Читать книгу Kastensitz - Sebastian Bickel - Страница 4
Teil I Kapitel 1
ОглавлениеKarl schlenderte durch die alten Gemäuer seines bescheidenen Heims, und plötzlich sah er ihn – den Kastensitz, auf dem Pippin seinerzeit immer gesessen und über die Welt, seine eigene kleine Welt sinniert hatte. Karl verspürte das dringende Verlangen, sich auf dem Sitz niederzulassen – wenn ihn ein solches Verlangen packte, konnte er, wie in diesem Fall auch, niemals widerstehen. Er wollte selbst über ein paar Dinge nachdenken. Dinge, die ihm schon seit langer Zeit im Gedächtnis herumschwirrten. Schlimme Dinge die womöglich in seinem Tod gipfeln könnten. Er machte sich Sorgen wegen Plektrud, denn die hatte ihn nie gemocht.
Man merkte es an vielen kleinen Details, zum Beispiel bekam er beim Essen immer das kleinste Stück Fleisch mit dem größten Fettanteil, dazu oft mit verbrannten, ekeligen Stellen. Oder wenn es neue Kleidung gab, war seine nie so schön und nie so gut verarbeitet wie die seiner Halbgeschwister Drogo und Grimoald, Gott hab` sie beide selig. Auch sein Schlafgemach schien bäuerlicher ausgestattet zu sein als das der Anderen.
Nein, er durfte sich nicht wieder hinein steigern in die ewige Opferrolle, er war kein Opfertyp, das wusste er, aber es war leicht, die Schuld auf andere zu schieben und sich selbst zu bemitleiden. Nein, er durfte es nicht so weit kommen lassen. Karl erhob sich sofort heroisch aus dem Kastensitz und reckte die geballte Faust gen Himmel, er musste etwas unternehmen! Egal wie viele Steine Plektrud ihm in den Weg werfen würde, er musste und er würde es schaffen! Er würde der Herrscher des Frankenreiches werden!
Er war nach diesem Selbstlob sehr zufrieden mit sich, seinem neuen Selbstbewusstsein und seinem Ziel, so dass er auch noch die zweite Faust ballte und nach oben ausstreckte. Dabei merkte er, dass er auf der Sitzfläche des Kastensitzes nicht angemessen hoch stand und stellte sich mit beiden Füßen auf die Seitenwände, auch um dem Himmel ein Stück näher zu sein und um seinen Plan richtig zu bekräftigen und dessen Ernsthaftigkeit vor sich selbst und vor Gott zu verdeutlichen, ja gleichsam zu besiegeln.
Er dachte an all die Helden aus vergangener Zeit, die sich in eine ungewisse Zukunft begeben hatten, mit nichts weiter als einem Ziel vor Augen, und selbst das war oft kein konkretes, meistens hatten sie es nur als vage Vorstellung dabei. Im Grunde genommen begaben sich diese Helden ja auch auf komische Missionen. Sie setzten sich völlig freiwillig den größten Gefahren aus, aber warum? Wegen Frauen und wegen der eigenen Ehre? Es musste sich also lohnen, denn Karl glaubte seit diesem, eben erlebten, besonderen Moment fest daran, zu dieser Gruppe von Helden dazuzugehören. Es wusste nur außer ihm keiner davon, was sich aber bald ändern würde – davon war er überzeugt. Das breite Grinsen auf seinem Gesicht wurde breiter, breiter und breiter, bis es sich schließlich zu einer grotesken Grimasse verzog. Der Kastensitz begann unter der schweren Last zu wackeln, nur um letztendlich vollends nachzugeben und mitsamt dem stehendem Karl umzukippen.
Karl fand sich sogleich mit blutendem Hinterkopf auf dem kalten, harten Steinboden wieder. Ein erster Rückschlag. Aber ein kleiner, nichts, was einen beunruhigen müsste, oder war es ein böses Omen, dass er umgekippt war? Nein, er war nur im Eifer des Gefechts übermütig geworden, wollte zu hoch hinaus auf den Kastensitz und deshalb war er gekippt und wegen nichts anderem sonst.
