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Viertes Kapitel

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Sarah und ich liegen da wie Königinnen auf einem steinernen Grabmal. Es ist Nacht geworden, und wir haben uns zur Ruhe begeben. Der Wind zählt noch immer die Blätter in den Bergahornen, hunderteins, hundertzwei.

Ich spüre das Behagen in ihren langen Knochen, aber teilen kann ich es nicht. Zu Bett zu gehen, den sicheren Hafen unseres Bettes zu erreichen, ist für sie so erlösend wie der Tod. Man könnte sogar sagen, dass sie jeden Tag beim Schlafengehen stirbt. Selbst ich bin dankbar, wenn sich das Seil aus ständigen Pflichten endlich lockert. Nicht mehr lange hin, dann wird es wieder an uns zerren.

Dann streckt sie sich. Die Uhr ihres Herzens tickt regelmäßig, unter ihrer fleckigen Haut fließt das Blut in tausend kleinen Bächlein, ihre Brüste heben und senken sich, verleihen der ländlichen Szene auf der Bettdecke einen Anschein von Leben. Ihre Mutter, die Schwester meiner Mutter, hat sie vor vielen Jahren gestickt. Sie zeigt einen Hirsch, der, verfolgt von einem schwarzberockten Jäger auf einem dunklen, dürren Pferd, über grasbewachsene Hügel flieht. Die Landschaft wogt auf und ab wie ein riesiges Meer. Zwischen langen Zähnen und dünnen Lippen strömt pfeifend Sarahs Atem aus.

Die Lider, die sich über ihre großen Augen wölben, sind mit blauen Linien gemustert wie winzige Tassen. Die Bettdecke hat sie so weit hochgezogen, wie es ihr, ohne mich zu stören, möglich ist.

Wir sind Christenmenschen, erfüllt vom wundersamen Licht unseres Heilands, und jeder von uns wurde durch göttliches Geschick eine unsterbliche Seele zugewiesen. Eine unsterbliche Seele in einem allzu sterblichen Körper. Gut, dass ich mich darauf besinne, in diesen ersten Stunden meiner Nachtwache. Ich rechne nicht damit, schlafen zu können.

Mein Kopf fühlt sich an wie ein Flussbett nach einer plötzlich hereingebrochenen Flutwelle. Als hätten die Ereignisse des Tages alles darin weggespült.

Billy Kerr. Er hat mich überrascht. Nachdem er das Pony beruhigt hatte, kümmerte er sich rührend um uns und trug den kleinen Jungen den ganzen Feldweg hinauf, während ich das Mädchen an seiner schmalen Hand führte. Nach meinem Sturz kam ich nur humpelnd voran, behielt Billy Kerr aber im Auge und sah, wie er mit dem Jungen scherzte, ihn zum Lachen brachte und Fingerhüte für ihn pflückte, damit er sie zerdrücken konnte. Offenbar Ablenkung genug, dass sich jede Erinnerung an das schreckliche Erlebnis verflüchtigt zu haben schien.

Und als er uns alle in der Küche abgeliefert hatte und die Kinder auf der steinernen Bank neben dem tröstlichen Torffeuer saßen, marschierte Billy Kerr wieder hinunter zur Kreuzung, zu der Stelle, wo er den Wagen und sein unbußfertiges Zugtier an einen Baum gebunden hatte, setzte sich ohne alle Furcht auf den Kutschbock und brachte das Gefährt zu uns zurück. Eines der Räder quietschte, denn der Metallreif hatte sich von der Felge gelöst, so dass das ruhige Gleichgewicht der Speichen gestört ist, und die hölzerne Umhüllung der Nabe ist verrutscht. Das alles wieder instandzusetzen wird Geld kosten – Geld, das Sarah und ich nicht haben.

Billy Kerr brachte den Wagen in die Heuscheune und Billy das Pony in den Stall. Beide sahen irgendwie gedemütigt aus, der hölzerne Wagen, dessen eine Lampe sich von der Wucht des Unfalls verbogen hatte, wirkte ganz trübsinnig.

Jetzt, im Dunkel der Nacht, muss ich an die beiden denken, daran, dass sie allein sind, voneinander getrennt, als sei der Wagen eine Frau, die man ihrem Ehemann, dem Pferd, entrissen hat.

