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Solanas Kopf fühlt sich an, als hätte sie drei Flüsse geraucht. Sie kann die Welt anhalten wie Quicksilver von den X-Men. Wobei Quicksilver die Welt ja nicht anhält, es ist komplizierter. Er ist einfach unfassbar schnell. Solana ist alles andere als schnell gerade. Auch die Menschen um sie herum sind wie festgefroren.

In circa dreißig Sekunden wird sie die Bühne entern und das Mikro zum Mund führen, um die erste Strophe von I started walking zu singen.

Dreißig Sekunden sind eine ewig lange Zeit, wenn man Quicksilver ist.

Dreißig Sekunden sind eine ewig lange Zeit, wenn man schwarze Magie beherrscht.

Dreißig Sekunden sind eine ewig lange Zeit, wenn man schwarzen Afghanen geraucht hat.

Oder was auch immer dieses Teufelskraut war. Solanas Welt ist wie verhext.

»Eines Tages wird die Welt untergehen durch schwarze Magie«, hieß es in einer der Märchengeschichten, die Ur-Oma Olivia immer erzählt hatte. Demzufolge arbeiteten dämonische Kräfte daran, die Erde ins Chaos zu stürzen. Die Geschichte der Menschheit sei untrennbar verbunden mit den Geschichten der Geister und man könne nur hoffen, dass die guten Geister siegen werden.

Solana kann gerade nicht einschätzen, ob sie ein guter Geist ist. Die Magie wächst ihr über den Kopf. Sie kann Ninja sehen, sie hat Blickkontakt mit Ninja, die in der Versenkung an der Rückseite hockt, gemeinsam mit den anderen Tänzerinnen und Tänzern, und ihrer Band. Rock am Schlagzeug, Leeza an Bass und manchmal Gitarre, Mercedes und Skillz an der Elektronik, Dodge an der Percussion. Sie kann sie alle sehen, von der Treppe aus, die nach oben zur Bühne führt.

Huhu! Noch jemand Bock auf Cheetos? Sie wedelt mit der kleinen Tüte, die ihnen die Frau mit dem Pagenschnitt vorhin kommentarlos überreicht hatte, die mitbekommen haben musste, wie geil Cheetos jetzt wären.

Sie schiebt sich zwei der köstlichen crunchy Käseflips in den Mund. Solana passt auf, dass sie nicht mit der Tüte raschelt, denn das Mikro ist bereits an und wenn fünfundzwanzigtausend kreischende Menschen sie kurz vor der Show beim Chips-Mampfen hören, wäre das peinlich. Andererseits hat sie die Welt ja angehalten, von da an können die Leute sie gar nicht hören. Vermutet sie zumindest. Und selbst wenn Solana Ninja winkte, könnte die gar nicht zurückwinken.

Weil … na, weil sie halt stehengeblieben ist wegen der ganzen Scheiß-Magie. Wie gerne würde sie Ur-Oma Olivia anrufen und fragen, ob es nicht irgendein Gegenmittel gegen die Magie gibt. Die Welt anzuhalten, ist prinzipiell eine gute Sache. Aber nicht dreißig Sekunden vor Showtime. Vor allem, wenn man nicht mehr weiß, wie die Rückverzauberung funktioniert.

Die Bühne ist stockdunkel, finster, man sieht die Hand vor Augen kaum. Lediglich die Handys und Kameras blitzen bedrohlich, der Bass brummt und donnert. Gleich müssten die Hi-Hats einsetzen, die zischeln wie Schlangen in einer Grube, und dann wird sie endlich das Mikro zum Mund führen und hinein ins Blitzlichtgewitter laufen.

Der Weg ist eigentlich kinderleicht. Sie muss einfach die letzten Stufen und geradeaus. Ein Katzensprung. Easy. Absolut kein Ding. Die Katakomben hingegen nahmen kein Ende. Das war ja nicht auszuhalten. Meilenweit war sie durch die Katakomben gelatscht, mit Ana, gefühlt an die zwei Stunden waren sie unterwegs gewesen. Als würden die Katakomben durch halb Tokio führen. Sie musste an den Witz denken, den Fanta neulich erzählt hatte: »Warum haben es die Inder so weit bis zu den Toiletten? – Weil die am Ende des Ganges sind!«

Sie reicht dem Security-Typen, der an der Treppe postiert ist, vorsichtig die Tüte, zupft sich ein letztes Mal das Tuch zurecht, prüft nach, ob es auch richtig auf dem Kopf liegt.

Ihre Hand zittert ein wenig, aber das ist normal. Das tut sie immer kurz vor der Show.

