffuhr.
Von der Landseite führte der Weg, sehr viel weniger steil, durch eine Heidelandschaft, die hier und da unterbrochen wurde durch dichtes Gebüsch und Bäume, wie einfach so hingeworfen, lagen Gesteinsbrocken in der Landschaft.
Es war atemberaubend schön.
Hier also hatte Kelly MacCready gelebt, oder sie hatte hier oben zumindest einen Teil der Zeit verbracht. Ein irrwitziger Gedanke kam ihr. War sie die Klippen hinuntergestürzt? Nein!
Als sie um eine Ecke bog, bemerkte Kelly, dass es ebenfalls ein Trugschluss gewesen war.
»The Seagull«, klebte nicht am Felsen, sondern es gab noch eine ganze Menge Platz, bis man zum Abgrund kam, und auch der war durch eine in den Fels gehauene hohe Mauer gesichert, die von unten nicht sichtbar war.
Kelly fuhr auf den Hof, auf dem man ohne Weiteres mehrere Fahrzeuge abstellen konnte, ohne dass ein Gefühl von Enge aufkam.
»The Seagull« war ein sehr altes Haus, dem anzusehen war, dass es schon so manchen Sturm erlebt hatte, dennoch machte es einen sehr gepflegten Eindruck. Und offensichtlich waren die Fensterrahmen, die Fensterläden und die Tür vor nicht allzu langer Zeit in einem schönen, satten Grün gestrichen worden, einer Farbe, die einen sehr guten Kontrast zu dem Grau der Steine bildete.
Kelly setzte sich auf eine breite, neben der Haustür stehende Steinbank und sah sich um.
Irgendwann waren Blumen angepflanzt worden, doch weil sich niemand um sie kümmerte, waren sie verdorrt.
Dem Haus war anzusehen, dass es kaum bewohnt wurde. Das merkte man sofort, denn, auch wenn viele Leute es lächerlich fanden, hatte auch ein Haus eine Seele.
Das alles hier wirkte, trotz der guten Instandhaltung, verlassen, dennoch griff es Kelly ans Herz.
Sie lehnte sich an die Hauswand, schloss die Augen, lauschte den Wellen, die unermüdlich gegen die Klippen schlugen, genoss die Sonne, die angenehm wärmte.
Und sie genoss die Stille, die nur hier und da durch das Gebrüll einer Möwe unterbrochen wurde, die übers Haus flog, um sich dann beinahe an den Klippen senkrecht ins Meer zu stürzen, um die vorher gesichtete Beute zu fangen.
Es war schön hier! Es war friedlich! Kelly fühlte sich auf merkwürdige Weise angekommen, obwohl das töricht war, sie war einfach nur sensibilisiert, und da sie sich der anderen Kelly so nahe fühlte, war auch dieses Empfinden da.
Um vor lauter Sentimentalität nicht zu zerfließen, stand Kelly auf, begann langsam um das Haus herumzulaufen und stellte mit Entzücken fest, dass es eine große, steinerne Terrasse gab mit einem gigantischen Blick aufs Meer.
Hier gab es Pflanzkübel mit den verdorrten Überresten von Blumen, eine Statue, die der Sturm umgerissen hatte und deren Überreste ihr wieder dieses Gefühl von Vergänglichkeit vermittelten.
Steinbänke und ein Steintisch bröckelten so vor sich hin, was ein Zeichen dafür war, dass der derzeitige Besitzer, wer immer es auch sein mochte, nichts für diese Terrasse übrig hatte.
Also, wenn das ihr Haus wäre …
Schon begann sie in Gedanken alles zu gestalten, und das tat sie mit einer solchen Intensität, dass sie vor sich selbst erschrak, weil sie beinahe wie entfesselt war. Halt! Stopp! Es war nicht ihr Haus!
Und sie war nicht Kelly MacCready, sondern Kelly Mortimer, die beinahe eine Kelly Adams geworden wäre, wenn das Schicksal sie nicht davor bewahrt hätte.
Ja, es war ganz merkwürdig, doch plötzlich tat es nicht mehr weh, und sie begann es zu genießen, frei und offen für Neues zu sein.
Neues?
Jonathan hatte es gesagt, und einen Augenblick lang hatte sie es geglaubt, da hatte es ihr gefallen. Doch hier, an diesem Platz, der ihr besonders gut gefiel, war sie plötzlich verunsichert, weil sie nicht in eine Falle hineinlaufen wollte.
Eine Falle in Form von Gedanken, die ihr vorgaukelten, hier könne der Platz für sie sein, den das Schicksal für sie vorgesehen hatte.
Das war doch verrückt!
Sie musste weitergehen, unbedingt, und sie musste vor allem diesen Platz verlassen, der wie eine Droge für sie war, die ihr eine Welt der schönen Bilder vorgaukelte, ohne die Realität mit einzubeziehen.
Was so ein alter Grabstein doch nicht alles auslösen konnte!
Kelly wollte die Terrasse verlassen, als sie bemerkte, dass in eine der Stufen eine Metallplatte eingelassen war, verwittert, angerostet, kaum lesbar.
Kelly hatte Mühe, die Worte zu entziffern und die darunterstehende Jahreszahl. Doch als sie wusste, was da stand, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Kelly und Gordon forever. Der Jahreszahl war zu entnehmen, dass Kelly MacCready gerade mal zwanzig Jahre alt gewesen war, als sie sich mit ihrem Gordon für diese Tafel entschieden hatte, im Überschwang der Gefühle und als Symbol für die Ewigkeit.
Sie hatten danach gerade mal fünf Jahre gehabt, nicht viel für zwei Menschen, die sich in inniger Liebe zugetan gewesen waren.
Kelly holte ein Taschentuch hervor, putzte die kleine Tafel blank.
Dann fuhr sie, wie sie es auch bei dem Grabstein bereits getan hatte, instinktiv über die Buchstaben.
Nun wusste sie noch ein wenig mehr. Gordon war ihr Liebster gewesen. Ob es im Haus wohl Bilder von ihnen gab? Wie mochten sie ausgesehen haben? Forever … Für immer … Kelly seufzte.
Die Beiden waren um ihr Leben betrogen worden, um ihr gemeinsames Glück. Das Leben konnte manchmal wirklich sehr ungerecht sein. Auch wenn es ihr schwerfiel, weil sie sich von nichts losreißen konnte, ging Kelly weiter.
Gerade als sie um die Ecke bog, hörte sie das Herannahen eines Autos.
Um Gotteswillen! Darum hatte sie sich weder Gedanken gemacht, dass sie einfach so in die Intimsphäre eines Menschen eingebrochen war, noch hatte sie mit jemandem gerechnet.
Schon gar nicht, nachdem sie vorher für eine ganze Weile das Gefühl hatte, allein auf der Welt zu sein, allein mit sich, ihren Gedanken, und einem nicht zu beschreibendem Gefühl von Angekommensein.
Sie musste sich entschuldigen, erklären, weswegen sie hier war, und sie würde den Besitzer sofort zu dem Grabstein führen.
Sie hatte in dem Augenblick den Parkplatz erreicht, als ein Geländewagen direkt neben ihrem Auto hielt.
Kelly hatte keine Ahnung, was sie erwartet hatte. Doch wenn dieser unsympathische Mann der Besitzer dieses Anwesens sein sollte, dann hatte sie mit ihren Vorstellungen total daneben gelegen.
Er war kaum ausgestiegen, als er sie anblaffte.
»Also, solche Alleingänge gehen ja schon überhaupt nicht«, er sah nicht nur unsympathisch aus, so klang auch seine Stimme.
Ehe sie ihm etwas erklären konnte, stiegen drei weitere Personen aus dem Auto aus, zwei Männer und eine Frau. Von den drei Personen waren zwei offenbar ein Paar, der andere Mann begann sofort wie entfesselt zu fotografieren.
Der Mann und die Frau waren sich über etwas nicht einig, begannen leise zu diskutieren, was der Unsympathische zum Anlass nahm, sich Kelly zu nähern.
»Wenn Sie schon mal hier sind, können Sie meinetwegen bleiben und sich den Schuppen mit ansehen. Doch ich sage Ihnen direkt, ich bestehe, sollte es zu einem Kauf kommen, auf Zahlung meiner Provision. Ich habe den Alleinauftrag, verstanden? Und einfach schon mal herkommen, um dann eventuell hinter meinem Rücken mit Mr MacCready zu mauscheln, das geht überhaupt nicht. Vertrag ist Vertrag, und den hat Bradley unterschrieben.«
Kelly versuchte, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen.
Dieses Paradies hier sollte verkauft werden?
Und dann an diese grässlichen Leute?
Dieses gestylte gelockte Wesen passte doch überhaupt nicht hierher, der Ehemann sah auch nicht so aus, als könne er sich in dieser Abgeschiedenheit wohlfühlen, und Kelly bekam sehr schnell den Grund mit, weswegen die Beiden hier waren.
Sie hofften, »The Seagull« zu einem Schnäppchenpreis erwerben zu können, um es dann mit Gewinn wieder zu verkaufen. Und der andere Interessent?
Hätte Kelly nicht mitbekommen, dass er unter Umständen auch kaufen wollte, wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass es sich bei ihm um einen Fotografen handelte, der von den unglaublichen Motiven nicht genug vor seine Kamera bekommen konnte.
Kellys Gedanken überschlugen sich, nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte, dass dieses Anwesen verkauft werden sollte.
War es nicht ein Zeichen, dass sie ausgerechnet jetzt hierhergekommen war?
Sie würde auf jeden Fall mit hineingehen und so tun, als bekunde sie Kaufinteresse.
Sie war gespannt zu sehen, wie es Innen aussah und hoffte auf Bilder von Kelly und Gordon.
»Von wem haben Sie erfahren, dass das hier verkauft werden soll? Der Besitzer bat um Diskretion, und daran habe ich mich gehalten. Also, wer hat es Ihnen verraten, jemand aus meinem Büro? Also, wenn das so war, dann fliegt diejenige natürlich sofort. Ich lasse mir meinen guten Ruf nicht kaputtmachen. Wer war es?«
Kelly gab zu, zunächst ohne Kaufabsichten heraufgekommen zu, sein, weil dieses Haus ihr Interesse geweckt hatte. Doch nun wolle sie es sich auf jeden Fall ansehen, um es eventuell zu kaufen.
Der Makler grinste sie geradezu unverschämt an.
»Junge Frau, es handelt sich hier nicht um den Kauf eines Schokoriegels, den man so nebenbei mitnimmt, sondern um etwas mit einem ordentlichem Preis. Tut mir leid, setzen Sie sich in Ihr Auto, fahren Sie wieder herunter. Ich kann mich mit Ihnen nicht aufhalten, und ich lasse Sie schon gar nicht mit ins Haus gehen, nur, damit Ihre Neugier befriedigt wird.«
Er nickte ihr zu. »Guten Tag, meine Dame.«
Das war unverschämt, und Kelly war so wütend, dass sie ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben hätte. Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein? Sie richtete sich auf, und eine ihrer positiven Eigenschaften war, dass sie mit dem Geld ihrer Eltern, das sie einmal erben würde, niemals prahlte.
»Ich bin Kelly Mortimer, und ich kann dieses Haus hier, was immer es auch kosten mag, aus der Portokasse bezahlen.« Er schnappte nach Luft, griff mit seinen dicken Fingern der rechten Hand an seinen viel zu eng sitzenden Hemdkragen.
Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet, und er drohte jeden Augenblick zu kollabieren.
Fast konnte er einem leid tun!
»Mortimer …«, krächzte er mit einer ihm kaum gehorchenden Stimme, »von Mortimer Steel.«
Kelly nickte hoheitsvoll. »Genau, der Inhaber ist mein Vater. Nachdem das nun geklärt ist, kann ich doch wohl davon ausgehen, mir das Haus auch von Innen ansehen zu dürfen? Und ein Exposé hätte ich auch gern.«
Auf einmal war alles sehr einfach, dieser Makler kümmerte sich kaum noch um die anderen Interessenten, weil er einen Goldfisch an der Angel hatte, der sich nicht um Finanzierungen kümmern musste, sondern, wenn es erforderlich war, den Kaufpreis auch bar auf den Tisch legen konnte.
Es war widerlich!
Kelly hatte immer wieder mit Menschen zu tun, die Speichellecker wurden, wenn sie erfuhren, wer sie war.