Als nächstes galt es, den soeben gefassten Plan konkret auszuarbeiten; in einem nächsten Schritt würden dann Taten folgen. Er musste sich aktuell lediglich überlegen, um was für einen Plan es sich eigentlich genau handelte.
Hausmeier werden. Nun, ein einfacher Plan, der auf den zweiten Blick jedoch gewisse Probleme aufwerfen konnte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, warf der Plan sogar schon auf den ersten Blick sehr viele und auch ganz erhebliche Probleme auf.
Bevor er jedoch weiter seine Pläne schmieden konnte, sollte er den Kastensitz wieder ordentlich aufstellen und selbst vom Boden aufstehen, auf dem er immer noch lag, es wurde schließlich nicht wärmer hier unten und eine Erkältung oder Schlimmeres konnte er jetzt ganz bestimmt nicht gebrauchen.
Blöder, kalter Boden dachte er in diesem Moment und erinnerte sich an die Geschichte eines alten Weisen, den er einmal getroffen hatte. Dieser hatte ihm erklärt, dass es früher bei den Römern vor hunderten von Jahren einmal Steinböden gegeben hatte, die warm waren. Ob das allerdings wahr war oder nicht konnte Karl ad hoc nicht beurteilen. Er konnte sich noch nicht einmal vorstellen, wie so etwas wunderbares, himmelsgleiches funktionieren könnte, aber ein schöner Gedanke war es, der Gedanke an mollig warme Böden, auf denen man nicht frieren musste so wie auf diesem hier.
Karl hatte den Kastensitz zwischenzeitlich tatsächlich, aber unter großen Mühen, wieder richtig aufgestellt und dabei bemerkt, wie schwer dieser war. Er betrachtete ihn noch einmal intensiv und stellte wie so oft fest, dass es sich bei diesem Kastensitz um ein wirklich schönes, massives Exemplar handelte und mit einem Mal verstand er auch, warum sein Vater so gerne und so oft darin verweilt und seinen Gedanken freien Lauf gelassen hatte. Aber er durfte diesmal nicht abschweifen, denn er war fest entschlossen, seinen Plan auszudifferenzieren und zu zementieren, also setzte er sich wieder hin.
Karl grübelte über die potentielle Situation nach, spielte verschiedene Szenarien durch und kam zu dem Schluss, dass es für ihn selbst nicht leicht werden würde, in späteren Kämpfen um Macht und Anerkennung zu bestehen, das heißt siegreich aus den Auseinandersetzungen hervorzugehen. Er musste in Zukunft Entschlusskraft zeigen – zeigen, dass er der Richtige für das Hausmeieramt war und nicht Theudoald. Und er musste eine Lösung finden, die anderen Großen an sich zu binden und zwar nicht durch irgendwelche alten Weisheiten wie, „Hilfst du mir, helf` ich dir“.
Nein, es musste über eine Art Eid geschehen, durch Verpflichtungen und so weiter. Aber es war noch ein langer Weg bis dahin. Erst musste er sich um Plektrud kümmern. Jetzt, da Pippin tot war, trat ihr ganzer Hass offen zu Tage. Der ganze Hass der üblen Stiefmutter. Sie schaute ihn zur Zeit überhaupt nicht mehr an. Ja, es entstand durchaus der Eindruck, als würde sie ihn meiden. Und wenn sie sich doch zufällig begegneten, dann schaute sie ihn ganz böse an, wie eine Schlange. Karl zuckte bei diesem Vergleich zusammen und ihm schauderte; es half trotzdem alles nichts, er würde sie schon irgendwann besiegen, dazu war er ja immerhin schon fest entschlossen. Es gab jedoch auch noch ein weiteres, ein akutes Problem: Plektrud hatte zur Zeit mehr Macht als er selbst. Sie hatte mehr Geld, mehr Güter und sie kannte mehr Leute. Karl merkte seit dem Tod seines Vaters, wie sie versuchte, die Fäden bei sich zusammenlaufen und ihre Enkel als bloße Marionetten fungieren zu lassen. Dabei musste Karl zugeben, dass dies auch, den Umständen entsprechend, gut funktionierte. Ja, er wurde direkt ein wenig neidisch, weil er eigentlich diese Stellung haben sollte.
