Читать книгу Moonlight Romance Staffel 3 – Romantic Thriller - Scarlet Wilson - Страница 9
ОглавлениеIm transsilvanischen Dragovac lebte die Familie unter erbärmlichen Bedingungen. Es gab zu wenig Arbeit, und wenn es welche gab, dann war sie miserabel bezahlt. Denn die Fürstenfamilie schöpfte alles an Geld ab, was möglich war, um ihren im Vergleich aufwendigen Lebensstil zu finanzieren. Petras Großmutter sprach immer davon, dass dieser hemmungslose Clan verflucht sei zu einem Leben in Verdammnis. Auf dem Friedhof des Fürstenschlosses gab es eine Grabstätte mit einem Gedenkstein. Die Inschrift lautete: »Wenn dein Blut trocknet, ist dein Bett hier.« Jetzt erinnerte sich die alte Dame. Da war auf einmal ihre Jugend zurück – und ihr früheres Leben in …
Es hatte in der Pubertät begonnen – jenes undefinierbare Sehnen nach einem unbekannten Sein, einem anderen Denken und auch Fühlen. Dieses Gefühl der Leere, die auszufüllen war, verstärkte sich mit jedem Monat. Er hatte gehofft, er würde dieses undefinierbare Gefühl der Leere, des Unausgefülltseins mit den Jahren verlieren; es würde sich abschwächen und schließlich verschwinden. Alles vergebliche Hoffnung.
Er ging zu verschiedenen Ärzten, wurde an Psychologen und Psychotherapeuten überwiesen; doch keiner der Seelenklempner war in der Lage, auch nur zu erkennen, was diesem seltsamen Patienten fehlte. Sie verschrieben ihm Kururlaube, versuchten es mit homöopathischen Mitteln und landeten schließlich alle bei Psychopharmaka, regelrechten Hämmern, die ihn betäubten, seine Sehnsucht aber nicht dämmen konnten.
Schließlich musste er vor sich selbst eingestehen: Diese Sehnsucht war trotz aller Versuche, sie unter Kontrolle zu bekommen, immer stärker geworden, hatte sich zu einem Gefühlsturm aufgebaut, hatte schlußendlich eine Ausrichtung bekommen, eine geographische Richtung: nach Osten. Was das zu bedeuten hatte, blieb ihm zunächst rätselhaft. Dort im Osten Europas, genauer gesagt im Südosten, schien die Verheißung zu wohnen, dorthin strebte sein Fühlen.
Das Ziel hieß Balkan. Er konnte dem nicht Widerstand leisten, er folgte ihm, als er gerade das einunddreißigste Jahr vollendet hatte. Aus den Vorschlägen, die ihm das Reisebüro präsentierte, suchte er sich absichtlich jene Reise heraus, die ihn am gemächlichsten dorthin führen würde, wo die Erfüllung lockte. Er wollte – ganz instinktiv – wissen, eigentlich besser verstehen, was da »gespielt« wurde.
Was das kosten sollte, war ihm nicht wichtig. Das spielte einfach keine Rolle, er buchte die Senatorsuite, denn er wollte es bequem, ja luxuriös haben, wie er es auch im täglichen Leben gewohnt war.
Die Reise begann am 14. Juli, einem Sonntag.
Das Ziel: Der Unterlauf der Donau.
*
Die Stadt Passau empfing sie an jenem Sonntag mit strahlend-blauem Himmel. Für einen Julitag war es fast schon zu heiß; das Thermometer am Bahnhof zeigte um die Mittagsstunde bereits 33 Grad. Der Shuttlebus zum Schiff, den sie gebucht hatte, würde sie erst in zweieinhalb Stunden aufnehmen und zur Anlegestelle bringen. Da sie das schwere Gepäck, zwei Koffer, per Zubringer-Service geschickt hatte, war sie unbeschwert. Sie beschloss, das Handgepäck in einem Schließfach zu verstauen und ein wenig durch die Stadt zu bummeln.
Da sie keinen Stadtplan zur Hand hatte, fragte sie kurz entschlossen nahe des Bahnhofs einen Taxifahrer nach dem Weg zum Dom. Sie hatte schon viel gehört über dieses gotische Bauwerk mit seinen drei Zwiebeltürmen, dem spätgotischen Chor und der üppigen barocken Innenausstattung. Über eintausend Skulpturen befanden sich angeblich im Kirchenschiff und den Seitenkapellen. Aber wovon alle in Passau und auch außerhalb schwärmten, war die Orgel. Die größte Domorgel der Welt, die der Organist hier ertönen lassen konnte. Heute am Sonntag bestand vielleicht die Chance, zuzuhören. Und sei es nur von außen.
Unterwegs ließ sie sich von einem kleinen italienischen Café am Ludwigplatz locken, wo man draußen sitzen und einen Cappuccino oder ein kühles Getränk zu sich nehmen konnte. Es herrschte reger Betrieb; sie ergatterte gerade noch einen freien Tisch mit zwei Stühlen. Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatte, ein Tellergericht Spaghetti und einen leichten Abruzzenwein sowie danach einen doppelten Espresso, sah sie sich auf dem Platz um.
Dass sie diese Flusskreuzfahrt unternehmen konnte, war einem Preisausschreiben zu verdanken, dass sie gewonnen hatte: Angelika Neubert, gerade einmal 23 Jahre alt.
So nebenbei hatte sie die Ausschreibung gelesen, die im Eingangsbereich der Sparkasse auslag, wo sie ihr Gehaltskonto unterhielt. Es ging um Begriffe, die sie als Bankkundin wissen sollte. Sie hatte mehr willkürlich, als mit Bedacht die Fragen beantwortet und natürlich keineswegs damit gerechnet, unter den Gewinnern zu sein. Aber genauso war es gewesen: Den ersten Preis hatte sie gewonnen: Eine Fahrt auf der Donau mit einem Kreuzfahrtschiff bis in das sagenumwobene Donaudelta hinein, all inclusive.
Daraufhin hatte sie ihren Jahresurlaub genommen und sich deswegen unter der Kollegenschaft in dem Import-/Exportbüro, wo sie in Frankfurt arbeitete, durchsetzen müssen. Schwer genug war’s gewesen. Doch nun saß sie da, in der Dreiflüsse-Stadt Passau, und wartete auf das Ablegen des Schiffes. Dass sie eigentlich zum Dom wollte und die weltberühmte Orgel dort auf ihr andächtiges Zuhören wartete, war ihrer Aufmerksamkeit entschwunden. Sie genoss einfach nur, hier sitzen zu können, ohne die Hektik um sich herum, wie es der Berufsalltag eben so mit sich brachte.
»Sie erlauben?« Eine weibliche Stimme unterbrach ihr Sinnen.
Sie schreckte auf, wie aus einem Traum. »Äh, ja, natürlich …«, stammelte sie aufblickend. Vor ihr stand eine ältere Dame, vielleicht Mitte der Fünfziger, eher korpulent als schlank, jedoch von gepflegtem Aussehen, die sich den Stuhl sorgfältig zurechtrückte und sich aufatmend darauf niederließ. Ungeachtet der Hitze trug sie ihr braunes Haar sorgfältig onduliert; einige helle Strähnchen sorgten für Abwechslung.
»Heiß ist es«, war ihre erste Bemerkung, und: »Wo haben Sie diese entzückende Bluse her? Sie ist mir gleich aufgefallen, als ich nach einem freien Sitzplatz gesucht habe.«
»Das freut mich«, sagte Angelika automatisch, denn zur Höflichkeit hatte sie ihre Mutter immer angehalten. »Ja, es ist heiß heute.« Zur Frage nach ihrer Bluse äußerte sie sich nicht, denn sie hatte sie bei einem Resteverkauf erstanden, sehr preiswert, doch das ging niemanden etwas an. Aber schön war sie, ohne Frage, und raffiniert im Schnitt.
»Diese Hitze ist einfach mörderisch. Man wünschte, am Nordpol Urlaub machen zu dürfen«, sagte die Neuangekommene. »Ich bin Eugenie Schmitz-Wellinghausen. Und ich bin nicht von hier, falls Sie das fragen wollen. Ich bin gebürtige Rheinländerin und berufliche Umstände haben mich hierher verschlagen.«
Angelika musste lachen. »Das ist einmal eine originelle Vorstellung«, sagte sie. »Danke, dass Sie mich aufheitern. Ich sitze nämlich hier und brate in der Hitze, während ich darauf warte, dass mein Schiff ablegt.«
»Was für ein Zufall!« rief Frau Schmitz-Wellinghausen und klatschte in die Hände, was den Kellner herbeibemühte, bei dem sie sofort eine Apfelschorle und eine kleine Portion Ravioli bestellte. Dann wandte sie sich wieder an Angelika: »Ich muss auch die Zeit totschlagen, bis ich losziehen kann. Wie heißt denn Ihr Schiff?«
»Es ist die ‚Danubia Queen‘ und sie liegt an der Anlegestelle zwei, etwas außerhalb der Stadt.«
»Das gibt es doch gar nicht!« rief Frau Schmitz-Wellinghausen. »Genau damit werde ich auch unterwegs sein. Dann warten Sie also auch auf den Shuttlebus, der nachher vom Hauptbahnhof zur Donau fährt.«
»Na, so was!« Angelika wunderte sich. Zufälle gab es. Andererseits war es nett und angenehm, mit jemandem die Zeit zu verplaudern, die sie sowieso abwarten musste.
»Sie machen die ganze Fahrt mit?« fragte sie und wagte nicht daran zu denken, wie wohl ihre Frisur diese Hitze überstand. Sie trug ihr naturblondes Haar kurz, doch da es sehr fein war, klebte es bei solchen Temperaturen rasch an der Kopfhaut. Und das sah einfach scheußlich aus.
»Aber natürlich!«, war die Antwort. »Bis ins Donaudelta hinein.« Regine Schmitz-Wellinghausen rührte gedankenverloren in ihren Ravioli, die der Kellner inzwischen vor sie hingestellt hatte. »Sie ebenfalls?«
»Ja, da freue ich mich auch schon drauf«, bestätigte Angelika. »Und diese Vogelschwärme …«
»Vögel werden wir genügend sehen, da bin ich sicher.« Dann schwiegen sie und betrachteten das rege Treiben auf dem Platz vor ihnen, ein Schild wies ihn als Ludwigsplatz aus, nicht ohne sich an ihren Speisen und Getränken zu laben.
Sie hatten kaum fertig gegessen und ausgetrunken, da hatte sich Angelikas Gegenüber bereits erhoben. »Ich denke, wir sollten uns allmählich …«
Im Aufstehen hatte sie ihren Stuhl nach hinten geschoben und dabei einen Passanten angerempelt, der es offensichtlich eilig hatte, im Zentrum der Stadt Besorgungen zu machen.
»Was erlauben Sie sich eigentlich?« schnaubte der hochgewachsene Mann, der offensichtlich Mühe hatte, trotz seines Gehstockes das Gleichgewicht zu wahren. »Einen behinderten Mann so zu …«
Frau Schmitz-Wellinghausen hatte sich rasch umgedreht und rief nun in einem plötzlichen Erkennen: »Sie sind es! Was für eine Überraschung so früh am Tage, mit Ihnen habe ich nicht gerechnet!«
»Sie kennen mich doch, Frau … wie war noch Ihr Name?« Er deutete mit der rechten Hand in ihre Richtung, ein Glied des Zeigefingers fehlte.
Angelika konnte dem ihr Unbekannten ansehen, dass er offensichtlich ihre neue Bekanntschaft nicht ernst nahm, sondern sich über sie lustig machte.
»Aber ich bin doch …«
»Ich weiß, ich weiß …«, jetzt lächelte der Unbekannte und stützte sich schwer auf seinen Stock. »Und Sie kennen mich schließlich auch, oder? Deswegen wollten Sie mich wohl umstoßen, wollten mich ins Krankenbett befördern. Zurückschicken, wo ich hingehöre und keine Probleme bereiten kann. Ihnen nicht und anderen auch nicht.«
Jetzt wurde Frau Schmitz-Wellinghausen erst richtig verlegen, so schien es Angelika, die nun genug hatte von dem müßigen Spiel.
»Wollen Sie mich nicht mit dem Herrn bekannt machen?« fragte sie energisch. Und als Frau Schmitz-Wellinghausen ganz offensichtlich zögerte, fuhr sie fort: »Wenn nicht, dann kann ich das ebenso gut selbst erledigen.«
Sie streckte ihre Rechte aus und sagte: »Mein Name ist Angelika Neubert. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Nun reagierte Eugenie Schmitz-Wellinghausen überraschend schnell: »Das ist Herr Rupert Geiss-Landmann, ein Passauer Urgestein. Und eine wichtige Persönlichkeit in dieser Stadt was kulturelle Belange angeht. Und das ganz aus eigenem Ermessen, dazu Träger der Ehrenmedaille und wohl bald auch Ehrenbürger der Dreiflüsse-Stadt.«
»Nun mal langsam, meine Liebe«, sagte Geiss-Landmann und stampfte mit seinem Stock auf das Pflaster. »Das mit der Ehrenbürgerschaft liegt, wenn überhaupt, noch in weiter Ferne. Aber ausschlagen würde ich das natürlich keineswegs. Ehrenamtliches Engagement sollte im Allgemeinen besser und nachhaltiger gewürdigt werden, denke ich. Aber auch Frau Schmitz-Wellinghausen«, er wandte sich Angelika direkt zu, »auch sie sollte ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen. Sie ist nämlich die Beauftr…«
»Das ist absolut uninteressant«, wurde Geiss-Landmann abrupt, fast wütend, unterbrochen. »Denn Frau Neubert und ich müssen nun los. Das Schiff wartet.«
Damit zerrte sie Angelika am rechten Arm so lange, bis diese ihr – wenn auch widerwillig – folgte. Was hatte dieses Passauer, wie ihre Reisegefährtin das genannt hatte, »Urgestein« ihr über ihre neue Bekanntschaft erzählen wollen?
Da würde sie nachhaken. Auf dem Schiff. Immerhin ganze vierzehn Tage würde sie dafür Zeit haben.
*
Die »Danubia Queen« war ein typisches Fluss-Kreuzfahrtschiff. Es fuhr unter bulgarischer Flagge; die Besatzung bestand ausschließlich aus Bulgaren. Das hatte er dem aufwendigen Prospekt entnommen, der ihm mit einer Beschreibung des Schiffes und seinen Gegebenheiten zugeschickt worden war.
Jan-Herbert von Schwandorff war mit dem Zug von München aus angereist, erster Klasse natürlich, das war er so gewohnt. Den am Bahnhof bereit stehenden Bus hatte er verschmäht und sich in ein Taxi geschwungen, das ihn quer durch die Stadt auf die andere Seite der Donau bringen sollte. An die zweite Anlegestelle, die seit langen Jahren nötig war, da es inzwischen zahlreiche Reiseveranstalter gab, die von Passau aus ihre Schiffe Richtung Schwarzes Meer schickten oder auch kürzere Reisen anboten, die dann in Budapest endeten. Der Fahrer wusste offensichtlich Bescheid und murmelte leise vor sich hin: »Unsereins würde auch gerne mal …«, bevor er losfuhr.
Die Fahrt mit den Taxi hatte unverhältnismäßig lange gedauert, da ihnen immer wieder eine alte Rostlaube von Auto den Weg abgeschnitten hatte, in der eine grauhaarige Oma saß, die offenbar nicht genau wusste, wo sie hinwollte. Jedenfalls kreuzte sie immer wieder ihren Weg, wie durch Zauberhand war sie stets vor ihnen und behinderte ihr Vorwärtskommen. Der einheimische Taxifahrer fluchte wie ein Wiener Bierkutscher, bis es ihm endlich gelang, das Vehikel, mindestens dreißig Jahre alt und ersichtlich nur vom Rost zusammengehalten, auf der Donaubrücke zu überholen. Dann endlich war freie Fahrt angesagt. Und Jan-Herbert von Schwandorff grübelte darüber nach, wie ein so offensichtlich ungepflegter Wagen, der wahrscheinlich von Rostlöchern markiert war, durch den TÜV kommen konnte.
Als das Taxi am Anlegeplatz anhielt, erkannte von Schwandorff, dass die »Danubia Queen« in zweiter Reihe angelegt hatte. Zwischen ihr und dem Ufer befand sich ein weiteres Schiff, den Namen konnte er auf die Schnelle nicht erkennen, das aber offenbar noch nicht bereit zum sofortigen Auslaufen war. Jedenfalls waren Besatzungsmitglieder mit der Säuberung des Oberdecks beschäftigt, über das der Zugang zur »Danubia Queen« ausgeschildert war.
Als der 31-jährige Immobilienmakler ausstieg, hielt unmittelbar hinter seinem Taxi jene Schrottlaube, mit der sich der Fahrer auf der Herfahrt hatte herumschlagen müssen. Die ältere Dame, die dem Vehikel entstieg, machte einen sehr energischen Eindruck.
»Kann mir jemand helfen?« schrie sie laut, damit sie möglichst weithin gehört wurde. Im Gegensatz zu Angelika schien ihr die Hitze überhaupt nichts auszumachen. Ein Crewmitglied der »Danubia Queen«, erkennbar an dem Namensschild, das er linksseitig am Overall trug, eilte zu ihr.
»Ich fahre mit der …« Ihr Blick fiel auf das Namensschild, auf der auch der Schiffsname angezeigt wurde. »Ach, ich sehe schon: bei Ihnen bin ich richtig. Können Sie bitte veranlassen, dass mein Gepäck …«
Das Auftreten der alten Dame glich fast einem Zeremoniell: irgendetwas Hoheitsvolles lag in ihrem Verhalten. Und das trotz des schäbigen Vehikels, mit dem sie angekommen war. Während der Bootsmann ihr Gepäck, zwei kleine Köfferchen und eine Reisetasche zur »Danubia Queen« trug, stellte sie ihre Rostlaube am Kai, direkt neben einem übervoll belegten Parkplatz ab, ungeachtet der Tatsache, dass sie damit im absoluten Halteverbot stand. Einem der daneben stehenden Jugendlichen drückte sie fünf Euro in die Hand mit den Worten:
»Sobald es eine Parkmöglichkeit gibt, stellst du meinen Wagen dort ab. Meinen alten Diener klaut sowieso keiner. Der Schlüssel steckt, lege ihn bitte nachher unter die Fußmatte, damit ich ihn bei der Rückkehr zur Hand habe.« Das sagte sie so energisch laut, dass Umstehende mit Leichtigkeit mithören konnten.
Jan-Herbert von Schwandorff hatte dem Ganzen amüsiert zugesehen. Kein Zweifel, die alte Dame hatte Stil, wenn sie auch nicht besonders üppig mit irdischen Gütern ausgestattet zu sein schien. Galant half er ihr über die hölzernen Planken auf das vordere Schiff, das sie nebeneinander überquerten, um dann die »Danubia Queen« zu betreten.
Unmittelbar neben der Rezeption wurden sie vom Kapitän des Kreuzfahrtschiffes empfangen, der sich in etwas holprigem Deutsch als »Georgi Stojanow« vorstellte.
Neben ihm stand die Dame der Reiseleitung, Annegret Huber, deren herzliches »Grüß Gott« sie als Süddeutsche auswies.
*
Das transsilvanische Schloss Dragovac liegt inmitten weitläufiger, dunkler Wälder, in denen neben Bären und Luchsen auch menschliche Bestien herumstreifen, die in keinem Zoologischen Garten zu besichtigen sind und deren Existenz von Zweiflern weltweit in Frage gestellt wird. Lediglich die Literatur hat sich ihrer angenommen, doch eben deswegen wird ihr tatsächliches Vorhandensein umso heftiger und nachhaltiger bestritten. Das geht nach dem Grundsatz, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
Zum Schloss Dragovac gehört eine kleine gleichnamige Ortschaft, deren einfache Hütten nur noch teilweise bewohnt sind. Denn es ist beschwerlich, hier inmitten der waldreichen Einöde zu leben; die Annehmlichkeiten westlicher Zivilisation sind noch nicht in stärkerem Ausmaß bis hierher vorgedrungen, selbst Elektrizität ist selten anzutreffen, da sich kaum einer der hier lebenden Bevölkerung dies leisten kann – kostenmäßig. Abendliches Licht wird meist von aus Bienenwachs geformten Kerzen gespendet und geheizt wird während des harten Winters nicht mit Gas oder Öl, sondern mit großscheitigem Holz, das es allerdings in reichlichem Umfang gibt.
Einzig das Schloss und seine Bewohner verfügen über gewisse Annehmlichkeiten, von denen aber die gemeinen Dörfler rein gar nichts wissen. Das ist ganz simpel zu erklären: die Dorfbewohner sind ganz »normale« Menschen; sie glauben zu wissen, dass die im Schloss etwas anders veranlagt sind, aber Genaues ist ihnen nicht bekannt.
Auf den in mühsamer Plackerei dem Wald abgerungenen Feldern wachsen Rüben und Kartoffeln in großen Mengen, aber schon der Getreideanbau ist wenig ertragreich und oft genug vernichtet die harte Witterung, die krassen Gegensätze zwischen Heiß und Kalt, auch noch die letzten kärglichen Reste einer möglichen Ernte.
Diese Hinweise mögen genügen, um darzustellen, wie abgelegen und vom Rest der Welt abgeschnitten Schloss Dragovac im hintersten Teil von Transsilvanien liegt. Entsprechend scheel wird dieses Hinterweltlertum vom restlichen, modernen Rumänien angesehen. Auch sei der Hinweis gestattet, dass die durch die Schlossbewohner betriebene strikte Abschottung ihres Herrschaftsbereichs von der restlichen Welt die Ärmlichkeit von Region und Bewohnern nur noch verstärkt. Absichtlich verstärkt.
Heute herrschte Aufregung auf Schloss Dragovac. Fürst Georghiu saß mit Gemahlin und seinen drei Söhnen, eine Tochter war ihm bislang nicht geschenkt worden, beim späten Nachmittagsplausch, als ihm die Meldung überbracht wurde.
»Eine Nachricht, Euer Gnaden! Eine dringende Nachricht!« stammelte der Bote, der in einem Gewaltritt vom Donauufer quer durch das riesige Waldgebiet die Distanz in einer Rekordzeit zurückgelegt hatte. Karolo war ein Eingeweihter, der seine Aufgabe darin sah, den Bestand der Dragovac-Dynastie zu unterstützen und damit zu gewährleisten.
»Gebt ihm einen Becher vom roten Wein!« befahl der Fürst. »Und auch vom Braten und den Würsten. Er muss wieder zu Kräften kommen!«
Und während der Mundschenk und die Magd alles wie befohlen herrichteten, lauschte die fürstliche Familie der Kunde von weither:
»Es ist weitergegeben worden, dass der Nachkömmling einer zweifachen Mischehe in diese Region unterwegs ist. Und es ist uns auch mitgeteilt worden, dass es wichtig wäre, diesen zu einem der Unsrigen zu machen.«
Ein Mischling – das war schon etwas Seltenes für die Bewohner von Schloss Dragovac, denn ein Mischling war ein Bastard aus einer Verbindung von Ihresgleichen mit einem sogenannten Normalen. Ein zweifacher Mischling wiederum war ein Abkömmling aus der geschlechtlichen Verbindung zwischen einem Mischling und einem Normalen. Wobei es gleichgütig war, welcher der jeweiligen Partner weiblichen oder männlichen Geschlechts gewesen war.
Mischlinge waren für den Bestand des Clans wichtig, denn sie sorgten für eine Blutauffrischung in der Gemeinschaft. Etwas, das durch den Biss in den Hals eines Normalen nur unwesentlich ergänzt werden konnte.
Während Karolo gierig das Essen hinunterschlang und den Wein fast in einem Zug kippte, herrschte Stille am Tisch, denn auch die fürstliche Familie hatte mit dem Speisen begonnen. Dann aber, nachdem der Fürst sein Besteck beiseitegelegt hatte, war der Bote dabei, auch noch den Rest der Botschaft zu verkünden.
