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Das donnernde Geräusch beim Einfahren der Züge hatte Solana regelmäßig zusammenzucken lassen. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum Züge so schnell in den Bahnhof rasen. In New York fuhren die Bahnen mit Lichtgeschwindigkeit und hielten erst in der allerletzten Sekunde kurz vor der Markierung. Solana bekam jedes Mal einen Herzinfarkt.

Auch die Katakomben der Arena erinnern an einen U-Bahnhof, es gibt bloß keine Graffitis oder Werbebilder, alles – die Wände, die Decken, die Böden – erstrahlt in sterilem Weiß, und von oben brummen die Bässe, als würde der L Train in Dauerschleife über ihre Köpfe hinweg rasen.

Die Bässe sind ihr Einsatz. Das Zeichen zum Loslaufen, damit sie rechtzeitig zur ersten Strophe von I started walking auf der Bühne ist.

Ana ist bis zur letzten Sekunde bei ihr. Erst kurz vor der Treppe, die nach oben führt, verabschieden sich die beiden. Ana umarmt sie dann noch einmal, sagt aber nichts, weil das Mikro schon an ist und die ganze Arena sie hören würde. Dann verschwindet Ana in den Katakomben und Solana muss alleine hinauf ins Blitzlicht. Ihre Tänzer und Musiker warten in der Versenkung am hinteren Bereich der Bühne, werden erst zum zweiten Song hochgefahren.

Mittlerweile ist es fast zehn Jahre her, dass sie Ana kennengelernt hatte, und Solana muss immer an den L Train denken, wenn sie mit Ana durch die Katakomben der Arenen läuft und die Bässe über ihnen brummen. Weil ihre ersten Wochen in New York untrennbar mit dem L Train verbunden sind.

Die sieben Stationen von der Jefferson Street bis zur Bedford Avenue waren eine Reise in eine andere Welt. Der Weg zur U-Bahn führte durch den Maria Hernandez Park, über den gepflasterten Platz mit dem Papageienbild auf dem Boden, vorbei an den Skatern, hin zu der Station, die wegen des pastellfarbenen Designs und der altmodischen Mosaikbilder auf den gekachelten Wänden fast ein bisschen berühmt war. Bushwick war damals noch wie aus der Zeit gefallen. Nichts deutete in irgendeiner Weise auf Fortschritt hin. Die Straßen waren grau und die Häuser verfallen. Man hatte Angst, dass einem das Haus auf den Kopf fiel, sobald man eine Tür öffnete. Solana bewohnte ein kleines Zimmer in einer dieser Abrissbuden mit Bad auf dem Flur, Schimmel an den Wänden, Geschrei auf den Gängen …

Williamsburg hingegen war eine ganz andere Welt. Wenn Solana an der Bedford Avenue ausstieg und die kleine Treppe zur Straße hochlief, wähnte sie sich wie in einem Film. Die Menschen bewegten sich viel selbstbewusster. Sie waren komplett von sich überzeugt. Solana arbeitete in einem der vielen Cafés der Gegend, die aber nicht mehr Cafés hießen, sondern Namen wie »Independent Coffee House« trugen.

Die Cafés sahen altmodisch aus, aber nicht verwahrlost altmodisch wie die Häuser in Bushwick, sondern schick altmodisch, mit Vintagemöbeln, geschliffenen Böden aus Holz und Bücherregalen im Retrodesign, die mit Nippes, Kunst und Magazinen dekoriert waren. Die Kundschaft bestand aus jungen Müttern mit Yogamatten und Kreativen mit Bart und Brille, die auf ihre Laptops starrten und, wenn sie denn mal mit einem redeten, erzählten, dass sie gerade ein neues Projekt pitchten. Von der Kreativität sah Solana jedenfalls nie viel.

Sie sah in erster Linie junge Schnösel, die die monatlichen Schecks ihrer reichen Eltern in Fünf-Dollar-Kaffee und Sandwiches investierten. Dafür war der Kaffee echter Kaffee und wurde in großen, altmodischen Tassen aus Porzellan serviert. Solanas Job war es, den Kaffee aus der silbernen, überdimensionierten Maschine, die nach jeder Anwendung aufs Neue gereinigt werden musste, in die überdimensionierten Tassen laufen zu lassen, um sie den jungen Kreativen servieren zu können. Die konnten stundenlang Kaffee trinken. Solana hatte keine Ahnung, ob die überhaupt irgendwas arbeiteten, manche saßen bloß da und starrten doof auf ihre Laptops. Den Kaffee aus der Maschine zu bekommen, war gar nicht so leicht.