Solana García López, geboren an einem 31. Oktober als Tochter von Jose García de Alvarado und Lisa López in Blue-fields, Nicaragua, zupft sich ein letztes Mal ihren Blouson zurecht, den Blouson mit dem berühmten Skorpionmuster, der zeigt, um was für ein Sternzeichen es sich bei der im Blouson befindlichen Person handelt. Denn dass sie ein ziemlich skorpionhafter Skorpion sei, wurde ihr immer wieder bescheinigt. Dickköpfig sei sie, wie Ty betonte, kompromisslos, eigenwillig, jemand, der seinen Weg gehe und manchmal den Stachel dafür einsetze.

»When I started to walk«, lautet die erste Zeile von I started walking, dem Song, den sie in ungefähr dreißig Sekunden anfangen wird zu singen. Wenn die Magie hoffentlich aufgehört hat zu wirken. Der geborene Kämpfer und Jäger sei der Skorpion, jemand der sich durchsetze. Solana bedeutet wortwörtlich Sonnenseite und das hatte sich ihre Mutter natürlich schlau ausgedacht, denn an einem Tag im Morgen wird eine neue Sonne aufgehen, die die ganze Erde erleuchten wird, hieß es im Lied der Sandinista, und in Bluefields geht die Sonne tatsächlich morgens im Meer auf, weil Bluefields an der Ostküste Nicaraguas liegt, an der Karibikseite, der Sonnenseite. Wobei Bluefields alles andere als malerisch und an manchen Stellen sogar ziemlich verwahrlost ist. Doch dass Solana eines Tages die ganze Erde erleuchten würde, das hatte ihre Mama immer gewusst. Anders als Ur-Oma Olivia war sie davon überzeugt, dass man die Welt nur über die Musik retten könne. Music is the healing force of the universe, sagte sie immer. Auf die guten Geister allein dürfe man sich niemals verlassen.

Wenn Solana erzählt, dass sie von der Karibikküste kommt, denken auch viele an Voodoo und Zauberei. Da Solana an genau jenem Tag Geburtstag hat, an dem die Amerikaner ohne hin durchdrehen und sich ihrerseits als Voodoo-Zauberer oder Karibik-Piraten verkleiden, ist das Unheil manchmal vorprogrammiert. So ganz an Halloween gewöhnen konnte sie sich nie.

Ihren ersten New Yorker Halloween-Geburtstag hatte sie noch unverkleidet mit Ana, Fanta, Patricia und Ninja gefeiert. Sie saßen in Patricias riesigem Kinderzimmer und aßen die Kekse, die Ana gebacken hatte. Keine gewöhnlichen Kekse, sondern magische Kekse. Da die Kekse nicht nur saulecker, sondern ziemlich spacig waren, blieben sie einfach zu Hause, lachten sich über jeden Scheiß tot (»Alter, das Zimmer ist voll geschrumpft. Guck, wie groß mein Finger!«) und schliefen megastoned übereinander und ineinander verrenkt auf Patricias schaukelndem Wasserbett ein.

Patricias Eltern wohnten in der Bayard Street gleich neben dem graubetonierten Skatepark. Ihr Dad hatte früher selbst geskatet. Er war Leiter eines kleinen IT-Unternehmens. Eigentlich waren Patricias Eltern ziemlich cool. Aber manchmal waren Patricias Eltern auch ziemlich nervig, fand Solana. Weil sie einen immer belehren mussten, was cool war. Ständig dozierten sie darüber, was cool war. Vor allem Patricias Vater. Stundenlang konnte der übers Coolsein dozieren. Immer wenn Solana mit den anderen bei Patricia zu Besuch war, gab es Vorträge darüber, was cool war. Zum Beispiel was richtig cooler Hip-Hop war. A Tribe Called Quest war richtig cooler Hip-Hop. The Roots machten richtig coolen Hip-Hop. Dagegen dieser ganze Blingbling von heute, da ginge es gar nicht mehr um Consciousness. Reine Angeberei mit dicken Autos, Titten und Ärschen, sagte Patricias Vater dann mit einem Augenzwinkern in Solanas Richtung, als wolle er andeuten, dass es auch in ihrer Musik um Autos, Titten, Ärsche ginge. Dabei hatte Solana nicht mal einen Führerschein. Außerdem wusste sie selber, dass The Roots ziemlich coolen Hip-Hop machten. Sie war ja nicht blöd. Patricias Vater machte keinen Hehl draus, dass er ihre Musik nicht sonderlich ernst nahm, aber das war Solana egal. Dafür mochten viele andere ihre Musik.