»Auf dem Schiff, das den großen Fluss hinunterfährt, soll sich auch ein Spürhund befinden, der von jenem weltweiten Netz, das alle Kontinente von Amerika bis zur Antarktis überspannt, beauftragt ist, die Unsrigen zu verfolgen.«
Das schreckte den Fürsten Georghiu, sonst eher lethargisch in seiner Machtfülle verharrend, plötzlich auf: »Wir müssen alles tun, damit jener Suchende zu uns findet!« ordnete er an. »Es ist das Blut, das zählt. Unser Blut, auch wenn es nur noch anteilig vorhanden ist.«
Und seine Frau Constanta bestärkte ihn darin mit einem lauten »Ja! Ja! Ja!«, während sie sich ihren von der allzu dicken Soße bekleckerten Mund abwischte.
Nun schien der Fürst der Meinung zu sein, damit genügend geäußert zu haben, jedenfalls schwieg er beharrlich und entließ Karolo mit verabschiedender Geste. Dieser war bereits daran gewöhnt, dass hier nur Allgemeines, nie etwas Konkretes angeordnet wurde. Sollten die Verantwortlichen am Rande des Waldgebietes nahe der Donau die entsprechenden Maßnahmen ergreifen.
Damit machte er sich auf den Rückweg. Es war immer etwas unheimlich, hierher zu kommen. Schon manches Mal hatte er befürchtet, nicht heil wieder wegreiten zu können. Aber die Bezahlung war gut, und von irgendetwas musste er mit seiner Familie schließlich leben.
*
Die Kabine, in die eine Stewardess Angelika gebracht hatte, es war die Nummer 231, war mit Sicherheit nicht die größte auf der »Danubia Queen«, aber mit geschätzten 14 Quadratmetern für eine einzelne Person geräumig genug. Sie lag mittschiffs auf dem Oberdeck und besaß ein relativ breites Panoramafenster, vom dem aus die vorbeiziehende Landschaft gut zu beobachten war. Angenehm empfand Angelika die Tatsache, dass die Klimaanlage offenbar einwandfrei funktionierte. Sie beschloss, sich etwas Anderes, etwas Leichteres und dabei doch Eleganteres für den Abend anzuziehen. Beim ersten Zusammentreffen mit den übrigen Gästen musste sie einen guten Eindruck hinterlassen, mit dieser Absicht hatte sie entsprechende Sachen eingepackt.
Eine bereit gelegte Information besagte, dass die »Danubia Queen« vor sieben Jahren in Holland gebaut worden war und vor wenigen Wochen zur Überholung im Dock gelegen hatte. Vierzig Mann Besatzung kümmerten sich um das Wohl der (bei Vollbelegung) 157 Passagiere. Besonders hervorgehoben wurde die Leistung der Küche, die – so der Prospekt – von hervorragender Güte sei.
Angelika las diese Beschreibung mit Wohlgefallen, denn gutes Essen – das war etwas für sie. Wenn das zutraf, denn wäre einer ihrer Zweifel, die sie zu Anfang gehegt hatte, ausgeräumt.
In ihre Überlegung hinein platzte die per Lautsprecher in die Kabine gegebene Nachricht, im Aufenthaltsraum – der sogenannten Aussichts-Lounge – stünden Kaffee und Kuchen bereit zur Stärkung der bereits eingetroffenen Gäste. Es gebe auch Säfte und Wasser sowie Bier. Der Rundruf war für Angelika Grund genug, der Aufforderung zu folgen. Denn Durst hatte sie bei dieser Hitze natürlich immer, auch in der gekühlten Kabine.
Die Lounge war überraschend geräumig, Angelika hatte damit nicht gerechnet. An der Bar gab es zwei Stewardessen und einen Steward, die bemüht waren, alle Wünsche zu erfüllen. Unweit des großen Panoramafensters fand Angelika einen ihr genehmen Tisch, an dem bis jetzt nur ein etwa dreißig Jahre alter Mann Platz genommen hatte.
»Sie erlauben?« fragte sie höflich, und während der Mann aufstand, um ihr galant den Sessel zurecht zu rücken, hatte sie sich schon hingesetzt.
»Hoppla!« sagte er, lachte und setzte sich wieder. »Wie sagte doch ein bedeutender Staatsmann: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben? Aber bestraft komme ich mir eigentlich nicht vor, bei so reizender Reisebegleitung!«
Diese etwas forsche Art störte Angelika keineswegs, war sie dergleichen doch von ihrem Frankfurter Arbeitsplatz gewohnt.
»Ich heiße Angelika Neubert«, sagte sie und stellte sich damit vor. »Aus Frankfurt. Und Sie?«
Anscheinend hatte der neue Bekannte ebenfalls keine Scheu, gesellschaftliche Normen zu brechen. Er trug einen fast militärischen Haarschnitt; Angelika schätzte ihn auf eine Körpergröße von etwa einen Meter 85, also einen Kopf größer als sie selbst. Seine Gesichtszüge hatten etwas leicht orientalisches, die Augen waren braun, sein Lächeln verbindlich, vielleicht sogar herzlich.
»Schwandorff mein Name, mit zwei ‚f‘ am Ende, Jan-Herbert, Immobilienmakler. Aber alle rufen mich Jonny. Ich will die alte Heimat meiner mütterlichen Vorfahren besuchen, denn diese Linie stammt aus Rumänien. Allerdings«, er lächelte ein wenig verlegen, wie es Angelika schien, so, als sei er sich nicht ganz sicher. »Das ist einige Generationen her. Und doch scheint es noch eine Verbindung dorthin zu geben, jedenfalls ist es mein großer Wunsch seit langem, einmal dorthin zu reisen.«
Ihr Gegenüber hatte dunkelblondes Haar und sah sportlich sehr durchtrainiert aus. Jedenfalls sah man ihm die Abstammung von einem Balkanvolk, abgesehen von der leichten Hautfärbung, nicht unbedingt an.
Sie glaubte, einen Witz machen zu müssen. »Wenn das so lange her ist, dann muss ich bestimmt keine Angst haben, dass hier ein Vampir vor mir sitzt, oder? Diese Blutsauger, wie man sie nennt, sollen doch dort ihr ursprüngliches Nest haben.«
Schwandorffs Reaktion auf diese Bemerkung fiel heftiger aus, als erwartet: »Oh, da brauchen Sie keine Angst zu haben. Derlei Gelüste sind mir fremd!« stieß er hervor.
Just in diesem Augenblick hatte Eugenie Schmitz-Wellinghausen ihren Auftritt. Erfreut, bereits jemanden auf diesem Schiff zu kennen, hatte sie schnurstracks Angelika angesteuert.
»Wollen Sie mir nicht diesen attraktiven jungen Mann vorstellen, meine Liebe?«, forderte sie mit lauter Stimme. »Kaum an Bord und schon haben Sie netten Anschluss. Das nenne ich schnelles Handeln!«
Schwandorff stand bereits, als sie die letzten Worte gesprochen hatte. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?« fragte er, um dann fortzufahren: »Schwandorff ist mein Name; ich komme aus der Umgebung von München, allerdings nicht dort geboren, vielmehr in Wien, denn von dort stammt meine Mutter.«
Frau Schmitz-Wellinghausen stellte sich nun ihrerseits vor, erwähnte ihren Beruf allerdings mit keiner Silbe. Sie musterte den Immobilienmakler aufmerksam und meinte dann nachdenklich: »Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor oder vielmehr Ihr Name. Vielleicht habe ich den irgendwo gelesen. Ist Ihre Familie nicht von altem Adel, aus dem Baltikum? Oder irre ich mich? Aber eigentlich habe ich für derlei Fakten ein gutes Gedächtnis.«
Angelika war verwirrt. Frau Schmitz-Wellinghausen und Interesse für alte Adelsgeschlechter … Alles hätte sie sich vorstellen können, nur nicht das. Allerdings hatte Royales inzwischen wieder einen gewissen Nachrichtenwert, wie das Fernsehprogramm fast täglich bewies.
»Sie haben natürlich recht mit dem, woran Sie sich erinnern. Meine Familie stammt in der Tat, wenn auch nur weitläufig, aus dem Baltikum. Von Mutterseite allerdings kommen wir aus Rumänien. Aber als die Donauschwaben damals vor Jahrhunderten gen Osten …«
»Stimmt, stimmt!« rief Frau Schmitz-Wellinghausen so laut, dass sich die Gäste am Nebentisch zu ihr umdrehten. »Jetzt erinnere ich mich, dass ich darüber in einem alten Geschlechterbuch einiges gefunden habe. Sie gehören zu einem wirklich alten Geschlecht, darauf können Sie stolz sein.«
Dieser letzte Satz verwirrte Angelika. Erstaunt sah sie die Sprecherin an, denn bisher war sie der Meinung gewesen, man könne und solle auf eigene Leistungen stolz sein. Eigentlich hatten weder ein Baron noch eine Herzogin Veranlassung, deswegen eingebildet zu sein, es sei denn, eigene Leistung für die Gesellschaft oder innerhalb der Künste gab Anlass dazu. So hatten sie das ihre Eltern gelehrt, aber wahrscheinlich sahen dies viele Leute anders.
Wenn sie ehrlich war, sah sie Schwandorff jetzt mit etwas anderen Augen. Er sah gut aus, das hatte sie natürlich sofort vermerkt, und er besaß gute Umgangsformen, das merkte man immer wieder. Auch seine Zurückhaltung, was die eigene Person anging, konnte sie jetzt positiv einschätzen. Schließlich hätte er sich ja auch als ‚von Schwandorff« vorstellen können.
Sie wurde jäh aus ihrem Sinnen gerissen, als jemand sie von hinten stürmisch umarmte. Sie blickte hinter sich und sprang sofort auf.
»Xenia!« rief sie und umarmte stürmisch ihre Freundin, die in Berlin in einem großen Hotel arbeitete. Sie hatten sich während eines Urlaubs auf Teneriffa kennen und schätzen gelernt.
Xenia Portodamo, Tochter sizilianischer Eltern, die nach Deutschland ausgewandert waren, war zierlicher als Angelika und trug ihre dunkelbraunen Haare als buchstäblichen Wuschelkopf, der anscheinend noch nie die Schere eines Friseurs gesehen hatte. Doch in Wahrheit, das wusste Angelika, verbrachte Xenia halbe Tage in einem teuren Salon namens »Figaro Super« und gab dafür auch noch Unsummen aus. Da ihre Eltern begütert waren und ihr immer wieder etwas zusteckten, sie außerdem nicht schlecht verdiente, konnte die Rechnung aufgehen. Auf jeden Fall sah sie immer gewollt ungekämmt aus.
»Was machst du denn hier auf dem Schiff?«
»Was wohl? Kannst du dir das nicht denken?«
»Du fährst doch nicht etwa mit?«
»Bingo! Du bist ja eine Blitzmerkerin, muss ich feststellen. Ich habe mir gedacht, so ganz alleine macht so eine lange Fahrt auf der Donau keinen Spaß. Also habe ich‘s versucht, und siehe da, es gab noch eine Mitfahrgelegenheit. Da hab‘ ich dann schnell zugegriffen.«
Rasch machte sich Xenia mit den anderen bekannt, um sich dann gleich wieder ihrer Freundin zu widmen:
»Ich habe mir die Kabine neben dir sichern können, aber das ist wahrscheinlich gar nicht so wichtig, denn bei dieser Hitze ist auf dem Oberdeck unter der Markise sicherlich angenehmer zu sitzen.«
»Und der Fahrtwind tut auch noch eine Kleinigkeit dazu, dass uns nicht zu heiß wird. Das hoffe ich wenigstens«, erklang eine Stimme hinter Angelika, die ihr irgendwie bekannt vorkam.
Richtig, erkannte sie im Umdrehen, die alte Dame mit ihrer Rostlaube, die sie beobachtet hatte, wie sie unmittelbar nach von Schwandorffs Taxi angekommen war und einen Jugendlichen mit der Aufsicht über ihr Vehikel beauftragt hatte.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen«, fragte die etwa 80-jährige und hatte sich schon hingesetzt, ehe auch nur eine einzige Silbe gesprochen worden war.
»Ich heiße Faszl, buchstabiert: F – a – s – z – l, eine ungewöhnliche Schreibweise, ich weiß, aber einer meiner Vorfahren hat darauf bestanden. Im unserem Familienstammbuch ist das so vermerkt.«
Holla, dachte Angelika, ist das hier ein Treffen des deutschen Adels? Denn ganz offensichtlich gehörte die alte Dame einem adeligen Geschlecht an. Aber sie fragte nicht, es würde sich mit Sicherheit schnell ergeben. Nun stellten sich alle anderen am Tisch vor.
So war das mit Bekanntschaften auf solchen Schiffen, hatte sich Angelika sagen lassen. Man lernte sich schnell kennen, doch nach Ende der Reise war alles in Windeseile wieder vergessen. Aber Ausnahmen gab es natürlich immer. Und wenn sie ehrlich war, dieser Jonny von Schwandorff, wie sie ihn insgeheim bereits nannte, interessierte sie ein wenig mehr als normal. Ob sich daraus etwas entwickeln konnte …? Abwarten, sagte sie sich. Vierzehn Tag sind eine lange Zeit, und doch wiederum in mancher Hinsicht sehr kurz.
Sie schrak aus ihrem Sinnen auf. Schwandorff erkundigte sich gerade nach dem Auto von Frau Faszl und sprach seine Verwunderung darüber aus, dass es überhaupt noch fahrbereit war.
Doch seiner Eignerin schien das ganz normal zu sein. »Ich kaufe mir nur alte Wägen, die kosten so gut wie nichts. Und für die Reparaturen habe ich zu Hause in Wetzlar einen lieben Menschen, der mir hilft. Und preisgünstig ist er auch noch, denn das ist sein Hobby.«
»Meine Damen und Herren«, das war die Reiseleiterin Annegret Huber, »Alle Gäste sind an Bord. Wir werden in Kürze ablegen. Ich kann Ihnen mitteilen, dass unmittelbar danach das Abendessen serviert wird. Ich wünsche Ihnen jetzt schon einen guten Appetit!«
*
In der Zentrale der »Internationalen Anti-Vampir Association« (IAVA) in Genf herrschte wie immer geschäftige Stille. An den Computern wurden die verschiedenen Hinweise über das Auftreten von Vampiren eingegeben, die aus allen Teilen der Welt eintrafen. Nach dem letzten Vorfall in Grönland war man inzwischen sicher, dass selbst entlegene Gebiete des Planeten – eiskalt oder superheiß – von dieser blutsaugenden Pest nicht verschont bleiben würden. Entsprechend intensiv war die konzentrierte Arbeit, die allwöchentlich zu einer Analyse für die Führungsetage zusammengefasst wurde.
Offiziell fungierte die IAVA im Schweizer Handelsregister als Impex GmbH, also als Import-und Exportfirma der verschiedensten Güter. Das ermöglichte den unauffälligen Transfer aller für die weltweite Beobachtung benötigten Utensilien; die zur Tarnung mitbestellten und gelieferten Waren wurde als sogenannte Sonderposten in Kaufhäusern verhökert.
In der Direktionszentrale der Impex GmbH, um erst einmal bei dieser Bezeichnung zu bleiben, waren die maßgeblichen Damen und Herren zu einer Sondersitzung zusammengerufen worden. Jean-Pierre Lefebre, offizieller Directeur général der Firma, leitete die Besprechung.
»Es geht um einen besonderen Fall«, begann er seinen einleitenden Vortrag. »Von der Donau, genauer von einem bulgarischen Schiff, das Richtung Schwarzes Meer fährt, ist uns eine Meldung übermittelt worden, dass wieder einmal eine V-Person nach Osten unterwegs ist, die offenbar auf der Suche nach der eigenen Identität ist.«
Eine ›V-Person‹ war jemand, der lediglich anteilig den Vampiren zugerechnet werden konnte, aus dem aber unter Umständen ein vollgültiger und leibhaftiger Vampir werden konnte. Solche Menschen waren über lange Jahrzehnte von den Vampir-Gegnern niemals ernst genommen worden; gleichwohl stellten sie eine erhebliche Gefahr für das Allgemeinwohl dar und mussten beobachtet und gegebenenfalls auch eliminiert werden. Und zwar mit allen Mitteln.
»Reisende gen Osten, die ihre Blutheimat suchen, gibt es oft genug und wird es immer geben«, fuhr Lefebre in seiner Rede fort. »Damit werden wir im Allgemeinen bestens fertig. Sie sind gemeinhin leicht zu identifizieren. Problematisch wird dies mit Halblingen und sehr schwierig ist es, wenn wir auf den Abkömmling eines Mischlings treffen, der also nur einen Viertelanteil des verhängnisvollen Abstammungswerts in seinem Blut trägt.«
In der Versammlung hatte bis dato atemlose Stille geherrscht, jetzt aber meldete sich in der vorderen Reihe ein junger Brillen- und Glatzenträger zu Wort, indem er wie in der Schule mit der rechten Hand aufzeigte.
»Ja, bitte?« fragte der Vorsitzende.
»Meinen Sie damit, dass in diesem Fall die Theorie von Musahashi Ichido von der Tokioter Universität in Anwendung gebracht werden muss, mit der er die besondere Gefährlichkeit jener Viertellinge herausstellt?«
»In der Tat, Herr Dr. Muckensturm, das meine ich. Mir ist bewusst, dass Sie als Genetiker dem Herrn Musahashi Ichido und seinen Theorien skeptisch gegenüber stehen, jedoch kann ich Ihnen hier mitteilen, dass neue Untersuchungen in Ulan Bator, an dem berühmten Institut für Absonderliche Medizin, Hinweise geliefert haben, dass jene Theorie nicht nur reine Theorie ist. Wir müssen also davon ausgehen, dass gerade Viertellinge ganz besonders sorgfältig beobachtet werden müssen.«
Lefebre erhob seine Stimme, so dass auch der Hinterste im Saal in laut und deutlich verstehen konnte: »Damit stehen wir einer direkten und folgerichtig auch hochbrisanten Gefahr gegenüber. Denn es scheint wirklich so zu sein, dass diese Abkömmlinge von Mischlingen, ich mag dieses Wort ›Viertelling‹ nicht, die Veranlagung zur Vampirexistenz von allen Erscheinungsformen am leichtesten weitergeben können. Meistens sogar unbewusst und ohne Absicht. Fragen Sie mich nicht, wie das vonstattengehen soll, ich weiß es nicht. Von einer genetischen Veranlagung war bisher noch keine Rede, was also mag bei diesen Menschen anders sein? Vielleicht können Sie uns das erklären, Herr Dr. Muckensturm?«
Und als dieser nur stumm den Kopf schüttelte, rief Lefebre in den Saal hinein: »Wir kommen dann nun zu allgemeinen Fragen, meine Damen und Herren!
*
Wie es der Zufall so wollte, so wie sie sich in der Lounge am Tisch zusammengefunden hatten, waren sie vom Obersteward auch im Restaurant zusammengesetzt worden. Ein Platz am Sechsertisch steuerbords, also in Fahrtrichtung rechts, blieb frei, denn das Schiff war nicht ganz ausgebucht, was erklärte, warum Xenia auf die Schnelle noch eine Kabine hatte buchen können.
Eine aufwendige Karte auf dem Tisch kündete von der Vielseitigkeit des Abendessens: zur Auswahl standen mehrere Entrées und zwei Hauptgerichte sowie Desserts, Käse und Obst.
Der für ihren Tisch zuständige Steward reichte jedem Gast zwischendurch eine Karte, auf der das Mittag- und Abendessen des folgenden Tages aufgelistet war. »Bitte kreuzen Sie a n, was Sie morgen essen möchten«, bat er. »Und überlegen Sie gut, denn bei rund 150 Passagieren muss die Küche wissen, was sie vorbereiten soll.«
»Aber ich weiß doch heute noch nicht, was ich morgen essen will«, rief am Nebentisch eine Dame. Angelika hatte mitbekommen, dass es sich um ein Ehepaar, Hannelore und Jakob Fischbaum aus Remscheid, handelte, das sich mit der Regelung offenbar nicht einverstanden erklärte.
»Ja, so ist es«, sekundierte nun auch Herr Fischbaum. »Wir essen immer und überall nur à la carte!«
Die 80-jährige Frau Faszl, in Fahrtrichtung am Fenster sitzend und abwechselnd die vorüberziehende abendliche Landschaft bewundernd beziehungsweise dem Essen eifrig zusprechend, blickte von ihrem Schweinebraten mit Serviettenknödel auf und sagte laut und deutlich, so dass es zumindest die nächsten fünf Tische hören konnten: »Manchen kann man es einfach nicht recht machen, sie haben immer und überall etwas zu meckern. Solche Leute sollten besser zu Hause bleiben, anstatt anderen die Stimmung zu vermiesen.«
Peinliches Schweigen am Nebentisch, wo das Ehepaar aus Remscheid konsterniert in die Runde blickte, allerdings nirgends Trost fand.
Zu allem Überfluss setzte Frau Schmitz-Wellinghausen noch einen drauf, als sie sagte: »Wir werden uns unsere gute Laune auf dieser Fahrt nicht durch einige Querulanten und Meckerköpfe kaputt machen lassen. Prost!« Sie hob das Glas, während sie aufstand und in die Runde blickte: »Der Wein ist vorzüglich. Stoßen wir an!«
Und von überall her tönte es »Prosit!«. Damit hatte die Reise offiziell begonnen, für Angelika und alle anderen, vor allem aber für Jan-Herbert von Schwandorff und Frau Eugenie Schmitz-Wellinghausen, nicht zu vergessen jene alte Dame, deren altes Vehikel in Passau geduldig auf ihre Rückkehr wartete.
*
Während die Passagiere speisten und sich auf einen unterhaltsamen Abend in der Lounge vorbereiteten, war jemand anders auf dem Schiff mit Vorbereitungen ganz anderer Art beschäftigt: Dunkle Kleidung, die ein Erkennen auf dem nächtlichen Deck erschwerte, sowie bequeme Turnschuhe mit weichen Sohlen, die eine lautlose Annäherung garantierten. Und der Universalschlüssel. Der zu jedem Raum des Schiffes Zutritt erlaubte.
Auf den vorangegangenen Reisen hatten sich auf der »Danubia Queen« einige seltsame Vorfälle ereignet. So hatten sich mehrfach vorzugsweise weibliche Gäste beschwert, sie seien im Schlaf von riesengroßen Stechmücken gebissen ‚worden‘. Andere erzählten von einem geheimnisvollen Wesen. Mensch oder Tier, ein Affe möglicherweise, der nächstens auf dem Promenadendeck herumgeisterte.
Auf der letzten Reise war gar, auf der Höhe der Ruinen von Transmarisca, auf der Grenze zwischen Bulgarien und Rumänien, eine junge Frau verschwunden, die allein reiste und die sang- und klanglos eines Morgens einfach nicht mehr zum Frühstück erschien. Sie wurde nie mehr gefunden. Kinder, die Überreste eines weiblichen Leichnams einige Kilometer flussabwärts Richtung Schwarzes Meer entdeckten, nahmen die wenigen Habseligkeiten an sich, die noch verwertbar waren, und vergruben die Überreste.
All dies stand in Zusammenhang mit den Vorbereitungen, die während der Abendessenszeit im Heck des Kreuzfahrtschiffes getroffen wurden. Es war wieder an der Zeit, es musste etwas geschehen.
Mögliche Opfer gab es wieder mehrere, doch die Auswahl musste sorgfältig getroffen werden: denn wurde die falsche Person ausgewählt, die z. B. ein Allergen in sich trug oder irgendwelche Abwehrgerätschaften bei sich trug, konnte es zur Katastrophe, das heißt: zur Aufdeckung der Person kommen, die für die Zwischenfälle verantwortlich war. Aber alles drängte, das Blut schrie nach Blut – es brauchte die Auffrischung, denn alt gewordenes Blut in den Adern eines Transsilvaners führte unweigerlich zum Tode. Zu einem qualvollen Tod, wenn das Blut nämlich allmählich zu stocken beginnt und alles verstopft.
*
Angelika und Xenia hatten sich viel zu erzählen. Dass von Schwandorff bei ihnen saß und hörte, was sie sich an Wichtigem und Unwichtigem zu berichten hatten, störte vielleicht Xenia ein wenig, doch da sie bemerkt hatte, dass diese neue Bekanntschaft für ihre Freundin etwas Besonderes zu sein schien, ließ sie sich nichts anmerken.
Der Pianist, ein bulgarischer Musiker, der eher scheu um die Passagiere herumging, um sie nicht zu stören, hatte sich an das Instrument gesetzt und spielte bekannte und weniger bekannte Melodien. Das Musikstück, das gerade zu hören war, gefiel Xenia besonders, so dass sie zum Piano ging und sich erkundigte. »Traumtanz« hieß die etwas melancholische Melodie und der deutsche Komponist war ihr unbekannt. Sie freute sich, als der Klavierspieler sich artig für ihr Interesse bedankte.