Am Kaffeeautomaten hing eine Anleitung, die die notwendigen Arbeitsschritte genauestens illustrierte, von der Aktivierung der Wasserkesselbeheizung über die Reinigung des Dampfrohres bis hin zur ordnungsgemäßen Platzierung des Plätzchens auf dem Unterteller neben der Kaffeetasse. Bei der Kaffeezubereitung durfte dem Personal – ganz wichtig – kein Fehler unterlaufen.

Darauf achtete penibel ihr Chef Phil, ein bärtiger Mittdreißiger mit Flanellhemd und Cap, der sich selbst als gechillten, aber innovativen Geschäftsmann verstand. Doch leider war Phil, wie Solana fand, alles andere als gechillt und konnte einem sogar voll auf den Sack gehen, vor allem, wenn viel los war. So wie an jenem Samstag, an dem sie Ana, Fanta, Ninja und Patricia kennengelernt hatte, viel los war.

Solana hatte eine Bestellung über fünf Milchkaffee, davon zwei mit Sojamilch, zwei veganen Donuts, eine Gemüse-Quiche, ein Putenbrust-Sandwich und einen Humus-Bagel aufgenommen und war jetzt am Kaffeeautomaten zugange, als Phil plötzlich hinter ihr aufzuckte.

»Du, sag mal, der Tisch drei ist ja weg!«

Solana guckte rüber zu Tisch drei. Der Tisch war da, doch die Leute, die da eben noch gesessen hatten, waren tatsächlich weg.

»Hast du die abkassiert?«

»Nein, ich war gerade … die sind weg? Fuck, die sind echt weg«, seufzte Solana.

»Ja, die sind echt weg«, bestätigte Phil in einem Ton, der zwar gechillt wirken, zumindest seiner Vorstellung nach, gleichzeitig aber auch eine gewisse Unzufriedenheit signalisieren sollte.

»Die von Tisch drei sind echt weg. Und du hast die nicht abkassiert. Weißt du, was das ist? Scheiße ist das. Richtige Scheiße ist das«, fügte er hinzu und schaute sie an wie ein Lehrer, der seiner Schülerin gerade mitteilt, dass sie wohl eher nicht versetzt wird.

»Was für Arschlöcher auch. Die sind einfach gegangen. Das kann doch nicht wahr sein«, entgegnete Solana, die versuchte, seinem gechillt strengen Blick auszuweichen, da sie aggressiv wurde, wenn Phil sie so gechillt streng anguckte.

Doch Phil bohrte sogar nach mit seinen glasigen Knopfaugen, die ihm ein bisschen was von einem belämmerten Teddybären verliehen.

»Weißt du, ich schmeiß hier den Laden, ich mach die Buchhaltung, ich muss gucken, dass die Getränkelieferungen … Ich kann mich nicht auch noch darum kümmern, dass die Leute hier bezahlen. Da hast du den Verantwortungshut auf und da erwarte ich schon von dir, dass du das auch auf die Reihe bekommst«, sagte Phil, den Blick immer noch auf sie geheftet, jetzt schon deutlich strenger und weniger gechillt, woraufhin Solana einmal tief Luft holen musste.

Ganz tief Luft holte sie. Weil sie den Job natürlich brauchte, denn ohne Job war man in der Stadt ja verloren. Zwar sollte sie sich in der nächsten Woche endlich mit dem Produzenten treffen, der ihre Demos eindrucksvoll, vor allem aber ihre Stimme sensationell fand, aber das hieß natürlich nicht, dass sie damit auch Geld verdienen würde. Also brauchte sie diesen Job. Was sie auch daran hinderte, Phil den nächsten Kaffee in seine gechillt knopfaugige Visage zu schütten, wie sie es eigentlich so gerne machen wollte.

»Ich hab … ich war hier gerade … ich meine, der Laden ist voll, und ich hab hier …«, versuchte Solana sich zu rechtfertigen, während sie überlegte, warum sie sich eigentlich rechtfertigen musste, denn der Laden war tatsächlich rappelvoll, sie war alleine an der Theke, und wenn diese Arschgeigenschnösel es für nötig hielten, die Zeche zu prellen, während man ihnen mal für drei Sekunden den Rücken zuwandte, dann konnte Williamsburg ihr gehörig den Buckel runterrutschen.

»Ich hab, ich hab«, äffte Phil sie noch nach. »Ich sehe nicht, dass du was hast. Ich sehe nur, dass Tisch drei weg ist, und zwar ohne zu bezahlen«, wiederholte er, die Hände in die Seiten gestemmt, offenbar angepisst, da Solana auch noch Widerworte gab. Sie hätte sich ja einfach in ihr Schicksal fügen können. Sich entschuldigen, und gut wäre gewesen. War es aber nicht. Weil Phil mit seinen in die Seiten gestemmten Händen nicht nur noch belämmerter aussah, sondern offenbar wirklich dachte, er könne Solana vor versammelter Kundschaft die Leviten lesen. Mittlerweile hatten einige der umliegenden Tische sogar ihre Gespräche unterbrochen und starrten gebannt zu ihnen rüber.

