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Prolog aus dem Sturm

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Jetzt. Es gibt kein Zurück. Den Talar habe ich abgelegt, das Schlusslied ist gleich vorbei. Durchatmen. Ich lehne an der Kirchenbank, vermeintlich lässig, Blick zum Altar. Wenn die wüssten, wie es in mir aussieht. Der letzte Ton erklingt. Nun ist es soweit. Ich richte mich auf, gehe ein paar Schritte. Keine fünf Meter sind es zu der Stelle, zu der ich hin will. Dort habe ich gestern Abend noch geübt, was ich jetzt sagen will. Üben – das habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht. Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Jetzt stehe ich da, öffne meinen Mund, fange an zu sprechen – und alle hören nur das Luther-Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“. Der Organist hat mit dem Auszugslied begonnen. Das war anders abgesprochen. Doch keiner rührt sich. Alle warten, denn alle wissen, dass ich etwas sagen will.

Ich gehe zurück zur Bank und lehne mich wieder dagegen. Draußen stürmt es, man hört den Wind jaulen, die Kirchentüren klappern trotz ihres Gewichts. Plötzlich reißt der Himmel auf, grelles Sonnenlicht strömt in die Kirche – und fällt genau auf mich. Zu viel Drama. Viel zu viel Drama für mich. Wo ist das Loch, in dem ich mich verstecken kann? Der Puls schlägt unerbittlich, viel zu schnell. Sekunden vergehen wie Stunden, die Welt um mich herum bewegt sich wie in Zeitlupe. Ich höre jeden einzelnen Ton. Der Organist nimmt sich Zeit. Normalerweise genieße ich das. Heute ist es eine Qual. Ich schaue mir selber zu, alles ist so unwirklich. Die ganze Nacht habe ich kaum ein Auge zugetan. Wegen des Sturms. Aber vor allem wegen meines Vorhabens.

Als ich an diesem Morgen meinen Talar angezogen habe, war meine Anspannung wie weggefegt. Ich habe den Auftrag gespürt, den Segen Gottes. Seine Liebe. Ich habe das Ankommen gespürt. Tief in mir. Wir haben Abendmahl gefeiert, ich habe über die Sintflut gepredigt. Und über Gott, der sich ins Wort fällt. Der nicht mehr verdammen will. Niemanden. Nie wieder. Wie passend, denke ich, während ich predige. Es ist beides nebeneinander da. Die Gewissheit, richtig zu sein, im Leben und im Beruf. Und gleichzeitig seit Stunden diese Anspannung in den Gliedern. Geht alles gut? Ein Zurück konnte ich mir nicht vorstellen.

Ich hab mich vorbereitet, ein Netzwerk von Unterstützer*innen aufgebaut, manches geplant, ja, aber vieles habe ich an diesem Tag nicht in der Hand. Am allerwenigsten die Reaktionen meiner Gemeinde. Am Morgen verabrede ich mich zum Chatten mit einer Freundin. Sie betet mit mir, ohne geht es nicht. Ich brauche den Zuspruch und die Begleitung anderer. Manchmal fehlen mir die Worte, ein andermal sind sie zu groß, als dass ich sie selbst auszusprechen wage. Segen für mich erbitten und Geleit. Auch ein Seelsorger braucht Seelsorge. Gerade in solch stürmischen Zeiten kann und will ich nicht ohne Begleitung und Segen in einen Gottesdienst gehen.

Es ist Sonntag, der 29. Oktober 2017. Zwanzig Wochen nach einem für mich denkwürdigen Gottesdienst in der Nürnberger Lorenzkirche. Zwei Tage vor dem Reformationstag, 500 Jahre legendärer Thesenanschlag. 2017 stehe ich plötzlich hier und kann nicht anders. Meine Freund*innen sind gekommen. Unterstützer, Wegbegleiterinnen, mein Halt, nicht nur an diesem Tag. Ich reiße mich zum zweiten Mal von der Bank los, jetzt geht alles ganz schnell. Ich höre meine Worte selbst: „Ich habe im Sommer eine große Lebensentscheidung getroffen … seit Kindertagen weiß ich, dass ich im falschen Körper lebe. … Ich habe beschlossen, mich aufzumachen, … ich kann nicht mehr anders.“

So oft hab ich mir das in den letzten Wochen vorgesprochen. Aber von Routine bin ich in diesem Moment, hier in der Kirche vor meiner Gemeinde, ganz weit entfernt. Sage ich das jetzt gerade wirklich? Das alles dauert keine zwei Minuten. Schließlich gehe ich auf eine Freundin in der Mitte der Kirche zu. Sie hat mir einen Platz neben sich freigehalten. Jetzt nimmt sie mich in den Arm, hält mich fest. Ich schaue nur kurz in die Gemeinde. Ein paar überraschte Gesichter kann ich erkennen, andere blicken entspannt. Ein schmerzverzerrter Ausdruck ist auch dabei. Dann brandet Applaus auf. Ich atme zum ersten Mal an diesem Morgen ganz tief durch. Jetzt ist es raus. Ich bin Sebastian.