Xenia fiel auf, dass das Schiff sehr ruhig im Wasser lag und kaum schaukelte.
Wieder an ihrem Tisch, hatte sich nun Frau Faszl dazugesetzt. Sie trank einen kleinen Rotwein, während die anderen sich eine Flasche guten Sekts bestellt hatten. »Ich würde auch gerne«, sagte die alte Dame, »aber ich vertrage die Kohlensäure nicht. Davon wird mir übel. Das ist genauso wie wenn ein Vampir Knoblauch zu essen bekommt.«
Angelika musste lachen: »Die gibt es doch gar nicht. Das sind blanke Märchen.«
Dabei sah sie zu von Schwandorff hinüber, der ein seltsam zweifelndes Gesicht machte, als wollte er sagen: Na, ich weiß nicht, ob nicht doch etwas dran ist.
»Was sagen Sie dazu?« fragte Angelika und wandte sich an Frau Faszl.
»Also ich bin der Ansicht, man sollte das ernst nehmen, was über die Vampire erzählt wird. Ich arbeite in Wetzlar in der Bibliothek, die ist auf phantastische Literatur spezialisiert, und die haben jede Menge Unterlagen, unter anderem auch über jenen transsilvanischen Fürsten, nach dem die literarische Figur des Dracula geformt wurde. Ich erinnere mich an eine deutsche Mystik-Autorin, die unter dem Pseudonym ‚Carola Blackwood‘ schreibt. Sie hat bei Gelegenheit die Möglichkeit erörtert, dass jener Dracul, als Türkenschlächter historisch verbürgt, gegen die sogenannte türkische Petersilie allergisch war und nach Genuss derselben mehrfach Erstickungsanfälle gehabt hat. Daraus soll sich die Mär entwickelt haben, Vampire seien empfindlich gegen Knoblauch.«
Frau Fischbaum, die auf dem Weg zur Bar, um Nachschub an kostenlos ausgeschenktem Bier zu holen, bei ihrem Tisch stehen geblieben war und einen Teil des Gesprächs mitgehört hatte, schnaubte hörbar durch die Nase:
»So ein Unsinn, Vampire gibt es nicht. Und damit basta!«
›Jonny‹ Schwandorff bedachte sie mit keinem auch noch so kurzem Blick, sondern stellte fest:
»Aus der Presse weiß ich, dass es auf den Donau-Kreuzfahrtschiffen wiederholt Zwischenfälle gegeben hat, die nicht erklärbar waren. Etwa sind Personen spurlos verschwunden, andere erlitten Bisswunden – und das alles auf der Donau und auf Schiffen, die in Richtung auf die Heimat der Vampire unterwegs waren. Ich selbst habe … Ach, nein, das spielt hier keine Rolle!« Er brach ab und schwieg.
Doch genau das machte Angelika neugierig. Sie sah den Immobilienmakler fragend an und hob dabei die linke Augenbraue. Das war ein Tick von ihr und sollte eine laute Frage ersetzen.
»Nein!«, wiederholte Schwandorff. »Das tut hier nichts zur Sache.« Das sagte er so vor sich hin, dann neigte er sich Richtung Angelika und raunte ihr zu: »Später vielleicht einmal, mal sehen, was wird.«
Frau Faszl, die trotz oder vielleicht gerade wegen ihres Alters besonders aufmerksam war, hatte sehr wohl die Sonderstellung bemerkt, die Schwandorff für Angelika und diese wiederum für den Makler einnahm. Sie war’s zufrieden: Die Fahrt entwickelte sich gut. Sie würde viel zu beobachten haben, gerade die Entstehung und Entwicklung solcher zwischenmenschlicher Beziehungen fanden immer ihr aufmerksames Interesse.
Diese Fahrt hatte gut begonnen.
*
Angelika und Xenia hatte fast als Letzte die Lounge verlassen. Die Bar hatte um Mitternacht ihren Service eingestellt, doch es war fast zwei Uhr früh, als die beiden jungen Frauen schließlich in Richtung ihrer Kabinen gingen. Es war sehr still, nur von Ferne hörte man, dass die Motoren arbeiteten. Die »Danubia Queen« nutzte die Nachtstunden, um stetig voran zu kommen. Fast bei ihrer Kabine angekommen, glaubte Angelika, einen Schatten Richtung Bug davonhuschen zu sehen, doch als sie genauer hinsah, was nichts zu erkennen. Sie schob es auf den genossenen Sekt, von dem sie wohl ein Glas zu viel getrunken hatte. Nach einer herzlichen Umarmung mit Xenia zum Abschied bis zum Morgen, fiel sie nach kurzem Toilettenbesuch ins Bett und schlief bis zum Morgen durch.
Draußen ging ein wachhabendes Besatzungsmitglied durch die Gänge und kontrollierte, dass alles in Ordnung war. Das geschah in jeder Nacht, ab zwei Uhr früh, zwischen diesem Zeitpunkt und dem Morgengrauen hatten sich die rätselhaften Zwischenfälle auf der »Danubia Queen« ereignet. Daher diese Anordnung des Kapitäns, die ab sofort galt. Und da über die Patrouillengänge akribisch Buch geführt werden musste, Stechuhren waren installiert worden, konnte der Kapitän sicher sein, dass seine Befehle auch befolgt wurden.
Wer damit keinesfalls zufrieden sein konnte, war jene dunkle Gestalt, die bereits Vorbereitungen getroffen hatte für eine Interaktion auf der ersten Teilstrecke dieser Reise. Durch das späte Zubettgehen der beiden jungen Frauen und die darauf einsetzenden Patrouillen des Matrosen durch die Gänge gab es keine Möglichkeit, ans Ziel der drängenden Wünsche zu gelangen. Blieb die Hoffnung auf die weiteren Teilstrecken, wo die Passagiere, ermüdet durch lange, anstrengende Ausflüge, zeitig ihre Kabinen aufsuchten.
Er war nahe daran zu verzweifeln. Auch wenn sein Blut nach anderem Blut gierte, er musste warten, denn er durfte nichts riskieren. Er hatte eine Verantwortung gegenüber seiner immer stärker schwindenden Sippe. Sie brauchten Blutauffrischung, um für ausreichend Nachkommenschaft zu sorgen. Fremdblut war vonnöten, Fremdblut, das aus anderen Weltregionen als dem Balkan stammte.
Also verstaute er die Tarnkleidung wieder dort im Bug, wo er sie hervorgeholt hatte. Eine der nächsten Nächte musste es sein.
*
›Jonny‹ Schwandorff war verunsichert. Als er am Morgen noch halb im Schlaf aus dem Kabinenfenster blickte und sich von der Donau umgeben sah, wusste er im Augenblick nicht, wo er sich befand. Die Erkenntnis, dass er auf der Fahrt nach Osten, hin noch Rumänien, befand, unterwegs war, traf ihn wie der Blitz. Und gleichzeitig spürte er wieder jenes Ziehen, das Sehnsuchtsgefühl, das ihn veranlasst hatte, diese Reise zu buchen.
Seltsamerweise verband er in seiner Phantasie sofort die Tatsache, dass er sich auf der »Danubia Queen« befand, mit dem Namen Angelika Neubert. Er war gewiss kein Frauenheld, auch wenn alle, die ihn sahen, davon ausgingen. Denn dass er gut, vielleicht sogar blendend aussah, das hatte er schon mehrfach zu hören bekommen. Doch jedes Mal, wenn ihm eine sanfte Frauenstimme süße Worte ins Ort geflüstert hatte, war seine Reaktion instinktive Abwehr gewesen. Nicht, dass er hübsche Frauen nicht gemocht, sie nicht gerne gesehen oder im Arm gehalten hätte, sein instinktives Zurückweichen, sobald es ernst wurde, war ihm selbst nicht erklärbar, jedoch harte Realität.
Bei dieser jungen Frau, gerade einmal 23 Jahre alt, wie sie ihm zu vorgerückter Stunde gestern Abend gestanden hatte, mit einem verschmitzten Lächeln verraten hatte, war es anders, das fühlte er. Sie war hübsch, hatte ein frisches, aufgewecktes Wesen, verstand sich anzuziehen und verfügte über gute Umgangsformen – alles Dinge, auf die seine verstorbenen Eltern immer großen Wert gelegt hatten. Im Sinne der Tradition, natürlich, die es zu pflegen galt.
Für ihn war ausschlaggebend, dass diese junge Frau ganz offensichtlich etwas besaß, worüber andere nicht verfügten; etwas, das er nicht definieren konnte, das ihn nicht nur nicht in die Flucht trieb, sondern ihn vielmehr fast magisch anzog. Er begann zu pfeifen, was er seit langen Jahren nicht mehr getan hatte; ein Lied, das der Pianist gestern Abend gespielt hatte. Allein schon die Tatsache, dass es ihm im Gedächtnis geblieben war, war bereits ausgesprochen bemerkenswert.
Mit einem Schlag fühlte er sich froh, wenngleich jenes Gefühl der Sehnsucht nach etwas, was er nicht benennen konnte, hartnäckig in ihm blieb. Er beschloss, sich intensiver um Angelika zu kümmern. Und mit diesem Vorsatz machte er sich fertig für das Frühstück.
Als er im Restaurant ankam, waren Angelika und Xenia bereits anwesend und bedienten sich am Büffet.
Schwandorff wurde freudig begrüßt und Angelika beeilte sich, ihm gegenüber einen Platz zu bekommen. Ja, er gefiel ihr, warum sollte sie sich das nicht vor sich selbst eingestehen?
Draußen zeigte die österreichische Landschaft keine wesentlichen Unterschiede zum deutschen Ufer. Inge Faszl war inzwischen auch eingetroffen. Sie strahlte vor Freude, offenbar genoss sie diese Fahrt. Sie berichtete, dass am Schwarzen Brett, neben der Rezeption, ein Vortrag angekündigt war, auf dem die Reiseleiterin die nächsten Stationen der Reise sowie die Ausflugsmöglichkeiten vorstellten wollte.
Schwandorff hatte wenig Lust, sich den Frauen anzuschließen, denn auch Frau Schmitz-Wellinghausen hatte inzwischen Interesse an der Veranstaltung bekundet. Für den Immobilienmakler auf Selbstfindungstrip, wie er das für sich selbst nannte, gab es Wichtigeres. Er hatte sich von Zuhause Unterlagen zur Familiengeschichte mitgenommen; er wollte der Vergangenheit nachspüren, vielleicht kam er zu einer Erklärung für dieses seltsam-ziehende, geradezu unwiderstehliche Sehnen. Sehnen wonach? Wenn er es gewusst hätte, hätte er darauf reagieren können. So aber war er ein Suchender.
Als er in diesem Sinne auf die Frage antwortet, ob er die Damen begleiten wollte, erhielt er eine Antwort, die ihn zugleich erstaunte, aber auch erfreute. Denn damit hatte er keineswegs gerechnet.
Frau Faszl, die alte Dame mit dem Schrottauto, die offenkundig so wenig Wert auf ihren Adelstitel legte und die seinen Taxifahrer in Passau so genervt hatte, sagte: »Das finde ich sehr interessant. Familiengeschichten können sehr aufschlussreich sein. Ich habe gewisse Erfahrungen sammeln können während meiner Tätigkeit in der Wetzlarer Bibliothek. Auch historischer Natur. Wenn ich Ihnen behilflich sein kann, will ich Ihnen gerne zur Seite stehen, sofern meine bescheidenen Kenntnisse ausreichen.«
»Das Angebot nehme ich sofort an«, erwiderte Schwandorff und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. »Am liebsten sofort! Aber nein, Sie wollen doch auch …«
»Darauf kann ich gerne verzichten, Ihre Unterlagen sind sicherlich spannender. Die jungen Damen können mir ja nachher berichten.«
Das geäußert in Richtung von Angelika und Xenia, an deren Stelle Frau Schmitz-Wellinghausen mit einem »Aber gerne!« zusagte.
*
Dr. Hans-Jürgen Beuteler, Allgemeinmediziner in Wien und leidenschaftlicher Kreuzfahrer, hatte sich für diese Saison auf der »Danubia Queen« verpflichten lassen und die Betreuung seiner Patienten zu Hause einer jungen Kollegin überlassen, die auf der Suche nach einer frei werdenden Praxis war und bis dahin als »Springerin« arbeitete. Für Beuteler war es die insgesamt zehnte Fahrt mit diesem Kreuzfahrtschiff und er hatte sich bei Kapitän Stojanow einen Termin geben lassen. Es gab einiges zu besprechen.
Stojanow hatte das Ruder dem Ersten Steuermann der »Danubia Queen«, Arpad Gustow, überlassen.
»Machen Sie es sich gemütlich, Doktor«, forderte der Kapitän Beuteler auf. »Gustow ist ein zuverlässiger Mann. Wir können in Ruhe alles besprechen, was anliegt.«
»Nun, Kapitän, am dringendsten scheint mir zu sein, endlich jenen Zwischenfällen auf den Grund zu gehen, ehe die Passagiere durch das Gerede, das immer wieder zu hören ist, beunruhigt werden. Auf den letzten Fahrten ist so einiges passiert, was wir bis jetzt nicht – auch nicht in Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden – aufklären konnten.«
»Sie meinen den Todesfall? Oder die Bisse, die einige der Gäste vorweisen konnten? Oder auch jenes geheimnisvolle Gespenst, so nannten das auf der letzten Reise einige Passagiere, das nächtens durch das Schiff geistern soll?«
Der Kapitän deutete auf den Tisch. »Aber bedienen Sie sich doch bitte.« Stojanow wusste, dass Dr. Beuteler einen guten Sliwowitz über alles schätzte. In seiner Heimat Bulgarien gab es davon eine große Auswahl; er hatte eines der besten Zwetschgenwasser mitgebracht, die es seiner Meinung nach auf dem Balkan gab.
»Danke!« Der Arzt bediente sich nur zu gerne; der Kapitän freilich lehnte mit dem Hinweis: »Bin im Dienst.«
»Die Sache ist die«, begann Beuteler, »Ich habe in Wien einen – sagen wir mal – Spezialisten für Unerklärliches konsultiert. Es ist dieser berühmte Parapsychologe Professor Frederic Hansjakob, ein Schüler des großen Freiburger Spezialisten Hans Bender, der leider nicht mehr lebt. Mein Gewährsmann ist auf eine verblüffend einfache Erklärung gestoßen, die so auf der Hand liegt, dass ich mich ärgere, nicht selbst darauf gekommen zu sein.«
»Wenn es das ist, was ich in Sofia in Erfahrung bringen konnte, dann bin ich bereits bestens darauf vorbereitet. Denn auch ich habe recherchiert, weil ich mir so meinen Gedanken mache. Aber lassen Sie hören!«
»Nun, unser Ziel ist das Donaudelta und damit sind wir geradewegs auf dem Weg nach Rumänien. Und wenn ich an Rumänien denke, wer fällt mir da sofort ein?«
Beuteler sah Kapitän Stojanow fragend an. Dieser lächelte:
»Sind Sie mir bitte nicht böse, aber genau diese Auskunft habe ich am Institut für Psychologie in Sofia, das sich auch mit unerklärlichen Phänomenen befasst, auch erhalten. Dracula – das ist das Stichwort, nicht wahr?«
»Warum sollte ich Ihnen deswegen böse sein? Wenn zwei auf unterschiedlichen Wegen zum gleichen Resultat kommen, dann, scheint mir, ist dessen Wahrheitsgehalt umso größer. Gibt es denn auf diesem Schiff ein Crewmitglied, auf den die Verdachtsmomente zutreffen könnten?«
Der Kapitän war aufgestanden und hatte einen Einbauschrank geöffnet, der mit einem schweren Schloss gesichert war.
»Ein klares Nein zu Ihrer Frage«, sagte er, während er dem Schrank einige Gegenstände entnahm. Er drehte sich um und reichte Beuteler eine schwere Pistole.
»Vorsicht, sie ist geladen! Mit geweihten Silberkugeln, dazu hat man mir geraten. Und hier habe ich auch noch weitere Munition: zwei Ersatzmagazine mit je acht Patronen. Das sollte ausreichen.«
»Prima! Ist das alles?«
Irgendwie schien der Arzt nicht zufrieden mit dem zu sein, was man ihm zeigte.
»Haben Sie etwa keinen …«
»Sie meinen einen Holzpflock, den man einem Blutsauger ins Herz treiben soll? Nein, den gibt es hier auf dem Schiff nicht!«
Der Schiffsarzt runzelte die Stirn: »Ja, aber sagt man nicht, dass …«
Kapitän Stojanow lachte hellauf. »Das sagt man, in der Tat. Tatsache ist, dass jedes Lebewesen stirbt, wenn man ihm einen Pflock ins Herz treibt. Und warum ausgerechnet die Vampire da besonders empfindlich sein sollen, dafür gibt es keinen Beweis. Ich halte das für reine Erfindung.«
Das genügte Dr. Beuteler nicht. »Also ist das wirklich alles?«
»Natürlich habe ich einige Kanister mit geweihtem Wasser«, versicherte der Kapitän. »Dazu einige Silberkreuze bzw. versilberte Kreuze, denn die anderen sind zu teuer, das zahlt die Reederei nicht.«
»Und in der Küche«, ergänzte der Arzt. »da wird brav mit Knoblauch, viel Knoblauch gewürzt, oder?«
»Aber selbstverständlich! Chefkoch Dariow weiß Bescheid und ist bestens vorbereitet, selbst dann, wenn jemand den Knoblauch roh essen will. Wir haben genügend an Vorrat dabei.«
»Prima«, stellte der Arzt fest und genehmigte sich noch einen Schluck Sliwowitz. »Der ist übrigens von ausgezeichneter Qualität. Bleibt nur die Frage, wie wir feststellen, wer derjenige ist, gegen den wir etwas unternehmen müssen.«
Der Kapitän zögerte kurz, dann meinte er: »Natürlich wäre es das Beste, wir würden ihn sozusagen in flagranti erwischen. Aber das können wir natürlich nicht unseren Passagieren zumuten, denn dann wäre einer von ihnen direkt betroffen.«
»Hm, ich verstehe diesen Standpunkt. Aber wie können wir erreichen, dass sich jemand mit jenen Anlagen zu erkennen gibt?«
»Da weiß ich im Augenblick auch nicht weiter«, gestand Stojanow. »Auf jeden Fall sollten Sie, wie immer, Ihren Vortrag halten, damit das Thema den Gästen an Bord bekannt gemacht wird.«
Und dann sprachen die beiden von anderen Dingen, über den Einkauf von Medikamenten und ähnliche Erfordernisse.
*
Der Ausflug nach Linz, der oberösterreichischen Hauptstadt, geschah bei glühender Hitze. Morgens, beim Verlassen der Schiffes, hatte es bereits 26 Grad Celsius, was sich bis zur Mittagszeit, als die Ausflügler zum Schiff zurückkehrten, bis auf 33 Grad steigerte. Und das mit der Aussicht, dass die Temperatur gegen 15 Uhr mindestens 38 Grad erreichen würde.
So interessant die Stadt war, Angelika und Xenia, die an einer Stadtbesichtigung teilgenommen hatten, kamen total zerschlagen zurück aufs Schiff.
Zu ihrer Verblüffung schien die Hitze Jonny, wie ihn nun alle am Tisch nannten, aber dabei immer noch beim »Sie« bleibend, rein gar nichts auszumachen. Je heißer es wurde, desto wohler schien er sich im Gegenteil zu fühlen.
Zwischen Mittag und 16 Uhr, zu dem Kaffee und Kuchen angesagt waren, verbrachten die meisten Passagiere auf dem Panoramadeck. Die Crew hatte weitflächige Markisen aus Segeltuch aufgespannt, unter denen es ausreichend Schatten gab. Das zusammen mit dem leichten Fahrtwind, sowie reichlich alkoholfreie Getränke machten die Hitze erträglich,
Die Fünfergruppe um Angelika und Xenia hatte sich wieder an einem gemeinsamen Tisch zusammengefunden. Die beiden erzählten von ihrem Stadtrundgang, Jonny und Frau Faszl, die es sich vormittags auf einer Bank
am Ufer neben der Anlegestelle bequem gemacht und dort die mitgebrachten Familienunterlagen der Familie des Münchner Immobilienmaklers studiert hatten, hörten aufmerksam zu.
»Inge hat wahrhaftig eine aufregende Art, Familiengeschichte zu recherchieren«, sagte Jonny anschließend. Er duzte Frau Faszl, was Angelika verblüfft zur Kenntnis nahm.
»Ihr …,« begann sie und wurde sofort unterbrochen.
»In der Tat,« erklärte Jonny. »In der Tat hat mir Frau Gräfin das Du angeboten. Und da habe ich natürlich, welche Ehre!, nicht ablehnen können. Ich habe mit Freuden zugestimmt.«
»Frau Gräfin?« fragte Frau Schmitz-Wellinghausen und sah die alte Dame durchdringend an. Und »Wie bitte?« fragten Angelika und Xenia uni sono.
Die Person, um die sich im Augenblick alles drehte, war leicht verlegen, das erkannte man an ihren leicht geröteten Wangen, doch dann sagte sie nach einer kurzen Pause:
»Ich kann nichts dafür, ich bin halt eine geborene Gräfin von Faszl. Meine Eltern haben mich mit den Vornamen Ingeborg-Ingelore-Ingelinde versehen, schrecklich, nicht wahr? Ich bevorzuge das einfache ›Inge Falz‹. Und wenn ihr alle einverstanden seid, dann bleiben wir an unserem Tisch beim Du.«
»Dann muss ich auch noch etwas zu dieser Angelegenheit beitragen,« schloss sich Frau Schmitz-Wellinghausen an. »Ich bin getauft als Eugenie, einen Namen, den ich abgrundtief hassen gelernt habe, denn in der Schule war ich Zielscheibe für jeden Menge Spottverse. Wenn ihr wollt, könnt ihr – ach was, ich bin die Jenny.«
»Prima«, sagte Jonny. Und damit war alles geregelt. Am Nebentisch begann Herr Fischbaum nach dem übermäßigen Genuss von Bier zu schnarchen.
»Ich denke, so schnarchten in der Heimat der Familie meiner Mutter im Baltikum die Braunbären beim Winterschlaf«, bemerkte Inge. Und alle brachen in ein lautes Gelächter aus, was den Schläfer auf nicht stören konnte.
Und mit einem Mal dachte niemand mehr daran, sich bei Jonny nach den Ergebnissen seiner Recherchen zu erkundigen.
*
Angelika kannte ihre Freundin Xenia als eher zurückhaltend, die sich nicht immer und sofort anderen gegenüber öffnen konnte. Doch hier, an diesem Tisch Sieben, wie ihr Platz im Speisesaal gemäß Aushang ausgezeichnet war, war sie nach dieser kurzen Zeit so locker, wie sie eigentlich selbst in ihrer Familie keiner kannte.
Der Grund war, Angelika staunte noch einmal und umso mehr, ein Mann. Und zwar ein Mann von der Bordcrew. Sie selbst hatte sich noch nie näher zu Frauen hingezogen gefühlt, als es eine innige Freundschaft zuließ. Dagegen hatte sie immer den Eindruck gehabt, dass sich ihre Freundin mehr für Frauen interessierte als gemeinhin erwartet wurde. Sie hatte sich diesbezüglich nie gegenüber Angelika geoutet oder war ihr zu nahe getreten, aber dieser Eindruck war immer präsent gewesen.
Und jetzt dieses unverhoffte Interesse an Arpad Gustow, dem Ersten Steuermann der »Danubia Queen«. Das war ein gestandenes Mannsbild, ohne Zweifel, aber so ganz ging Angelika da mit Xenia nicht konform. Freilich, die Geschmäcker waren – Gottseidank –verschieden; und wenn ihre Freundin bei Arpad das fand, was sie möglicherweise seit langem gesucht hatte, dann würde sich Angelika darüber herzlich freuen.
Diese neue Freundschaft war der Anlass, dass Xenia das Kloster Melk nicht besuchte; sie blieb auf dem Schiff, da Arpad Dienst hatte. Angelika hatte mit Jonny eine Besichtigung des Stifts gebucht, während Inge und Jenny sich zu einem ausgiebigen Besuch eines original österreichischen Caféhauses entschlossen hatten.