»Du brauchst mich nicht so nachzuäffen und dich hier aufzuführen wie ein Scheißlehrer. Der Scheißladen ist scheiß-voll und ich war mit dem Scheißautomaten hier beschäftigt und ich hab keine Augen an meinem Scheißhinterkopf. Deswegen kann ich auch nichts dafür, wenn diese Scheißwichser ihren Scheißkaffee nicht bezahlen«, schimpfte Solana in jetzt doch deutlich anschwellender Lautstärke, ein bisschen über sich selbst erschrocken, woraufhin die vier Mädchen am Tisch vor ihr anfingen, lautstark zu johlen.

»Haha, geil, Baby. Gib es dem Arsch«, krakeelte die mit den Locken, woraufhin die mit den pinken Haaren nachlegte: »Lass dir bloß nichts sagen. Der soll mal selber kellnern, dann kann der auch sein Maul aufreißen.«

»Was … sag mal, wie redest du mit mir? Und wer seid ihr eigentlich? Ihr habt hier überhaupt nichts zu melden«, stammelte Phil, ehe er sich wieder Solana zuwandte. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«

»Ich hab es jedenfalls nicht nötig, mich von einem Typen wie dir zum Affen machen zu lassen. Dir haben sie wohl ins Gehirn geschissen«, schimpfte Solana und machte sich auf Richtung Küche, ihre Sachen holen, wobei sie Phil sogar ein bisschen anrempelte. Das aber eher unabsichtlich, denn Anrempelei war eigentlich nicht so ihre Art. Der war jetzt völlig perplex. Keine drei Sekunden später tauchte Solana wieder auf, ihre Tasche in der Hand, und verließ wortlos das Café, während Phil ihr entgeistert nachstarrte.

»Dumm gelaufen«, grinste die mit der Brille und fügte noch hinzu: »Hier, wir verziehen uns auch. Keine Angst, wir zahlen auch ordnungsgemäß. War eh das letzte Mal, dass wir hier waren.«

Die Mädchen warfen zwei Scheine auf den Tisch, standen auf und liefen Solana hinterher.

»Hey, warte mal«, rief die mit der Brille draußen auf der Straße zu Solana. »Was war das denn für eine geile Aktion, bitte?«

»Was ein Arsch«, schimpfte Solana, immer noch außer sich vor Wut. »Der ist ja wohl wirklich nicht mehr ganz dicht.«

»Die sind hier alle nicht mehr ganz dicht. Guck dich doch um. Die leben in ihrer kleinen Blase und denken, sie wären die fetten Checker, weil sie auf irgendeinem Blog gelesen haben, dass Williamsburg der heiße Shit ist. Aber sehen aus wie Holzfäller aus Kanada von vor dreißig Jahren mit ihren bescheuerten Trucker-Caps und benehmen sich auch so. Das Viertel ist so am Arsch, das glaubt man gar nicht«, sagte die mit der Brille und den langen braunen Haaren. »Ich bin übrigens Ana. Das sind Fanta, Ninja und Patricia.« Sie hielt ihr die Faust entgegen.

»Ich bin Solana.«

»Was ein Vollspasti, der Typ«, bestätigte die Latina mit den kurzen Haaren.

»Und was macht ihr hier, wenn das Viertel so am Arsch ist?«, fragte Solana.

»Anas Oma wohnt hier, die gehen wir einmal die Woche besuchen«, sagte die Pinke. »Anas Oma ist so cool, ohne Scheiß.«

»Ich bin hier aufgewachsen«, nickte Ana bestätigend, »aber wir sind vor zehn Jahren weggezogen. Meine Oma wohnt aber noch hier. Die meint immer, die geht hier nicht mehr weg, eher müsse man sie raustragen. Die wohnt hier seit über vierzig Jahren.«

»Die kann echt die geilsten Geschichten erzählen. Früher war das Viertel noch ganz anders, da gab es die ganzen Idioten noch nicht. Anas Oma musste mal einen Handtaschenräuber mit dem Radio fangen, kein Witz«, sagte die, die offenbar Fanta hieß.

»Die hat einen Handtaschenräuber mit dem Radio gefangen?«, fragte Solana irritiert. »Wie das denn?«

»Die saß am Fenster und hat Radio gehört und die Leute auf der Straße beobachtet. Da kam ein Hilferuf und da lief ein Typ mit Handtasche lang, der musste unter ihrem Fenster vorbei. Die hat dem das Radio voll auf den Kopf geworfen. Die hat den voll umgeknockt. Der lag auf dem Bürgersteig und das Radio lief noch, musst du dir bildlich vorstellen. Im Radio lief Respect von Aretha Franklin«, grinste Fanta.