»Können wir?«
Nun war sie es, die den Ton angab, und er klatschte sofort in die Hände, rief: »Meine Herrschaften, kommen Sie bitte.«
Das Ehepaar und der entfesselte Fotograf kamen sofort angelaufen, drängten sich an Kelly vorbei, die ihnen sehr gern den Vortritt ließ.
Ihr war es recht, in Ruhe in das Haus zu gehen, in dem Kelly einmal sehr glücklich gewesen war.
Warum sollte das Haus verkauft werden?
Weil es, wie die Bedienung verraten hatte, kaum noch genutzt wurde?
Neben all dem, was ihr da gerade durch den Kopf ging, musste Kelly sich allerdings die Frage stellen, was sie gerade tat.
Sie konnte doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, fernab von ihrem Lebensmittelpunkt ein Haus in der Einsamkeit zu kaufen, nur weil es da diese mysteriöse Geschichte mit dem Grabstein und diese Übereinstimmungen gab.
Das alles konnte Zufall sein. Kelly war kein außergewöhnlicher Name, und auf das Geburtsdatum sechzehnter September besaß sie kein Alleinrecht. Auch wenn die Mortimers reich waren, schmissen sie nicht das Geld zum Fenster hinaus.
Kelly folgte den anderen Interessenten und dem Makler ins Haus und war zunächst einmal überhaupt nicht in der Lage, alles bewusst wahrzunehmen.
Zum einen schwirrten ihr zu viele Gedanken durch den Kopf, Zum anderen war Kelly genervt von dem Paar, das den Preis für jedes Möbelstück, für jedes Bild, für jeden Gegenstand abschätzte, den man bei einem Verkauf erzielen würde. Es war unerträglich.
Kelly sonderte sich ein wenig ab, und allmählich nahm sie bewusst wahr, wie wunderschön die Inneneinrichtung des Hauses doch war, ein gekonnter Mix aus Alt und Modern.
Entweder hatte der Besitzer von »Seagull« diesen exquisiten Geschmack, oder er war von einem guten Profi beraten worden.
Kelly hatte das Gefühl, hier direkt einziehen zu können, und das lag ganz gewiss nicht an der ganzen Vorgeschichte, die sie mit alldem hier verband, sondern weil alles genau ihrem eigenen Geschmack entsprach.
Die Anderen waren längst vorausgegangen, getrieben von der Hoffnung, etwas zu finden, was in viel Geld umzusetzen war und was dem Eigentümer nicht bewusst war.
Es gab leider viele Menschen mit dieser Goldgräbermentalität.
Kelly verspürte plötzlich eine nicht erklärbare Aufgeregtheit, ehe sie sich anschickte, den nächsten Raum zu betreten. Sie zögerte.
Ihre Aufgeregtheit wich einer Erwartungshaltung und der Gewissheit, dass dieser Raum nicht so sein würde wie die Räume davor. Sie atmete tief durch, dann ging sie in das Zimmer. Es war in der Tat anders.
Der Raum war, bis auf ein paar sehr schöne Sitzgelegenheiten, Truhen und niedrige Anrichten, nicht möbliert.
Und das hatte einen Sinn. Nur so konnte der Blick, unabgelenkt, die zahlreichen Ölgemälde, die an den Wänden hingen, wahrnehmen. Es war eindeutig die Ahnengalerie der MacCreadys! Es war unglaublich!
Kelly hatte zunächst einmal für nichts einen Blick, sondern steuerte, wie ferngelenkt, wie geführt, wie hypnotisiert auf ein Gemälde zu, das sich zunächst einmal durch nichts von den anderen unterschied, weder durch die Größe, noch durch den Rahmen, nur von der dargestellten Person. Und auch da stach das Bild nicht aus den anderen heraus. Unter den Ahnen befanden sich viele wunderschöne Damen. Nein! Es war anders!
Kelly wurde nicht angezogen durch das, was sie sah, sondern durch das, was sie fühlte.
Und das waren Wärme, Herzklopfen, Nähe.
Nun also wusste sie auch, wie Kelly MacCready aussah!
Eine zarte, schöne Frau mit einer herrlichen Lockenpracht, mit großen, unergründlich dreinblickenden grünen Augen.
Zwischen ihr und Kelly bestand keine äußerliche Übereinstimmung, man konnte jetzt nicht, was die Esotheriker sagen würden, vermuten, dass Kellys Geist in sie eingedrungen sei. Manche gingen sogar so weit, von einer Reinkarnation zu sprechen.
Nein, es gab nichts davon, nur den Namen und das Geburtsdatum und diesen Grabstein, durch den alles zutage gekommen war. Der Auslöser für etwas? Ja, so musste es sein.
Jonathan hatte es geträumt, hatte davon gesprochen, dass sich ihr Leben verändern würde, dass sie es zulassen sollte.
Sie hatte es so verstanden, dass etwas auf ihren Weg kommen würde, einfach so, ohne ihr Zutun.
Er konnte nicht den Kauf von »The Seagull« gemeint haben, oder doch?
Merkwürdig war schon, dass sie ausgerechnet in dem Augenblick hier heraufgefahren war, als die Besichtigung wegen des Verkaufs stattfinden sollte.
Kelly Mortimer war ratlos!
Sie blickte die wunderschöne Kelly MacCready an, die ihr natürlich keine Antwort geben konnte, und von ihr war auch kein Zeichen zu erwarten, das ihr eine Entscheidung abnahm.
Kelly hatte keine Ahnung, wie lange sie noch vor dem Gemälde verweilt hätte, wäre nicht der Makler hereingekommen, um mit seiner unsympathisch klingenden Stimme zu sagen: »Ach hier sind Sie, Miss Mortimer. Wir sind mit unserer Besichtigung beinahe fertig. Also, wenn Sie noch die anderen Räumlichkeiten sehen möchten, dann sollten Sie sich jetzt beeilen.«
Kelly wusste auf einmal, dass es damit keine Eile hatte. Sie würde alles sehen, ohne diese grässlichen Kaufinteressenten, ohne diesen schrecklichen Makler.
Sie fühlte, dass es erst der Anfang war, und dass sie jetzt aber loslassen musste, dem Schicksal vertrauen.
Sie hatte nichts überlegt, nichts durchdacht und war über sich selbst erstaunt, sich sagen zu hören: »Danke, ich möchte nicht noch mehr sehen, und ich möchte das Haus auch nicht kaufen.«
Nun war sie wirklich entsetzt. Was hatte sie da gerade gesagt? Aber … Nein, es gab kein aber. Kelly fühlte es, dass es nicht an der Zeit war, eine so weitreichende Entscheidung zu treffen. Alles würde sich fügen …
Ja, genauso würde es sein, und das machte sie auf einmal sehr ruhig.
Der Makler blickte Kelly voller Entsetzen an. Er schnappte nach Luft, weil er seine fette Provision, die er bereits sicher geglaubt hatte, davonschwimmen sah.
Er war erfahren genug, um sofort erkannt zu haben, dass mit den anderen Interessenten das Geschäft nicht zu machen war, weder mit dem entfesselt herumfotografierendem Mann, noch mit dem Ehepaar, das glaubte, sich durch den Kauf dieses Hauses und der Inneneinrichtung sanieren zu können.
Und nun das!
Die einzige Interessentin, die das Geld besaß, sprang ab, dabei hätte er wetten können, dass sie »The Seagull« kaufen würde.
»Miss Mortimer, so etwas bekommen Sie so schnell nicht wieder. Das Haus ist in einem hervorragendem Zustand, dieses riesige Grundstück, die herrliche Alleinlage mit dem unverbaubaren Blick. Dafür ist der Preis viel zu niedrig angesetzt. Das alles ist Bauland, man kann eine Ferienhaussiedlung errichten, schon allein diese Tatsache macht das Grundstück so wertvoll. Man kann es, unter Berücksichtigung dieser Tatsache, locker zum doppelten Preis verkaufen. Dafür mache ich mich stark, und ich würde es dann auch übernehmen.«
Kelly glaubte, sich verhört zu haben.
Das konnte jetzt wirklich nicht wahr sein.
Besaß dieser Mann überhaupt keinen Charakter?
Der erste Verkauf war noch nicht einmal unter Dach und Fach, und da sprach er bereits über den nächsten.
Sie wollte ihm ein paar passende Worte sagen, was sie von ihm und seinen Geschäftspraktiken hielt. Doch dann sagte sie sich, dass er es nicht wert war.
Aber sie sollte sich mal überlegen, diesen Bradley MacCready ausfindig zu machen, um ihm zu sagen, was er sich da an Land gezogen hatte und dass er bereits jetzt der Betrogene war, weil alles sehr viel mehr wert war.
Es ging sie nichts an.
Sie schenkte ihm einen verächtlichen Blick, dann sagte sie mit eiskalter Stimme: »Ich bin raus, aber wenn Sie all diese Argumente den anderen Interessenten gegenüber laut werden lassen, dann bin ich überzeugt davon, dass jemand von ihnen zugreifen wird.«
Sie drehte sich um, spürte, wie er ihr nachblickte, und wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie vermutlich jetzt eine Leiche, doch das beunruhigte Kelly nicht.
Solche Typen machten ihr keine Angst.
Ohne noch einmal nach rechts und links zu schauen, und erstaunlicherweise auch ohne Bedauern zu verspüren, verließ sie das Haus, lief zu ihrem Auto und fuhr los.
Den Gedanken, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, unterdrückte sie so schnell, wie er ihr gekommen war.
Was hatte Jonathan noch gesagt?
Sie müsse vertrauen, den ihr vorbestimmten Weg gehen …
Das war etwas, was Kelly so nicht kannte.
Sie arbeitete mit sehr viel Erfolg im Management der Firma ihres Vaters, und da ging es um knallharte Geschäfte, für die man einen glasklaren Verstand brauchte, wo man blitzschnelle Entscheidungen treffen musste.
So war ihr Leben bisher verlaufen, und sie war damit durchaus zufrieden gewesen.
Die erste große Enttäuschung war Jim Adams gewesen, sein Betrug. Die Absagung der Hochzeit hatte nicht nur an ihrem Ego genagt, sie war in erster Linie auch schmerzlich gewesen.
Hatte all das dazu beigetragen, dass auf einmal alles ganz anders war?
Kelly konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass jemand in ihrem Inneren einen Schalter umgekippt hatte, der ihr Leben vollkommen veränderte und ihr eine bis dahin nicht gekannte Sichtweite gab.
Also doch ein parapsychologisches Phänomen, das sich mit Worten nicht erklären ließ? Schicksal? Magie?
Kelly machte ihr Autoradio an, um all das zu verscheuchen, was da in ihr herumtobte und sie verunsicherte.
Auf jeden Fall war es richtig gewesen, »The Seagull«, nicht zu kaufen.
Sie besaß genügend eigenes Geld, doch wie hätte sie das ihren Eltern erklären sollen?
Ihre Idee, noch einmal bei Jonathan vorbeizugehen, verwarf sie, doch da sie nun schon mal in Blackham Market war, ging sie in die kleine Boutique mitten im Ort, die erstaunlich gut sortiert war und erstand ein hübsches Kleid in einem Mille-Fleur-Design, eine khakifarbene Leinenhose und ein dazu passendes Shirt.
Die beiden khakifarbenen Teile würde sie auf jeden Fall tragen, das war genau ihr Stil.
Doch ob sie das Blümchenkleid jemals anziehen würde, das konnte sie nicht sagen, obschon die Verkäuferin vor lauter Begeisterung beinahe gequietscht und sie förmlich gedrängt hatte, das Kleid zu kaufen.
Dass der Kauf von Bekleidungsstücken für Frauen so eine Art Ersatzbefriedigung sein sollte und Glücksgefühle auslöste, konnte Kelly nicht feststellen.
Sie war einiges Geld los geworden, aber noch immer so durcheinander wie zuvor.
Sie betrat den nebenan liegenden Buchladen und erstand ein paar Bücher, die eh auf ihrer Liste standen und einen Reiseführer der näheren Umgebung, weil sie hoffte, darin etwas über »The Seagull« zu finden.
Und da war sie wieder bei ihrem ursprünglichen Gedanken und der Frage, warum der Besitzer dieses einmalige Anwesen, nachdem es Generationen im Besitz der Familie gewesen war, verkaufen wollte.