Jonny stellte sich immer mehr als sehr gebildeter Mann mit einer Weltläufigkeit dar, wie es Angelika bis jetzt noch nie erlebt hatte. Sie hätten glatt auf die offizielle Führung durch die Klosteranlage verzichten können, denn der Makler aus München kannte sich bestens aus und konnte sogar hier und da Ergänzungen zu den Erklärungen der Führerin anbringen. Insbesondere zum berühmten Melker Kreuz in der Schatzkammer mit seinen Edelsteinen und Perlen wusste Jonny zum Beispiel, dass der ‚Splitter vom Kreuz Christi‘ in die Melker Kostbarkeit erst im achten Jahrhundert eingefügt worden war.
»Splitter dieser Art gibt es so viele, dass davon hunderte von Riesenkreuzen zusammengefügt werden könnten«, sagte er und fügte ein wenig spöttisch hinzu: »Hauptsache ist wohl immer noch, dass die Leute daran glauben.«
Damit nahm er Angelika bei der Hand und zog sie zum Ausgang der Schatzkammer.
»Lass uns in den Park gehen«, schlug er vor. »Die Führung dauert nach Plan noch eine gute Stunde. Es ist schöner, wir setzen uns in den Schatten und genießen die frische Luft hier auf der Anhöhe.«
Und in der Tat war es angenehm, auf der Bank zu sitzen. Irgendwann fand seine Hand die ihre, das geschah ganz selbstverständlich. Und sie merkte, dass ihr diese Nähe gut tat.
»Ich habe diese Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen, deswegen bin ich hier, sonst hätte ich nie daran gedacht, mit einem Kreuzfahrtschiff ins Donaudelta zu fahren. Und warum unternimmst du diese Fahrt?«
Damit drückte sie sich fest an ihn und streichelte seine Wange. Ja, sie mochte ihn. Und sie mochte es, dass er es merkte. Und dass er es merkte, erkannte sie an seiner Reaktion, denn er wandte sich ihr zu. Und ihre Lippen fanden sich zu einem ersten Kuss.
Freilich war das keine Antwort auf ihre Frage, die sie daher wiederholte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er; und als sie ihn erstaunt ansah, wiederholte er: »Ehrlich, ich weiß es nicht. Da ist etwas in mir, das mir sagt, ja mich drängt, diese Reise zu unternehmen. Und je weiter wir nach Osten kommen, desto stärker wird dieser Drang. Aber wenn du mich jetzt fragen möchtest, weswegen es diesen Drang, diese Sehnsucht gibt – ich kann dir diese Frage nicht beantworten.«
Sie saß da und sah ihn ungläubig an.
»Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüsste«, beteuerte er. »Und falls es mir auf dieser Fahrt klar wird, worum es genau geht, wirst du die erste sein, die es erfährt. Das verspreche ich dir.«
»Na gut«, sie erkannte, dass sie sich damit zufrieden geben musste. »Ich nehme dich beim Wort. Vielleicht ist das ja gar nicht so wichtig, zumindest nicht so wichtig wie die Tatsache, dass wir uns getroffen haben.«
Das sagte sie mit einem solch ernsten Unterton in der Stimme, während ihre Augen ihn anstrahlten, dass ihm klar sein musste, dass sie es ernst meinte.
»Ich bin auch sehr froh darüber«, sagte er. Und dann nahm er sie in seine Arme, und ihr erneuter Kuss wollte kein Ende nehmen. Bis sie durch ein Stimmengewirr in die Wirklichkeit zurückgeholt wurden. Der Rest der Passagiere war nach Ende der Führung ebenfalls in den Park gegangen und umstand nun ihre Bank.
»Das war besser als eine Liebeschnulze im Kino«, witzelte einer aus den hinteren Reihen, blieb aber wohlweislich versteckt, so dass er nicht zu identifizieren war. Aber damit wusste es natürlich jeder auf dem Schiff, dass die beiden ein Paar waren.
*
Am Abend gab es nach dem Abendessen, das wie immer von ausgesuchter Qualität war, einen Vortrag von Schiffsarzt Dr. Hans-Jürgen Beuteler zum Thema: »Der Vampir-Mythos – Was ist Legende und was ist Wirklichkeit?«. Das Ehepaar Fischbaum hatte während des Essens lauthals verkündet, an so einen Unsinn würden sie sowieso nicht glauben, und wer sich auch nur damit beschäftigte, zeige nur, dass er beschränkten Geistes sei. Sie also fehlten in der Lounge, ansonsten waren alle Gäste anwesend. Sogar der Kapitän hatte sich eingefunden. Und natürlich saß Arpad neben seiner Xenia, während der zweite Steuermann das Schiff beaufsichtigte. Xenias neuer Freund war etwas verspätet in die Lounge gestürmt, hatte ihn doch ein Problem im Materiallager etwas länger aufgehalten. Trotz der Eile wirkte er seltsam blass, so dass sich Xenia besorgt erkundigte, ob er sich wohl fühlte.
»Alles gut, alles gut«, sagte mit einem scharfen Akzent; davon abgesehen, war sein Deutsch makellos, sein Wortschatz erstaunlich groß. Normalerweise nahm das Schiffspersonal, abgesehen von den Stewards und Stewardessen an der Bar und im Service, an solchen Veranstaltungen für die Passagiere nicht teil. Aber Xenia hatte auf Anraten ihrer Freundin zunächst die Reiseleiterin Annegret Huber und dann auf deren Rat den Kapitän gefragt, worauf eine Ausnahmegenehmigung erteilt worden war.
Dr. Beuteler stellte den von Bram Stoker als Dracula zu einer Figur der Weltliteratur gemachten Fürsten Dracul, in Wahrheit Graf Vlad III Draculea, als historische Persönlichkeit dar, schilderte die damaligen politischen Verhältnisse auf dem Balkan und vermittelte so ein farbiges Bild des 15. Jahrhunderts in jener Region.
»Draculea war sein Beiname, das heißt ‚Sohn des Drachen‘. Allerdings gibt es auch eine Ableitung von Drac, was ‚Teufel‘ bedeutet. Demnach war ein anderer Beiname von ihm ›Sohn des Teufels‹. Er war in schwere Kämpfe mit den Türken verwickelt. Gefangenen und getöteten Türken ließ er die Köpfe abhacken, das brachte ihm einen weiteren Spitznamen ein, nämlich ›der Pfählet‹, in der Landessprache heißt das ›Zepesch‹. Wegen solcher Grausamkeiten war er weitum berüchtigt.«
Frau Schmitz-Wellinghausen meldete sich, brav mit der Hand aufzeigend.
»Stoker beschreibt Dracula als Vampir und somit als Blutsauger. Können Sie uns etwas dazu erzählen?«
Neben Xenia wurde Arpad unruhig: »Alles Unsinn!«, brummte er. »Das alles sind Märchen.«
Angelika hörte das mit dem einen Ohr, während sie mit dem anderen den Worten des Schiffsarztes lauschte. Dieser fuhr fort:
»Es gibt diese Behauptung, die solange nicht bewiesen oder widerlegt werden kann, solange wir nicht einen Vampir leibhaftig vor uns haben, der sein blutiges Werk verrichtet. Es gibt die sogenannte Vampirfledermaus, die ein veritabler Blutsauger ist. Warum also soll es das nicht auch beim Menschen geben? Zumindest sollte man das nicht ganz von der Hand weisen. Mir persönlich ist noch kein Vampir begegnet, ehrlich gesagt, wäre mir eine Vampirin lieber!«
Allgemeines Gelächter zeigte, dass die lockere Art seines Vortrags trotz des unheimlichen Themas bei den Passagieren gut ankam.
»Er ist vorsichtig«, sagte Jonny leise und drückte Angelikas Arm. »Und er hat recht damit. Wir wissen noch längst nicht alles. Und meist haben solche Erzählungen einen wahren Kern. Ich selbst … Ach, jetzt nicht. Später vielleicht.«
Er schwieg, während Angelika ihn erstaunt ansah. Zu zweiten Mal hatte er zu einer Erläuterung angesetzt und war mitten im Satz verstummt. Irgendetwas Geheimnisvolles umgab ihn. Aber dieses Geheimnis, egal welcher Art, machte ihn für sie eigentlich noch interessanter. Sie würde nachhaken, immer wieder, bis er herausließ, worüber er noch nicht sprechen wollte.
Beifall brandete auf; der Schiffsarzt hatte seinen Vortrag beendet. Angelika, ganz in Gedanken versunken, hatte den letzten Teil nicht mitbekommen. Aber Xenia, wenn sie nicht allzu verliebt mit Arpad geturtelt hatte, oder auch eine der beiden Frauen würden ihr den Rest erzählen können.
»Ach, noch eins!«, stoppte Dr. Beuteler die aufstehenden Gäste. »In unserer Schiffsbibliothek gibt es zum Thema ein interessantes Buch von einem österreichischen Militärhistoriker, Hans Edelmaier, der nicht nur das Leben des Pfählers, sondern auch die Lebensumstände, die Taktik der Türkenkriege usw. im Detail beschreibt. Sehr zu empfehlen! Ich bitte nur darum, das Buch pfleglich zu behandeln. Falls der eine oder andere von ihnen das Buch kaufen will, es ist in Deutschland und Österreich über jede Buchhandlung zu erwerben.«
Er hob das Buch hoch, auf dessen Titel ein Porträt des Grafen Vlad III. Zepesch zu sehen war.
*
In der Zentrale der » Internationalen Anti-Vampir Association« gab es wieder einmal eine Sondersitzung im kleinen Kreis. Dazu gehörten neben dem Generaldirektor Jean-Pierre Lefebre auch Dimitri Volkanov als zuständiger Abteilungsleiter Untere Donau und Desirée van Oppelen, die Koordinatorin Europa, der Abwehrchef Felice da Silva und sein vor Kurzem bestallter Vertreter Bô Smjörr sowie Dr. Gregor Muggensturm,als Leiter des Wissenschaftsreferats.
Lefebre eröffnete die Sitzung mit dem Hinweis auf eine anonyme Anzeige, die in der vergangenen Nacht in der Zentrale eingegangen war.
»Wieder einmal handelt es sich um die ›Danubia Queen‹. Es steht zu befürchten, dass es auf dem Schiff über kurz oder lang zu einer größeren Katastrophe kommen wird.«
Er reichte auf einem mehrfach kopierten Papier die abgeschriebene, telefonisch eingegangene Anzeige herum. »Der Anruf erfolgte in einem einwandfreien Deutsch, so dass davon auszugehen ist, dass sich eine Person entsprechender Nationalität gemeldet hat.«
»Na prima!«, sagte da Silva. »Das sind immerhin an die 150 Personen, die da in Frage kommen.«
»Könnte es sich um …?« Dr. Muggensturm wurde sofort von Bô Smörr unterbrochen.
»Bitte keine Namen! Auch nicht in diesem Kreis. Wir wollen hier niemanden enttarnen oder gar bloßstellen.«
»Aber diese Person gehört doch zu uns, und in diesem Saal hier sind doch nur Anwesende, die überall vollstes Vertrauen genießen …«
»Keine Namen!« beharrte jetzt auch der Abwehrchef da Silva auf dem Verbot. »Es hat schon die verrücktesten Sachen gegeben in unserem Gewerbe, das wissen Sie doch alle am besten. Wenn diese Person, die Sie meinen und von der wir alle wissen, etwas Wichtiges zu melden hat, dann wird sie das unter einem Code-Namen tun, wie verabredet. Keinesfalls aber wird das anonym erfolgen.«
Dimitri Volkanow, der bis dahin aufmerksam zugehört hatte, meldete sich nun zu Wort: »Wir sollten uns vielleicht erst einmal den Wortlaut des Telefonanrufs genauer ansehen. Ich lese vor:
›Gefahr in Verzug auf der »Danubia Queen«. Vertreter mehrerer V-Qualität an Bord, zumindest zwei, eventuell sogar mehr. Beobachten genügt nicht, bekämpfen ist notwendig. Bedenkliche Zwischenfälle bislang auf mehreren Fahrten, Polizei und Crew offensichtlich ratlos und hilflos. Erwarte erneute Probleme hinter Wien‹.
Soweit der aufnotierte Anruf. Was bedeutet das für uns?«
»Ernsthafte Schwierigkeiten werden vorausgesagt«, meinte Lefebre. »Aber von hier aus können wir nicht viel unternehmen. Haben wir in Wien eine Kontaktperson, die wir einschleusen könnten? Jemanden, der vertrauenswürdig genug ist, mit der Angelegenheit betraut zu werden?«
»Bedauerlicherweise, nein«, sagte Desirée van Oppeln, der die Pflege der Kontaktpersonen europaweit oblag. »Das einzige, was mir einfällt: Wir könnten in Passau bei diesem … Wie heißt er denn nur, ein Doppelname, der mir andauernd entfällt …«
»Meinen Sie diesen Rupert Geiss-Landmann?«, fragte Dr. Muggensturm, der bereits einmal mit diesem Herrn zusammengerasselt war, da er sich die herrische, aufbrausende Art des Passauer Kulturmenschen nicht hatte gefallen lassen.
»Genau den meine ich«, bestätigte Desirée, die ein wenig in diesen so sensiblen Wissenschaftler verliebt war, dies aber nie zugegeben hätte. Schon gar nicht hätte sie sich diesem in seine Untersuchungen vergrabenen Weltfremden offenbaren können. Schließlich sollte der Mann auf die Frau zugehen, oder?
»Keine schlechte Idee«, meinte da Silva. »Ich werde ihn kontaktieren. »Er ist schon so lange in unseren Diensten und kassiert dafür nicht wenig an Aufwandsentschädigung, da kann er auch mal etwas außer der Reihe für uns tun. Beobachten allein genügt in der Tat nicht immer, da hatte der anonyme Anrufer zweifelsohne Recht.«
Und Muggensturm, der die Stadt Passau und besonders den Dom sehr schätzte, dachte: Eine gute Tarnung als ehemaliger Bahnangestellter hat er schon, dieser Herr, und dazu noch seine Position als Vorsitzender dieses Clubs von Fantasy-Enthusiasten – wer denkt da noch an die Möglichkeit, dass so jemand für die IAVA arbeitet, noch dazu als Beobachter vor Ort der Entwicklung im Bereich der deutschen Donau?
*
Der Tag in Wien, der österreichischen Hauptstadt, war eigentlich viel zu kurz für das vielfältige Angebot an Besichtigungs- und Besuchsmöglichkeiten. Während Xenia auf dem Schiff blieb, weil Arpad Reparaturarbeiten überwachen musste, schlenderte Angelika zunächst mit Jonny durch den Prater, um sich dann in die Innenstadt bringen zu lassen, wo der Stephansdom zu besichtigen war.
Vor dem berühmten Barockaltar drängten sich allerdings so viele Besucher, dass es mindestens eine Stunde gedauert hätte, um wenigstens so weit vorzudringen, dass sie die ganze Pracht vollständig hätten genießen können. Daher beschlossen Jonny und Angelika, lieber das Gotteshaus zu verlassen. Sie bewunderten den gotischen Turm von außen und bestaunten die romanische Westfassade, dann wurde ihnen das Gewusel auf dem Domplatz zu viel und sie suchten sich lieber etwas abseits vom großen Gewühle ein kleines Kaffeehaus. Denn auch das war Tatsache, informierte Jonny seine blonde Angebetete, dass selbst im »Sacher« der Kaffee nicht optimal war. Lohnenswert dagegen waren die kleinen Beisln, die sich noch große Mühe mit der Herstellung des braunen Gebräus gaben.
Das servierte Gebäck war von ausgesuchter Qualität und der Preis im Vergleich zu den großen, renommierten Cafés erstaunlich moderat. Sie genossen beide diesen Augenblick des gemeinsamen Genusses. Für Angelika schien nun der rechte Augenblick gekommen, ihren Begleiter Jonny nach jenen Andeutungen zu befragen, die sie neugierig gemacht hatten.
Jonny schien etwas überrascht über ihre Initiative, begann dann aber, wenn auch zögerlich, zu erzählen, dabei fasste er ihre Rechte, so als bedeutete ihm das Halt und Hilfe.
»Meine Mutter stammt aus Sankt Veit an der Glan, das liegt in Kärnten, und ist eine geborene Boldow. Sie war also Österreicherin, aber ihre Vorfahren stammten vom Balkan. Nach Einsicht in die Familienunterlagen, bei denen mir Inge Faszl sehr geholfen hat, stammt die Familie aus Transsilvanien. Und zwar ist ein Ort nachweisbar, der sich Dragovag oder Dragovacs oder so ähnlich schreibt.
Auf einem Atlas habe ich dieses Kaff, denn größer kann der Ort nicht sein, jedenfalls nicht finden können. Nach meinen Unterlagen soll es dort auch ein Schloss geben und darin – zumindest zu damaliger Zeit – einen Lehnsherren gegeben haben, der als ‚der dunkle Fürst‘ beschrieben wird. Was das beschreibt, weiß ich nicht. Allerdings gibt es eine Andeutung, dass es eine Verbindung meiner Familie ins Schloss gegeben haben könnte.
Auf jeden Fall sind die Vorfahren mütterlicherseits vor einigen Jahrhunderten von dort nach Westen gezogen auf der Suche nach besseren Lebensmöglichkeiten, denn in jener Region gab es regelmäßig Hungersnöte. Nur die fürstliche Familie lebte in Saus und Braus.«
Jonny machte eine Pause. »Magst du auch noch eine Melange?« fragte er. Angelika allerdings bevorzugte eine Capuccino, der neben all den österreichischen Kaffeespezialitäten auch serviert wurde. Während die sehr freundliche, etwas mollige Bedienung sich um die Bestellung kümmerte, schwiegen sie beide und schauten sich in die Augen.
»Du bist sehr hübsch«, sagte Jonny mit einem Mal. »Dieses Wort mag ich mehr als das banale ‚schön‘, das eher kalt wirkt. Man spricht ja auch von kalter Schönheit bei einer Frau. Du aber bist richtiggehend hübsch, voller Leben und Energie, voller Gefühl und Wärme. Das gefällt mir. Du gefällst mir.«
Mit diesen Worten erhob er sich, beugte sich über den Tisch und küsste sie. Dabei kam er der Bedienung ins Gehege, die gerade die bestellten Getränke brachte. Doch behende wich diese aus und wartete einen Augenblick, bis sich der sichtbare Gefühlssturm gelegt hatte.
Eine geschickte Art, dachte Angelika und nickte ihr dankbar zu. Sie sollte nachher ein ordentliches Trinkgeld bekommen, das nahm sie sich fest vor.
»Nun wieder zu mir«, hub Jonny an weiterzuerzählen: »Schon als kleiner Bub hatte ich seltsame Träume, in denen ich mich in fremdem Landschaften wiederfand: dunkle Wälder, einsame Berghöhen, einfache Hütten, in denen ärmliche Menschen wohnten. Und ich träumte, dass ich irgendetwas schluckte, was ich zuvor gegessen oder getrunken hatte. Um was es sich dabei handelte, weiß ich bis heute nicht, ich habe nur in Erinnerung, dass ich beim Aufwachen regelmäßig Tränen in den Augen hatte. Wohl aus Enttäuschung, dass man mir etwas weggenommen hatte, was ich brauchte oder unbedingt behalten wollte.
Mit Beginn der Pubertät, jetzt muss ich mich an Schilderungen meiner Mutter halten, scheinen sich diese Träume verloren zu haben. Ich selbst kann dazu nichts sagen, das ist wie ausgelöscht in mir. Dafür entwickelte sich in mir etwas Seltsames, was ich lange Zeit nicht deuten konnte.«
Er griff wieder nach ihrer Hand, als bräuchte er gerade jetzt wieder ihre Unterstützung. Und selbstverständlich überließ sie sie ihm gerne, denn sie mochte es, ihn bei sich zu fühlen.
»Es war ein Gefühl, das … Wie soll ich es beschreiben? Ich glaube, das kann ich gar nicht so genau. Irgendwie entgleitet mir das Wort, mit dem ich dieses Gefühl beschreiben will, immer wieder. Es ist wie ein Sehnen, ein sich hingezogen fühlen, ein Streben nach etwas, was ungesagt ist und damit unbekannt. Ich denke, dass es am Anfang lediglich ein dumpfes Ahnen war, sozusagen ganz im Hintergrund meines Jünglingseins, eigentlich noch gar nicht wahrgenommen und dennoch schon präsent und in gewisser Weise mich leitend. Davon habe ich natürlich in den jungen Jahren nichts gespürt. Ich weiß auch nicht, wie ich darauf reagiert hätte, wäre es mir bewusst geworden …«
Angelika hörte Jonny gebannt zu. Ja, sie hatte geahnt, dass es bei ihm irgendein Geheimnis gibt, etwas Intimes, worüber man gemeinhin nicht redet. Aber mit den Äußerungen, die sie gerade gehört hatte, hatte sie nicht gerechnet. Sie musste darauf eingehen und Jonny damit zeigen, dass dieses Problem, das ihn beschäftigte, auch für sie wichtig war. Ein Rätsel, das gelöst, ein Problem, das überwunden werden musste.
»Wann wurde dieses Gefühl, wie du es nennst, so prägnant, dass es dir bewusst wurde? Und konnten deine Eltern dir nicht helfen?«
»Meine Eltern, nein! Allein schon deswegen, weil sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Mein Vater starb noch an der Unfallstelle, er hatte den Wagen gefahren und war bei dichtem Nebel in einem Waldstück gegen eine Eiche geprallt, die jene Linkskurve beherrschte. Und meine Mutter war so schwer verletzt, dass sie zwei Tage später starb, sie war aus dem Koma nicht wieder aufgewacht. Das war an meinem fünfzehnten Geburtstag, ausgerechnet an meinem Geburtstag.«
Traurigkeit erfüllte Angelika. Sie hing sehr an ihren Eltern und konnte Jonnys Schmerz, der jetzt noch fühlbar war, nachempfinden. Spontan streichelte sie ihm über die Wange, und freute sich über das kleine Lächeln, das über sein Gesicht glitt.
»Ach, es ging mir eigentlich nicht schlecht, eine verwitwete Tante kümmerte sich um mich. Geld für meine Ausbildung war ausreichend vorhanden, was fehlte, war die familiäre Wärme. Denn Tante Lisbeth war eine verbitterte Frau, alle Gefühle, die sie aufbringen konnte, mündeten in eine gewisse erzieherische Strenge. Nicht, dass sie mir geschadet hätte!«
Er verstummte, hing kurz seinen Gedanken nach. Angelika sah sich um, das Café war nun gerappelt voll. In ihr Gespräch vertieft, hatten sie gar nicht bemerkt, welche Menschenmassen in das Lokal gedrängt waren.
»Wie ging es weiter?«, fragte sie. »Nochmal: wann bist du dir dieses Gefühls voll und ganz bewusst geworden?«
Ganz offensichtlich hatte sich Jonny in seinen Erinnerungen verloren. Sie stupfte ihn vorsichtig mit dem rechten Finger an; seine Haut am linken Arm fühlte sich kühl an. Er schrak auf.
»Ach so, ja! So ganz bin ich mir auch heute, hier in diesem Kaffeehaus, nicht sicher, wie dieses Gefühl zu beschreiben ist. Ich weiß, dass es mit jedem Tag mehr Besitz von mir nimmt; das ist besonders deutlich, seit wir von Passau abgefahren sind. Ich meine, kann es sein, dass die Reise das Ziel dieser Gefühlswallung ist? Oder wo liegt das Ziel dieser Reise?«
Er sah sie verwirrt und unglücklich zugleich an.
»Lass es für heute gut sein«, schlug sie vor. »Wir wollen noch ein wenig herumschlendern, Wien ist eine schöne, eine historisch reizvolle Stadt. Das sollten wir uns noch ein wenig gönnen, sowieso müssen wir uns in einer Stunde wieder auf den Rückweg zum Schiff machen.«
Rasch hatten sie gezahlt; die geschickte Bedienung wurde nicht vergessen. Sie waren kaum aufgestanden, da waren ihre Plätze bereits wieder belegt. Angelika nahm Jonny, der immer noch ein wenig geistesabwesend wirkte, bei der Hand. Als sie das Lokal verließen, versprach sie ihm:
»Wann immer du das Bedürfnis hast, mit mir über das Gefühl und deine Probleme damit zu sprechen, ich bin für dich da. Und einen stillen Winkel dafür finden wir immer, zum Beispiel in der Kabine.«
Und dankbar umarmte er sie, während die Massen der unzähligen Touristen sie umbrandeten.