Schließlich widersetze ich mich dem Drängen der Nacht und trete hinaus auf den sternhellen Hof, um meine knotigen Muskeln und meine stocksteifen Knochen zu strecken. Auf meiner Haut spüre ich noch die Wärme des Bettes. Eine sanfte nächtliche Brise ist sehr an mir interessiert und richtet die Härchen an meinen Armen auf. Vor mir die schlichte Wohnstatt unseres schlafenden Ponys, zu meiner Rechten die schlafenden Kälber und die Hennen in ihrer nie ganz nachlassenden Wachsamkeit. Weil Füchse durch ihren Schlaf streifen, geben die Hennen unaufhörlich winzige Geräusche von sich. Zu meiner Linken der abschüssige Hang des alten Hofes und die Pfeiler des Tores. Hinter der Schwärze des Melkstalls verbergen sich die schönen mächtigen Leiber der beiden Milchkühe, Daisy und Myrtle, die Sarah nicht wieder auf die Wiese oben zurücktreiben konnte. Fressen sie kein Gras, werden ihre Euter auch nicht prall vor Milch. Wird Sarah vergesslich, oder war es der Unfall, der ihr die dafür vorgesehene Zeit geraubt hat?

Es ist schon nach Mitternacht. Unser Hof liegt südlich von Dublin, hinter den Bergen. Das hat vieles ferngehalten und vieles eingeschlossen. In dieser Gegend waren große Gehöfte entstanden, meist im Besitz von Engländern und Protestanten, und erst eine große Kraftanstrengung, die Faust des irischen Unabhängigkeitskrieges, konnte sie zerschlagen.

Dennoch, die Spuren ihrer Macht wirken noch immer nach in unserem Leben. Über sieben Generationen, bis zurück ins letzte Jahrhundert, versah meine Familie das gleiche Amt. Ohne Unterbrechung ging es vom Vater auf den Sohn über, wie in einem richtigen Königtum. Alles, was geschah, und alles, was wir waren, entspross dieser Stellung, wie ein Reis, das Blüten treibt. Sieben Generationen, sieben Männer mit sieben Leben, übernahmen die Pflichten des Gutsverwalters von Humewood. Sie waren die Könige der Landarbeiter. Über White Meg, meinen Großvater, spricht man noch heute. Er war ein hochgewachsener, strenger und harter Mann, der über alle hinwegsah. Wenn er die Straße von Kiltegan heraufkam und auf das Tor von Humewood zuschritt, entbot er niemandem, dem er begegnete, einen Gruß oder richtete das Wort an ihn. Ich erinnere mich nicht daran, ob ich ihn als Kind je selbst gesehen hatte, aber irgendwie weiß ich, spüre ich, dass er sich der ungeheuren Würde seines Amtes bewusst war, der Tatsache, dass er den Platz seiner Vorfahren eingenommen und ihn tadellos ausgefüllt hatte, dass er, in seinem Grab auf dem katholischen Friedhof, ein echtes Vermächtnis von Werk und Wert hinterlassen hat. White Meg wurde er seines üppigen weißen Bartes wegen genannt, eine altmodische Barttracht, die die meisten Männer damals zur Schau trugen und die sich inzwischen überlebt hat.

Niemanden zu grüßen, das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, das habe ich von ihm geerbt. Rechtfertigen ließ sich das nicht unbedingt, außer dass wir uns wacker durch die im Land herrschenden Unruhen schlugen, mein Vater als hoher Beamter der Dublin Metropolitan Police beachtliches Ansehen genoss und wir wie Lieblingshühnchen im großen Hühnerstall des Dublin Castle lebten, wo die Königinnen und Könige von England ihre Polizisten und deren Familien einzuquartieren beliebten, damals, in jenen frohen Tagen, als der Vizekönig seine Flaggen wehen ließ und sein Kommen und Gehen mit gebotener Feierlichkeit und knallenden Stiefeln begangen wurde.

Ich stehe draußen unter dem Sternenlicht. Bestimmt sind die Konstellationen mit ihren Namen nicht zufrieden. Wissen sie, dass man Großer und Kleiner Bär zu ihnen sagt? Weiß der Oriongürtel, dass er der Oriongürtel ist? Im Wind gibt mein Nachthemd ein leises Rascheln von sich, fast knattere ich wie ein Segel. Ich liebe mein Land. Sie weht mich an wie eine zweite, eine innere Brise, diese seltsame und nutzlose Liebe. Es ist dieser Ort, Kelsha, der mich überwältigt, die Anordnung der Wälder, die Anlage des Hofes, die Tiere in unserer Obhut, die Ebenmäßigkeit und Sauberkeit der Steine, all das unsere Sache.