Geldsorgen konnten es keinesfalls sein, dafür war alles viel zu gepflegt.
»The Seagull« … Es geisterte in ihrem Kopf herum und somit auch die Frage, ob es nicht doch falsch gewesen war, aus den Kaufverhandlungen herausgegangen zu sein.
Sie brachte ihre Errungenschaften zu ihrem Auto, kaufte sich für alle Fälle eine Packung Cracker und eine Tafel Schokolade und etwas zu trinken, weil sie nicht wusste, ob sie heute im Hotel essen würde, weil es ziemlich bevölkert war und sie absolut keine Lust auf Gesellschaft hatte, auch nicht die eines attraktiven Mannes, der unverkennbar mit ihr geflirtet hatte.
Wie schade, dass sie mit Rosalind nicht reden konnte. Die wusste ja von überhaupt noch nichts.
Ehe sie Richtung »The crown« fuhr, zögerte sie noch einmal ganz kurz.
Als sie jedoch bemerkte, dass eine Gruppe junger Leute in Richtung Jonathans Strandbude lief, war auch das Thema abgehakt.
Wer weiß, wofür es gut war.
*
Zum Glück musste sie sich nicht mit den Crackern und der Schokolade begnügen.
Rosalind konnte sie gut verstehen, zumal noch mehr junger Leute angekommen waren, herbeigerufen durch die vom Vormittag, und es ging recht laut zu in dem sonst so verträumten Hotel.
Sie bereitete Kelly rasch einen köstlichen Salat mit Putenbruststreifen zu, und dabei strahlte sie übers ganze Gesicht.
So viele Gäste hatte sie schon lange nicht gesehen.
»Es ist ein Wunder geschehen«, rief sie freudig erregt. »Trotz aller Werbung habe ich niemanden herlocken können, und mit dieser von Mund-zu-Mund-Propaganda klappt es auf einmal. Alle sind begeistert und wollen wiederkommen. Nicht nur das, das nächste Mal wollen sie noch mehr Freunde mitbringen.«
Sie strahlte Kelly an.
»Mit dir hat es angefangen, vielleicht bist du ja so etwas wie eine gute Fee, die einen Segen über meinen alten Schuppen ausgesprochen hat. Wie auch immer, ich bin einfach nur froh. Wenn du noch etwas brauchst, hol es dir einfach aus der Küche. Auf etwas bestehe ich, du musst dir auf jeden Fall ein Fläschchen von diesem köstlichen Rotwein mit nach oben nehmen, den ich neu gekauft habe.«
Als sie Kellys entsetzten Blick bemerkte, fuhr sie fort: »Du musst die Flasche ja nicht auf einmal leertrinken.«
Sie stellte Kelly alles auf ein Tablett, und ehe die nach oben ging, rief Rosalind ihr hinterher: »Einer der Jungens wird untröstlich sein, dich heute Abend beim Dinner nicht zu sehen. Er ist ganz fummelig auf dich und glaubt, in dir so etwas wie die Frau fürs Leben erkannt zu haben.«
Da Kelly wusste, fühlte, dass es nicht so sein konnte, drehte sie sich noch einmal um.
»Da kann man mal sehen, wie sehr man sich irren kann.«
Beide lachten, dann wandte Rosalind sich ihren Vorbereitungen zu, und Kelly gelang es, zum Glück, unbehelligt in ihr Zimmer zu gelangen.
Sie pickte schon mal ein wenig in ihrem Salat herum, der so köstlich schmeckte, wie er aussah, dann packte sie ihre Einkäufe aus, hängte das Mille-Fleur-Kleid ganz weit nach hinten in den Schrank.
Vielleicht würde sie es zurückbringen und sich dafür etwas anderes kaufen, dachte sie, dann machte sie es sich gemütlich.
Sie probierte den Rotwein, es war ein Rioja von einem Winzer, dessen Weine auch bei den Mortimers gern getrunken wurden.
Er war köstlich, und genau das, was sie jetzt brauchte. Kelly entspannte sich.
Sie verlor ihre Hektik, doch sie war sich sicher, dass das nicht am Wein lag, sondern daran, dass ihr Verstand wieder funktionierte.
Sie hatte sich da in etwas verrannt und immer mehr hineingesteigert und deswegen genau das erlebt, was man im Allgemeinen »aus einer Mücke einen Elefanten machen«, nannte.
Sie sah jetzt alles mit anderen Augen, und was Jonathan ihr da erzählt hatte?
Ein leises Lächeln umspielte ihren schöngeschwungenen Mund. Auch dafür hatte sie eine Erklärung.
Natürlich hatte er sie vorher die ganze Zeit über beobachten können und hatte schon mitbekommen, wie schlecht drauf sie gewesen war.
Auf einmal die Gästezahl hatte ihn beflügelt, weil das Umsatz brachte, und da hatte er sie aufmuntern wollen, mit dem Whisky und mit dieser netten Geschichte.
Ja, genauso musste es gewesen sein.
Doch jetzt war ihre Welt wieder in Ordnung, und sie fühlte auf einmal eine solche Kraft in sich, dass sie insgeheim beschloss, sehr bald ihre Zelte hier abzubrechen und wieder nach Hause zu fahren und an ihre Arbeit zu gehen, die ihr Spaß machte und wo der Erfolg messbar und sichtbar war und nicht gespürt oder erahnt werden musste.
Sie genehmigte sich noch ein zweites Gläschen Wein, aß ihren Salat, und dann machte sie es sich mit einem ihrer neu erstandenen Bücher bequem.
Den Reiseführer legte sie beiseite, ohne in ihm geblättert zu haben.
Noch einmal …, es war vorbei, hatte sie nicht mehr zu interessieren. Das sagte sie sich immer wieder, beinahe wie ein Mantra, vor …
In der Nacht schlief Kelly schlecht, wurde von wirren Träumen gequält.
Sie sah Männer am Strand, die den Grabstein abtransportieren wollten.
Sie warf sich dazwischen, weil sie das nicht zulassen konnte, doch die Männer drängten sie einfach beiseite.
Einer von ihnen erklärte ihr, dass man mit dem Stein viel Geld verdienen könne, weil er etwas ganz Besonderes sei, und wer ihn besitze, sei auch gleichzeitig der Besitzer des Hauses auf den Klippen.
Sie schrie den Männern verzweifelt zu, dass das Haus Bradley MacCready gehöre, und der sei ihr Bräutigam.
Dann sah sie sich als Braut, die in einem weißen Kleid mit wehendem Schleier über die Klippen lief, völlig verzweifelt, weil Kelly MacCready ihr gesagt hatte, sie könne Bradley nur heiraten, wenn sie ihren Grabstein zum Haus auf den Klippen brächte.
Doch die Männer waren mit dem Stein verschwunden, und Kelly wusste, dass jetzt alles verloren war.
Sie wurde von ihrem eigenen Schluchzen wach, und sie war so aufgewühlt, so durcheinander, dass es erst einmal eine ganze Weile dauerte, bis sie sich zurechtfand und begriff, dass es ein Traum gewesen war, nichts als ein Traum.
Sie richtete sich auf, wischte ihre Tränen weg, versuchte, sich den Traum in die Erinnerung zu bringen, was ihr schließlich stückchenweise gelang und noch mehr verwirrte.
Was für ein Traum!
Wie sollte man das deuten?
Sie kannte Bradley MacCready überhaupt nicht, wusste nicht, ob er jung oder alt, verheiratet oder ledig war.
Und mit ihm hatte sie sich eigentlich überhaupt nicht beschäftigt, sich nur gewundert, warum er dieses Traumanwesen verkaufen wollte.
Ihn nun in ihren Träumen als ihren Bräutigam zu sehen, war schon recht kühn. Und dann Kellys Auftritt … Sie brachte nichts zusammen, zumal sie mit dieser ganzen Geschichte doch bereits innerlich abgeschlossen hatte und sogar schon so weit gekommen war, ihre Zelte hier abzubrechen und wieder nach Hause zu fahren.
Und nun? Was hatte das zu bedeuten? Sollte es ein Zeichen sein?
Oh nein! Nicht das schon wieder.
Kelly stand auf, trank ein Glas Wasser, stellte sich ans Fenster, blickte hinauf in den Sternenhimmel und wünschte sich geradezu verzweifelt eine Sternschnuppe herbei, um sich wünschen zu können, dieser Spuk möge für alle Zeiten vorbei sein.
Sternschnuppen segelten nicht vom Himmel, wenn man es gerade haben wollte.
Kelly setzte sich in ihren Sessel, lehnte sich zurück, dachte noch einmal an den merkwürdigen Traum.
Sie versuchte, ein wenig Klarheit in das ganze Gewirr zu bringen, und schließlich kristallisierte sich nur eines heraus, und das war …, der Grabstein!
Was in ihrem Traum darum gerankt war, war bedeutungslos. Aber was auf einmal eine ungeheure Bedeutung für sie hatte, war der Gedanke, ihn in Sicherheit bringen zu müssen.
Ja, das war es.
Sie stand auf, stellte ihr Glas ab, dann handelte sie wie in Trance, zog ihr Sleepshirt aus, schlüpfte in eine Jeans, zog einen leichten Pulli an, Sneakers, ehe sie den Raum verließ steckte sie, warum auch immer, ihren Autoschlüssel in die Hosentasche, dann schlich sie hinaus, blickte sich vorsichtig um, lauschte.
Es war nichts zu sehen und zu hören.
Vermutlich schliefen die feierlustigen jungen Leute gerade ihren Rausch aus, und auch Rosalind lag, nach getaner Arbeit, erschöpft in ihrem Bett und schlief den Schlaf der Gerechten.
Im »Crown« schloss man aus lauter Bequemlichkeit die Haustür nicht ab, denn hier oben gab es eine Verbrecherquote, die bei Null lag.
Rosalind hatte ihr erzählt, dass hier und auch in der näheren Umgebung noch niemals eingebrochen worden war.
Davon profitierte Kelly jetzt, denn sonst hätte sie noch einmal nach oben gehen müssen, um den Schlüssel zu holen.
Sie ging hinaus, blieb für einen Moment stehen, um die würzige Nachtluft tief einzuatmen.
Es war verrückt, absolut verrückt, was sie da plante, doch sie konnte nicht anders.
Sie rannte leichtfüßig zu den Klippen, lief den Weg hinunter zum Strand, gegen den in schöner Monotonie die Wellen schlugen, um dann sanft im Sand auszurollen.
Es war still, außer den Geräuschen, die das Wasser verursachte, war nichts zu hören.
Für einen Moment blieb Kelly stehen, blickte aufs Wasser, das sich irgendwo im Dunkel der Nacht verlor.
Auch wenn es nur ein Trugschluss war, hatte sie das Gefühl, dem Himmel ganz nah zu sein, und als sie die so heiß herbeigesehnte Sternschnuppe doch noch sah, war sie so überrascht davon, dass sie doch tatsächlich vergaß, sich etwas zu wünschen. Als es ihr einfiel, war die Sternschnuppe längst verglüht.
Sie wandte sich ab, lief den Strand entlang und fragte sich unaufhörlich, was sie da tat, ob sie den Verstand verloren hatte.
Sie hatte darauf keine Antwort, sie wusste nur, dass sie handeln musste.
Sie durfte den Grabstein nicht hier liegen lassen.
Dass ihn die Männer aus dem Traum stehlen könnten, kam ihr nicht in den Sinn.
Nein, dass sie so und nicht anders handeln durfte, hatte mit überhaupt nichts etwas zu tun.
Das letzte Stückchen lief sie, und sie atmete erleichtert auf, den Stein genau da vorzufinden, wo sie ihn deponiert hatte.
Es war verrückt!
Natürlich war es das.
Wie oft hatte sie sich das eigentlich schon gesagt oder gefragt?
Darauf hatte Kelly keine Antwort.
Auch nicht darauf, wo ihr Verstand wieder geblieben war. Sie war doch so klar gewesen, hatte gewusst, was zu tun sei.
Und nun?
Nun geisterte sie mitten in der Nacht an einem dunklem, menschenleerem Strand herum, um einen alten Grabstein in Sicherheit zu bringen.
Kelly zerrte den Stein von dem Felsbrocken, ließ ihn vorsichtig in den Sand fallen. Ein ganz schöner Kraftakt. Und nun? Wie sollte es weitergehen? In Sicherheit bringen, schön und gut. Dazu brauchte man einen Plan oder zumindest Helfer. Sie hatte beides nicht.