*
In Schloss Dragovac herrschte große Aufregung. Ein Bote hatte die Nachricht gebracht, dass eine wilde Holzfällerkolonne in einem der fürstlichen Wälder mit dem illegalen Abholzen begonnen hatte. Das Gebiet lag ziemlich abseits der großen Straßen, in einer Gegend, in der noch Bären umherstreiften und Wölfe Jagd machten auf kranke und damit leicht zu packende Beute.
Die Wälder und damit das Holz ihrer Bäume waren der einige Reichtum der Fürsten von Dragovac, überkommen aus einer Zeit, als die Verbindungen zur Außenwelt noch schlechter waren als aktuell. Holzraub war etwas, was die Familie keineswegs dulden konnte.
Der Familienrat hatte sich im großen Saal des Schlosses, dem sogenannten Ahnenhort, versammelt und erörterte die Lage. Während der Fürst sich dafür aussprach, die Polizei hinzuziehen, hatte sein ältester Söhn, Mitri, dem sofort widersprochen.
»Nicht nur, dass Familienangelegenheiten die Anderen nichts angehen, ist es Tatsache, dass die Polizei einige Tage, wenn nicht gar Wochen braucht, um hier zu erscheinen. Das ist keine Lösung.«
»Und was also ist dann die Lösung, die du uns vorschlagen willst?« fragte Fürstin Constanta, die bereits ahnte, worauf alles hinauslaufen würde.
Mit blitzenden Augen sah Mitri sie an:
»Vater, wir schaffen das, da bin ich ganz sicher, aus eigenen Kräften!«
Fürst Georghiu sah in die Runde. Da saßen sie alle, seine Kinder, die Onkeln und Tanten, die Nichten und Neffen – eben alle, die mit ihm zusammen den Clan bildeten, der das Schloss Dragovac bewohnte.
Ein Großneffe, der eher kleinwüchsig als hoch gewachsen war, hob die Hand:
»Wir werden der Welt beweisen, dass wir nicht so sind, wie dieser dumme Autor aus Anglia uns beschrieben hat. Wir wissen doch, dass wir keine Nachtwesen sind, und wir wissen auch, dass wir das Blut der anderen nicht als Nahrung brauchen, sondern zur Auffrischung unseres Blutes. Wohlan, ich stehe bereit, für diese Blutreinigung zu sorgen. Quellen für den Nachschub stehen im Waldgebiet in ausreichendem Maße zur Verfügung. Wer von der Familie macht mit?«
Und alsbald reckten sich zahlreiche Arme empor, gleich ob männliche oder weibliche Clanmitglieder, alle wollten dabei sein. Endlich geschah etwas, an dem sie alle teilnehmen konnten. Außerdem: es lockte das Blut, frisches Blut. Daran wollten alle teilhaben.
Angesicht dieser Zustimmung, die wie eine Order aussah, konnte Fürst Georghiu nur noch zustimmen. Den illegalen Holzfällern sollte das Fürchten gelehrt werden.
*
Xenia und Arpad hatten den Tag auf der »Danubia Queen« verbracht. Auch wenn der Erste Steuermann dienstlich gebunden war, blieb doch genug Zeit, immer wieder nach »seinem Mädchen«, wie er es nannte, zu sehen. Obwohl die meisten Schiffsgäste in der österreichischen Hauptstadt unterwegs waren, gab es für den an Bord gebliebenen kleinen Rest dennoch ein Mittagessen, sogar ein sehr delikates. Nämlich ein original ungarisches Gulasch mit einer so sämigen Soße, dass Xenia nicht widerstehen konnte und sich beim Steward eine extra große Portion davon erbat, die sie zusammen mit einem kleinen Stückchen Brot mit dem Suppenlöffel genoss. Es war einfach wunderbar, und als Arpad sie danach an Deck und unter dem Sonnensegel zu einem großen Eis einlud, da war sie danach so satt, dass sie trotz der Hitze einschlief.
Als Angelika und Jonny wieder von ihrem Ausflug zurückkamen, fanden sie die beiden eng aneinander gelehnt in der Bibliothek, wo sie eine große Faltkarte mit dem gesamten Lauf der Donau studierten.
»Wollt ihr euch hier irgendwo niederlassen an der schönen blauen Donau?« fragte Angelika in Anlehnung an den berühmten Walzer.
»Nein, nein«, wehrte Xenia hastig ab, doch schien ihre Freundin sie doch etwas besser zu kennen, denn mit Genugtuung beobachtete sie, dass sich Xenias Gesicht dabei mit einer sanften Röte überzog. Sieh da, dachte sie, da ist doch etwas im Busch. Es würde sich lohnen, das weiter zu verfolgen.
Als das Kreuzfahrtschiff ablegte, die nächste Haltestation am kommenden Nachmittag war Bratislava, früher Preßburg, heute die Hauptstadt der Slowakei, war die Hitze soweit zurückgegangen, dass der Kapitän spontan verkündete, es würde ein Grillfest geben, während die »Danubia Queen« in die Dämmerung und die Nacht hineinfuhr.
An sich hatte Angelika Frau Faszl bitten wollen, sie über die wichtigsten Themen des zweiten Teils von Dr. Beutelers Vortrag zu informieren, doch über den Köstlichkeiten, die in fester und flüssiger Form serviert wurden, vergaß sie ihr Vorhaben.
Sie konnte eigentlich nur zustimmen, als neben ihr Frau Hannelore Fischbaum, die 65-jährige Rentnerin aus Remscheid, ihren Teller zurückschob und laut lostrompetete: »Also, jeden Tag kann ich das nicht! Ich fürchte, allein heute Abend habe ich mindestens drei Kilo zugenommen. Wenn es Vampire geben würde, diese Hirngespinste, dann würden sie heute auf diesem Schiff reiche Beute finden. Alle Passagiere liegen faul in ihren Betten, können sich mit ihren vollgefressenen Ranzen nicht bewegen und das Blut pulsiert wild durch die Adern. Aufgefrischt durch dieses Essen, das verboten gut geschmeckt hat.«
Wie Frau Fischbaum ging es ziemlich allen auf dem Schiff. Nur die Besatzungsmitglieder hatten sich zurückhalten müssen, sie bekamen ihre eigene Verpflegung. Und bedienen hatten sie auch noch müssen. Da hatten die Kalorien keine so große Chance, sich in Form von Speck auf die Hüften zu setzen.
Und dann war da noch einer, der Frau Fischbaums Ausruf mitbekommen und daraufhin beschlossen hatte, dass sie die erste sein sollte. Die erste unter mehreren Opfern im Verlauf der Reise. Wer sich so ungläubig zeigte und gleichzeitig so unverschämte Reden führte, dem durfte sich nicht wundern, wenn ihm das Gegenteil bewiesen wurde.
Es wurde Zeit für ihn. Jemand, der die Existenz der Vampire so vehement leugnete, war mit Sicherheit ein geeigneter Kandidat für die erste Blutmahlzeit auf dieser Fahrt.
*
Inge Faszl hatte das Grillfest an Bord nur so nebenbei zur Kenntnis genommen. Sie hatte sich etwas abseits unter einen Baldachin gesetzt, der wie geschaffen schien, hier den Abend zu genießen. Eine nette Stewardess, eine etwa 23-jährige Bulgarin mit einem so zierlichen Mädchenkörper, dass man sie glatt für eine pubertierende Jugendliche hätte halten können, wenn – ja, wenn da nicht ihr Gesicht gewesen wäre, in dem die Gräfin Faszl alles Leid des Balkans zu sehen glaubte.
Gegen Ende des Festes, als die Gäste müde herumsaßen, bat sie Petra, sich doch zu ihr zu setzen. Diese sträubte sich zunächst, da es dem Personal nicht erlaubt war, sich den Passagieren anzubiedern. Woraufhin Inge Faszl den Kapitän in der Menge suchte und auch fand und bei ihm eine Sondererlaubnis erwirkte.
Petra bestand darauf, den Kapitän selber zu fragen, ehe sie es sich erlaubte, neben der 80-jährigen aus Deutschland Platz zu nehmen. Jetzt erst akzeptierte sie auch den Apfelsaft und ein Sandwich, das Frau Faszl für sie hatte kommen lassen.
»Sie haben einen ganz entzückenden Akzent«, sagte die Deutsche. »Das klingt so gar nicht bulgarisch, zumindest in meinen Ohren.«
Petra errötete, sah sich vorsichtig um und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Sie haben ein wirklich gutes Gehör. Ich bin hier als Bulgarin, weil die Reederei nur Bulgaren einstellt, aber in Wahrheit bin ich Rumänin. Das darf niemand wissen, mein Pass ist falsch.«
»Als erstes gibt es jetzt etwas zu essen und zu trinken, für Nachschub kann ich sorgen«, sagte Frau Faszl und legte ihre Rechte auf die Schulter der jungen Frau, die anscheinend rätselte, was jene wirklich von ihr wollte.
Während Petra in das Sandwich biss, erkundigte sich die Gräfin zunächst nach der Familie, die – wie sie erfuhr – im transsilvanischen Dragovac wohnte und unter erbärmlichen Bedingungen leben musste. Es gab zu wenig Arbeit, und wenn es welche gab, dann war sie miserabel bezahlt. Denn die Fürstenfamilie schöpfte alles an Geld ab, was möglich war, um ihren im Vergleich aufwendigen Lebensstil zu finanzieren.
Petra war gehemmt, es war ihr anzusehen, dass es Dinge gab, über die sie nicht gerne sprach. Doch so viel erfuhr Inge Faszl, dass ein Geheimnis die Fürstenfamilie umgab. Petras Großmutter, Gott habe sie selig, habe immer davon gesprochen, dass die ganze Familie oben auf dem Schloss, dieser hemmungslose Clan, verflucht sei zu einem Leben in Verdammnis. Eine Verdammnis, die sie schon hier ereilte, auf die normale Menschen lieber nicht warteten, sondern in der Hoffnung lebten, ihr nach dem Ableben zu entgehen.
»Auf dem Friedhof des Schlosses, der den Dorfbewohnern von Dragovac verwehrt ist«, erzählte Petra, während sie den letzten Bissen des Sandwiches genüsslich kaute. »Auf diesem Friedhof soll es eine Grabstätte geben mit einem Gedenkstein, auf dem geschrieben steht: »Wenn dein Blut trocknet, ist dein Bett hier«. So hat es mir meine Großmutter erzählt, als ich zwölf Jahre alt war. Sie war einmal, nur einmal, auf dem Schloss und konnte den Friedhof besichtigen. Was damit gemeint ist, weiß ich allerdings nicht, sie konnte es mir nämlich auch nicht erklären.«
Nun hatte Frau Faszl etwas, worüber nachzusinnen sich lohnte. Wobei es auf diesem Schiff, wenn sie ehrlich war, genügend Ereignisse und Personen gab, über die sie nachdenklich stimmten.
Als Petra sich mit mehrmaligem ‚Danke, danke‘ verabschiedete, blieb eine nachdenkliche alte Dame zurück. Sie erinnerte sich mit einem Mal an ihre Jugend und an ihr früheres Leben in … Sie verscheuchte flugs diese Gedanken. Es würde genügend Gelegenheit geben, darüber mit ihren Tischnachbarn zu sprechen, davon war sie überzeugt.
*
Angelika und Jonny waren auch nach Ausklang des Grillabends noch beisammen gesessen und hatten, abgesehen vom Zweite Steuermann, der die nächtliche Verantwortung im Ruderhaus übertragen bekommen hatte, als letzte das Promenadendeck verlassen. In der lauen Nacht bildeten die Auenwälder links und rechts an den Ufern eine leicht unheimliche Kulisse, die durch den einsamen Ruf einer Eule noch verstärkt wurde.
Jonny brachte Angelika zu ihrer Kabine und wie es der Zufall wollte, erblickte Angelika schon von weitem ihre Freundin, die Arpad in ihre Kabine zog. Xenia hat es aber eilig, schoss es ihr durch den Kopf. Aber warum sie und nicht ich?
»Komm!« sagte sie kurz entschlossen vor der Kabinentür. »Ich mag heute Nacht nicht alleine sein. Ich will dich endlich näher bei mir haben, dich spüren, du weißt schon.«
Und Jonny folgte spontan dieser Einladung, obgleich er gewöhnlich sehr viel längere Zeit für solche Entschlüsse benötigte. Aber die drei Glas Wein und vor allem dieser leichte Duft, der von seiner Begleiterin, seiner Freundin, korrigierte er sich, ausging und sie quasi umschwebte, nahmen ihm die Entscheidung ab.
So kamen die beiden erst ziemlich spät am nächsten Morgen in den Speisesaal, wo wie immer das Frühstücksbüffet aufgebaut war. Und sie kamen rechtzeitig, um einen unerwartet heftigen Auftritt von Frau Hannelore Fischbaum mitzuerleben.
Völlig aufgelöst kam diese Dame aus Remscheid hereingestürzt und schrie lauthals, damit es auch wirklich jeder hören konnte: »Hilfe, Alarm, wer kann mir helfen?«
»Was ist denn los mit Ihnen?«, fragte Jonny, der direkt neben ihr stand. »Ich würde Ihnen ja gerne helfen, wenn ich nur …«
»Hier, sehen Sie!« Frau Fischbaum öffnete unter zartem Erröten den zweiten Knopf ihrer Bluse »Sehen Sie!«
Sie deutete auf ihren Hals, wo in der Tat ein leuchtend rotes Mal erkennbar war, an dem zwei Blutstropfen hingen, einer links und einer rechts, sozusagen symmetrisch.
Wie von den Bissspuren zweier spitzer Zähne, dachte Angelika, sehr spitzer Zähne, und merkte gar nicht, dass sie ihre Gedanken laut geäußert hatte.
»Ich bin gebissen worden, jetzt können es alle sehen!« schrie Frau Fischbaum nochmals gellend. »Es sind Monster an Bord, Ungeheuer, die es auf mein Blut abgesehen haben«, und wurde im gleichen Augenblick von Dr. Beuteler am Arm gefasst und aus dem Speisesaal weggeführt.
»Ich werde mir das im Ärztezimmer näher ansehen«, versuchte er die aufgeregte Passagierin zu beruhigen. »Wir werden alles tun, um Ihnen zu helfen.«
Das hatte ihnen, ihm und dem Kapitän und natürlich der ganzen Crew, noch gefehlt! Wieder so ein Zwischenfall, jetzt auch auf dieser Reise.
Im Speisesaal brandete inzwischen lautes Gerede auf. Angelika spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Xenia stand hinter ihr, sie war gerade erst im Restaurant angekommen.
»Was ist denn hier los?« fragte sie. »Ist Frau Fischbaum schlecht geworden? Seekrank kann sie ja nicht geworden sein, hier auf der Donau, soviel Wellengang haben wir nicht.«
»Ich denke, bei Sturm sähe das anders aus«, sagte Angelika. Jonny neben ihr wirkte etwas verstört, er folgte seiner Freundin wortlos, als diese Xenia beiseite an das Steuerbordfenster führte. Dort war mehr Ruhe und man konnte sich besser unterhalten.
»Es scheint«, begann Angelika und sah sich rasch um, denn sie wollte nicht, dass ihr jemand zuhörte. »Es scheint, dass die gute Frau heute Nacht eines Besseren belehrt wurde. Wie es aussieht, haben wir einen Vampir an Bord.«
»Aber die sind doch nur Märchenfiguren«, erwiderte Xenia. »Da schüttelt es mich ja gleich, wenn ich nur daran denke. Stell dir vor, so jemand hätte dich angefasst und nachher kommt raus, dass er ein blutsaugendes Ungeheuer ist …«
»Ich weiß nicht, ob man …«, Jonny mischte sich ein, er wirkte verwirrt. »Ich meine, vielleicht war es doch etwas anderes? Ein Insekt oder vielleicht gibt es ja auch Ratten an Bord …«
Aber Angelika war sich sicher: »Hundertprozentig war das ein Vampir. Man konnte ja sogar die Spuren des Gebisses, ich meine der einzelnen Zähne, erkennen.«
Xenia schauderte es. »Bin ich froh, dass Arpad heute Nacht …« Sie begann zu stottern, doch das Lachen ihrer Freundin nahm der Situation die Peinlichkeit, die sich aufzubauen drohte.
»Ich weiß doch, dass Arpad heute Nacht bei dir war. Wir haben Euch beide gesehen, ich meine, Jonny und ich. Denn auch wir waren zusammen. Das ist doch normal, oder?«
»Das denke ich auch«, bekräftigte Jonny. »Wollen wir weiter frühstücken oder habt ihr etwas anderes vor?«
Sie gesellten sich zu Anderen, die bereits eifrig den morgendlichen Köstlichkeiten zusprachen. Denn auch Frau Faszl hatte sich jetzt zu ihnen gesellt und Jenny war in ihrem Schlepptau erschienen.
»Wollen wir uns nachher zusammensetzen?« fragte Inge Faszl, die Gräfin, an die Adresse von Angelika. »Du hast ja den Vortrag von Dr. Beuteler nicht voll mitbekommen. Ich erzähle dir gerne, was du wissen willst.«
Und so verabredeten sie sich für zehn Uhr auf dem Promenadendeck. Für halb elf war eine Wiener Kaffeestunde angekündigt, das passte also ganz hervorragend.
*
Eugenie Schmitz-Wellinghausen wurde gesucht; sie befand sich in der Bibliothek, wo sie sich in eine Monographie über »Transsilvanien und seine Mythen« vertieft hatte, die sie neben dem Buch von Edelmaier entdeckt hatte. Das Buch über den Wojwoden der Walachei stand bei ihr zu Hause im Schrank, das musste sie sich nicht ansehen. Transsilvanien allgemein war allerdings ein Thema, mit dem sie sich nie intensiv beschäftigt hatte, obwohl ja dieser Teil Rumäniens mit seinen waldreichen Regionen die eigentliche Heimat der Vampire war, was manche Skeptiker als reinen Mythos abtaten.
Hier entdeckte sie Frau Huber, die Reiseleiterin.
»Es gibt für Sie einen Anruf über Funk. Kommen Sie bitte ins Ruderhaus, der Kapitän wartet auf Sie.«
Das alarmierte Frau Schmitz-Wellinghausen. Schließlich hatte sie ein Handy dabei, das allerdings zugegebenermaßen nicht überall Empfang hatte. Aber ein Anruf über Funk … Das hatte etwas zu bedeuten und meist nichts Angenehmes.
»Ich gehe solange spazieren, das Ruder ist auf Autopilot«, sagte Kapitän Sojanow zur Begrüßung. »Und Wassili«, er deutete auf den Matrosen, der still in der Ecke saß, »kann das Ruder übernehmen, wenn das nötig sein sollte. Und seien Sie unbesorgt, er versteht kein Deutsch.« Damit übergab er ihr den Hörer.
»Hier spricht Dr. Gregor Muggensturm von der Firma, Sie wissen schon. Wir mussten diesen Weg der Kommunikation wählen, weil heutzutage fast alle Handys nicht mehr abhörsicher sind.«
»Ist schon gut«, sagte sie. »Ich höre zu, was steht an?«
»Direktor Lefebre hat mich offiziell beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass Sie die Erlaubnis haben, Ihre wahre Identität zu offenbaren, falls dies nötig sein sollte. Gemeinhin ist Ihnen das strikt untersagt, ich weiß, aber es kann sein, dass die Lage auf der ‚Danubia Queen‘ eskaliert. Wie wir inzwischen wissen, gibt es neben der eigentlichen Gefahr – Sie wissen, was oder wen ich meine – auch eine Person, die wir gemeinhin als ‚V‘ bezeichnen. Ihn, denn es handelt sich um einen Mann, gilt es vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren, auch wenn er – wie üblich – eigentlich das Gegenteil anstrebt. Doch er weiß nicht, was ihn in einem solchen Extremfall erwarten würde. Und außerdem gibt es Anzeichen für einen größeren Zwischenfall, der zur Eskalation führen könnte.«
Eugenie Schmitz-Wellinghausen merkte, dass ihre Hand, die das Telefon hielt, zu zittern begann. Jetzt war er da, der Ernstfall, auf den hin sie ausgebildet und hier auf dem Schiff eingesetzt worden war. Jetzt war es so weit.
»Ich verstehe«, sagte sie. »Ich habe gerade heute, vor wenigen Stunden, auch einen Zwischenfall registrieren müssen, bei dem es zu einer Intervention durch die reale Gefahr gekommen ist. Soll ich einschreiten?«
»Nein, halten Sie sich da raus«, befahl Dr. Muggensturm. »Aber es wäre wahrscheinlich die richtige Gelegenheit, den Kapitän einzuweihen. Und eventuell einen zweiten Mann an Bord, denn ich nehme an, dass an Deck Vorbereitungen getroffen worden sind, sich der Gefahr zu erwehren.«
»Ich verstehe«, sagte Jenny zum zweiten Mal, denn was hätte sie sonst antworten sollen. »Soll ich sonst noch auf etwas achten?«
»Ihr Augenmerk sollte seltsamem Verhalten gelten, positiv wie negativ gleichermaßen. Jede Einzelheit kann wichtig sein, um eine der beiden Gefahren beziehungsweise im Idealfall alle beide zu identifizieren. Sobald es soweit ist, zögern Sie nicht, dagegen mit allen Mitteln vorzugehen, die verfügbar sind. Und vor allen Dingen: Infomieren Sie uns!«
Sie wollte gerade auflegen, da hörte sie noch Dr. Muggensturm sagen: »Prüfen Sie bitte genau, welche Vorbereitungen das Schiffspersonal für solche Fälle getroffen hat. Und bedienen Sie sich ihrer im Notfall. Adieu! Und warnen Sie, dass es eventuell einen ernsten Zwischenfall, einen Akt der Piraterie geben kann, der das Schiff und die Menschen darauf aufs Äußerste gefährden würde.« Sie machte sich auf die Suche nach dem Kapitän.
*
Jonny war an diesem Morgen sehr verunsichert. Das Zusammensein mit dieser wunderbaren Frau gab ihm so viel, dass er hätte weinen mögen. Aber er musste sich zusammenreißen. Denn er merkte, dass etwas in ihm sich wandelte, dass er auf dieses Gefühl der Sehnsucht immer intensiver, immer positiver zu reagieren begann. Er hatte inzwischen die Vorstellung, am sogenannten Eisernen Tor, jener Stromenge der Donau mit den inzwischen gezähmten Stromschnellen, die einst von den Schiffern so gefürchtet wurden, das Schiff verlassen zu müssen.
Er hatte sich an der Rezeption der »Danubia Queen« eine Übersichtskarte über den gesamten Verlauf der Donau von ihrer Quelle im Schwarzwald bis zum Delta ins Schwarze Meer besorgt. Das genaue Studium der Eintragungen in die Karte hatte für ein wenig Klarheit gesorgt. Unmittelbar hinter Dobovac mündete die Nera in die Donau und genau da begann rumänisches Gebiet. Hier musste er versuchen, den Weg nach – ja wohin? – zu finden.
Noch wusste er nicht, wohin ihn der weitere Weg führen würde, doch dass er diesem Ruf, der in seinem Inneren immer stärker und fordernder aufklang, folgen musste, das stand inzwischen für ihn außer Frage.
Doch da war Angelika, seine Angelika, diese junge Frau, in die er bereits nach wenigen Tagen des Beisammenseins verliebt war wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Er wusste, dass er nicht umhin konnte. Er musste mit ihr alles genau durchsprechen. Vielleicht, das war seine geheime Hoffnung, wusste sie eine Lösung, wie er sich verhalten sollte. Frauen, das hatte er im Laufe seiner bisherigen Berufsjahre erfahren, fanden manchmal ganz andere, überraschende Wege aus Problemen.
Er machte sich also auf die Suche nach Angelika.
*
Für Kapitän Stojanow war es ein Schock, als er erfuhr, dass eine der Passagierinnen Opfer der nächtlichen Umtriebe geworden war. Dr. Beuteler hatte ihn, noch ehe er sich intensiv mit der Wunde am Hals von Frau Fischbaum beschäftigte, in aller Eile informiert.