Aus seinem Bett aus Ampferblättern erhebt sich der Misthaufen wie eine ägyptische Pyramide. Hinter den Mauern des langen Schuppens ist das stille Örtchen, wo Sarah und ich unsere Notdurft verrichten. Den Hintern wischen wir mit den Gräsern ab, die dort wachsen und die immer feucht sind. Die städtische Gepflogenheit, Zeitungspapier zu benutzen, ist nicht halb so zufriedenstellend wie diese langen, dünnen grünen Halme. Wir werfen sie in die Grube, wo wir auch unsere Nachttöpfe entleeren.

Da stehe ich also unter dem Sternenlicht und wiederkäue Gedanken, als wäre ich selbst ein Tier, ein weiteres Ding in der Überfülle der Welt. Ich weiß, dass ich nichts bin. Mein Stolz hat kein eigenes Fundament, er ist nur ein Anbau, errichtet auf Vorurteilen, ein Wetterschutz gegen meinen Zorn. Aber darauf kommt es nicht an. Der Architekt ist Gott, und ich schlaflose, älter werdende Frau bin es zufrieden, eine Freundin der Dinge zu sein, die Er geschaffen hat, ein Schatten unter Schatten. Mein Holzapfelbaum ist fester verwurzelt als ich und wird länger überdauern – zweifellos wird ihm und seinen bitteren Früchten eines Tages ein anderes Herz Gefolgschaft leisten, zur Erntezeit die winzigen Äpfel einsammeln und sie mit derselben Hingabe und Heiterkeit auspressen, wie ich es tue, voller Freude über die Großzügigkeit des Baumes, seine innere Ruhe und sein augenscheinliches Glück, seine Fruchtbarkeit. Er ist wie eine Mutter mit alljährlich tausend Kindern, dem Nachwuchs einer Bienenkönigin. Im Herbst summt der ganze Baum unhörbar vor sich hin, so aufgeregt sind seine Früchte.

Da steht er nun, im dunklen Schiefer der Nacht, und breitet seine großzügigen, seine bitteren Arme aus.

Das ist das Glück, das mir gewährt ist.

Wenn ich mich überhaupt noch etwas ausruhen soll, wird’s Zeit, es noch einmal mit dem Bett zu versuchen, denn wenn erst die flinken Finger der Morgendämmerung an der Dunkelheit zupfen, müssen wir auf den Beinen sein. Ist deine Arbeit bis um zehn nicht getan, ist der Tag vergeudet. Ich gehe zurück ins Haus und schließe die Halbtür hinter mir, damit die Hühner nicht hereinspazieren. Natürlich sind sie jetzt alle in ihrem Stall eingesperrt; die Halbtür zu schließen zählt zu den Gewohnheiten des Tages. Meine Lieblingshenne, die uns mit jeder Menge glänzenden braunen Eiern versorgt, ist bei ihren Gefährtinnen. Tagsüber beobachte ich sie, wie sie, hübsch und reinlich, im Hof umhertrippelt und heimlich ihr Gelege plant. Sie legt ihre Eier gern an möglichst unzugänglichen Orten ab, bisher habe ich sie noch nie dabei ertappen können. Man braucht ein scharfes Auge und einen guten Instinkt, um reiche und noch warme Beute zu machen. Der Junge glaubt ihre Geheimnisse zu kennen, was ebenso wahr wie unwahr ist – er ist klein genug, dass sein Blick bis unter die Bretter reicht, auf denen das Heu gelagert wird, unter alte hölzerne Streben. Red Dandy, wie ich sie nenne, ist ein Rhode Island Red und, wie ich mit einigem Stolz sagen kann, eines meiner Hühner. Eine so gute Legehenne hat Sarah nicht. Ich schließe also die Halbtür, lasse aber durch die obere Hälfte die aufmunternde nächtliche Brise zur dunklen Küche herein. Er hat etwas Reinigendes, dieser angenehme Luftzug. Und dann schlüpfe ich wieder neben die schlafende Sarah, zwischen die steifen, gestärkten Laken, unter die farbenfrohe Bettdecke mit der immerwährenden Jagdszene. Und bin vollkommen zufrieden, im Einklang mit Gott und den Menschen. Auf meiner vom Wind noch leicht kühlen Haut spüre ich, wie die trockene Wärme, die von Sarah ausgeht, allmählich zu mir herübersickert. Der Schlaf überkommt mich, als würde ich beim Schwimmen in einem Fluss versinken.