Aber sie hatte plötzlich eine ungeheure Energie. Sie packte den Stein, zerrte ihn durch den nassen Sand.
Das war nicht einfach, aber immerhin machbar, und es dauerte.
Kelly machte zwischendurch immer wieder Pausen, und sie spürte ihre Arme kaum noch, als sie schließlich am Weg angekommen war, der nach oben führte.
Wie sollte sie es schaffen, den Stein da hinaufzubringen? Sie hatte keine Ahnung, und deswegen setzte sie sich erst einmal in den Sand, um zu überlegen.
Nur, was gab es da zu überlegen. Für eine irrwitzige Idee gab es keine vernünftigen Gedanken.
Wenn jemand aus ihrem bekannten Umfeld sie bei dieser mehr als schrägen Aktion sähe, der würde entsetzt die Hände überm Kopf zusammenschlagen und beginnen, an ihrem Verstand zu zweifeln.
Sie hatte keine Wahl!
Kelly war jetzt kein normal denkender Mensch, sondern eine Getriebene, und das verlieh ihr übermenschliche Kräfte.
Sie erhob sich, dann zerrte sie den Stein an den Rand des mit Gras bewachsenen Weges und rollte ihn, um ihn nicht zu beschädigen, auf dem Gras hinauf.
Sie wollte mehr als nur einmal aufhören, den Stein einfach fallen lassen.
Ehe sie sich dazu entschloss, bekam Kelly einen neuen Energieschub und machte weiter. Weiter und weiter und weiter … Sie verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum.
Als der Mond hinter einer dunklen Wolke verschwand, machte Kelly im Dunkeln weiter. Sie war wie besessen, hatte ihren Verstand vollkommen ausgeblendet. Und wahrscheinlich musste das auch so sein, denn hätte sie das alles hinterfragt, hätte sie sofort damit aufhören müssen.
Irgendwann kam sie oben an, ließ sich erschöpft einfach ins Gras fallen.
Geschafft!
Kelly war so sehr am Ende ihrer physischen Kraft, dass sie sich darüber nicht einmal freuen konnte. Und sie verspürte auch nicht das leiseste bisschen Triumph. Irgendwann richtete sie sich wieder auf. Alle Knochen schmerzten, nur konnte sie darauf keine Rücksicht nehmen. Sie war längst noch nicht fertig mit ihrer Arbeit und musste da durch, auch wenn sie sich augenblicklich das Gefühl hatte, durch einen Fleischwolf gedreht worden zu sein.
Kelly reckte sich, dann ging sie müden Schrittes hinüber zum Parkplatz des Hotels, schleppte sich zu ihrem Auto, holte den Schlüssel aus ihrer Hosentasche, stieg ein.
Ihre Hand zitterte, als sie ihn in die Zündung steckte, die Handbremse löste, den Wagen langsam den abschüssigen Weg bis zu den Klippen hinunterrollen ließ.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Handbremse wieder ordentlich angezogen war, stieg sie aus, lief um das Auto herum, öffnete den Kofferraum.
Nun kam der schlimmste Teil, und sie fragte sich, wie sie diesen schweren Grabstein in ihr Auto hieven sollte.
Es gab nur eine Möglichkeit.
Alle Kräfte noch einmal mobilisieren, die Zähne zusammenbeißen und noch ganz schnell ein Gebet gen Himmel schicken und darauf hoffen, jetzt nicht einen Bandscheibenvorfall zu riskieren.
Lange herumkaspern durfte sie eh nicht mehr, denn sie hatte bereits sehr viel Zeit gebraucht und durfte nicht riskieren, dass es im Hotel Frühaufsteher gab oder jemand den Weg entlanggefahren kam und sich darüber wunderte, was sie da so trieb.
Kelly probierte aus, wie sie den Stein am besten packen konnte, und dann gelang es ihr doch tatsächlich, ihn, ohne ihn dabei zu beschädigen, in den Kofferraum zu heben.
Zum Glück hatte sie immer eine Decke im Wagen, damit hüllte sie den Stein vorsichtshalber ein, dann machte sie den Kofferraum zu. Die Abdeckung gab nicht preis, was sich jetzt in dem Auto befand.
Also wieder einsteigen, diesmal musste sie den Motor anlassen und konnte leider nicht verhindern, dass sie ihn laut aufheulen ließ. Zumindest hatte sie nicht Gas mit der Bremse verwechselt, denn das wäre fatal gewesen.
Als sie sicher sein konnte, dass der Wagen nicht zurückrollen würde, löste sie die Handbremse und war froh, unbeschadet wieder auf dem Parkplatz angekommen zu sein.
Sie war am Ende, und am liebsten wäre Kelly einfach im Auto sitzen geblieben, doch das ging ja nicht.
Also stieg sie aus, schleppte sich zum Hotel, und dann hangelte sie sich von Stufe zu Stufe nach oben.
In ihrem Zimmer angekommen, brachte sie nicht mehr die Kraft auf, sich auszuziehen, sondern warf sich, so wie sie war, einfach aufs Bett und war in kürzester Zeit schon eingeschlafen.
*
Trotz der nächtlichen Schwerstarbeit, der unterbrochenen Nachtruhe, erwachte Kelly am nächsten Morgen relativ früh.
Und auch wenn sie das Gefühl hatte, den Körper einer Hundertjährigen zu haben, funktionierte ihr Verstand wieder, und sie fragte sich, was das in der Nacht gewesen war.
Was hatte sie da bloß getan?
Was war in sie gefahren?
Es konnte doch unmöglich sie gewesen sein, die diesen Grabstein den weiten, beschwerlichen Weg bis zum Auto geschleppt hatte.
Wozu?
Diese Frage stellte sie sich mehr als nur einmal, ohne eine Antwort darauf zu finden.
Gab es so etwas, dass eigentlich ganz normale Menschen von irgendwelchen Geistwesen fremdgesteuert wurden?
Sie konnte doch nur fremdgesteuert worden sein, denn von selbst wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, so etwas Wahnwitziges zu tun.
Der Traum fiel ihr wieder ein, der weder Hand noch Fuß hatte, und wenn der tatsächlich der Auslöser für diese Verrücktheit gewesen sein sollte, dann war es wohl an der Zeit, ihren Verstand untersuchen zu lassen.
Bradley MacCready, den sie noch niemals gesehen hatte, den sie niemals sehen würde, den sie aber, zumindest im Traum, hatte heiraten wollen. Und dann Kelly MacCready … Oh nein!
Kelly wollte an nichts mehr erinnert werden. Sie sprang, so weit das überhaupt möglich war, vom Bett hoch, und wenige Minuten später stand sie unter der Dusche und ließ heißes Wasser auf sich herunterprasseln.
Das war sehr angenehm.
Als sie nach dem duschen ihren Körper abtrocknete, spürte sie wieder jeden Knochen einzeln und konnte es deswegen leider nicht verhindern, wieder an ihre Wahnsinnstag in der Nacht denken zu müssen. Und dabei beschäftigte sie vor allem eine Frage. Was sollte jetzt mit dem Grabstein geschehen?
Den konnte sie doch unmöglich als Souvenir mit nach Hause nehmen! Na bravo!Da hatte sie sich etwas eingehandelt. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht anzufangen zu weinen.
Und da sie jetzt unbedingt einen Sündenbock brauchte, lud sie alles auf ihren Exfreund und Beinahe-Ehemann ab, denn hätte er sie nicht betrogen, dann wäre sie nicht hier gelandet und hätte diesen Grabstein nicht gefunden, der jetzt in ihrem Kofferraum lag. Und sie hätte nichts von einer Kelly erfahren, die hundert Jahre zuvor an einem sechzehnten September geboren worden war, um fünfundzwanzig Jahre danach zu sterben, genau in einem Alter, in dem sie jetzt war.
Und wenn sie nun ebenfalls mit fünfundzwanzig Jahren sterben würde?
Sie hatte sich den Grabstein in den Kofferraum geholt, wurde also unentwegt an die andere Kelly erinnert.
Wenn dieses ständig an sie erinnert werden so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung war? Dann hatte sie jetzt schlechte Karten. So etwas wie Panik stieg in ihr hoch. Sie musste den Stein wieder los werden, unbedingt! Aber was sollte sie mit ihm machen?
Sie konnte ihn nicht einfach die Klippen hinunterwerfen. Herrje!
Warum hatte sie ihn nicht einfach liegen lassen? Warum hatte sie ihn überhaupt finden müssen? Warum war er nach so vielen Jahren, die er irgendwo im Gestrüpp gehangen hatte, ausgerechnet jetzt an Land gespült worden?
Der alte Mann aus der Strandbude kam ihr in den Sinn, sie hörte seine Worte in ihren Gedanken.
Jonathan hatte von Schicksal gesprochen, dem Weg, der sie hierher geführt hatte, weil es ihre Vorbestimmung gewesen war.
Er hatte nichts über Glück oder so etwas gesagt, war insgesamt ziemlich vage geblieben.
Und hatte er ihr den Whisky vielleicht nur aus dem Grund eingeschenkt, weil er geträumt hatte, dass sie bald sterben würde, genau wie Kelly MacCready … Mit fünfundzwanzig Jahren? Es war eine gruselige Vorstellung, die sie aber leider nicht mehr los wurde.
Sie hatte sich von der ersten Sekunde an der anderen Kelly verbunden gefühlt.
Wäre das nicht die Zeit gewesen, einfach davonzulaufen?
Doch anstatt beizeiten alles wieder zu vergessen, hatte sich alles manifestiert, war sie wie besessen davon gewesen, mehr über eine Frau zu erfahren, die seit gefühlten Ewigkeiten tot war. Sie musste hier weg, zurück in ihr altes Leben …, wenn sie dazu überhaupt noch die Gelegenheit hatte.
Vielleicht hatte sie an diesen Ort kommen müssen, um hier zu sterben, und vielleicht hatte das alles mit ihrem Ex so passieren müssen, weil er nicht nach kurzer Ehezeit als Witwer und ungeliebter Schwiegersohn zurückbleiben sollte.
Es war schräg …
Kelly fühlte es, doch sie konnte nicht anders.
Sie steigerte sich immer mehr in alles hinein, und wo vorher helle Farben gewesen waren, sah sie nur noch schwarz, war alles negativ.
Und sie hatte Angst …
Welche Kelly würde den Sieg davontragen?
Diejenige, die sie ins Dunkel ziehen wollte oder die, die normalerweise einen klaren Verstand besaß, der dem Spuk ein Ende bereiten konnte.
Kelly zog sich in Windeseile an. Sie schminkte sich niemals stark, doch ein wenig Lippenstift und ein paar Tupfer ihres Lieblingsparfums trug sie schon auf.
Heute brauchte sie das alles nicht. Sie gab sich nicht einmal Mühe, ihre Haare ordentlich zu kämmen.
Es war doch so egal, wie sie aussah. Sie verließ ihr Zimmer.
Auf der Treppe begegnete sie dem Mann, der versucht hatte, mit ihr zu flirten.
Sie ging nach unten, er nach oben.
Vor ihr blieb er stehen.
»Guten Morgen, schöne Frau«, rief er und strahlte sie an, »mit uns scheint es so zu sein wie mit den Königskindern. Schade, dass ich nicht einmal mehr Zeit für eine Tasse Kaffee mit Ihnen habe, weil wir gleich zu einer Radtour aufbrechen, und meine Kumpel bereits auf mich warten.«
Sein Lächeln verstärkte sich, und er blickte Kelly hingerissen an.
»Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Von unserer reizenden Hotelbesitzerin habe ich erfahren, dass Sie Ihre Abreise noch nicht geplant haben, und da wir auch zurückkommen werden, setze ich auf heute Abend …, haben Sie einen schönen Tag, und vielleicht denken Sie ja sogar mal an mich?«
Es war unglaublich!
Sie sah aus wie ein Wrack, sie fühlte sich wie ein Wrack, und dieser Mann war dennoch hingerissen von ihr.
Sie hätte besser den Abend in seiner Gesellschaft verbringen sollen.
Er hätte sie mit Komplimenten überhäuft, hätte sie ganz gewiss zum Lachen gebracht, und da wäre sie nicht auf die irrsinnige Idee gekommen, einen Grabstein durch die Gegend zu schleppen und in ihrem Auto zu deponieren.