»Tun Sie alles, was in Ihrer Macht steht, um dieser Frau zu helfen und sie zu besänftigen. Ich werde die Reederei umgehend informieren, damit sie mir freie Hand gibt – auch was die finanziellen Mittel angeht. Und versuchen Sie, diese Neuigkeit soweit es geht zurückzuhalten.«
»Ich fürchte, dafür ist es längst zu spät«, bedauerte der Schiffsarzt. »Was während des Frühstücks passiert, macht in Windeseile die Runde bei den Passagieren und bei der Besatzung.«
»Kommen Sie bitte nachher zu mir, damit wir die weitere Vorgehensweise besprechen«, bat Stojanow. Er wusste, es musste schleunigst etwas geschehen, sonst würden die Passagiere unruhig werden.
Bata Smirnow, einer der Bootsmänner auf dem Kreuzfahrtschiff, erschien an der Tür des Ruderhauses.
»Kapitän, ein Gast möchte Sie dringend sprechen. Ich habe versucht, sie aufzuhalten, aber sie lässt sich nicht beirren. Es sei äußerst dringend, sagt sie.«
Stojanow schüttelte es innerlich. Auch noch eine Frau! Wahrscheinlich wollte sie sich beschweren und wurde möglicherweise auch noch hysterisch. Das konnte er nun überhaupt nicht gebrauchen.
»Ich habe keine Zeit«, sagte er. »Sagen Sie ihr das!«
In diesem Augenblick wurde Smirnow, der bei Gott kein kleiner Junge war, so energisch beiseitegeschoben, dass er gegen den Türrahmen knallte und vor Schmerz das Gesicht verzog.
»Wenn ich sage, äußerst dringend, dann ist das so und kein bloßes Gerede, Herr Kapitän! Ich bin Frau Schmitz-Wellinghausen und in offizieller Funktion hier.«
Damit schloss sie die Tür vor Smirnows Nase und stand im Ruderhaus vor dem Kapitän, der überrascht worden war von dem energischen Auftreten der Dame. Das kannte er zu Hause in Sofia eigentlich nur von seiner Ehefrau Marya; ansonsten zollte man seinem Dienstrang überall vollen Respekt.
»Ich hoffe, wir können hier ungestört reden«, sagte Eugenie Schmitz-Wellinghausen und hielt dem Kapitän einen Ausweis vor die Nase.
»Wie Sie sehen, bin ich die offizielle Beauftragte der IAVA und damit, wenn Sie wollen, im Auftrage der europäischen Behörden wie etwa Europol im Einsatz. Ich bitte Sie um eine halbe Stunde Ihrer kostbaren Zeit, damit ich einige wichtige Dinge mit Ihnen abklären kann.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Stojanow. »In wessen Auftrag sind Sie auf diesem Schiff? Mir ist nichts bekannt von einer amtlichen Intervention, gleich von welcher Seite.«
Schmitz-Wellinghausen atmete einmal tief durch. Überall war es dasselbe: Da es offiziell keine Vampire geben durfte, gab es also offiziell auch keine IAVA, denn sie war ja unnötig.
»Die Internationale Anti-Vampir Association, abgekürzt IAVA, ist eine Gründung des Europarates in enger Abstimmung mit UNO und UNESCO. Wir sind eingerichtet worden, um die angestrebte Weltherrschaft der Vampire zu verhindern.«
»Habe nie davon gehört!«
»Können Sie auch nicht, da wir uns nur im Notfall zu erkennen geben und notfalls unsere Arbeit inkognito verrichten.«
Inzwischen hatte der Kapitän den Ausweis aufmerksam studiert.
»Kam dieser Anruf über Funk aus Ihrer Zentrale?« fragte er. Und: »Hat Ihr Auftauchen etwas mit den Zwischenfällen auf diesem Schiff zu tun? Und falls ja, was hat das zu bedeuten? Ist Gefahr im Verzug?«
Was für eine naive Frage, dachte Eugenie Schmitz-Wellinghausen.
»Selbstverständlich!«
Und sie setzte ihm auseinander, dass man befürchtete, die Vampire könnten versuchen, sich eines der Schiffe auf der Donau zu bemächtigen und dann damit auf weiteren Beutezug, neuem Blut also, zu gehen, nachdem die Passagiere der »Danubia Queen« allesamt zu Blutopfern gemacht worden waren.
»Die Vampir-Geschlechter weltweit sind in einer Notlage«, sagte sie. »Sie leiden buchstäblich an Auszehrung und benötigen viel, allzu viel Neublut, um für eine Auffrischung zu sorgen. Wir rechnen damit, dass irgendwo vor uns auf der Donau dieses Schiff gestoppt wird. Dem steht nicht entgegen, dass es offensichtlich auf diesem Schiff auch einen einzelnen Vampir gibt, der auf Beute aus ist. Aber das steht in keinem Zusammenhang mit dem, was wir befürchten.«
»Sie meinen, dass wir jemanden unter uns haben, der ohne Absprache mit den anderen Blutsaugern handelt?«
»So ist es, Herr Kapitän. Und natürlich müssen wir auch ihn stoppen. Ich hoffe sehr, Sie haben Vorbereitungen getroffen für einen solchen Fall?«
Und mit Genugtuung erfuhr die IAVA-Beauftragte, dass der Kapitän in der Tat vorgesorgt hatte und einiges in petto hatte, was im Notfall gegen einen Blutsauger eingesetzt werden konnte. Und sie vernahm, dass der Schiffsarzt Dr. Beuteler weitere Einzelheiten mit Stojanow bereits besprochen hatte. Ein Verbündeter mehr – das konnte nie schaden.
*
Angelika saß mit Xenia zusammen, als sich Jonny zu ihnen gesellte. Xenias Wangen glühten, denn gerade hatte sie ihrer Freundin von der Nacht mit Arpad erzählt. Es musste heiß hergegangen sein in der Nachbarkabine, und Angelika war sich ziemlich sicher, dass Xenia, die sonst so schüchterne, ihr höchstwahrscheinlich nicht alles berichtete. Aber, schoss es ihr durch den Kopf, das musste sie auch nicht. Privatleben war schließlich Privatleben. Im Übrigen freute sie sich für die Freundin. Endlich hatte sie den Anschluss gefunden, den sie wohl schon seit langem ersehnt hatte.
Gerade hatte ihr Xenia sanft errötend mitgeteilt, dass sie »danach«, wie sie das nannte, einen schrecklichen Durst bekommen habe und Arpad so lieb gewesen sei, ihr einen Saft aus der Bar zu holen. Danach sei sie sofort in einen tiefen Schlaf gefallen und am Morgen mit einem Brummschädel aufgewacht.
»Entschuldige«, sagte Angelika zu Xenia. »Wir bekommen Besuch!«
Sie hatte den halben Vormittag mit ihrer Freundin verbracht und dabei Jonny aus den Augen verloren. Aber das Schiff war ja nicht so groß, dass man sich darauf verirren konnte. Außerdem liebte es der Immobilienmakler, vorne am Bug unterhalb des Ruderhauses in einem Sessel zu sitzen und zu beobachten, wie das Schiff Meile für Meile hinter sich ließ.
Angelika sah Jonny an, wie er vor ihnen stand, und erkannte, dass er etwas auf dem Herzen hatte, so verlegen, wie er sie ansah. Männer waren manchmal so leicht zu durchschauen. Er hatte ihr ja angedeutet, dass er ihr noch einiges zu sagen hatte, jetzt war es wohl so weit.
»Komm«, sagte sie und stand auf, fasste ihn bei der Hand. »Suchen wir uns ein stilles Plätzchen. Nicht gerade hier auf Deck, da sind zu viele Leute. Was hältst du davon, wenn wir es uns in der Bibliothek gemütlich machen?«
Und in der Tat sahen sie dort niemanden. Bei diesem Wetter hielt es wenige im Schiff; selbst bei größter Hitze wollten die meisten, ja fast alle sich »gesund« bräunen lassen. Hier zwischen den Büchern hatten sie ihre Ruhe.
»Was hast du auf dem Herzen?« fragte sie und umarmte ihn als allererstes, bevor sie sich setzten. Dankbar nahm Jonny ihre Rechte in beide Hände. »Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll«, gestand er. »Ich möchte nicht, dass du mich auslachst.« Sie sah ihn nur stumm an. Als er dann immer noch zögerte, ermunterte sie ihn: »Nun, mach schon! Ich verspreche dir, ich höre aufmerksam zu, egal, was du mir zu berichten hast.«
Da endlich begann Jonny: »Ich habe dir doch erzählt, dass ich seit meiner Pubertät so ein seltsames Gefühl in mir herumtrage, ein Gefühl, das mit den Jahren gewachsen ist. Deswegen bin ich jetzt auf der ‚Danubia Queen‘. »
Angelika saß ihm stumm gegenüber und sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, über dieses Seltsame in ihm zu sprechen, über etwas zu reden, was andere eigentlich nicht nachempfinden konnten.
»Sprich nur weiter«, sagte sie und bedachte ihn mit einem liebevollen Blick. »Ich höre dir zu«, wiederholte sie. » Und du kannst mir glauben, ich werde alles ernst nehmen, was du sagst.«
Denn Jonny war ihr inzwischen viel zu wichtig geworden als dass sie ihm irgendeinen Grund geben wollte, auf sie sauer zu sein oder enttäuscht zu werden. Außerdem, gestand sie sich ein, es interessierte sie wirklich, was in ihm vorging.
»Na gut, dann versuche ich, zu erklären, was ich mir zusammengereimt habe. Ich habe dieses Buch über Dracula von jenem österreichischen Autor Edelmaier gelesen, dazu ein Buch, das im Regal daneben stand. Das ist es.«
Er griff ins Regal und legte das großformatige, reich illustrierte Werk vor sie auf den Tisch. Es handelte sich um den »Mythenschatz Rumäniens«, herausgegeben offensichtlich noch während der kommunistischen Ära von einem Autorenkollektiv, dessen Mitglieder einzelne Abschnitte mit ihrem Namen zeichneten.
»Hierin wird etwas berichtet, wovon ich noch nie gehört hatte. Aus der Verbindung von Vampiren mit sogenannten Normalen soll es nämlich Nachkommen geben, die anteilig die Vampirveranlagung mitbekommen. In erster Generation wären das dann sogenannte Halblinge, in zweiter Generation Viertellinge geheißen.«
Davon hatte Angelika noch nie gehört
»Das heißt aber doch, wenn ich das richtig verstehe, dass die Veranlagung dazu mit jeder Generation abnimmt, oder?«
»So ist es«, bestätigte Jonny. »Und jetzt kommt es. Meine Großmutter aus der weiblichen Vorfahren-Linie stammt aus Rumänien, sie war eine geborene Madrogac. Ihre Familie soll aus Dragovac nach Westen gekommen sein, und zwar über Serbien nach Österreich. Mehr weiß ich darüber nicht.«
Angelika begann langsam zu verstehen.
»Du meinst, dass sie aus einer Familie stammte, die …«
»Ja, und das ist genau meine Furcht, dass ich nämlich eine solche Veranlagung in mir trage und …«
Angelika blätterte gedankenverloren in dem Folianten, der vor ihr auf dem Tisch lag.
»Das Vampirthema nimmt einen breiten Raum ein in diesem Band«, stellte sie fest. »Anscheinend hat es auch unter kommunistischer Herrschaft die Menschen über die Maßen beschäftigt. Allerdings ist das Papier von schlechter Qualität und die Abbildungen, besonders die Fotos, unscharf.«
Jonny bestätigte ihr Urteil durch ein Kopfnicken, meinte allerdings dann: »Für mich spielt das keine Rolle. Was ich erfahren habe, habe ich im Text gefunden. Meinst du, dass dieses unbestimmte drängende Gefühl in mir, das mit jeder Meile wächst, die wir nach Osten zurücklegen, ein Indiz dafür sein könnte, dass ich ein solcher Mischling bin?«
Angelika zögerte mit ihrer Antwort, wie sollte sie dazu auch etwas sagen können? Auf der anderen Seite lag ihr aber so viel an diesem Mann, war er ihr so wichtig geworden, dass etwas in ihrer beider Interesse geschehen musste.
»Wir sollten jemanden um Rat fragen, vielleicht kann uns jemand helfen«, sagte sie. »Wie steht es mit dem Kapitän? Oder meinst du, der Schiffsarzt könnte etwas wissen? Von den Passagieren verspreche ich mir eigentlich weniger.«
Sie erhoben sich und verließen die Bibliothek, in deren hinterster Ecke jemand gesessen war, der ihr Gespräch mitbekommen und beschlossen hatte, ihnen seine Hilfe angedeihen zu lassen. Es fehlte nur der richtige Augenblick; doch der würde unweigerlich kommen, davon war der Lauscher überzeugt.
*
Es war ein Faktum, dass der Clan des Fürsten Georghiu aus Dragovac viele Mitglieder hatte, die nicht nur das Schloss bewohnten, sondern auch in der weiteren Umgebung ansässig waren. Es gab Ärmere darunter, aber auch Wohlhabende, allen gemeinsam war, dass sie dem Clan angehörten und von Zeit zu Zeit ein Anrecht auf eine Blutauffrischung hatten. Und dafür war der Fürst höchstpersönlich verantwortlich.
In manchen Jahren war es bislang einfach gewesen, diese Verpflichtung zu erfüllen, doch seit etwa zwei Jahren gab es immer wieder Schwierigkeiten. Das ging so weit, dass es keine Wahlmöglichkeit mehr gab, wie man an das Blut herankommen wollte; man musste jetzt jede Gelegenheit wahrnehmen, die sich anbot.
Der Fall der Holzräuber war eine solche Gelegenheit, und Fürst Georghiu hatte einen Boten herumgeschickt, der die wehrhaften Mitglieder des Clans alarmieren sollte. Doch davon gab es zu wenige, im Augenblick eigentlich gar keinen, da sie alle zu geschwächt waren. Die drei Handys in Familienbesitz hatten dafür nicht verwendet werden können, da es außerhalb des Schlosses niemanden gab, der über ein Telefon verfügte.
Ebenso sah es mit den Möglichkeiten aus, sich fortzubewegen. Die Fürstenfamilie verfügte über ein geländegängiges Fahrzeug, das war alles an Motorisierung. Allerdings gab es eine ganze Anzahl an Pferden, und so sollte die kleine Heerschar beritten aufbrechen. Mitri, der älteste Sohn des Fürsten, führte die kleine Schar von zwangsrekrutierten Dorfbewohnern an; er als einziger durfte im Auto fahren, und nahm seinen Bruder Eriu mit, der unterwegs von ihm in die Kunst des Autofahrens eingewiesen werden sollte.
Zwei noch einigermaßen rüstige Kämpfer der Elendstruppe führten jeweils ein Ersatzpferd mit sich, das den beiden Fürstensöhnen unmittelbar vor dem Verlassen des ausgebauten Waldweges zur Verfügung stehen würde. Im Wald selbst mit seinen abwechselnd felsigen und sumpfigen Stellen war für ein Automobil, selbst mit Allradantrieb, kein Durchkommen.
Eriu und Mitri waren auch die einzigen in der Truppe, die moderne Waffen mit sich führten; der Rest verfügte über Armbrüste, die allerdings wegen der Lautlosigkeit in der Handhabung und der enormen Durchschlagskraft durchaus Schrecken einflößende Waffen darstellten.
Die beiden Fürstensöhne hatten einen weiteren Auftrag mit auf den Weg bekommen.
»Alle Holzpiraten, die ihr lebendig erwischt, schickt ihr in Begleitung der Dorfbewohner zu uns nach Dragovac. Das Blut brauchen wir dringend, denkt bitte daran! Es ist allerhöchste Zeit für eine Erneuerung, sonst ist der Clan vom Aussterben bedroht. Und zwar allen Ernstes..
Anschließend müsst ihr zur Donau, dort wird an der Landungsstelle 45 das Schiff ‚Danubia Queen‘ anlegen. Das müsst ihr in eure Gewalt bringen. Ich versuche, euch Verstärkung dorthin zu schicken. Die Gefangenen müssen, wenigstens zum Teil, zu uns ins Schlossverlies gebracht werden. Wir brauchen Vorräte. Und Vorsicht, es steht zu befürchten, dass der Kapitän und seine Besatzung gewarnt worden sind.
Aber denkt daran: Mehr als 30 Personen, die zu uns gebracht werden, dürfen es nicht sein. Was mit dem Rest passiert, ist eure Sache. Ihr braucht auch eine Blutauffrischung!«
Soweit die Instruktion durch Georghiu von Dragovac.
Zeitig am Morgen brachen sie auf. Der Ritt würde einige Zeit dauern, es waren lange Meilen, die vor ihnen lagen, daher war in jedem Fall Eile geboten, denn das Schiff durften sie auf keinen Fall versäumen.
*
Einige Tage war es ruhig geblieben auf der »Danubia Queen«; die Ausflüge verliefen normal. Es war, als habe es nie einen Zwischenfall gegeben. Die nächtlichen Wachen waren durch den Kapitän auf zwei Doppelstreifen verstärkt worden, das schien den Unruhestifter und potentiellen Blutsauger abzuschrecken. Und auch Frau Schmitz-Wellinghausen hatte, nach einer erneuten Unterredung mit Kapitän Stojanow, zu der Dr. Beuteler hinzugezogen worden war, den Eindruck, als sei Ruhe eingekehrt.
Doch es war die Ruhe vor dem Sturm.
Nun stand man unmittelbar vor der Einfahrt in das sogenannte »Eiserne Tor«, Schreckensvision für die Schifffahrt in früheren Zeiten mit ihren felsigen Stromschnellen und tosenden Wassern. Die Hitze war, im Gegensatz zur Prognose der Meteorologen, nicht abgeflaut, sondern hatte sich noch um etliche Celsiusgrade gesteigert. Der Getränke- und Speiseeis-Verbrauch an Bord war so nachhaltig, dass der Proviantmeister dem Kapitän dringend ans Herz legte, aus dem entfernten Belgrad südlich der Donau Nachschub zu bunkern, da die rumänische Versorgungseinheit hier am Anlegepunkt 45 über keinerlei Reserven mehr verfügte. Das hieß, es würde eventuell einige Verzögerungen beim Ablegen geben, doch der Kapitän hatte keine Wahl. Die Versorgung der Passagiere hatte Vorrang, schließlich waren sie Gäste auf diesem Schiff und hatten nicht wenig für diese Reise zahlen müssen.
Zweifellos stellte der Besuch der serbischen Hauptstadt einen Höhepunkt der gesamten Reise dar. Wie es der Zufall wollte, war die Fünfergruppe mit Angelika, Jonny, Xenia, Inge Faszl und Jenny Schmitz-Wellinghausen in derselben Ausflugsgruppe; einheimischer Führer war ein junger Germanistikstudent, dessen Deutsch fast ohne Akzent war.
Ziel war die Festung Kalemegdan, die auf einer Anhöhe über dem Zusammenfluss von Donau und Save errichtet worden ist. Ursprünglich war hier von den Römern eine Festungsanlage hingestellt worden. Jetzt gab es rund um die gigantische Anlage einen großzügigen Park, der nach dem Besuch des Militärmuseums im Schatten der alten Laubbäume eine willkommene Erholung bot.
Auf dem Weg vom Museum dorthin hatte Inge Faszl sich zu Angelika gesellt, die allein vor sich hin spazierte, während Jonny sich angeregt mit dem serbischen Fremdenführer unterhielt.
»Wenn Sie Hilfe brauchen«, raunte die Gräfin und tippte Angelika auf den linken Oberarm. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich … dass wir …? Ich meine, alles ist in bester Ordnung, diese Reise ist phantastisch.« Angelika reagierte erstaunt und zugleich abweisend. Was zwischen Jonny und ihr war, das ging an sich nur sie beide etwas an. Außerdem würde sie nie etwas zugeben ohne Zustimmung von Jonny, das war sowieso von vornherein klar.
» Ach, ich meine nur«, wiegelte Inge Faszl ab. »Ich saß da in der Bibliothek und habe anhören müssen, was zwei Passagiere zu besprechen hatten. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass ich vielleicht helfen kann. Denn es gibt sehr wohl Mittel und Wege, und das gilt für fast alles!«
Damit ließ sie Angelika in Ruhe und gesellte sich wieder zur Restgruppe, die inzwischen unten den schattigen Bäumen die Bänke besetzte.
Xenia, die die Episode mitangesehen hatte, setzte sich zu Angelika. Da Arpad auf dem Schiff geblieben war, langweilte sie sich ein wenig und gleichzeitig beneidete sie die Freundin, die in Jonny einen so liebevollen und aufmerksamen Freund gefunden hatte. Arpad war von etwas herberem Charakter, was Xenia nicht störte. In ihren Augen durfte ein Mann ruhig ein wenig Macho sein, das erhöhte den Reiz.
»Du warst so ablehnend zu Inge«, sagte sie. »Wenigstens sah es von der Ferne so aus.«
Angelika wurde einer Antwort enthoben, da Jonny sich zu den beiden auf die Bank setzte. Es war offensichtlich, dass Angelika auf Xenias Frage nicht antworten wollte. Also beließ sie es dabei und sehnte sich nach dem Ersten Steuermann, ihrem Arpad, während die beiden neben ihr sich liebevoll umarmten und küssten. Jonny war mit besondere Innigkeit bei der Sache, denn Rumänien lag unmittelbar vor ihnen und sein Drang dorthin war inzwischen schier unerträglich geworden. Nur Angelikas Liebe gab ihm noch den notwendigen Halt. Und daran klammerte er sich mit aller Kraft.
*
Auf der »Danubia Queen« war der nächtliche Besucher, wie ihn manche der Passagiere nannten, fest entschlossen, in dieser Nacht auf Beutefang zu gehen, endlich wieder einmal zuzuschlagen. Er musste es einfach versuchen, denn er gierte nach diesen wenigen Blutstropfen, die bei jedem Biss von einem Menschen zum anderen wechselten.
Auch das gehörte nämlich zu den Märchen, die durch die Weltgeschichte geisterten, dass ein einziger Vampirbiss bereits einem Aderlass glich. Dem war keineswegs so. Einfach weil Vampire so viel Blut auf einmal gar nicht benötigten und auch gar nicht aufnehmen konnten. Vonnöten war vielmehr das wiederholte Beißen des Opfers, denn der Vorrat hielt nie lange vor.
Er hatte sich auch schon ein Opfer ausgesucht, eine allein reisende blondhaarige Dame, die eine der teuren Suiten bewohnte, machte ihm regelrecht Appetit. Er musste nur die Nacht abwarten. Wie und wann die Streifen durch die Gänge des Schiffes patrouillierten, dafür gab es einen ausgearbeiteten Plan, den er sich kopiert hatte.
Während er seine Utensilien wie etwa die dunkle Kleidung zurecht legte, blickte er aus dem Fenster und sah eine der Besuchergruppen aus Belgrad zurückkehren. Unter ihnen befanden sich diese fünf Tischnachbarn, die ihm, mit ihrem Gelächter und ihrer fast schon aufdringlichen guten Laune, regelmäßig auf den Geist gingen. Dieser Jonny, ein geschniegelter Beau in seinen Augen, der eine ungute Ausstrahlung hatte; oder die Alte, die von sich selbst behauptete, eine Gräfin zu sein, aber den Beweis für seine Begriffe nicht erbracht hatte. Oder diese schreckliche Tusse aus Frankfurt, eine Preisträgerin irgendeines obskuren Wettbewerbs, die diesen Jonny stets mit ihren Schleierblicken anhimmelte. Eigentlich sollte auch sie einmal daran glauben müssen, beschloss er.
Und schließlich war da diese Rheinländerin mit dem Doppelnamen. Aus ihr wurde er nicht klug, sie sah ihn manches Mal so seltsam forschend an, als vermutete sie etwas. Aber wie sollte sie etwas ahnen, dafür hätte sie eigentlich hier aus der Gegend, vom Balkan, stammen müssten. Die Leute hier hatten oft ein erstaunliches Gespür dafür. Aber auf dem Schiff schienen solche sensiblen Typen nicht vertreten zu sein. Zu seinem Glück. Und das wollte er weidlich ausnützen.
Damit verließ er seine Kabine und ging auf Deck, um die Zurückkehrenden zu begrüßen. Das machte jeder der Crew an Bord, das hatte sich so eingebürgert. Und er wollte um alles in der Welt nicht auffallen, nur weil er ein so doofes Zeremoniell nicht einhielt.