»Meine Oma erzählt schon sehr viel. Glaub, die dichtet manchmal auch ein bisschen was dazu. Muss man nicht immer alles glauben«, relativierte Ana.

»Kein Scheiß, ich glaub der das voll. Anas Oma ist voll der Umknocker. Der lag auf der Straße und neben ihm das Radio und da lief Respect, just a little bit, just a little bit. Als die Bullen kamen, sind die aus dem Auto raus, haben den Typen da liegen sehen, das Lied gehört … die haben voll abgetanzt, als die den verhaftet haben«, sagte Fanta. »Ich meine, wie geil, oder? Passte natürlich voll aufs Auge. Respect, just a little bit …«, sang Fanta, woraufhin die anderen einstiegen. »… just a little bit.«

Solana zog ihre linke Augenbraue hoch. Die Mädchen schienen ja echt lustig zu sein. Sie tanzten jetzt auf der Straße, während die Williamsburger Hipster belustigt an ihnen vorbei schlenderten.

»Komm, mach mit, just a little bit, just a little bit …«

Solana musste grinsen.

»Wo kommst du her? Ich meine, du wohnst doch nicht hier, oder?«, fragte Ana schließlich. »Du siehst jedenfalls nicht so aus.«

»Nee, ich wohne oben in Bushwick. Am Maria Hernandez Park«, sagte Solana.

»Ich wohne in der Hart Street. Bei der großen Poststation.«

»Echt? Das ist zwei Blocks von mir«, sagte Solana.

»Dann sind wir ja Nachbarn. Ich hab dich aber noch nie gesehen. Du wärst mir aufgefallen.«

»Ich wär dir aufgefallen?«

»Klar, du bist cool. Cooler Style und so. Kein Scheiß, du bist ein cooler Typ. Lass dich ja nicht von so Holzfällern ansaugen. Der hat überhaupt keinen Style.«

»Cooler Style?« Solana guckte an sich herunter. Sie trug ihre abgewetzte Slim Fit Jeans, an den Knöcheln hochgerollt, dazu ein graues Sweatshirt mit dem Wappen der Detroit Tigers und ihre ausgelatschten Leinenschuhe. Alles in allem hatten ihre Klamotten vielleicht dreißig Dollar gekostet.

»Cooler Style«, nickten Ninja, Fanta und Patricia bestätigend.

»Und wo kommt ihr her?«, fragte Solana die anderen.

»Fanta und ich wohnen in Brownsville. Das ist echt mal abgeranzt. Patricia wohnt hier in der Nähe am Skatepark«, sagte Ninja.

»Ist aber auch megaätzend«, rechtfertigte sich Patricia.

»Und ihr heißt wirklich … Ninja und Fanta? Ihr wollt mich doch verarschen, oder?«

»Nein, Fanta heißt echt Fanta. Ist ein westafrikanischer Name. In Westafrika heißt jede Zweite Fanta«, erklärte Ana.

»Und dabei hasse ich diese Plörre«, schwor Fanta.

Solana guckte noch verdutzter.

»Und … Ninja ist auch ein westafrikanischer Name?«

»Nee, Ninja ist … wegen Kampfsport und so. Ninja ist mein Spitzname. Meine Eltern kommen aus der Dominikanischen Republik.«

»Ninja kann echt gut Jiu-Jitsu. Die hätte deinem Holzfäller voll die Nase gebrochen, wenn der die so angesaugt hätte«, sagte Patricia.

»Auf jeden Fall«, bekräftigte Ninja. »Ich meine, wir können das noch nachholen. Wir boxen den zusammen, bis der seine Mami ruft.«

»Nee, lass mal, ist schon gut.«

»Hast du Bock, was zu rauchen?«, fragte Ana. »Wir wollen zur Waterfront. Fluss rauchen.«

»Den Fluss rauchen?«, fragte Solana irritiert.

Sie hatte ja gehört, dass man einen Eimer rauchen konnte. Aber einen Fluss rauchen? Wie stoned waren die denn?

»Klar, wir rauchen den ganzen scheiß East River weg«, grinste Fanta. »Komm mit.«

»Our blunts are burned, so now it’s your turn, to smoke – smoke me a river, yeah, let’s smoke the river …«, sang Patricia auf die Melodie des Justin Timberlake-Songs, und Solana musste das erste Mal, seit sie vor gut drei Wochen aus Bluefields, Nicaragua, in diesem Moloch angekommen war, so richtig laut lachen.

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