Unter seiner Führung würde das Frankenreich stark florieren und alle, die darin wohnten gut profitieren, aber so – wer weiß wie lange sich die Bagage, seine sozusagen Pseudobagage, da oben noch würde halten können. Hoffentlich nicht lange, war sein erster und einziger Gedanke dazu, und dann wäre seine Zeit gekommen, dann würde er herrschen, er selbst, er allein.
Karl merkte zudem, wie Plektrud versuchte, ihn um sein Erbe zu bringen, wie sie versuchte den Leuten einzureden, er sei ein Bastard und habe keine Rechte und erst recht keine Ansprüche. Dabei war er sich sicher, dass Pippin seine Mutter Chalpaida geliebt hatte und er ein in Liebe gezeugter Nachkomme war. Außerdem war er doch, wenn man es objektiv betrachtete und ehrlich zu sich selbst war, der einzige fähige Mann, den es noch gab in dieser Familie. Ja, er hatte es nicht umsonst all die Jahre ertragen, dieses kleine, fette, verkohlte Stück Fleisch zu essen, in weniger schönen Kleidern herumzulaufen als die anderen, und die Schmach zu ertragen, die ihm seine Stiefmutter jeden Tag zukommen ließ, um jetzt aufzugeben.
Eines jedoch lähmte ihn förmlich, denn ihm geisterten immer diese schlimmen Dinge im Kopf herum, in denen er seinen Tod sah, seinen viel zu frühen Tod. Er musste auf jeden Fall verhindern, dass ein solches Ereignis eintraf, denn tot konnte er kaum siegen und schon gar nicht Hausmeier sein. Er musste wachsam bleiben, mit offenen Augen durch das Leben gehen und wenn sich die Möglichkeit bot, mit den Leuten reden, Dinge herausfinden, mögliche Verschwörungen aufdecken und danach natürlich versuchen, möglichst alles zu vereiteln, was ihm in die Quere kommen könnte.
Karl merkte, dass es schon recht spät geworden war und er eigentlich noch ein paar Erledigungen zu machen hatte, statt dessen aber die ganze Zeit auf dem Kastensitz verplempert hatte.
Verplempert? Nein, irgendwann mussten ja die Pläne geschmiedet werden und jetzt war er zumindest ein bisschen schlauer als vorher und es verfestigte sich etwas in seinem Gehirn, mit dem er arbeiten konnte um sein Ziel zu erreichen. Immerhin das war ihm jetzt ein bisschen klarer geworden.
Karl stand aus dem Kastensitz auf und ging weiter in Richtung Schlafgemach, er war von der ganzen Kopfarbeit müde geworden, denn auch, wenn alle immer behaupteten, dass Arbeit mit dem Kopf gar keine Arbeit sei, so sah Karl es anders. Nur wer mit dem Kopf arbeitete, konnte es im Endeffekt zu etwas bringen, wer immer nur mit dem Körper arbeitete hingegen nicht, er war sich dieser Theorie ziemlich sicher, auch wenn sie etwas überheblich klang, aber er hatte eben bei „Platon“ gelernt.
Er schaffte es gerade noch in sein Bett, schlief zügig ein, hatte aber Albträume, was normal nicht seine Art war. Er träumte davon, wie Plektrud sich über ihn lustig machte und ihn immer und immer wieder auslachte, auf sein Essen spuckte und ihn verhöhnte. Das war nicht schön, gar nicht schön war das!