In Angelikas Kabine und nicht nur da wurden inzwischen ernsthafte Gespräche geführt. Während das verliebte Paar beratschlagte, wann sie den Kapitän einweihen und damit um Hilfe bitten sollten, saßen Eugenie Schmitz-Wellinghausen und Inge Faszl in der Bibliothek, wo sie sich zufällig getroffen hatten und ins Gespräch gekommen waren.
Das Schiff verlegte inzwischen flussabwärts, wenn auch nicht sehr weit, nur bis Anlegestelle 45, wo es einen Zwischenstopp geben sollte.
Beide bestaunten die Ufer links und rechts des Flusses, wo sich wilder Fels mit ansehnlichen Auenwäldern ablöste. Die Gegend war ganz offensichtlich nur schwach besiedelt.
Was die Gräfin zu erzählen hatten, erstaunte die andere ungemein und so nachhaltig, dass sie beschloss, aus ihrer geheimen Mission eine bedingt offene zu machen und dieser quasi Eingeweihten die Situation zu schildern. Quintessenz der Unterredung: die beiden fanden sich bei Kapitän Stojanow wieder, der auf ihre Bitten den Schiffsarzt dazu holte. Da das Schiff erst in zweieinhalb Stunden ablegen sollte, war genügend Zeit zur Verfügung. Und just, als sie beginnen wollten, gesellten sich Jonny und Angelika dazu.
*
Sie waren flotter vorangekommen als erwartet und als sie schon von weitem die Geräusche der Sägen hören konnten, wussten sie, dass sie punktgenau am Ziel angekommen waren. Die Kämpfer aus Dragovac hielten kurz an, um ihre Waffen – leicht händelbare Armbrüste und Wurfmesser – bereit zu haben, den sie waren bislang in den Satteltaschen beziehungsweise im begleitenden Allradwagen verstaut gewesen. Die beiden Fürstensöhne stiegen auf die Ersatzpferde um, denn zwischen den eng stehenden Baumriesen kam kein Auto hindurch. Als Schusswaffen hatten sie Gewehre, immerhin russische Mehrlader, die uralt waren.
Mitri, der den Oberbefehl vom Fürsten übertragen bekommen hatte, schickte einen jungen Bauernsohn in Richtung der Fällarbeiten, um auszukundschaften, wie die Lage sich anbot. Und er verteilte einige Flaschen mit Wodka aus der Brennerei des Schlosses. Unentschlossene sollten dadurch kühner werden.
Als Szabo, der Kundschafter, zurückkam und verkündete, es sei nur eine kleine Schar von Waldfrevlern am Werk, die die gefällten Bäume gerade über einen der spärlichen Waldwege mit Hilfe schwerer Ackergäule abtransportierten, gab Mitri den Befehl zum Angriff. Die Holzdiebe wurden total überrascht, waren sie doch davon ausgegangen, dass so weit entfernt von Schloss Dragovac keine Gefahr von Seiten der Besitzer drohte.
Im Handumdrehen waren die sieben Männer überwältigt; es war nicht einmal zu einem Schusswechsel gekommen. Die bulgarischen Diebe, sie waren im Auftrag eines großen Sägewerks in der Nähe von Sofia unterwegs, ergaben sich sofort, als sie die Kämpfer zu Pferde erblickten. Zum Kämpfen waren sie nicht angeheuert worden.
Mitri ließ ihnen Fesseln anlegen und schickte sie mit zwei seiner Leute zu Pferde zum Schloss zurück. Das würde einige Zeit länger dauern, als sie für den Ritt hierher benötigt hatten, aber Zeit hatten sie genug. Der mitgegebene Proviant war allerdings knapp bemessen und als Getränk blieb ihnen nur Wasser aus Bächen und Quellen.
Eriu und er machten sich auf den Weg Donau, zur Anlegestelle 45, wo auf ihn und seinen Bruder eine weitere, wahrscheinlich schwierigere Aufgabe wartete. Er hoffte nur, dass es dem Fürsten gelungen war, eine schlagkräftige Schar Männer zur Anlegestelle zu schicken.
*
Ehe noch der Kapitän das Wort ergreifen konnte, begann Inge Faszl, die Gräfin, zu sprechen, und schnitt damit Frau Schmitz-Wellinghausen das Wort ab, denn die hatte bereits den Mund gespitzt.
»Ich will mich hier nicht aufdrängen, aber ich bin allen Anwesenden, Jenny ausgenommen, eine Erklärung schuldig. Haben Sie vielleicht etwas zu trinken hier?« fragte sie den Kapitän. »Ich bin auf einmal so durstig.«
Und flugs war auch das geregelt, es gab sogar eine Auswahl verschiedener Säfte, sowie Wasser.
»Nun«, begann Inge Faszl erneut, »Eigentlich sollte ich mich vorstellen. Ich heiße Ingeborg Ingelore Ingelinde von Faszl und gehöre von Geburt her dem Geschlecht der Grafen von Faszl an. Ich war nie verheiratet, da ich frühzeitig ins Kloster gegangen bin. Das war in der Nähe von – ach, ist auch egal. Jedenfalls im früheren Oberschlesien; zeitweilig war ich dort als Äbtissin, bis die politischen Gegebenheiten unerträglich wurden. Meine Familie stammt nicht aus der dortigen Gegend, beheimatet sind wir in Kurland. Und daher kommen meine Kenntnisse, die ich Ihnen unterbreiten will.«
Sie hielt kurz inne, um einen Schluck zu trinken. Die Gelegenheit für Jenny Schmitz-Wellinghausen, weiterzuerzählen.
Sie berichtete von dem Gespräch in der Bibliothek zwischen Jonny und Angelika, die nur staunen konnten, wie genau ihre Worte wiedergegeben wurden.
»Genau deswegen wollten wir mit Ihnen, Herr Kapitän, reden«, sagte Jonny. »Denn ich weiß nicht mehr aus noch ein.«
»Ich denke, da komme ich ins Spiel«, sagte Inge Faszl. »Ich denke, ich kann weiterhelfen, muss aber zunächst etwas weiter ausholen. Es war auch für die Beauftrage des Anti-Vampir-Liga, wie die Vereinigung populär auch genannt wird,« sie zeigte auf Jenny Schmitz-Wellinghausen, » eine Neuigkeit, zu erfahren, dass es zwei verschiedene Arten von Vampiren gibt. Die landläufig bekannte Art kommt ursprünglich wohl aus dem rumänischen Transsilvanien, die sogenannten Nachtaktiven, die aber tagsüber auch existieren können, und die sogenannten Sonnengiere, die das Sonnenlicht geradezu brauchen. Die letzteren kommen aus Kurland. Beide Arten bekämpfen sich unerbittlich. Nur so nebenbei sei angemerkt, dass es ein Büchlein gibt, es heißt »Isabella oder eine ganz besondere Liebe« und ist in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts erschienen, in dem auf diese besondere Art der Vampire näher eingegangen wird und in dem erstaunlich viele Details nachzulesen sind.«
Angelika und Jonny hatten den Atem angehalten, als sie diese Worte hörten.
»Ich meine …«, begann Angelika, wurde aber sofort unterbrochen.
»Weiter im Text«, sagte Inge Faszl. »Ich denke, Jonny ist ein sogenannter Viertelling, das heißt Vampir in zweiter Generation, sein Vater oder seine Mutter war ein Halbling. Was ihn antreibt, und da beziehe ich mich auf das, was ich unfreiwillig mitanhören musste, ist eine Sehnsucht nach Vollendung. Das Blut des Vampirs treibt ihn, er will endlich – unbewusst und sozusagen automatisch – ein vollgültiger Blutsauger werden.«
»Augenblick!« Das war Jonny der sich meldete. »Ich will doch keiner von diesen Ungeheuern werden …«
»Aber ich habe verstanden«, sagte Jenny, nun ganz in ihrem Element als offizielle Beauftragte. »Wir haben die Aufgabe, den lieben Jonny von seinem unseligen Erbe zu erlösen. Nur, wie stellen wir das an.«
»Und noch ein Problem gibt es«, nun war der Kapitän am Zug. »Wir haben vermutlich einen voll ausgewachsenen Blutschlürfer hier an Bord. Also?«
Frau Faszl räusperte sich.
»Eins nach dem anderen. Erst einmal ist Jonny an der Reihe, ich weiß schon, was zu tun ist.«
*
Bei der IAVA herrschte helle Aufregung. Nur gut, dass das in jahrelanger Arbeit international aufgebaute Informantennetz funktionierte. Die Lage war brenzlig. Generaldirektor Lefebre stand anscheinend am Rande eines Nervenzusammenbruchs, dennoch waren seine Anordnungen klar und eindeutig:
»Dieses Schiff, die ‚Danubia Queen‘ braucht Schutz vom Wasser aus und aus der Luft. Unsere Filiale in Sofia, sofort! Denn von Bukarest ist keine Hilfe zu erwarten, deren Militäreinheiten befinden sich im Stadium der Umorganisation, außerdem sind sie technisch gesehen in einem desolaten Zustand. Und außerdem wissen wir nicht, inwieweit sie nicht mit transsilvanischen Spitzeln durchsetzt sind.«
Und als die Verbindung kam: »Rotalarm, höchste Stufe. Es geht um einhundertfünfzig Passagiere auf einem Schiff, die »Danubia Queen«, nahe der Anlegestelle 45. Alarmplan AA ist in Kraft, alarmieren Sie die Wasserschutzpolizei und die Luftwaffe, insbesondere Hubschraubereinheiten, und verweisen Sie auf das Hilfeabkommen UN/EU1985. Sie sollen die Spezialausrüstung nicht vergessen, Sie wissen schon. Und alles sollte schon gestern geschehen sein.«
Und damit ließ sich Monsieur Lefebre in seinen Sessel zurückfallen und schnaufte nur noch: »Einen Calvados, einen dreifachen, aber aus der Extraflasche!«
Es war alles in die Wege geleitet. Von hier aus konnte er nichts mehr bewirken. Jetzt konnte er den guten Schluck genießen und musste abwarten, was geschah. In der Hoffnung, dass alles so ablief, wie geplant.
*
Da die Anlieferung der Vorräte auf sich warten ließ, konnte die »Danubia Queen« von Anlegepunkt 45 nicht rechtzeitig ablegen. So blieb Zeit für das, was unbedingt gemacht werden musste.
Die Klärung der Einzelheiten hatte Inge Faszl übernommen, die sich offenbar genau auskannte und wie selbstverständlich die Initiative ergriffen hatte.
Kapitän Stojanow hatte das Vordeck räumen und die Fenster, aus denen man aus dem Schiff heraus hätte zuschauen können, verhängen lassen. Alles lief ab, wie die Gräfin dies erklärt hatte:
»In Kurland hatten sich meine Vorfahren mit den sogenannten Sonnengieren herumzuschlagen, die eine besondere Rasse von Blutsaugern darstellen. Blut brauchen sie auch, aber sie beißen nicht, sondern holen sich den roten Saft beim Liebesspiel über den Zungenkuss. Ihre größten Feinde aber waren nicht die normalen Menschen, sondern die sogenannten nachtaktiven Blutsauger, die zwar Sonnenlicht durchaus vertragen, aber ihre Beutezüge bevorzugt nachts erledigen. Daraus ist die Mär entstanden, dass sie nur nächtens aktiv werden.
Am wichtigsten war immer, eine Ausbreitung dieser – nennen wir sie karpatenstämmigen – Vampire zu verhindern. Und dazu gehörte vorrangig, die Halblinge und Viertellinge nicht zu vollgültige Mitgliedern der Vampirclans werden zu lassen. Und das geschah so …«
Sie wurde von Angelika unterbrochen, die Frau Faszl spontan an den Händen fasste:
»Bitte, bitte, tun Sie alles, was …«
»Aber meine Liebe, natürlich! Hören Sie zu, was ich zu sagen habe: Wir alle wissen, dass die landläufig bekannten Vampire keinen Schatten werfen. Nicht nur, dass man sie daran erkennen kann, nein, ihre eigentliche Schwachstelle ist die Tatsache, dass sie die Blutauffrischung durch Nachkommen, die aus Verbindungen mit Normalmenschen entstanden sind, dringend benötigen. Bei den sogenannten Halblingen und Viertellingen sieht die Sache etwas anders aus. Denn der Halbling, die erste Generation also, hat einen sehr schwachen Schatten, der Viertelling, die zweite Generation, bereits einen doppelt so starken, da der vampirische Anteil sich drastisch vermindert hat. Beide verminderten Schatten sind für das normale Auge bei einem gewissen Maß an Aufmerksamkeit durchaus wahrzunehmen.«
Das Erstaunen in den Augen der Anwesenden war deutlich erkennbar. Denn, hier auf dem Vorderdeck, war eindeutig zu sehen, dass Jonnys Schatten erheblich blasser war als die der anderen, nur war das bislang niemandem aufgefallen. Wie denn auch, wenn niemand um die Umstände wusste, achtete man auch nicht darauf.
»Die Sonnenvampire in Kurland haben, wie auch immer, festgestellt«, fuhr die Gräfin fort, »dass man eine Umwandlung von Halblingen und Viertellingen in vollgültige Vampire verhindern kann, indem man ihren Schatten buchstäblich erschießt. Das mag Sie erstaunen, denn was soll das heißen: einen Schatten erschießen? Ein Schatten ist zweidimensional und lebt nicht, das wissen wir alle. Dennoch gehört er natürlich eindeutig zur jeweiligen Person und ist untrennbar mit ihre verbunden. In der Praxis hat das damals wohl jedes Mal funktioniert, auch wenn es sich dabei vielleicht nur um einen symbolischen Akt handelt. Und daher würde ich das jetzt hier an der Person Jonny gerne selbst versuchen.«
Großes Erstaunen bei allen. Was die Gräfin da vortrug, war eine Erkenntnis, die ganz sicher noch nicht den Weg in die Fachbücher über Vampirismus gefunden hatte. Und deren gab es eine ganze Menge.
»Passen Sie auf!«
Inge Faszl hatte sich vom Kapitän die durchgeladene Pistole mit den Silberkugeln geben lassen, stellte sich neben Jonny, der nach links den Schatten warf. Sie zielte kurz nach unten und drückte dann ab. Angelika versetzte es einen Schlag, nicht weil der Knall so laut gewesen war, sondern weil sich Jonnys Schatten sichtbar deutlicher, er war etwa doppelt so dunkel als zuvor, vom Deck abhob.
»Das machen die Silberkugeln!« sagte die Gräfin und reichte dem Kapitän die Waffe zurück. »Ein Schuss reicht. Ich denke, man kann es erkennen.«
Das konnten in der Tat alle bestätigen. Angelika fiel Jonny um den Hals, und küsste ihn; die übrigen gratulierten Frau Faszl zu ihrem erfolgreichen Eingreifen. Dr. Beuteler, der dem allen stumm zugesehen und zugehört hatte, sagte lediglich: »Da haben wir ja eine richtige Expertin unter uns. Bravo!«
Und Jonny stellte fest, nachdem ihn die überglückliche Angelika endlich zu Wort kommen ließ:
»Ich … Ja, ich denke, nein, ich bin sicher, dieses seltsam drängende Gefühl ist verschwunden. Und jetzt gibt es wirklich keine Gefahr mehr?« Diese Frage kam fast ungläubig heraus.
Und als hätten sie alle zusammen den Schuss ausgelöst, bestätigten alle Anwesenden unisono: »Keine!«
*
Als das Vorderdeck wieder für alle Passagiere zugänglich war, wurden die an der Befreiungsaktion Beteiligten von allen Seiten bestürmt, doch zu erzählen, was sich zugetragen hatte. Natürlich hatten alle den Schuss gehört und wollten nun wissen, ob und welche Gefahr bestanden hatte. Doch sie hatten auf dem Vordeck wohlweislich ausgemacht, dass niemand etwas sagte.
Frau Schmitz-Wellinghausen, die an so einer Aktion zum ersten Mal teilgenommen und auch zuvor nie davon gehört hatte, telefonierte mit Erlaubnis des Kapitäns per Schiffsfunk mit der Zentrale. Nachdem sie Monsieur Lefebre persönlich Bericht erstattet hatte, bekam sie einen Sonderauftrag zugewiesen:
»Sorgen Sie dafür, dass wir diese Dame hier in unserer Zentrale zu sehen bekommen. Von diesem unglaublichen Wissen können wir nur profitieren. Wenn es sein muss, können Sie auch eine erkleckliche Summe anbieten, wer weiß, was bei ihr noch alles an wertvollem, verborgenem Wissen vorhanden ist.«
Und zu Dr. Muckensturm gewandt fügte er hinzu, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte: »Und Sie besorgen dieses Buch, ‚Isabella‘ oder wie es heißt. In unserer doch so gut bestückten Fachbibliothek ist es nicht vorhanden. Das ist eine unglaubliche Schlamperei!«
Nach ihrem Gespräch mit der Zentrale gesellte sich Jenny wieder zu ihrer Gruppe, die an der Bar Platz genommen hatte. Xenia, die bis dahin im Unklaren geblieben war, was es zu feiern gab, wurde nur vage mit gelösten Gesundheitsproblemen konfrontiert. Angelika wusste nicht, wie ihre Freundin auf die ganze Wahrheit reagieren würde. Dennoch lud sie sie ein, mitzufeiern. Und so wurde es ein ausgelassenes Fest, das sich bis zum Abendessen hinzog.
Danach feierte Angelika mit ihrem Jonny in der Lounge weiter, sie wich ihm nicht von der Seite, nachdem sie nun sicher sein konnte, dass er gesund war und seine seltsamen Gefühle nun verschwunden waren. Hatte sie doch heimlich befürchtet, dass eine seltsame Geisteskrankheit von ihm Besitz ergriffen haben könnte. Als zum Tanzen aufgefordert wurde, konnte sie feststellen, dass er ein ganz ausgezeichnetes Musikempfinden hatte; sie selbst war nie eine begeisterte Tänzerin gewesen, doch in seinen Armen und mit seiner souveränen Führung glaubte sie geradezu zu schweben.
Unterdessen war es still geworden. In der Lounge waren nur noch wenige Gäste anwesend. Xenia war schlafen gegangen, da Arpad sich mit dem Hinweis auf einige Überprüfungsarbeiten für zwei bis drei Stunden und nicht mehr, wie er versicherte, verabschiedet hatte.
Nur im Bug des Schiffes ging es an diesem Abend zur Sache. Der Drang nach Blut war so stark angewachsen, es war nicht mehr zum Aushalten. Kurz, es musste etwas geschehen. Und zwar schnell. Die blonde Frau in der Suite war bereits zu Bett gegangen. Sie galt es zu besuchen. Und den Durst zu stillen.
Mit der dunklen Kleidung und der vorsichtshalber angelegten schwarzen Halbmaske war er im nächtlichen Freien fast unsichtbar, wenn er vorsichtig von Deckung zu Deckung schlich. Er brauchte nur abzuwarten, dass die neuerdings bereits seit zehn Uhr abends laufende Streife ihre Tour angetreten hatte und ihr so hinterher zu laufen, dass er dann jede Menge Zeit hatte, mit dem Generalschlüssel die Tür der Suite zu öffnen. Allein der Gedanke an den Biss, der folgen würde, und an den unvergleichlichen Geschmack nach warmem Kupfer ließen ihn neue Kräfte spüren.
Gleich war es so weit. Er schlüpfte durch die Tür und näherte sich dem Bett, doch dieses war – leer! Seine Gier ließ ihn alle Vorsicht vergessen, er warf die Bettdecke zurück: Nichts. Als er sich umdrehte, öffnete sich die Tür zur Toilette. Seine Beute, da war sie!
Er stürzte nach vor, stolperte über einen Schuh, der achtlos abgeschüttelt worden war und prallte gegen den Einbauschrank. Die Frau, die zuerst wie erstarrt gestanden war, fand ihre Stimme wieder und begann mit gellender Stimme zu schreien: »Einbrecher, Hilfe!« Und das immer und immer wieder.
Der Eindringling hatte sich im Handumdrehen aufgerappelt und sich auf sie gestürzt. Sein Mund öffnete sich und zeigte die überlangen Eckzähne, die durch den aktivierten Blutdurst gewachsen waren. Die Schreie der Frau steigerten sich zu einem Creszendo; mit einer geschickten Bewegung gelang es ihr, dem durch den Sturz irritierten Eindringling auszuweichen und die Tür zu erreichen.
Nun gellten die Schreie durch den Gang, auf dem gerade Jonny und Angelika zu ihren Kabine unterwegs waren. Durch die Frau im kurzen Negligé und der an ihr zerrenden dunklen Gestalt des blutversessenen Vampirs war der Gang blockiert. Jonny, mit dem Angelika Hand in Hand Richtung Kabine geschlendert war, ließ kurz los: »Da muss ich helfen!«, Er beschleunigte seine Schritte.
Der Dunkle stieß daraufhin die total verängstigte Frau von sich, so dass diese Jonny genau in die Arme torkelte. Während er das Gleichgewicht zu halten versuchte, packte der Blutsauger Angelika an der Schulter und gab ihr einen Hieb gegen die Schläfe, so dass sie zusammensackte. Der Unhold warf sie sich eiligst über die Schulter und verschwand an der nächsten Biegung des Ganges, die zur Treppe führte, außer Sichtweite.
Jonny machte sich von der leichtbekleideten Blondine los, die sich immer noch angsterfüllt an sein Hemd klammerte. Doch so sehr er sich beeilte, er konnte den Entführter mit seiner Liebsten nicht mehr entdecken. An der Rezeption sah er, dass die Anlegestelle einladend dalag, die Eingangstür zum Schiff weit geöffnet. An der Tür lag ein bewusstloser bulgarischer Matrose mit blutüberströmtem Kopf, ganz offensichtlich rücksichtslos überrannt oder niedergeschlagen von jenem Monster, das seine Angelika geschlagen und mitgeschleppt hatte.
Er erinnerte sich, dass jedem Passagier der Notrufknopf gezeigt worden war, der in einem Unglücksfall gedrückt werden konnte. Um Alarm auszulösen. Als erstes erschien der Kapitän, der im Ruderhaus auf die Anlieferung der Vorräte gewartet hatte, um anschließend sofort ablegen zu können. Sie hatten schon genug Zeit verloren, er würde versuchen, die verlorenen Stunden aufzuholen.
Und nun das!
Nach und nach versammelten sich die Passagiere im Eingangsbereich, aufgeschreckt durch den grellen Ton der Alarmglocke, die über Lautsprecher in jeder Kabine zu hören war. Da diese Menschenschar den Zugang, aber auch das Verlassen des Schiffes behinderte oder gar zeitweise unmöglich machte, bat sie Frau Huber, die unscheinbare, im Hintergrund wirkende Reiseleiterin, in die Lounge, wo auf Veranlassung des Kapitäns die Bar erneut geöffnet wurde, um für ein wenig Abwechslung und Erfrischung zu sorgen.
Inzwischen waren auf Befehl von Stojanow mehrere Besatzungsmitglieder von Bord gegangen, um sich in der Umgebung umzusehen. Was allerdings wegen der nächtlichen Dunkelheit wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Jonny, der sich den Crewmitgliedern angeschlossen hatte, kehrte verzweifelt zurück. Er war von Natur aus nachtblind und sah in dieser dunklen Nacht und im dicht verwachsenen Auenwald rein gar nichts.
Nachdem er mehrfach gestolpert oder gegen vorstehende Felsen gestoßen war, rutschte er an einer moosbewachsenen Stelle aus und schlug lang auf den Boden hin, wo er mit dem Kopf gegen einen spitzen Fels prallte. Im Nu blutüberströmt, saß er da mit rasenden Kopfschmerzen und ließ sich von einem der Crewmitglieder aufhelfen. Es hatte keinen Sinn: Wenn er nichts sah, war die Gefahr eines lebensbedrohenden Unfalls zu groß. Zumal er an Bord konnte eventuell mehr helfen konnte, zum Beispiel bei der Organisation der Suche.
Xenia, die sich gleich zu Jonny gestellt hatte, sobald dieser wieder an Bord war, erkundigte sich besorgt nach Angelika, aber der Immobilienmakler konnte darüber nur wenig Auskunft geben.