Fühlt sich die Dunkelheit von unseren Träumen gestört? Die ganze Gegend, die ganze sonnenabgewandte Seite der Erde träumt. Männer und Frauen, Schwestern, Brüder, in den ihnen zugewiesenen Betten. Wie zufällig das alles ist! Meine Träume sind so konkret wie das wirkliche Leben, schlüssig und klar. Darin sehe ich meinen Vater, den Polizisten, und meine Mutter in jungen Jahren, als sie es liebte, mit uns zusammen zu sein, und sich als seligste der Frauen empfand, weil sie drei Mädchen und einen kleinen Jungen hatte. Wir waren ihr trockenes Reich und ihr fahles Feld, auf dem sie nichts wachsen ließ; nur die tändelnde Sonne war zugelassen, damit sie für uns tanzte, ihr trockenes Lied für uns sang. So sehe ich meine Mutter oft in meinen Träumen: von hohem Wuchs, nicht wirklich schön, aber ruhig lächelnd. Eine Krankheit zehrte sie aus und entriss sie dieser tränenreichen Welt, da stand mein Vater in seinem fünfzigsten Jahr. Für uns zu sorgen war eine schwere, zeitraubende Aufgabe für ihn. Aber in meinen Träumen ist meine Mutter nicht tot, sondern ganz unverkennbar lebendig, unparteiisch und auf heitere Weise gerecht.

Der Sommer bietet allgemeinen Frieden, vielleicht jenen Frieden, welcher höher ist denn alle Vernunft. Gott mag den irischen Winter im Sinn gehabt haben, als er diesen Satz in das Buch der Bücher schrieb. Meine Stimmung ändert sich mit den länger werdenden Tagen, dieser freundlichen List des Sommers, Ewigkeit vorzugaukeln, wenn die Sonne auf den Hof scheint und Shep angesichts dieses Lichts, der schweren Last der Hitze an diesen besonderen Tagen aus dem Staunen nicht herauskommt. Dieser anschwellende Jubel des Lichts, wenn ich am Morgen auf den Hof hinaustrete – so wird es hoffentlich im Himmel sein. Die Steine sind schon warm, haben sich in der Morgendämmerung aber noch nicht allzu sehr aufgeheizt. Das Regenwasser tief in der Erde sickert noch weiter hinab, und ein liebliches Leintuch aus Trockenheit breitet sich über das Land. Das Gras leuchtet, und die einzelnen Halme stehen getrennt voneinander wie die nicht zu bändigenden Fransen eines Stoffes. Auf dem Misthaufen bildet sich eine Kruste. Die Pisse der Kälber verdampft in den Rinnen wie Spucke auf einem heißer werdenden Backblech. Etwas Glattes, Glänzendes stiehlt sich auf die Dinge, auf Klinken und auf Insekten. In den langen, geduldigen Trieben, den Knospen des Holzapfelbaums, den kleinen, wie ein Scharnier geformten Flügelnüssen des Bergahorns kann man das Werk der Sonne fast hören. Wie frisch und belebt selbst das Laubwerk ist, voller Saft und Lebensfreude. Stein und Erde und Holz, unser kleiner Palast am Berghang, wo solche wie wir zu Hause sind.

Wie anders unsere Geschichte verlaufen wäre, dürften wir Griechen oder Spanier sein und könnten uns auf dieses Sonnenlicht verlassen! Aber es ist nur eine List, denn so mancher Sommertag ist ein naher Verwandter des Winters. Und doch sind wir froh über diese List, wir zehren davon.