Er hatte ein paar nette Worte verdient.
»Ich werde mich bemühen«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Haben Sie einen schönen Tag.«
Er war spürbar hin und weg, weil er damit wohl nicht mehr gerechnet hatte, nachdem all seine vorherigen Bemühungen erfolglos gewesen waren.«
»Danke«, rief er überglücklich, »ich freue mich auf heute Abend. Spätestens beim Dinner werden wir uns sehen.«
Sicher hätte er gern noch ein paar Worte mehr mit ihr geplaudert, doch Kelly war schon weitergegangen, bekam jedoch noch mit, wie er ihr hinterher rief: »Ich heiße übrigens Marc … Marc Spencer.«
Wenn er jetzt erwartete, dass sie ihm ihren Namen verriet, da musste Kelly ihn enttäuschen. Das hatte Zeit bis zum Abend. Dann würde er ihn erfahren, und sie hoffte nur, dass er dann daran keine Erwartungshaltung knüpfte.
Sie war noch immer nicht an ihm als Mann interessiert, trotz seines wirklich guten Aussehens.
Und wie war es mit einem unverbindlichen Flirt?
Vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt. Derzeit war es für sie unvorstellbar. Im Augenblick hatte sie ganz andere Probleme, deren Lösung in den Sternen stand. Und was sie am meisten ärgerte war, dass sie sich durch ihr impulsives Handeln von allein in diese Situation gebracht hatte.
Sie war nicht gut drauf. Vielleicht hätte sich ihre Laune ein wenig gebessert, auf jeden Fall hätte es ihrem Selbstwertgefühl geschmeichelt, wenn Kelly mitbekommen hätte, wie hingerissen Marc Spencer ihr nachblickte.
Als Kelly den Frühstücksraum des »Crown« betrat, stellte sie fest, dass der, obschon einige Gäste bereits gegangen waren, noch immer recht gut besucht war.
Weil für sie aber augenblicklich nichts zu tun war, setzte Rosalind sich für einen Moment zu Kelly an den Tisch.
Sie war bestens gelaunt und sehr froh darum, dass es bei ihr so gut lief.
»Es ist wie ein Wunder«, lachte sie. »Schon allein der gestrige Abend war ein Knaller. Sie haben alle gegessen, was die Karte hergab, und getrunken haben sie wie die Stiere. Ich bekam es schon mit der Angst zu tun, meine Getränkevorräte könnten nicht reichen. Auf so etwas bin ich doch nicht eingestellt. Doch wenn alle ihre Versprechen tatsächlich wahrmachen und nicht nur wiederkommen, sondern das ›Crown‹ auch noch als Geheimtipp weitergeben, dann habe ich ausgesorgt. Dann muss ich mir um die Renovierung, die dringend ansteht, keine Sorgen mehr machen.«
Erst jetzt bekam sie mit, dass Kelly einsilbig war.
Rosalind blickte zu ihr hinüber, und da fiel ihr auch noch die beinahe unnatürliche Blässe auf.
»Du siehst ja schrecklich aus«, rief Rosalind, »bist du auch wach geworden und konntest hinterher nicht mehr einschlafen, weil irgendso ein Idiot mitten in der Nacht den Motor seines Autos aufheulen lassen musste?«
Kelly konnte nur hoffen, dass sie jetzt nicht rot wurde.
Sie konnte Rosalind ja schlecht sagen, dass sie der Idiot gewesen war.
Also murmelte sie nur ein: »Hab ich nicht mitbekommen, aber ich konnte eh nicht gut schlafen.«
»Aber nicht, weil es zu laut war, oder?«, erkundigte Rosa sich besorgt. »Je mehr getrunken wurde, umso lauter wurde natürlich auch der Lärmpegel.«
Kelly konnte die besorgte Rosalind beruhigen, und so gern sie sich mit ihr auch normalerweise unterhielt, jetzt war sie froh, dass sie abgerufen wurde, weil einer der Gäste einer Frage an sie hatte.
Wenn Rosalind wüsste, dass sie es gewesen war, dann würde sie ihr jetzt ganz gewiss nicht so nett zulächeln.
Und wenn sie gar wüsste, was da im Kofferraum ihres Wagens lag, würde sie an ihrem Verstand zweifeln.
Und das war nicht verwunderlich, was sie da praktiziert hatte, war einfach zu schräg gewesen. Und dafür gab es auch überhaupt keine Erklärung.
Kelly trank hastig zwei Tassen schwarzen Kaffees, mümmelte an einem Toast mit Orangejelly herum.
Kelly hatte noch nicht einmal die Hälfte ihres Toasts gegessen, als sie den Teller beiseite schob. Sie konnte nichts essen. Sie kam sich vor wie zugeschnürt. Der Grabstein …
Sie dachte nicht mehr daran, was sie alles getan hatte, um ihn in ihren Kofferraum zu bringen, sondern ihre Gedanken kreisten darum, wie sie ihn wieder loswerden konnte.
Es war immerhin ein Grabstein, den konnte sie nicht einfach irgendwo am Straßenrand ablegen oder auf eine Deponie kippen. Oh Gott, oh Gott … Was hatte sie sich da bloß angetan!
Als Kelly bemerkte, dass Rosalind wieder auf ihren Tisch zusteuerte, stand sie rasch auf. So nett sie Rosalind auch fand, so gern sie sich normalerweise mit ihr auch unterhielt, jetzt konnte sie es nicht haben. Sie musste erst einmal mit sich selber klar kommen.
Es war ja nicht nur der Grabstein, sondern auch ihre Gesamtsituation.
Kelly wusste, dass da etwas in Bewegung war, dass etwas mit ihr geschah, dem sie nicht ausweichen konnte.
Statt sich in diese Situation zu begeben, statt zu vertrauen, lief sie mehr oder weniger Amok in ihren Gedanken.
Warum sagte sie sich nicht einfach, dass es einen Grund dafür geben musste, dass sie Kelly MacCreadys Grabstein vom Strand weggeholt hatte?
Warum blieb sie nicht ganz ruhig und sagte sich, dass schon etwas passieren würde, weil irgendwo alles im Leben einen Sinn machte, auch wenn man es manchmal nicht so sehen wollte.
Ganz tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es zwischen Kelly MacCready und ihr eine Verbindung war, die durch Worte nicht zu beschreiben war.
Misstraute sie allem, entwickelte sie einen zu nichts führenden Aktionismus, weil das, was da geschah, was nicht zu erklären war, ihr Angst machte? Angst … War das das richtige Wort? Kelly wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie jetzt unbedingt mit Jonathan sprechen musste.
Und weil das für sie so dringend war, entschloss Kelly sich, nicht am Strand entlang zu laufen, was ihr sicherlich gut tun würde, sondern den Landweg zu wählen, bis Blackham Market zu fahren, ihr Auto dort irgendwo abzustellen und dann zu seiner Strandbude zu laufen. Ja, genau das würde sie tun.
Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Kelly war so erleichtert, hatte es plötzlich so eilig, dass sie zum hoteleigenem Parkplatz geradezu stürmte und dabei beinahe einen Mann umgerissen hätte, der aus seinem Wagen etwas geholt hatte.
Kelly entschuldigte sich, ignorierte, dass er einem kleinen Schwätzchen nicht abgeneigt wäre, dann setzte sie sich in ihr Auto und brauste viel zu schnell davon.
Jonathan … Der war jetzt ihr Rettungsanker! Jonathan würde ihr einen Tipp geben, was sie nun mit dem Grabstein machen sollte.
Jonathan würde ihr zuhören.
Jonathan würde ihr überhaupt sagen, was sie jetzt tun sollte.
Kelly spürte, wie sie sich zu beruhigen begann.
Sie würde ihm alles erzählen und ihm ganz viele Fragen stellen und konnte nur darauf hoffen, dass keine Gäste in der Strandbude sein würden, auch wenn ein solcher Wunsch von ihr sehr egoistisch war.
So gut Kelly sich auch mit Rosalind verstand. Sie wusste, dass sie mit ihr über all das nicht reden konnte, weil Rosalind es nicht verstehen würde.
Rosalind stand mitten im Leben, sie war sehr klar … Doch war sie das nicht auch gewesen, ehe ihr eigenes Leben ihr um die Ohren geflogen war? Stopp! Ihre Gedanken begannen sich wieder im Kreis zu drehen, und das musste sie auf jeden Fall verhindern.
Sie machte das Autoradio an, zappte sich nervös von Sender zu Sender, um schließlich, ohne das sie etwas gefunden hatte, festzustellen, dass sie in Blackham Market angekommen war.
Es war nicht viel los, denn die Wochenendbesucher waren zum größten Teil abgereist, und das Wetter sah heute auch nicht sehr vielversprechend aus. Außerdem war es noch sehr früh. Wer Urlaub machte, stand nicht unter Zeitdruck, lebte nicht nach der Uhr, und das bedeutete, dass man es sich schon am Frühstückstisch gemütlich machte.
Nun, ihr sollte alles recht sein. Sie fand einen guten Parkplatz direkt oberhalb der Strandbuden. Das war ein gutes Zeichen.
Kelly griff nach ihrer Tasche, stieg aus, dann rannte sie hinunter, bog um die Ecke, blieb entsetzt stehen. Es war alles abgesperrt.
Ihre Sorge, Jonathan könne etwas passiert sein, war unbegründet.
Als sie die Brettertür erreicht hatte, konnte sie den weißen Zettel lesen, den er da angenagelt hatte, damit der Wind ihn nicht herunterreißen konnte. Wie enttäuschend!
Auf dem Zettel stand, dass die Strandhütte die ganze Woche über geschlossen bleiben würde! Damit hatte sie nicht gerechnet. Davon hatte er ihr nichts erzählt. Warum sollte er? Da hatte es zwar dieses Ereignis gegeben, als er ihr von seinem Traum erzählt hatte.
Doch danach hatten sie sich nicht wiedergesehen, und Kelly war überzeugt davon, dass Jonathan sie auch nicht zu seiner Vertrauten gemacht hätte, wäre es anders gewesen.
Sie war so enttäuscht, dass sie an sich halten musste, um jetzt nicht einfach loszuweinen. Eine ganze Woche würde er nicht öffnen. War er verreist? Wohnte er in Blackham Market? Brauchte er Hilfe? Fragen um Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Eines wusste sie aber …
Sie war keinen Schritt weiter und würde vermutlich den Grabstein mindestens diese eine Woche lang durch die Gegend fahren müssen.
Hatte sie nicht abreisen wollen?
Daran hatte sie doch auch schon gedacht und hatte an sich halten müssen, nicht direkt ihren Koffer zu packen und zurück in ihr altes Leben zu fahren.
Und nun?
Auch diese Frage hatte sie sich bereits mehr als nur einmal gestellt, ohne eine Antwort darauf zu bekommen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes entdeckte sie eine kleine, nicht gerade vertrauenerweckende Kaffeebar, kaufte sich einen »coffee to go«, und erkundigte sich so ganz nebenbei: »Die Strandbude da unten ist für eine Woche geschlossen, ist der Mann krank? Sonst macht man ja wohl nicht mitten in der Saison einfach zu.«
Das junge Mädchen grinste breit.
»Ach, Sie meinen Jonathan. Nein, der ist nicht krank, der macht nur, was er will. Und wenn er keine Lust hat, dann macht er nicht auf. Ich finde es super, wenn man über sein Leben frei entscheiden kann. Ich beneide ihn darum, wenn ich daran denke, dass ich …«
Es war unhöflich.
Kelly wusste es, doch sie ahnte, was nun kommen würde …, die Lebensgeschichte dieses jungen Dings, das sich benachteiligt fühlte, weil es arbeiten musste, um nicht entlassen zu werden. Jedes Ding hatte zwei Seiten. Jonathan, jeder Selbständige überhaupt, musste sehen, wie er zurecht kam, war jemand angestellt, war er nicht frei in seinen Entscheidungen, musste seine festgelegten Arbeitszeiten einhalten, musste mit einem vielleicht quengeligem Chef zurechtkommen, was bestimmt nicht immer einfach war. Aber er hatte den Vorteil zu wissen, dass er am Monatsende immer sein Geld bekommen würde. Und so etwas war auch nicht zu verachten.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Kelly rasch, »ich muss weiter. Sie bezahlte, legte ein ordentliches Trinkgeld dazu, danach verließ sie die Kaffeebar.
