Читать книгу Kastensitz - Sebastian Bickel - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеPlektrud hatte sehr starke Kopfschmerzen. Und Erinnerungslücken. Sie versuchte seit Sonnenaufgang nachzuvollziehen, was genau passiert sein mochte. Sie wusste nur noch, dass sie feiern gewesen war, auf der Feier eines befreunden Herzogs, anlässlich seines Sieges über – sie wusste es auch nicht mehr so genau, irgend so einen mickrig kleinen Volksstamm – es war ihr im Grunde auch egal, und es hatte Wein in rauen Mengen gegeben. Der auf dem Fest ausgeschenkte Wein gehörte zu dem besten, den sie je getrunken hatte. Er war vollmundig und von angenehmer Süße. Allein schon deswegen hatte sie mehr getrunken, als sie eigentlich wollte. Dazu kam noch eine Tatsache, die sie niemals zugeben würde, aber wenn sie erst einmal zu feiern begonnen hatte, gab es kein zurück mehr, dann wurde gefeiert, da kannte sie nichts. Dann waren alle guten Vorsätze vergessen und auch die Folgen des Feierns konnte sie in diesem Fall sehr gut verdrängen. Und wehe, einer der Mitfeiernden wollte nicht so recht mittrinken, da konnte sie zur Furie werden. Nein, das gab es bei ihr einfach nicht. Schon der Gedanke, dass es Menschen auf dieser Welt geben sollte, die nicht gerne feierten widerte sie jedes Mal an, einfach unvorstellbar.
So war Eines zum Anderen gekommen, Plektrud war immer heiterer geworden und hatte getrunken und getrunken und getrunken. Und jetzt, sozusagen am Morgen danach, ging es ihr überhaupt nicht gut. Sie fühlte sich hundeelend und suchte verzweifelt nach einer Sitzgelegenheit, um sich den Abend noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.
Sie schlenderte sowohl plan- als auch ziellos durch die Räume, dann raus auf den Gang und wieder rein in irgendeinen beliebigen Raum. Sie wusste nicht so recht, wo sie sich befand, war einfach losgelaufen. Dazu spürte sie die Nachwirkungen des letzten Abends und in ihrem Kopf hämmerte es. Es war ein Gefühl, als würde jemand ihren Kopf an einen harten Gegenstand schlagen, immer und immer wieder.
Als sie aufs Neue wahllos einen Raum ansteuerte, wurde ihr plötzlich sehr, sehr schlecht. Sie versuchte an die nächste Öffnung in der Mauer zu kommen, dabei war es ihr völlig egal um was für eine Öffnung es sich handelte, fand aber zunächst keine. Als der Würgereiz immer schlimmer wurde und sie es kaum noch zurückhalten konnte, fand sie eine mit schwerem Stoff verhangene Stelle an der Außenwand, von der sie glaubte, dass sich hinter dem Stoff eine Öffnung befände, durch die sie sich erleichtern könnte. Gerade noch so schaffte sie es, den schweren Stoff (und er war wirklich sehr schwer, gerade in einer solchen Situation!) beiseite zu schieben. Plektrud glaubte, ihr Mageninhalt stünde ihr bereits bis Oberkante Unterkiefer, als sie sich übergeben musste. Sie fühlte sich nach diesem Akt der Erleichterung gleich viel besser und war sehr stolz auf sich, nichts nach innen in den sauberen Raum gegeben zu haben, sondern alles schön raus aus dem Loch in der Mauer. Hinein in die Natur.
Plektrud hatte, als eine Folge des Erbrechens, einen wirklich widerlichen Geschmack im Mund und suchte nun verzweifelt nach etwas Essbarem.
Es musste etwas sein, das einerseits den sauren Geschmack in ihrem Mund neutralisierte, andererseits aber nicht zu würzig und fettig war und gleichzeitig keinen Alkohol enthielt. Sie ließ ihren Blick durch den Raum wandern und sah in einer Ecke ein Stück Brot liegen. Zugegebenermaßen sah es nicht mehr sehr lecker aus und eine leichte Schimmelbildung war auch zu verzeichnen, aber es blieb ihr keine Wahl, sie brauchte dieses Stück Brot unbedingt.