Transident, damit können nur die Wenigsten auf Anhieb etwas anfangen. Im Gehirn denke und fühle ich männlich, mein äußerer Körper entspricht dem einer Frau. Transidente Menschen erleben dieses Auseinanderklaffen von Denken und Körper schon sehr früh in ihrem Leben. Kindern sage ich in den Wochen danach oft: Stell dir vor, du musst dein ganzes Leben in einem Faschingskostüm herum laufen und darfst es nicht ausziehen. Eigentlich bist du jemand anderes, aber kannst es nicht leben. Seit ich über mich nachdenke, fühle ich mich nicht als richtiges Mädchen oder als Frau – was auch immer das sein mag. Ich fühle mich im falschen Körper. Ich trage meine Haare kurz, ich kann Kleider und Röcke nicht leiden, meine Schuhe finde ich am liebsten in der Männerabteilung. Ich rede wie ein Mann, ich benehme mich wie ein Mann, ich denke wie ein Mann, ich trete auf wie ein Mann. Damit bin ich zeitlebens überall angeeckt. Denn nach außen hin war ich eine Frau. Frau Pfarrerin. Irgendwann war ich als homosexuell geoutet. Ja, es stimmt: Ich liebe Frauen. Aber ich bin keine. War ich noch nie. Werde nie eine sein. Und nun will ich endlich als Mann leben. Ein ganzes Leben, 46 Jahre, läuft in Zeitraffer in meinem Kopf ab, als ich inmitten meiner Gemeinde Platz nehme.

Nachdem der Organist zum zweiten Mal ein Schlussstück gespielt hat, stehe ich auf und gehe an die Tür, um mich von den Menschen der Gottesdienstgemeinde zu verabschieden. Wie jeden Sonntag. Jetzt erst wird mir klar, was für eine ungeheure Menge an Adrenalin in den vergangenen Minuten durch meinen Körper geschossen sein muss. Ich schüttle viele Hände. Wieder fühlt es sich an, als wäre ich in einem Film. Die Menschen sind freundlich, sie sprechen mir Mut zu, danken für die Ehrlichkeit, zollen mir Respekt für den Schritt, umarmen mich, sagen, dass sie zu mir stehen werden als Gemeindepfarrer. Die Konfirmand*innen haben das „Tschüss, Herr Wolfrum!“ offenbar schon ein bisschen geübt. Da steht plötzlich das schmerzverzerrte Gesicht von vorhin vor mir. Der Mann lächelt jetzt. Es tue ihm so leid, sagt er, weil ich so viel Schmerz erleben musste, bis ich endlich zu mir gefunden habe. Da läuft es mir kalt den Rücken runter. Und gleichzeitig fallen tonnenschwere Lasten von meinen Schultern ab. Endlich frei.

Der restliche Tag ist fast bis auf die Minute genau durchgetaktet. Nach dem Gottesdienst schicke ich eine E-Mail ans Pfarrkapitel. Schon vor dem Gottesdienst haben Bekannte, Freundinnen und ehemalige Kollegen in Oberfranken Post von mir bekommen. Die Nachbarschaft fand einen Brief im Briefkasten. Ein Kaffee, etwas Schokolade, dann steht das Fernsehen vor der Tür. Ein Radioreporter ist auch mit dabei. Schon Tage zuvor hatte ich mich mit einem Journalisten getroffen, der meine Geschichte aufgeschrieben und zeitgleich mit dem Ende des Gottesdienstes auch veröffentlicht hat. In der Folge brummt mein Mobiltelefon den ganzen Tag. Darauf war ich zwar vorbereitet, aber die Wirklichkeit fühlt sich trotzdem ganz anders an. Selbst die große Boulevardzeitung ruft an. Deren Internetredaktion hat schnell einen Text dazu veröffentlicht und seit 13 Uhr 30 gehört mir auch die Headline auf der Internetseite der Lokalzeitung.

Draußen wird es irgendwann dunkel, der Wind pfeift noch immer ums Haus. Ich bin hungrig, aber zum Kochen fehlt mir die Ruhe. Normalerweise koche ich gerne, aber heute gehe ich in die Pizzeria am Ort. Ich bin auf alles gefasst nach diesem Tag mit dem Outing in der Kirche, den etlichen Anrufen und Reporter-Fragen, den vielen Mails von Kolleginnen und Freunden. Keine Kritik, keine Aggressivität, alle reagieren wohlwollend, einige mit viel Verständnis und Einfühlungsvermögen. Andere auch lapidar – etwa mit: „Ich hab’s schon immer geahnt!“ Im Restaurant bin ich nicht die erwartete grüne Giraffe, keiner schaut mich anders an als sonst. Die meisten haben wohl weder Radio gehört noch im Internet schon mal die Zeitung von morgen gelesen. Ich aber fühle mich heute Abend unendlich frei.

Immer war ich anders. Die Frau, die zu männlich ist. Die Frau, die Frauen liebt. Seit meinen Kindertagen geht das so. Wegen dieses Andersseins habe ich viel Ablehnung und Unverständnis erlebt. In der Familie, von Gleichaltrigen in der Schule, im Studium, von Kollegen. An diesem 29. Oktober 2017 habe ich dieses Anders sein abgelegt. Ich habe mich aus falschen Hüllen gehäutet, meine Identität als Frau abgelegt. Öffentlich, laut und klar ausgesprochen. Worte sind zu klein, um zu beschreiben, was in mir los ist. Zuhause lese ich noch viele Mails, ich richte ein neues Profil in den sozialen Netzwerken ein. Sebastian, nicht Silke.

Inzwischen ist es Montag. Irgendwann weit nach Mitternacht wird klar: Mir gehört morgen die Titelseite der Regionalzeitung, vierspaltig. Guten Morgen, Welt, hier ist dein Pfarrer. Mein neues Leben hat gerade begonnen.

Endlich ich

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