Auf dem Weg zu ihrem Auto trank sie von ihrem Kaffee, verzog das Gesicht. Abgesehen davon, dass er nicht heiß war, schmeckte er grottenschlecht. Am nächsten Abfalleimer, die überall hier herumstanden, warf sie den Kaffeebecher hinein. Das hätte sie sich wirklich ersparen können.
Es war beruhigend zu wissen, dass Jonathan offensichtlich nicht krank war, doch das brachte sie jetzt auch nicht weiter.
Sie ging zu ihrem Auto, öffnete den Kofferraum, starrte auf den Grabstein, der leider ganz real da lag, und sich nicht als eine Fata Morgana verwies.
Kelly schob die Decke beiseite, strich, ihr vollkommen unbewusst, über die verblichene Schrift.
Es war merkwürdig, und es war durch nichts zu begründen.
Kelly empfand diese Berührungen als tröstlich.
Und noch merkwürdiger war, dass sie auf einmal wusste, was sie zu tun hatte.
Warum war sie nicht direkt darauf gekommen? Es gab eine Lösung! Und es gab auch nur diese eine!
»Kelly MacCready, ich weiß, wohin ich dich bringen muss, nämlich dahin, wohin du gehörst, nach Hause.«
Kelly Mortimer war auf einmal so erleichtert, und auf einmal machte auch alles Sinn.
Es hatte sie zu dem Grabstein gezogen.
Sie war, ohne Plan und ohne Vorbereitung, ja, ohne es zu wissen, auf dem Anwesen der MacCreadys gelandet, dem »Seagull«.
Sie hatte die Zeichen, obwohl sie so deutlich gewesen waren, einfach übersehen.
Sie hatte den Grabstein finden müssen, um ihn an genau diesen Platz zu bringen.
Und dass sie nun auch Kelly hieß, dass auch sie an einem sechzehnten September Geburtstag hatte, dass sie zufällig ebenfalls fünfundzwanzig Jahre alt war …
Das war Zufall!
Warum hatte sie es nicht gleich als einen solchen angesehen, warum hatte sie sich in wilde Theorien verrannt, hatte in etwas sehr einfaches einen ganzen Roman hineininterpretiert, mit sich in der Hauptrolle.
Und angeheizt durch Jonathans Worte hatte sie direkt etwas Schicksalhaftes daraus gemacht. Wie absurd! Aber da konnte man mal sehen, wie sehr schnell etwas aus der Kontrolle geraten konnte, wenn man sich in etwas hineinsteigerte, weil man nicht seinen Verstand gebrauchte, sondern nur emotional war.
Kelly war so richtig froh, eine Erklärung für alles gefunden zu haben, was ihr vorher als mystisch erschienen war. Sie deckte den Stein wieder sorgsam zu, dann hatte sie es eilig, in ihr Auto zu steigen und loszufahren. Den Weg zu ihrem Ziel kannte sie. »The Seagull«, das Haus auf den Klippen! Und sie wusste auch, wo sie den Grabstein aufstellen würde.
Gegenüber der Terrasse gab es bis zur Mauer hin, die die Klippen begrenzte, Gebüsch und einen ganz besonders schönen Ginsterstrauch. Dahin würde sie den Grabstein stellen, mit der Schrift zur Terrasse hin, genau gesagt zu den Stufen. Und gab es nun etwas Unerklärliches zwischen Himmel und Erde oder nicht? Im Blickfeld würde genau die in die Stufe hineingearbeitete Metallplatte sein … Kelly und Gordon forever. Welch schöner Gedanke! Kelly bekam vor lauter Ergriffenheit eine Gänsehaut.
*
Keine Frage, ihr war ein Stein vom Herzen gefallen. Sie fühlte sich so unglaublich erleichtert.
Als Kelly zum Haus auf den Klippen hinauffuhr, sehr langsam, beinahe genüsslich, nahm sie zum ersten Mal bewusst wahr, was es links und rechts des Weges zu sehen gab. Und was sie sah, entzückte sie.
Man hatte der Natur ihren freien Lauf gelassen, aber dennoch darauf geachtete, dass nichts wild und ungeordnet vor sich hinwucherte, sondern hatte behutsam eingegriffen, weil sonst die Ästhetik auf der Strecke geblieben wäre.
Es war nicht zu glauben!
Der Weg zum »The Seagull« hinauf führte durch einen Landschaftsgarten auf hohem Niveau.
Wer so etwas tat, musste das Haus und das Grundstück von ganzem Herzen lieben, der konnte das doch nicht einfach so aufgeben, oder?
Kelly verstand es nicht.
Sie dachte erneut daran »The Seagull« doch zu kaufen, doch auch jetzt verwarf sie diesen Gedanken merkwürdigerweise wieder so schnell, wie er ihr gekommen war, weil sie sich sicher war, dass es nicht nötig sein würde.
Es passierten schon so genug merkwürdige Dinge in ihrem Leben, angefangen von der geplatzten Heirat.
Sie wollte sich einfach nicht schon wieder in Spekulationen verlieren, denn dann würde sie bei diesem komischen Traum landen, mit sich als Braut und Bradley MacCready als Bräutigam.
Nein!
Nichts mehr davon!
Sie würde den Grabstein dorthin bringen, wohin er gehörte, dann würde sie ins Hotel zurückfahren, ihre Sachen zusammenpacken und ihre Heimreise antreten.
Es war wirklich an der Zeit, wieder in ihr altes Leben zurückzukehren, das ihr ganz schön um die Ohren geflogen war.
Und all die Gedanken, die Gefühle, dieses angebliche Wissen, die Andeutungen von Jonathan, würde sie zu den Akten legen.
Der Fund des Grabsteins war ein Zufall gewesen, alles andere auch, sie hatte nur eine Geschichte hineininterpretiert, die gefährlich in die esotherische Nähe gekommen war. Und der Traum?
Nun, der war nicht mehr als ein Resultat dieser Verwirrtheit gewesen.
So einfach war das. Als sie oben ankam, stellte sie fest, dass ein Auto neben der Eingangstür stand, ein schwarzer, nicht ganz neuer Geländewagen.
Es war auf jeden Fall nicht das Fahrzeug des Maklers. Aber so, wie er aufgetreten war, konnte man durchaus annehmen, dass er mehr als nur ein Auto besaß. Und dieses Auto war auf jeden Fall eines, von dem es eine limitierte Auflage gegeben hatte.
Kelly wusste das so genau, weil ihr Vater ebenfalls ein solches Fahrzeug besaß, allerdings nicht in schwarz, sondern in racinggreen.
Wahrscheinlich führte er wieder ein paar Interessenten durchs Haus, um möglichst schnell an seine Provision zu kommen.
Da sie klar zum Ausdruck gebracht hatte, auf keinen Fall kaufen zu wollen, würde er nicht gerade amused sein, sie hier zu sehen. Und wenn man es genau betrachtete, war das sogar so etwas wie ein Hausfriedensbruch. Niemand durfte einfach so fremde Grundstücke betreten.
Sollte sie umkehren und es später noch einmal versuchen, statt sich unweigerlich Ärger einzuhandeln?
Aber nun war sie schon einmal hier, wenn er anfangen würde zu motzen, konnte sie ihm immerhin den Grund ihres Hierseins erklären. Sie könnte ihn sogar bitten, ihr zu helfen, den schweren Grabstein aus dem Auto zu heben.
Kelly parkte in der Nähe des schwarzen Geländewagens, dann beschloss sie, erst einmal auszusteigen und zu Fuß zu überprüfen, ob sie mit ihrem Auto um das Haus herumfahren konnte, ohne dabei etwas zu beschädigen. Denn das wäre die einfachste Lösung, direkt bis zum Platz fahren zu können, an dem sie den Stein deponieren wollte.
So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht erinnern, wie es direkt neben dem Haus ausgesehen hatte.
War da ein Weg gewesen? Nun, das würde sie jetzt ergründen. Sie machte ihr Vorhaben wahr und stieg aus, und während sie noch überlegte, ob sie rechtsherum laufen sollte oder von links beginnen, wurde die Haustür aufgerissen, ein Mann kam heraus.
Es war nicht der Makler.
Und obschon sie ihn noch nie gesehen hatte, auch nicht auf einem Foto, obwohl es auch keine Beschreibung von ihm gab, wusste Kelly, wer da vor ihr stand. Bradley MacCready! Er mochte fünf, sechs Jahre älter sein als sie, war etwa einen Kopf größer. Seine braunen Haare waren raspelkurz geschnitten, er hatte ein gutgeschnittenes Gesicht, das gebräunt war, was verriet, dass er sich viel im Freien aufhielt.
Er trug eine Jeans und ein Sweatshirt, an den Füßen Sneakers, und er war ziemlich ungehalten, als er sagte: »Wenn Sie das Haus besichtigen wollen, dann muss ich Sie enttäuschen. Ich habe mich entschlossen, nicht mehr zu verkaufen, doch das weiß der Makler bereits, und wenn er sie dennoch heraufgeschickt hat, dann tut es mir leid, dann haben Sie den Weg umsonst gemacht.«
Kelly hatte gar nicht richtig zugehört, und abhängig davon, dass ihr Blick wie gebannt auf ihn gerichtet war, war noch etwas bei ihr hängen geblieben.
Er wollte nicht verkaufen! Es war verrückt. Es ging sie überhaupt nichts an, dennoch strahlte sie ihn an.
»Das freut mich«, als sie sah, wie irritiert er war, fuhr sie fort: »Ich meine, dass Sie nicht verkaufen wollen. ›The Seagull‹ ist ein so wundervoller Besitz. So etwas gibt man einfach nicht auf.«
Er blickte sie an.
»Ach, was Sie nicht sagen … Sie waren also bereits einmal hier. Ich nehme an, mit Mr Finnley, der mir im Übrigen sagte, dass niemand ernsthaft interessiert war, und bis auf eine Frau auch keiner das Geld für den Kauf gehabt hätte. Und diese Frau, irgendein reiches, verwöhntes Geschöpf, das überlegt hatte, sich ein neues Spielzeug zuzulegen, hat es sich zum Glück anders überlegt. Wer sich für ›The Seagull‹ entscheidet, muss ein Gespür für all das hier haben, für die Magie dieses Ortes. Nun, wie auch immer, ich werde nicht verkaufen, und Sie bitte ich, mein Grundstück sofort zu verlassen, weil ich auch nicht möchte, dass hier oben fotografiert wird.«
Na, da hätte er mal diesen entfesselt fotografierenden Interessenten erleben müssen. Der hatte ja gefühlte tausend Fotos geschossen. Sie starrte ihn noch immer fasziniert an.
Er hatte von Magie gesprochen, und damit das Anwesen gemeint.
So etwas wie Magie empfand Kelly jetzt auch, doch das war etwas, was zwischen ihm und ihr war. Spürte er das denn nicht auch?
Es war ein Gefühl, das so intensiv war, dass es bereits beinahe schon wehtat.
Bradley MacCready! Er war ihr Schicksal! Leider schien nur sie dieses Empfinden zu haben, denn seine Stimme klang ziemlich ungehalten, als er seine Aufforderung wiederholte, sie möge das Grundstück augenblicklich verlassen.
Sie musste sich zusammenreißen, und sie wusste, dass sie jetzt auch überhaupt keine andere Wahl hatte, als ihm den Grund ihres Hierseins zu verraten. Wo und wie sollte sie anfangen?
»Ich möchte nicht fotografieren, sondern ich bin hergekommen, um …, äh …, Ihnen etwas zu bringen.«
Diese Worte schienen ihn zu erheitern. »Wie jemand von einem Pizzadienst sehen Sie nicht aus, und ist es nicht interessant, dass Sie mir etwas bringen wollen, obschon ich selbst nicht wusste, dass ich heute hier sein würde, weil ich mich erst heute ganz früh dafür entschieden habe?«
Kelly wurde rot, weil dieser Mann sie einfach irritierte. »Nun, ich wollte es nicht Ihnen bringen, sondern nur auf das Grundstück, genau gesagt, ich wollte es gegenüber der Terrasse deponieren, genau gegenüber der Treppe mit dem eingelassenen Metallschild.«
Er blickte sie an, ihr stockte der Atem.