Nachdem sie den, wirklich nur oberflächlich vorhandenen Schimmel abgekratzt hatte, gab sie sich dem Genuss dieses trockenen Stücks Brot hin. Schon nach kurzer Zeit war der säuerliche Geschmack in ihrem Mund so gut wie verschwunden. Jetzt konnte sie sich endlich auf die Suche nach einer ordentlichen Sitzgelegenheit machen.
Mit einem Mal kam ihr die Erinnerung. Sie war in dem Lieblingsraum ihres verstorbenen Gatten Pippin gelandet, dem Raum mit dem gemütlichen Kamin und Pippins heiß geliebten Kastensitz. Plektrud drehte sich um und sah ihn auch schon dominant und würdevoll mitten im Raum stehen. Dass sie solch ein Monstrum vorhin übersehen hatte, ließ sie schon sehr stark an sich selbst zweifeln. Vielleicht konnte sie es wenigstens ein bisschen auf ihren derzeitigen körperlichen Zustand schieben, der ja nicht gerade der Beste war. Auf jeden Fall kam ihr der bequeme Kastensitz gerade recht, um einmal gründlich über ein paar Dinge nachzudenken. Leicht torkelnd lief sie zu dem Sitz und sackte fast ein bisschen obszön in die geschmeidigen weichen Felle, die in den Kastensitz integriert schienen, zumindest aber eine Art Polster darstellten.
Ganz langsam ging es ihr wieder etwas besser und sie konnte auch schon klarere Gedanken fassen. Jetzt wo Pippin genauso tot war wie Drogo und Grimoald, konnte es zu ernsthaften Problemen kommen, was auch ihre eigene Existenz anging. Um Childebrand machte sie sich weniger Sorgen, denn Pippin war weder mit dessen Mutter verheiratet gewesen, noch hatte dieser Childe – ihr wurde etwas schlecht, wegen der Nachwehen – brand überhaupt in irgendeiner Form irgendeine Bedeutung. Childebrand konnte man mit einer Grafschaft irgendwo im Frankenreich abspeisen, ihm den Titel dazu verleihen und dann hatte man seine Ruhe.
Aber dieser Karl war ja auch noch da. Plektrud hatte dessen Mutter Chalpaida gehasst. Erst hatte sie ihr den Mann weggenommen und dann auch noch diesen frechen Karl geboren, der zugegebenermaßen nicht gerade dumm war und durchaus ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt hatte, völlig zu unrecht, wenn man Plektrud fragte.
Sie musste schnell etwas zu ihrer Aufheiterung unternehmen, denn zu den Nachwehen der Feier von gestern durfte sich jetzt kein Zorn gesellen, das würde übel für sie ausgehen, soviel wusste Plektrud. Also schnell an etwas anderes denken, die Beherrschung und innere Zufriedenheit zurück erlangen. Mit einem Mal kam ihr etwas Passendes in den Sinn, etwas, das sie jeder Zeit aufheitern konnte: Reichtum. Ihr eigener Reichtum. Im Gegensatz zu Chalpaida war sie geradezu unverschämt reich an Gütern, da hatte die Kleine niemals mithalten können. Oh ja, reich war sie, und von ihrem Reichtum hatte, allen voran, Pippin profitiert. Er hatte dadurch viele Ländereien in die Hand bekommen und Freunde gewonnen, die ihn, auch politisch, stützen konnten, wenn es denn notwendig war.
Genau, da war sie der kleinen, armen Chalpaida so was von überlegen, dass ihr fast die Tränen kamen. Plektrud musste sich korrigieren, es durfte nicht heißen: sie ist überlegen, sondern es musste heißen: sie war überlegen gewesen. Die unnötige Chalpaida war ja schon seit geraumer Zeit tot, das arme, arme Ding. Wie auch immer, Pippin, ihr Pippin war im Endeffekt zu ihr zurückgekehrt, hatte letzten Endes einsehen müssen, dass Plektrud die insgesamt bessere Partie darstellte.
Jedenfalls konnte Plektrud sich jetzt wieder etwas entspannen, wieder etwas mehr in sich selbst ruhen und über die wirklichen Probleme nachdenken. Es gab nämlich viel zu tun, die Machtfrage musste neu gestellt werden. Klar, der Merowinger war formal König, aber was bedeutete das in diesen Zeiten schon. Pippin hatte es vorgemacht, er hatte es bis zu den wirklich Großen geschafft und war am Ende deren Führer und praktisch deren Ansprechpartner geworden.