»Wo ist Arpad?« fragte er Xenia. Doch diese zuckte ratlos mit den Schultern.
»Er hatte noch einiges zu erledigen und wollte dann zu mir in die Kabine kommen. Ist er von Bord gegangen, um Angelika zu suchen?« fragte Xenia, doch niemand konnte Auskunft geben.
In diesem Moment kam Herr Fischbaum, der Rentner aus Remscheid. Er hielt etwas in der rechten erhobenen Hand und rief:
»Das habe ich gefunden! Das stammt von diesem Ungeheuer««
Und im Handumdrehen stand er im Mittelpunkt des Interesses. Doch niemand hatte bislang auf dem Schiff eine Person mit einer solchen Maske herumlaufen sehen.
Doch der Eklat kam erst noch, als Jakob Fischbaum voller Stolz verkündete: »Und ich weiß, wer dieser Blutsauger ist!«
Im Nu war es mucksmäuschenstill geworden in der Lounge, selbst die Bordmitglieder, die mit dem Verteilen von Getränken beschäftigt waren und wenig oder gar kein Deutsch konnten, hielten den Atem an.
»Meine Frau hat ihn gesehen und zwar in genau dem Augenblick, als er seine Maske verloren hat. Und sie hat ihn erkannt!«
Der Rentner blickte sich beifallsheischend um, als habe er ein besonderes Verdienst daran, dass seine Frau etwas gesehen hatte. »Sie hat ihn erkannt!«, wiederholte er triumphierend.
»Wer ist es?« »Ist es ein Passagier oder ein Crewmitglied?« »Wie heißt das Ungeheuer?« So schwirrten die Fragen durcheinander.
»Es ist dieser Erste Steuermann!«, rief Fischbaum und sah sich triumphierend um. »Wie heißt er noch?«
»Arpad, mein Arpad?« rief Xenia in panischer Angst. »Das kann nicht sein! Arpad doch nicht!«
»Meine Frau hat ihn ganz sicher erkannt. Er hatte Ihre Freundin über die Schulter hängen und ist Richtung Gangway verschwunden.«
Jonny konnte Xenia gerade noch auffangen, ehe sie ohnmächtig zu Boden stürzte.
*
In der Nähe der »Tabula Trajana«, der Trajanstafel, die im Jahre 101 nach Christi Geburt zu Ehren des römischen Kaisers Trajan am nördlichen Ufer angebracht wurde, befindet sich auf der Südseite der Donau ein Eisentor, das eine natürliche Felsengrotte versperrt. Dieses Tor ist von enormen Ausmaßen und verschließt einen Stützpunkt der bulgarischen Binnenmarine. Gegenüber der in der Nähe errichteten kleinen Kirche, die Kilometer 967 schmückt, gibt es einen Zugang über eine Leiter, die mehrere Stockwerke in die Tiefe führt und über die diese Grotte erreichbar ist.
Normalerweise gehören die hier eingelagerten Flussfahrzeuge zur eisernen Reserve der bulgarischen Zivilverteidigung: Schnellboote, die mit jeweils einer Zwanzig-Millimeter-Kanone sowie mehreren Maschinengewehren ausgerüstet sind. Eins dieser Boote sticht allerdings aus der Menge der Fahrzeuge hervor: Die »Anti-Vlad«, was bedeutet »Gegen den Schlächter«, ist ein mit starker finanzieller Unterstützung der IAVA ausgerüstetes Einsatzboot, dessen Waffen geweihte Silbermunition verschießen und dessen Besatzungsmitglieder, alle in der Nähe des Standorts wohnhaft und nur im Alarmfall dienstverpflichtet, Reservisten sind, die normalen Berufen in der Umgebung nachgehen.
Der Alarm überraschte die Besatzungsmitglieder der »Anti-Vlad« im Schlaf, doch das regelmäßige Training für Einsatzbereitschaft und Kampfkraft zahlte sich aus: Innerhalb eine guten Stunde konnte der Wachhabende in der Grotte, der im 48-Stunden-Rhythmus Dienst tat, nach Sofia Kampfbereitschaft melden. Die IAVA wurde umgehend davon in Kenntnis gesetzt.
Parallel dazu war eine Hubschrauberstaffel in Bereitschaft versetzt worden; ein Erkundungshelikopter mit Nachtsichtgerät war sofort nach der Alarmierung in die Luft gestiegen und in der Nähe der »Danubia Queen« zu Boden gegangen. Frau Schmidt-Wellinghausen, von der IAVA in Genf mit der Koordinierung der Such- und Kampfeinsätze beauftragt, setzte sich umgehend mit dem Piloten in Verbindung, einem diensteifrigen Leutnant, der trotz der Dunkelheit unverzüglich mit der Suche nach Arpad und seiner Beute begann.
Was er allerdings an Erkenntnis sofort nach dem ersten Flug mitteilte, war das Nahen einer Schar von kampfbereiten Dörflern aus Dragovac, die sich fünf Kilometer vor der Anlegestelle 45 mit den beiden Fürstensöhnen in ihrem geländegängigen Fahrzeug getroffen hatten und nun im Schein von Fackeln den Weg suchten. Die Tatsache, dass Waffen zu erkennen waren, veranlasste den Piloten, den Rest der Hubschrauberstaffel anzufordern. Armbrüste mochten gemessen an heutiger Technologie veraltet sein, dennoch stellten die Bolzen, die daraus verschossen wurden, eine ernsthafte Bedrohung dar. Es gab sogar Hinweise, dass leichte Panzerungen, wie sie die Hubschrauber besaßen, von den Bolzen durchbohrt werden konnten.
*
Angelika war nur kurze Zeit ohne Bewusstsein gewesen. Als sie zu sich kam, lag sie auf hartem Untergrund. Ihr Kopf tat weh und als sie sich an die Stirn fasste, spürte sie Feuchtigkeit: Blut. Das erkannte sie, als sie ihre Finger betrachtete, die mit der Flüssigkeit in Berührung gekommen waren. Schlagartig kam ihr die Erinnerung zurück, was geschehen war.
Der nächtliche Gang im Schiff und das schwarze Monster mit seiner Maske, das ihr einen Hieb an die Schläfe versetzt hatte. Es hatte sie offensichtlich hierher verschleppt. Und dann kam es ihr siedend heiß: Jonny, was war mit Jonny? Hatte das Monster ihm auch etwas angetan, war er etwa verletzt? Oder schlimmer noch?
Sie richtete sich auf und sah sich um. Ihr war leicht schwindelig, wahrscheinlich war der Schlag an den Kopf daran schuld, doch sie riss sich zusammen.
Wo war das Monster, dieser Unmensch? Sie wollte aufstehen, doch da tönte aus dem nahen Gebüsch eine Stimme: »Sitzen oder liegen bleiben! Oder ich muss noch einmal zuschlagen, diesmal härter.«
Diese Stimme kannte sie. Sie kannte sie nur zu gut! Sie gehörte Arpad, Xenias Freund, den diese so sehr anhimmelte.
»Arpad?« fragte sie, blieb aber gehorsam sitzen. Noch einen Hieb gegen den Schädel wollte sie nicht riskieren.
»Das hast du nicht vermutet«, höhnte es aus dem Gebüsch. »Damit hat niemand gerechnet. Ich habe mich auch sehr zusammenreißen müssen, damit ich nicht eher erkannt wurde.«
»Aber warum ich? Warum hast du mich weggeschleppt?« fragte Angelika. Sie ahnte etwas, was sie sich nicht eingestehen wollte. Doch diese Ahnung sollte aufs Schlimmste bestätigt werden. Sie tastete an ihren Hals. Nichts!
»Wenn ich schon weglaufen muss, dann brauche ich doch Proviant«, bestätigte Arpad ihre Befürchtungen. »Noch habe ich dich nicht unter meinen Zähnen gespürt, doch gleich ist es so weit. Ich brauche Nahrung. Ich muss nur einen kleinen Augenblick verschnaufen, dann kommst du dran.«
*
Der Erkundungshelikopter behielt die auf den Anlegepunkt 45 zumarschierende Gruppe im Auge. Wegen der dicht stehenden Bäume und der Enge der Wege, die durch von Stürmen umgerissene Bäume teilweise blockiert wurden, waren die Reiter abgestiegen und auch die Fürstenbrüder waren aus dem Geländewagen ausgestiegen und marschierten an der Spitze des Zuges. Trotz der Fackeln kamen sie nur langsam vorwärts, denn auch der Weg war voller Löcher und die Sicht blieb mäßig bis bescheiden.
Auf der Donau hatte das Schnellboot der bulgarischen Binnenmarine inzwischen die »Danubia« Queen erreicht.
Kapitän Stojanow hatte kurz zuvor ein Drohtelefonat aus Bukarest aufgeschreckt: Hilfe von bulgarischer Seite sei nicht erlaubt, vielmehr streng untersagt, da die Bulgaren auf rumänischen Gebiet aktiv werden müssten. Dazu stünden eigene Kräfte bereit. Auf seine sofortige Rückfrage, bis wann er mit Unterstützung rechnen könne, hatte man ihn vertröstet: In zwei Tagen könne man eventuell …
Auf Frau Schmidt-Wellinghausens Rat hin hatte er auf UNO und EU und vor allem auf die Vereinbarungen der IAVA verwiesen, die diese für Notfälle international abgeschlossen hatte.
Woraufhin sich Bukarest nicht mehr gemeldet hatte.
Die Besatzung des Schnellboots war sofort bereit, an Land zu gehen und sich an der Suche nach der Entführten und ihrem Entführer zu beteiligen. Auf Anraten des Kapitäns, der die dichten Wälder und verschlungenen Pfade kannte, nahmen sie leicht tragbare Scheinwerfer mit, deren Batterien auf mehrere Stunden Leuchtkraft ausgelegt waren.
Wer nichts sah, konnte auch nichts finden, das war eine allgemein gültige Wahrheit. Außerdem gab der Kapitän dem Führer der Schnellboottruppe, einem Oberleutnant der Reserve, die mit Silberkugeln geladene Pistole mit, die er vorsorglich bereitgehalten hatte. Arpad, der desertierte Erste Steuermann und Entführer von Angelika, war ein echter, ein »klassischer« Vampir. Da half nur Silber; normale Kugeln richteten zwar kurzzeitig einen gewissen Schaden am Körper an, doch die Wunde schloss sich innerhalb von Minuten. Die dabei eingesetzte Munition war schlicht und einfach vergeudet.
Jonny, der sich um die von Weinkrämpfen geschüttelte Xenia kümmerte, sprach den Oberleutnant kurz an, gerade als dieser sich mit seiner Truppe auf den Weg machte.
»Bitte, bitte, bringen Sie mir meine Liebste zurück. Ich würde ja so gerne selber, aber ich bin blind in dieser finsteren Nacht wie ein Holzpferd. Hoffentlich …«
»Wir tun alles, was wir können«, versicherte der Oberleutnant in einem etwas holprigen Englisch, Sie können sich darauf verlassen!«
Und Dr. Beuteler, der versuchte, Xenia mit einem Beruhigungsmittel zur Ruhe kommen zu lassen, bot Jonny an:
»Ich kann Ihnen auch gerne eine Spritze geben.« Doch dieser lehnte ab, denn falls sich die Suche in den aufdämmernden Tag hineinziehen sollte, wollte er fit genug sein, um sich an der Suche zu beteiligen.
*
Angelika hatte im Dunkel des Waldes und auf dem harten Felsboden liegend große Mühe, die Panik nicht aufkommen zu lassen, die sie zu befallen drohte. Gewiss, Arpad war nie ein Mann gewesen, der für sie persönlich interessant gewesen wäre, aber es hatte den Anschein gehabt, als habe Xenia endlich nach langer Suche den Mann fürs Leben gefunden. Und nun das!
Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, dass Arpad einer jener Blutsauger sein könnte, vor denen in den Horror-Romanen gewarnt wurde. Arpad war Bulgare oder besaß zumindest so einen Pass, aber es war ja auch überall in der einschlägigen Literatur zu lesen, dass der Vampirismus – ausgehend vom transsilvanischen Rumänien – ein internationales Phänomen war, das wegen seinem Hang zur weltweiten Ausbreitung zunehmend zu einer Gefahr für die normalen Menschen zu werden schien.
Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sich hinter ihr Arpad mit einem »Auf zum Schmaus!« hören ließ. Verzweifelt suchte sie mit den Händen rund um sich herum nach einem lockeren Felsbrocken, streckte sich, soweit das im Sitzen möglich war, und fand so etwas wie eine größeren runden Kieselstein und hielt ihn mit der rechten Hand fest.
Als Arpad, kaum zu erkennen im Waldesdunkel, vor ihr auftauchte, stutzte sie. Er hatte einen merkwürdigen Gang, so als ob er sich verletzt hätte.
»Oh!« entschlüpfte es ihr, sodass der Steuermann erkannte, dass ihr etwas aufgefallen war. Und dann machte er einen Fehler.
»Ich habe mir vorhin meinen linken Knöchel verstaucht, das tut verdammt weh. Du wiegst einfach zu viel, und so hatte ich keinen sicheren Tritt und diesem stockdusteren Wald. Deswegen musste ich mich hier auch einen Augenblick hinsetzen. Aber jetzt geht es wieder. Und nun bist du dran!«
Der Knöchel! Angelikas Gedanken rasten, dann wusste sie, was zu tun war. An Bord hatte sie sich heute Abend geärgert, dass sie die schweren Schuhe vom Landgang nicht gegen leichte Bordsandalen ausgetauscht hatte. Nun war das eine Möglichkeit, vielleicht sogar die Rettung.
Als sich Arpad ihr soweit genähert hatte, dass er sich bückte, um sie zu sich hochzuziehen, drehte sie sich mit einer schnellen Bewegung, so dass sie auf der Seite lag, und trat mit aller Kraft zu.
Sie traf den verstauchten Köchel genau dort, wo es besonders wehtat. Arpad schrie kurz auf, fiel nach hinten und krümmte sich vor Schmerzen. Genau auf die Stelle, auf der er lag, fiel ein schwaches Licht der Sterne. Angelika stemmte sich hoch, überlegte kurz, während sie auf den Verletzten hinuntersah, und dachte dann: Meine Sicherheit geht vor. Und fair war der Kerl zu mir auch nicht. Sie zielte genau und trat ihm dann noch einmal mit der ganzen Kraft, zu der sie fähig war, gegen den Knöchel, genau zwischen die beiden Hände, mit denen er ihn jammernd hielt.
Arpad wurde ohnmächtig. Angelika überlegte kurz, wohin sie sich wenden sollte, dann hörte sie von weitem ein Knacken der trockenen Hölzer, die auf dem Waldboden lagen, und wandte sich in jene Richtung. Sie hoffte, so auf Leute zu stoßen, die nach ihr suchten.
*
Die Gruppe aus Dragovac hatte etwa einen Kilometer vor der Anlegestelle haltgemacht. Für Feldwebel Krazow ein Alarmsignal. Der Erkundungs-Helikopter musste an Höhe gewinnen, denn seine Scheinwerfer luden die Armbrustschützen geradezu ein, ihn zu beschießen. Gerade als einer der Bolzen seine Heckscheibe streifte und einen unangenehm kratzenden Laut verursachte, erhielt Feldwebel Krazow, der Pilot, per Funk die Anweisung von seinem Staffelführer: »Feuer frei auf Anweisung von Sofia. Bei Angriff auf Fluggerät oder die eigene Person haben Sie ab sofort das Recht und die Pflicht zurückzuschießen. Ich wiederhole: Feuer frei!«
Der Pilot bestätigte und entsicherte das bordeigene Maschinengewehr, da gab es einen lauten Knall, der das Geräusch der Rotoren übertönte. Ein Bolzen hatte die Rotorachse genau da getroffen, wo die Rotorblätter verankert sind: im Drehkreuz. Der Helikopter geriet in Schwankungen, und Feldwebel Krazow hatte Mühe, das Fluggerät in der Luft zu halten. Es drohte abzustürzen. Als er den Eindruck hatte, dass die Schwankungen zu stark wurden, drehte er ab.
Gerade rechtzeitig, um in einiger Entfernung Angelika zu sehen, die – geblendet von den Scheinwerfern aus der Luft – am Rande einer etwas größeren Lichtung stehen geblieben war und nun nach oben starrte. Sie hatte sich, orientiert an verwirrenden Geräuschen, doch nicht in Richtung Donau gewandt und stand nun etwas verloren unter einer weit ausladenden Hainbuche.
Als sie erkannte, dass der Hubschrauber zur Landung auf der Waldwiese ansetzte, lief sie ihm entgegen. Gleichzeitig allerdings setzten sich die bewaffneten Dörfler unter Führung der Fürstensöhne in Bewegung und versuchten, ihr den Weg abzuschneiden. Als der Pilot das erkannte, schwenkte er kurz entschlossen, trotz des Risikos, noch mal in ihre Richtung und kam ihnen entgegen, so dass sie sich zu Boden warfen. Auf diese Weise ermöglichte er der jungen Frau, in den Helikopter zu steigen, wofür sie sich mit einem herzlichen Lächeln bedankte.
Die Gruppe aus Dragovac aber geriet unversehens in die Reichweite der Waffen der Marinesoldaten, die aus ihrem Schnellboot ausgestiegen waren und nun in Stellung gingen, um das Feuer zu eröffnen. Sie waren ebenfalls durch einen Funkspruch alarmiert worden und wussten darüber Bescheid, dass die Dörfler aus Transsilvanien um ein Haar ihren Fliegerkameraden abgeschossen hätten. Umso entschlossener waren nun die Matrosen, es den Gegnern zu zeigen, die mit ihren Armbrüsten gegen die modernen Maschinenwaffen so gar keine Chance hatten.
Dem Helikopter bot sich so Gelegenheit, die Gerettete sicher zur »Danubia Queen« zu bringen.
*
Arpad Gustow, tat der Knöchel höllisch weh, als er das Bewusstsein wiedererlangte. Die junge Frau, die er sich geschnappt hatte, war verschwunden. Er merkte, dass er nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war. Dass er Angelika entführt hatte statt Xenia, die sicherlich vertrauensvoll mit ihm gekommen wäre, lag in der Tatsache begründet, dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben in eine Frau verliebt hatte. So sehr verliebt hatte, dass er es nicht über sich bringen konnte, sie in irgendeiner Weise zu verletzen. Er hatte eine Scheu davor, sie zu verletzen, daher musste er seinen Blutdurst an einer anderen stillen. Dass er durch sein Tun Xenia dennoch verletzt haben könnte, wenn nicht körperlich, so seelisch, was unter Umständen sehr viel schwerer wiegen mochte, darüber war er sich nicht im Klaren.
Er schüttelte sich und versuchte, mit dem verletzten Bein aufzutreten, was ihm zur Not gelang. Allerdings musste er sich einen starken Knüppel, mehr schon einen ganzen Ast, aufheben, um sich darauf zu stützen. Er haderte mit sich selbst, denn es war alles schief gegangen, was nur schief gehen konnte. Und schwer angeschlagen war er auch noch. Diese junge Frau war brutal genug gewesen, ihm mit voller Wucht an den kaputten Knöchel zu treten. Nun war er zwar nicht ganz bewegungsunfähig, aber doch sehr behindert.
Irgendwo, gar nicht weit weg, über dem Wald hörte er einen Hubschrauber kreisen. Wahrscheinlich suchten sie nach ihm, er musste schleunigst verschwinden. Er fasste an seinen Hosenbund, wo er für alle Fälle immer ein langes Messer parat hatte. Kampflos würde er sich nicht ergeben, so viel war sicher.
So taumelte er zwischen den Bäumen in Richtung einer helleren Stelle, die hoffentlich aus dem Wald herausführen würde. Dort erhoffte er sich eine Möglichkeit, sich in einem Gebüsch zu verbergen. Mitten im Wald gab es zwischen den Hochstämmen keine Möglichkeit dazu.
Als Arpad schließlich hinter einem Haselbusch auftauchte, wurde er schon erwartet.
Die Marinesoldaten hatten über einen Infrarotsucher im Helikopter einen Hinweis über den etwaigen Standort des Vampirs erhalten, noch ehe der Drehflügler hatte abdrehen müssen. Auf Verdacht hatten sie sich entlang des Waldrandes postiert und siehe da: Da war er!
»Stehen bleiben!« schrie der Stabsmaat, der die Gruppe befehligte. »Oder wir schießen!« Und wir haben Silberkugeln zur Verfügung, dachte er bei sich. Sagte es aber nicht laut. Warum ein solches Unwesen unnötig warnen?
Arpad stutzte, hielt inne und erkannte, dass er in eine Falle gelaufen war. Er zückte das Messer und torkelte vorwärts, auf die Soldaten zu, die ihre Waffen auf ihn gerichtet hielten. Für sie war dieses Geschöpf, das ihnen mit gebleckten Reißzähnen entgegenkam, nicht mehr als ein wildes Tier, das es zu vernichten galt.
»Feuer!«, kommandierte der Stabsmaat, und die Salve riss den Blutsauger von den Beinen. Ehe er starb, öffnete Arpad noch einmal weit die Augen und sah zum Mond auf, in dessen Rundung er Xenias hübsches Gesicht zu erkennen glaubte. Xenia, seine Liebe.
Dann verblasste das Licht.
Es gab einen Blutsauger weniger auf dieser Welt.
*
Angelika wurde an Bord der »Danubia Queen« mit großer Erleichterung und einem lauten Hallo! empfangen. Kapitän Stojanow, sonst kein Freund von Rührseligkeiten, hatte Tränen in den Augen, als er ihr entgegeneilte und sie umarmte. Was wäre das für eine Katastrophe für ihn und die Reederei gewesen, wenn ausgerechnet der Ehrengast, Gewinnerin eines Wettbewerbs, während dieser Reise zu Schaden gekommen wäre!
Frau Schmitz-Wellinghausen, die sich am liebsten an vorderster Front am Willkommen beteiligt hätte, hielt sich zurück. Zuerst war Jonny dran, das war allen klar; Jonny, dessen verbundener Kopf weiß leuchtete. Dr. Beuteler hatte vielleicht ein wenig zu viel des Guten getan und dem jungen Mann eine Art Turban verpasst.
In Jonnys Armen spürte Angelika: Jetzt war wieder alles gut, hier fühlte sie sich geborgen. Der Begrüßungskuss wollte schier kein Ende nehmen, bis endlich ein Räuspern von Frau Faszl die beiden Verliebten aufmerksam werden ließ.
»Es gibt noch einige, die die Wiedergefundene gerne begrüßen würden!«, sagte sie und schloss Angelika in die Arme. »Ich freue mich, dass dieses Abenteuer so glimpflich ausgegangen ist. So also ist es, wenn man phantastisches Geschehen live miterlebt.« Und die Gerettete erwiderte die Umarmung ebenso herzlich, hatte diese alte Dame doch ihren Jonny wieder und endgültig zu einem ganz normalen Menschen gemacht. Wenn er auch für sie natürlich etwas ganz Besonderes war.
Während Angelika anschließend die Glückwünsche von Eugenie Schmitz-Wellinghausen entgegennahm, wanderten ihre Blicke suchend umher, bis sie schließlich Xenia entdeckte, die tränenüberströmt auf der zweiten Stufe der Treppe saß, die zum Oberdeck führte.
Sie löste sich von der Begrüßungsgruppe und gesellte sich zu ihrer Freundin. Und Jonny folgte ihr sofort, denn es galt, die Verzweifelte und von enttäuschter Liebe zutiefst Verwundete zu trösten. Doch ihre Hinweise auf die Zukunft, in der es sicherlich …
Diese Hinweise kamen nicht an. Das würde wohl länger dauern …
Im Hintergrund sprach Jenny Schmitz-Wellinghausen, die Beauftragte der IAVA, mit der Gräfin. Sie hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. Und zu ihrer Freude sagte Frau Faszl sofort zu. Ja, sie wollte nach Genf reisen, selbstverständlich auf Kosten der IAVA, wie Jenny betonte. Und der ihr in Aussicht gestellte Beraterjob – von Wetzlar aus zu leisten – war verlockend genug, ihn trotz ihres fortgeschrittenen Alters anzutreten.
Darum freilich kümmerten sich Angelika und Jonny nicht. Sie hatten Wichtigeres zu tun, mussten sich gegenseitig ihre grenzenlose Zuneigung zeigen. Und über die Zukunft sprechen, über ihre gemeinsame Zukunft.