»Jetzt wird es immer mysteriöser. Mir gehört zufällig dieses Haus, und glauben Sie mir, ich kenne hier jeden Stein.
Von einer Metallplatte müsste ich etwas wissen. Was soll denn darauf stehen?«
»Kelly und Gordon forever«, sagte sie, was bei ihm eine Lachsalve auslöste.
»Sagen Sie, wer sind Sie? Eine Romanschriftstellerin, deren Fantasie gerade mit ihr durchgeht? Gäbe es so etwas, dann wüsste ich es. Kelly und Gordon MacCready sind zufälligerweise meine Urahnen.«
»Ich weiß«, sagte Kelly, »aber ich habe diese Inschrift sofort entdeckt, vielleicht, weil ich sensibilisiert war, denn ich …«, sie zögerte kurz, »ich habe den Grabstein dieser Kelly in meinem Auto.«
Natürlich sagte er jetzt sofort, und das war nachvollziehbar, dass das unmöglich sei, weil der Friedhof vollkommen zerstört worden war.
Sie ließ ihn ausreden, noch ein wenig Dampf ablassen, dann ging sie zu dem Kofferraum ihres Autos, öffnete ihn, legte den Stein frei, dann sagte sie ihm, wer sie war und dass sie den Stein am Strand gefunden hatte.
Und weil ein Stein finden nicht all das auslösen konnte, was hinterher geschehen war, sprach sie auch über die Gemeinsamkeiten mit seiner Urahnin Kelly, sprach über das, was geschehen war.
Über den Traum sprach sie nicht, auch nicht darüber, dass sie sich da als seine Braut gesehen hatte – was jetzt, da sie ihm gegenüberstand, ein noch verlockenderer Gedanke war.
Sie hatte davon gehört, es für unmöglich gehalten, jetzt wusste Kelly es …, sie hatte der Blitzschlag der Liebe getroffen, und für einen Moment bedauerte sie, kein Mann zu sein, denn in solchen Fällen ergriffen immer die Herren der Schöpfung die Initiative.
Sie war eine sehr emanzipierte Frau, traute sich vieles, doch einen Mann anzumachen, das traute sie sich nun nicht.
Doch wie war das noch mit den sich selbst erfüllenden Prophezeiungen?
Sie hatte von ihm geträumt, sie war seine Braut gewesen, und sie war jetzt da und würde sich so schnell nicht vertreiben lassen.
Das bedeutete doch, dass sie ganz gute Karten hatte, oder?
*
Mit Bradley MacCready war eine Veränderung vor sich gegangen. Kelly hatte das Gefühl, dass er sie zum ersten Malt bewusst wahrnahm und anblickte.
Dann wandte er sich ab, kam die Steinstufen herunter, stellte sich neben ihr Auto, und dann sah er den Grabstein.
»Es ist unglaublich, es ist wirklich unglaublich«, murmelte er, doch Kelly hatte nicht das Gefühl, dass er zu ihr sprach, sondern mit sich selber, und dass seine Gedanken in ganz weiter Ferne waren.
Er strich über den Stein, ähnlich behutsam, wie sie es bereits mehr als nur einmal getan hatte, und dabei fiel Kelly auf, dass er sehr schöne Hände hatte.
Nach einer Weile, in der sie unschlüssig neben ihm gestanden hatte, sagte er plötzlich: »Zeigen Sie mir bitte die Stelle, wo Sie den Stein aufstellen wollen, und natürlich interessiert mich auch diese Metallplatte. Was soll da noch gleich draufstehen?«, erkundigte er sich.
Er wusste es, er wollte sie nur provozieren, Kelly war sich sicher, nicht, um sie zu verletzen, sondern aus einer Unsicherheit heraus, weil es da etwas bei ihm gab, was er erst noch verarbeiten musste.
»Kelly und Gordon forever«, wiederholte sie, dann ging sie einfach los, und er hatte Mühe, ihr zu folgen, weil sie so schnell lief.
Ihr Herz wurde wieder weit, als sie um die Ecke bog, und sie war froh darüber, noch immer sicher zu sein, dass dieser Platz beim Ginsterbusch genau der richtige war.
Sie zeigte ihm beides.
Er sagte zunächst nichts, sah sich den Platz für den Grabstein an, dann blieb er lange vor dem kleinen Metalltäfelchen stehen, starrte darauf.
Und wieder war sie der Meinung, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war, irgendwo, was ihn sehr irritierte.
Als er sich ihr zuwandte, hatte er einen ganz weichen Gesichtsausdruck.
»Tut mir leid, dass ich Sie vorhin so angeranzt habe. Mir nicht, und auch sonst niemandem von der Familie, ist diese Tafel jemals aufgefallen. Zumindest wurde sie nie erwähnt. Es ist schon sehr erstaunlich, dass Sie …«, er hielt inne, verlor sich in etwas, um letztendlich zu sagen: »So erstaunlich auch wieder nicht.«
Natürlich hätte sie jetzt gern erfahren, was er damit gemeint hatte, doch dazu ließ er es nicht kommen, er wandte sich ab.
»Okay, bringen wir den Stein hierher. Mit dem Auto herzufahren geht nicht. Aber ich habe eine Schubkarre im Schuppen, die können wir holen.«
Ohne sich weiter um sie zu kümmern, lief er weg, und Kelly stolperte hinter ihm her.
Sie war vollkommen durcheinander, weil das jetzt, nach allem, was geschehen war, die Krönung war … Bradley MacCready …, sie musste sich zusammenreißen, um sich nicht in seine Arme fallen zu lassen.
War das noch normal?
Sie ging zu ihrem Auto, denn aus dem musste der Grabstein schließlich herausgeholt werden, und das wusste Bradley, deswegen brauchte sie ihm nicht wie ein kleines Hündchen bis zu seinem Schuppen nachzulaufen.
Sie legte ihre rechte Hand auf den Grabstein, und merkwürdigerweise beruhigte sie das, und sie hatte auf einmal das Gefühl, dass alles so auf ihren Weg hatte kommen müssen.
Es war kein Zufall, was sie sich immer wieder einzureden versucht hatte, es war eine Fügung des Schicksals, und sie musste es loslassen, durfte nicht versuchen, daran zu drehen.
Bradley kam mit der Schubkarre, hob mit erstaunlicher Kraft, die sie ihm überhaupt nicht zugetraut hätte, den Stein auf die Karre, und da bemerkte Kelly, dass er auch eine Schaufel dabei hatte.
Er lief los, sie ihm hinterher, das kannte sie jetzt schon. Und es stimmte im übertragenen Sinne auch, sie lief ihm hinterher, weil sie ihn wollte.
Sie hatten beizeiten ihr Ziel erreicht, er begann geschickt mit der Schaufel zu hantieren, und sehr bald stand Kellys Grabstein an dem Ort, den sie dafür vorgesehen hatte, und er stand da, als sei er niemals woanders gewesen.
Es fühlte sich gut an, und der Gedanke, dass Kelly MacCready durch diesen alten Grabstein wieder nach Hause zurückgekommen war, machte die lebende Kelly Mortimer so richtig sentimental.
Wäre sie jetzt allein, dann würde sie ganz bestimmt ein paar Tränen der Rührung weinen.
In seiner Gegenwart wäre ihr ein solcher Gefühlsausbruch peinlich, den er vermutlich auch überhaupt nicht verstehen würde.
Schließlich wurde von ihr hier nicht ein naher Angehöriger beerdigt, sondern man hatte lediglich einen adäquaten Platz für einen alten Grabstein gefunden.
Kelly warf ihm einen verstohlenen Blick zu.
Berührte ihn das alles hier überhaupt nicht?
Schließlich ging es um jemanden aus seiner Familie, der durch diesen Stein wieder in die Erinnerung gerufen wurde.
Sie konnte es nicht beurteilen. Doch wieder wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihn etwas intensiv beschäftigte, nicht nur das, was ihn sogar beunruhigte.
Kelly gäbe jetzt wirklich gern mehr als nur einen Penny für seine Gedanken. Kelly hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange sie einfach so nebeneinander dagestanden hatten, sich so nah und doch so fern.
Er war es, der die Stille unterbrach.
Bradley MacCready räusperte sich, dann bedankte er sich bei Kelly mit wohlgesetzten, höflichen Worten für all ihre Mühe, die sie auf sich genommen hatte. Er bedankte sich sogar dafür, dass sie ihm die kleine Inschrift auf einer der Stufen gezeigt hatte.
Es waren Stufen genug vorhanden, ging es ihr durch den Kopf, hinreichend Platz, um weitere Täfelchen anzubringen, beispielsweise eines mit Kelly und Bradley forever …
Doch danach sah es leider nicht aus.
Aber etwas gab es, das spürte sie, aber vielleicht war das auch nur Wunschdenken.
»Wenn Sie Lust haben, dann können wir jetzt …« Er brach seinen Satz beinahe erschrocken ab, sah sie kaum an, als er mit verändert klingender Stimme fortfuhr: »Also, Miss Mortimer, nochmals ganz herzlichen Dank für alles …, würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen? Ich habe nämlich noch eine Menge zu tun …, Termine.« Er reichte ihr die Hand. Sein Händedruck war zupackend, fest und männlich.
Kelly registrierte das nur nebenbei. Sie war noch vollkommen fertig von seinen Worten, mit denen er ihr zu verstehen gegeben hatte, dass es Zeit für sie war zu gehen.
Das war, zumindest für ihr Empfinden, beinahe so etwas wie seelische Grausamkeit. Hätte es nicht für einen Tee gereicht? Dabei hätte er ihr etwas über die tote Kelly erzählen können, beispielsweise, woran sie mit so jungen Jahren gestorben war.
Sie quetschte nur ein: »Dann will ich Sie auch nicht länger aufhalten, ich wollte das nur erledigen, und werde jetzt ebenfalls zum ›Crown‹ zurückfahren, dort meine Koffer packen und abreisen.«
Dann hatte sie es eilig, sie ging schnellen Schrittes voraus, und stieg in ihr Auto, um davonzufahren. Sie merkte schon, dass er ihr kurz zuwinkte. Doch das ignorierte sie.
Von Jim Adams betrogen worden zu sein, hatte ganz schön wehgetan, doch jetzt wusste sie, dass es nicht wirklich ihr Herz getroffen hatte, lediglich ihr Ego war verletzt gewesen. Nun wusste sie auch, dass sie Jim nie wirklich geliebt hatte. Liebe …
Liebe kam von innen heraus, aus dem Herzen, und sie war mit dem Verstand nicht zu regulieren.
Nun war die Liebe über sie hinweggefegt wie ein heißer Saharawind, und hatte in ihrem Inneren eine Geröllhalde zurückgelassen und die bittere Wahrheit, dass sie nun wusste, wie sich die wahre Liebe anfühlte, aber auch wie der Schmerz einen zerreißen konnte, wenn sich die Liebe nicht erfüllte.
Als Kelly den Berg hinunterfuhr, waren ihre Augen vor Tränen blind, und sie hatte keinen Sinn für die Schönheit links und rechts des Weges.
Schicksal … Gekommen, um zu bleiben … Was hatte Jonathan ihr nicht alles gesagt, und was hatte sie selbst nicht auch alles hatte geglaubt zu spüren. Würde man einen Preis, für sich in etwas hineinsteigern, verleihen, dann hätte sie die Aussicht, Weltmeisterin zu werden. Aus! Schluss! Vorbei!
Sie würde zum »Crown« fahren, ihren Koffer packen und dann alles vergessen und niemals wieder in diese Gegend kommen, in der sie nicht mehr sie selbst gewesen war.
Und Bradley MacCready …
Sie hoffte, auch ihn vergessen zu können, wenn sie erst einmal wieder in ihren Alltag, in ihr normales Leben eingetaucht war.
Die Erinnerungen würden verblassen, und eines Tages würde sie hoffentlich darüber lachen können. Und irgendwann …, irgendwann würde sie auch einen Mann zum Heiraten finden, einen, der sie liebte, nicht, wie Jim, nur hinter ihrem Geld her war, oder der, wie Bradley MacCready, mit einer Vergangenheit belastet war in Form eines alten Grabsteins, der einen doch nur erdrücken konnten.
Stopp!
Kelly rief sich selbst zur Ordnung, denn alles, was ihr nun im Kopf herumgeisterte, waren Spekulationen, mehr nicht.