Schon im nächsten Jahr bekam sie von ihrer Plattenfirma eine Riesen-Halloween-Geburtstagsparty geschmissen. Ihr erstes Album war eben erschienen. Solana war der Star der Stunde. Nicht nur die verkleideten Leute, ihr ganzes Leben war plötzlich ziemlich weird. Sie bekam Glückwunschnachrichten von Pharrell und Snoop. Auf der Party schauten Timbaland und Missy vorbei. Solana bekam schwitzige Hände, weil sie Missy vergötterte, aber Missy war supernett und sagte, sie fände Solanas Album superfreaky. Auch viele andere Leute, die Solana noch nie gesehen hatte, von denen sie aber gehört hatte, dass sie auf jeder Party vorbeischauten, schauten vorbei und sagten, sie fänden ihr Album superfreaky. Sie plapperten Missy einfach nach! Doch wenn Missy sagte, dass sie was superfreaky fand, dann war es auch superfreaky. Die anderen waren bloß Papageien und fanden alles super-freaky, auch wenn sie keine Ahnung hatten. Solana mochte es trotzdem, dass so viele Leute vorbeischauten, auch wenn viele davon Papageien waren, die verkleidet durcheinander plapperten.

Sie hatte sich als Michael Myers aus der Filmreihe Halloween verkleidet. Leider war ihr Messer nicht echt, sonst hätte sie es dem Captain Jack Sparrow, der Solana ernsthaft fragte, warum sie denn nicht als Calypso ginge – also die magische Calypso aus Fluch der Karibik –, eine gewisse Ähnlichkeit sei doch vorhanden und sie könne doch sicher auch Voodoo und würde ja nicht nur die Meere in Wallung bringen, in den Hals gejagt. So konnte sie ihn lediglich fragen, ob er den gleichen Hirnschaden habe wie sein Kostümvorbild und ob er sich bitte verpissen würde. Aber auf einer solchen Party verpisste man sich nicht ohne Weiteres.

Es sollte sich herausstellen, dass Jack Sparrow ein ziemlich hohes Tier in ihrer Plattenfirma war, wie Nosferatu alias David ihr unverzüglich mitteilte, den könne man nicht so einfach rausschmeißen. Solana entgegnete, warum nicht, ist meine Party und ich kann rausschmeißen wen ich will, worauf David schmunzelnd meinte: »Man merkt, dass du Skorpion bist.«

Der Jack Sparrow, der Solana bis heute nicht leiden kann, soll David später unter vier Augen gefragt haben, was das denn für eine Hexe sei und was die denn für ein Problem habe.

Tatsächlich galt Bluefields auch in so mancher Märchenerzählung ihrer Ur-Oma als geheimer Treffpunkt der Hexen. Olivia erzählte von den Erdbeben, die die Hexen seit Jahrhunderten auslösen würden. Kilometertiefe Krater seien durch diese Erdbeben entstanden, und wer da reinfiel, wurde nie wieder gesehen. Die meisten Erdbeben kämen kurz nach Halloween, sagte Olivia dann mit einem Augenzwinkern, und sah sie prüfend dabei an, als fürchtete sie, Solana würde an ihrem nächsten Geburtstag einen riesengroßen Krater herbei hexen und das halbe Land plumpste da rein.

Die Krater nannte man Sinkholes, und Solana hatte sich das gemerkt und einen Song auf ihrem zweiten Album Sinkhole genannt. Sie fand, das sei ein guter Titel für einen Song, der auch symbolisch ganz gut funktioniere.

Fanta hatte gefragt, warum denn nicht Stinkhole, das sei doch symbolisch auch ganz gut. Dann hatte Fanta gefragt, ob Solana nicht mal an ihrem Stinkhole riechen wolle, und Solana hatte als Antwort natürlich nicht an Fantas Stinkhole gerochen, sondern ihr voll in den Arsch getreten.

Schließlich war Ur-Oma Olivia gestorben, ganz ohne schwarze Magie.

Jose García de Alvarado könnte seinerseits etwas weiße Magie gebrauchen, denn er hat Darmkrebs und liegt in einem New Yorker Krankenhaus. Solana hatte ihrem Vater einen Platz in einer der besten Kliniken des Landes bei einem der besten Krebsspezialisten der Welt besorgen können, aber mehr als beten und hoffen kann man jetzt nicht mehr. Sie hatte vorhin mit ihm telefoniert. Er versprach, weder die schwarze Magie noch der schwarze Tod würden ihn jemals kriegen. Er werde sie noch alle überleben. Solana sagte, natürlich wirst du uns alle überleben, du dumme Nuss, und gab ihm einen Kuss. Die Hi-Hats fangen an zu zischeln. Sie muss die Magie jetzt schleunigst wieder auf die Musik lenken. »When I started to walk« lautet die erste Zeile des Openers. Das Geschrei ist jetzt unendlich laut. Solana atmet noch einmal tief durch und fängt an zu laufen.

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