Nach Pippins Tod hatte sie wenigstens Theudoald als Hausmeier einsetzen können, was nicht gerade leicht war. Aber argumentieren konnte sie. Sie hatte damals einfach die ganzen Schlagwörter heraus gelassen: Legitimer Erbe..., Anspruch..., niemals Bastard einsetzen..., Enkelgeneration..., und so weiter. Und am Ende hatte dann Theudoald das Hausmeieramt ausgeübt. Aber dieser Versager konnte ja noch nicht einmal gegen die Neustrier gewinnen.
Erstmals seit der Wende von Tertry, als ihr Pippin durch einen Sieg gegen die Neustrierer endlich selbst Hausmeier geworden war, hatten sie gegen die doofen Neustrier verloren, eine Schande war das. Sie hatte versucht, nachdem sie sich auf Pippins letzten Willen berufen hatte, mit den Enkeln zusammen zu regieren und anfangs klappte es auch ganz gut, aber Karl war ihr stets, wie ein böser Geist, im Weg gestanden und so hatte sie eine Lösung finden müssen. Sie hatte Theudoald bald scheitern sehen und Drogos Sohn Arnulf war auch nicht die hellste Leuchte am Himmel, der andere, Hugo, war zwar Bischof von Rouen geworden, aber sein Einfluss war geradezu mickrig – einfach lächerlich.
Die Situation war wieder einmal zum Verzweifeln. Plektrud sah sich schon scheitern vor ihrem geistigen Auge, hatte dazu oft Albträume davon, wie sie irgendwelchen Merowingern oder anderen Neustriern oder wem auch immer ihren Schatz, ihr Vermögen aushändigen musste, sollte das alles weiterhin schlecht für sie laufen. Blöd war sie aber trotz allem nicht. Es musste doch eine Lösung für ihr Problem geben und das konnte nicht so weit sein. Sie hatte doch immer noch ein paar mächtige Bekannte; da musste doch irgendwie etwas zu machen sein. Zumindest nahm sie etwas in der Art an, wollte sich dabei jedoch nicht so recht eingestehen, dass Pippins Einfluss am Ende doch ein Stück größer gewesen war als ihr eigener. Jäh brach der Gedanke ab.
Karl, Karl, Karl hämmerte es ihr wieder durch den Kopf. Der musste weg. Irgendwie weg. Irgendwohin. Sie selbst wollte nach all den Geschehnissen ihre Ruhe haben und eine klare Sicht bekommen, aber das konnte sie nicht – nicht solange Karl da war. Nur wie sollte sie ihn beseitigen? Oh! Jetzt hatte sie sich dabei ertappt, wie sie über das böse Wort beseitigen nachdachte, dabei war sie doch keine Mörderin! Sie hatte doch noch nie jemanden umgebracht! Und so sehr Karl, der Bengel, verschwinden musste, so wenig wollte sie ihn eigentlich umbringen, oder? Nein, wollte sie nicht, wirklich nicht, keinen Mord wegen so etwas in der eigenen Familie, auch wenn andere das anders sahen oder in der Vergangenheit anders gesehen hatten. Die Leute würden später dann dazu komische Fragen stellen und vielleicht würde sie sich eines Tages verplappert. In ihrem derzeitigen Geisteszustand würde sie sich sogar auf jeden Fall selbst belasten. Spätestens wenn wieder eine Festivität wäre und sie zu tief in den Weinkelch schauen würde, wäre es unumgänglich. Sie würde sich im Rausch selbst verraten. Definitiv. Unter Tränen würde sie alles zugeben und dann vielleicht selbst für immer verschwinden, in einem tiefen Kerker. Oder sie würde dem Scharfrichter vorgeführt und bestünde dann aus zwei Teilen: Kopf und Rest – kein schöner Gedanke jedenfalls.
Nein, Karl sollte leben, aber sich nicht in die politischen Dinge einmischen. Sie dachte noch eine Weile darüber nach, bis ihr plötzlich der erleuchtende Gedanke kam. Ja genau, sie wusste jetzt, was zu tun wäre. Sie hatte auch schon ein konkretes Bild vor Augen. So würde alles gut werden und sie hätte danach keine schmutzigen Finger, zumindest nicht besonders stark verschmutzte. Ihre Weste würde so gut wie sauber bleiben.