»Go with the flow« Nach dieser Devise würde sie künftighin leben …, sich dem Fluss des Lebens hingeben, es fließen lassen …
*
Rosalind Scott bedauerte die Abreise ihres Gastes, doch ganz so groß war der Schmerz nicht, weil sie das Zimmer direkt wieder belegen konnte.
»Du hast mir Glück gebracht«, sagte sie lachend. »Seitdem kommen die Gäste. Was bist du, Kelly, so etwas wie ein Engel?«
Schön wär’s, dachte Kelly, sie selber sah sich im Augenblick eher wie eine Katastrophenverursacherin.
Sie wäre am liebsten sofort abgefahren, doch Rosalind bestand noch auf einem gemeinsamen Mittagessen und hoffte, Kelly irgendwann wieder im »Crown« begrüßen zu können.
»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, ohne dass es kitschig klingt, Kelly. Doch du bist etwas Besonderes. Ich möchte dich gern in meinem Leben behalten, und wenn du mal keinen Job haben solltest, mein Hotel weiterhin so gut läuft und die jungen Leute ihr Versprechen wahrmachen und immer wiederkommen werden, dann muss ich mir keine Sorgen machen, und dann kann ich Hilfe gebrauchen.«
Es war nett, doch in eine solche Situation würde Kelly niemals kommen, doch das musste sie Rosalind nun auch nicht mehr auf die Nase binden.
Kelly spürte, dass es ihr immer schwerer fiel, eine Rolle zu spielen, und so trank sie nach dem Essen noch einen Kaffee, dann verabschiedete sie sich und war froh, dass Rosalind abgelenkt war und nicht mit nach draußen kommen konnte.
Blackham Market … Dorsey … Somerby …
Das alles würde sie ab sofort aus ihrem Gedächtnis streichen. Sie warf ihren Koffer schwungvoll in den Kofferraum, in dem gerade noch ein Grabstein gelegen hatte, dann wollte sie einsteigen und zügig losfahren, als jemand eilig auf sie zugelaufen kam.
Sie hatte das Auto überhaupt nicht bemerkt, das kurz zuvor auf den Parkplatz gerast war. Wer auch immer es sein mochte, sie ignorierte es.
Erst als eine Stimme laut: »Kelly« rief und hinzufügte, »tu es nicht, fahr nicht ab!«, wirbelte sie herum.
Sie hätte die Stimme aus Tausenden herausgehört, und auch jetzt verursachte sie ihr eine Gänsehaut. Bradley MacCready! Wieso war er hier? Was wollte er? Sie verspätet zu einem Tee einladen? Diese Chance hatte er verpasst.
Sie hatte gerade die letzte Seite des Buches zugeschlagen, und um sich selbst zu retten, würde sie es auch dabei belassen.
Unbeirrt wollte sie einsteigen, doch er hinderte sie daran.
Er nahm sie einfach in seine Arme, und das Schreckliche daran war, dass sie hinschmolz wie Butter in der Sonne.
»Du musst bei mir bleiben, denn du …, du bist mir vorbestimmt, ich wollte es nur nicht wahrhaben, weil alles zu verrückt war. Ich wollte es ignorieren, doch als du weg warst, spürte ich die Leere, bekam schreckliche Verlustängste, und da bin ich dir einfach hinterhergefahren.«
Er beugte sich zu ihr herunter, küsste sie, und wenn sie sich anfangs noch fragte, ob ihre Fantasie ihr wieder einmal einen Streich spielte, gab sie sich sehr schnell diesem Gefühl hin, das so unglaublich war, dass es dafür keine Worte gab.
Gäste kamen und gingen, sie bekamen es nicht mit.
Erst als ein paar junge Männer grölten und anzügliche Bemerkungen machten, lösten sie sich voneinander.
»Kommst du mit nach Hause?«, erkundigte er sich und sagte das mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass Kelly daran keinen Anstoß nahm, sondern nur nickte.
Er sagte ihr, dass er vorausfahren wolle, beschwor sie, es sich nicht anders zu überlegen, sondern wirklich zum Haus auf den Klippen zu kommen, das auf sie wartete.
Wenn er wüsste, dass sie ihm bis ans Ende der Welt folgen würde.
Sie schwebte wie auf Wolken, als sie sich in ihren Wagen setzte, ihm hinterherfuhr und sich wunderte, dass sie sich überhaupt auf den Weg konzentrieren konnte.
Für alles, was sie empfand, was jetzt passierte, gab es nur ein einziges Wort und das hieß … Magie!
Es hatte alles so kommen müssen, weil es vorbestimmt war, und das Auffinden des Grabsteins, die Übereinstimmung von Namen, Geburtstag, nämlich der sechzehnte September, das waren Zeichen.
Sie war sehr gespannt darauf, was Bradley ihr zu erzählen hatte, wodurch ihm klar geworden war, dass sie die Frau seines Lebens war, seine Seelenpartnerin, die Gefährtin des Herzens.
Sie fuhr hinter ihm her, und als sie unten abbogen und auf den Weg einbogen, der hinauf zum »The Seagull« führte, hatte Kelly das Gefühl, angekommen zu sein.
Und das war ganz wunderbar.
*
Bradley wartete oben auf sie, öffnete ihr galant die Autotür, half ihr beim Aussteigen, nahm sie erneut in seine Arme, doch diesmal küsste er sie nicht, sondern hielt sie nur fest, was wohlige Schauer in ihr auslöste.
»Ich denke, wir haben uns eine ganze Menge zu erzählen«, sagte er, wollte sie ins Haus führen, doch Kelly hatte auf einmal das Gefühl, erst an den Ort zu gehen, an dem sie den Grabstein aufgestellt hatten.
Er hatte nichts dagegen, legte einen Arm um ihre Schulter, und dann gingen sie gemeinsam ums Haus.
Sie wusste nicht, was er empfand, doch sie kam sich vor wie eingehüllt in eine warme weiche Decke.
Sie spürte seine Nähe, und das zeigte ihr, dass sie nicht träumte, dass ihre Fantasie ihr da nicht etwas vorgaukelte, sondern das alles wunderbare Wirklichkeit war.
Ein Feuersalamander huschte flink über den Weg, um irgendwo zwischen den Steinen zu verschwinden.
Über ihnen zog ein Adler mit majestätischem Flügelschlag seine Kreise. Weiter weg, hinter den Klippen, zerriss das Gekreisch der Möwen die Stille des Augenblicks. Sie war wieder da, die Magie …
Sie sprachen nicht, doch diesmal waren sie sich unglaublich nah, es war eine Nähe, die so spürbar war, dass man sie greifen konnte.
Nachdem sie eine Weile vor Kelly MacCreadys Stein gestanden hatten, innig umschlungen, setzten sie sich auf die Steinstufen, die zur Terrasse hinaufführten, und Kelly wusste, dass das genau der richtige Ort war für das, was er ihr sagen wollte.
Sie war ganz ruhig, ja, sie war sich sogar sicher, dass es sehr bald ein Täfelchen geben würde mit der Inschrift: Kelly und Bradley forever.
Manchmal wurden Träume war.
Nach einer Weile des innigen Schweigens wandte er sich ihr zu. »Ich bin Dokumentarfilmer und sehr viel im Ausland unterwegs, daher kam der Gedanke, das Haus hier zu verkaufen, weil ich es kaum nutze …, während einer Dokumentation lernte ich eine alte Schamanin kennen, die mir unbedingt meine Zukunft voraussagen wollte. Ich halte davon überhaupt nichts, doch um sie nicht zu verärgern, ließ ich mich darauf ein.«
Er machte eine kurze Pause, versank in Erinnerungen.
Ehe er weitersprach, warf er ihr einen so liebevollen Blick zu, dass, schiene die Sonne nicht bereits, sie spätestens jetzt aufgehen müsste.
Es war so unglaublich, wie sehr sie sich ohne Worte verstanden, wie sehr sie von einer unbeschreiblichen Nähe erfüllt waren. Genau das erkannten sie beide, ohne auch nur ein einziges Wort darüber verloren zu haben.
Er sprach weiter. »Die Schamanin sagte mir, dass ich das Haus meiner Kindheit auf keinen Fall aufgeben dürfe, weil es mein künftiger Lebensmittelpunkt sein würde, dass ich an keinem anderen Ort der Welt so glücklich sein könne …, sie sah meine Seelenpartnerin vor sich und sagte mir, dass ich sie sofort erkennen würde, weil sie mir einen Teil meiner Vergangenheit, der Vergangenheit der MacCreadys zurück brächte …, und sie beschwor mich, diese Frau nicht gehen zu lassen, weil ich so etwas niemals wieder finden würde.«
Er lächelte sie beinahe zärtlich an.
»Mir kam das alles ziemlich schräg vor. Und sie wusste wohl auch, dass ich ihr nicht glaubte. Deswegen ging sie einen Schritt weiter und sagte, dass die Zeit käme, und dass ich es dann nicht nur sehen, sondern tief in meinem Herzen auch fühlen würde. Und sie beschwor mich ein weiteres Mal, nur auf das, was mein Herz mir sagte, zu hören, und nicht auf meinen Verstand!«
Wieder machte er eine Pause, und Kelly spürte, wie da etwas zwischen ihnen wuchs, was nicht zu beschreiben war.
»Ich dachte nicht mehr daran«, sprach er schließlich weiter, »doch vor ein paar Tagen kam mir die Geschichte plötzlich wieder in den Sinn, und ich wurde auf einmal ganz unruhig, und da war mir klar, dass ich ›The Seagull‹ auf keinen Fall verkaufen durfte. Von etwas, was seit Generationen der Familie gehört, trennt man sich nicht einfach so, ohne einen richtigen Grund zu haben, und deswegen machte ich alles sofort rückgängig, worüber der Makler natürlich sauer war …, an die Frau fürs Leben dachte ich dabei nicht. Das hielt ich noch immer für Humbug …, bis ich dich sah …, da passierte etwas in mir, und als ich dann den Grabstein sah, als ich alles andere erfuhr, war ich durch den Wind …, die Voraussage der alten Schamanin hatte sich erfüllt. Und dennoch wehrte ich mich dagegen …, ich wollte es nicht wahrhaben, auch wenn ich merkte, dass da etwas von dir ausging, das mir schon signalisierte, dass du emotional ziemlich bewegt warst, nur bezog ich das nicht auf mich persönlich, sondern auf den Moment am Grabstein.«
Wieder machte er eine Pause, er rückte näher an sie heran, legte einen Arm um ihre Schulter, sie lehnte sich vertrauensvoll gegen ihn, weil auf einmal überhaupt keine Zweifel mehr da waren.
»Nun, als du weg warst, wurde ich plötzlich panisch, und da ich zum Glück von dir erfahren hatte, dass du im ›The Crown‹ – in der Krone – abgestiegen bist, wusste ich, was zu tun war. Und mir scheint, dass ich gerade im letzten Augenblick gekommen bin …, es hat wohl alles so sein sollen.«
Sie nickte heftig.
Das ermutigte ihn, weiterzusprechen.
»Kelly Mortimer, ich kenne nur deinen Namen, und weiß, wann du Geburtstag hast …, und dennoch frage ich dich jetzt ganz einfach, ob du mit mir auf die Reise eines gemeinsamen Lebens gehen möchtest, einer Reise ganz bestimmt mit Höhen und Tiefen, aber auch spannenden Erlebnissen, atemberaubenden Augenblicken …, eine Reise, die geprägt sein wird von Erfahrungen, Vertrauen, aber in erster Linie von sehr, sehr viel Liebe.«
Jetzt war sein Gesicht ihrem sehr nahe, sie sahen sich in die Augen, und eigentlich hätte er es nicht sagen müssen, weil sie es beide wussten: »Wir sind füreinander bestimmt. Es war an der Zeit …«
Alle weiteren Worte gingen in einem Kuss unter, der sie die Gegenwart vergessen ließ …, sie waren angenommen, und da mussten sie nicht einmal die Wolke sieben bemühen. Ihr Platz war hier auf der Erde, an diesem herrlichen Fleckchen Erde waren sie schon jetzt fest verankert, und schon ihr nächster Schritt würde ein gemeinsamer sein.
Auf dem Grabstein ließ sich ein kleiner Vogel mit buntschillerndem Gefieder nieder, und als er anfing, sein Lied zu trällern, war es beinahe noch schöner, als der Gesang einer Nachtigall.