Die Lämmchen habe ich noch nicht aus ihrem Schlupfwinkel zwischen den Laken gescheucht. Sollen sie ruhig ein bisschen länger liegen bleiben, sind ja noch Stadtkinder. Bald schon werden sie sich unserem Rhythmus angepasst haben und wie selbstverständlich mit dem ersten Hahnenschrei aufstehen, voller Energie. Der Zinkeimer in meiner Hand quietscht leise, als ich den taufeuchten Weg zum Brunnen entlanggehe, den Duft des Klees einsauge und den eigentümlich frischen Geruch des Weißdorns, ein so leichter Geruch, das man ihn kaum wahrnimmt, der bloße Hauch eines Geruchs. Die Zweige biegen sich unter der Last der Blüten. Die Hänge von Kelshabeg bringt er zum Leuchten, es ist eine einzige Pracht. Die höheren Grashalme streifen mein gepunktetes Kleid und hinterlassen eine feuchte dünne Spur, aber das schert mich nicht. Trotz meines Alters spüre ich ein Schwirren in meinen Knochen, eine Dankbarkeit, eine Lust auf dieses Abenteuer, und ich mache mir Gedanken über den Zustand des Brunnens. Ob sie schon vor mir da gewesen ist, die wilde Hexe von der anderen Seite des Feldwegs? Hat sie irgendeinen alten Schmutzeimer ausgewaschen und dabei Schlamm aufgewirbelt?

Aber alles ist sauber und herrlich anzusehen: der Wasserspiegel, wie eine große steinerne Scheibe von langen Gräsern eingefasst; der kleine Stein, auf dem man kniet, trocken und einladend. So tauche ich denn meinen Eimer in den Brunnen, und dank meines Geschicks steigt nicht ein Klümpchen Dreck aus dem schwarzen Grund empor. Der Eimer säuft Wasser. Ein paar Ruderwanzen, kleine schwarze Tierchen, die umherflitzen, werden mit hineingeschwemmt. Sollen sie nur, das schert mich nicht. Sie werden dafür sorgen, dass das Wasser, wenn es, mit einem feuchten Musselintuch bedeckt, am Hauseingang steht, in Bewegung und damit frisch bleibt.

Aus irgendeinem Grund muss ich an Mary Callan denken, wie sie ohne ein menschliches Wesen an ihrer Seite einsam in ihrem Bett liegt – gewiss eine schmutzige Schlafstatt aus stinkenden Laken. Vielleicht liegt sie ja auch nur auf Stroh, so wie in der alten Zeit, als Pachthäusler und ihresgleichen sich kein Bettzeug leisten konnten. Sie alle betteten sich auf Stroh, Erwachsene und Kinder, reich an Zahl, und im niedriger gelegenen Teil des Hauses legten sich die Tiere hin: wenn die Leute Glück hatten, eine Milchkuh mit ihrem Kalb, und wenn sie mehr Glück hatten als die meisten, auch noch ein hochgeschätztes Schwein. Der abschüssige Boden sorgte dafür, dass die Ausscheidungen der Tiere nicht zum heiligen Bezirk der Feuerstelle flossen, wo sich bei Anbruch der Nacht die Menschentiere zusammendrängten, um ihr Quentlein Behaglichkeit zu finden. Ich habe den Verdacht, dass Mary Callan noch immer an diesen aus der Not geborenen Bräuchen festhält. Sollte es nicht einen Hauch von Mitgefühl in mir auslösen, dieses düstere, einsame Leben, das dem meinen so ähnelt? Ich denke, das sollte es, und das tut es auch, aber ihren schmutzigen Eimer verfluche ich trotzdem.

Nun, da das Tageslicht jeden Stein mit seinem Glanz überzogen hat und die Sonne über dem Giebel des Melkstalls steht, da ich Sarah getadelt habe, weil sie es versäumt hat, Daisy und Myrtle wieder auf die Weide zu bringen, und ihnen damit eine ungewohnte Nacht unter den von Spinnen besiedelten Dachsparren beschert hat, da ich die beiden Kinder geweckt und ihnen den Haferbrei zu ihrem Plätzchen am Kamin gebracht habe, wo sie wie die kleinen Würmchen, die sie sind, bereits mit ihren Löffeln lauern, kommt Billy Kerr herein. Ich bin weder sonderlich überrascht, ihn zu sehen, vielleicht will er ja den alten Pferdewagen reparieren oder ähnliches, noch bin ich sonderlich beunruhigt. Seit er uns gestern aus der Patsche geholfen hat, kann ich den Anblick seines runden, stoppeligen Gesichts länger ertragen. Kinn und Wangen sehen aus wie von Fäulnis befallenes Holz. Seine Schultern scheinen aus einem einzigen langen Knochen gemacht, so dass es den Anschein hat, als schleppe er immerzu ein Tragjoch mit zwei Eimern daran, nur sind es nicht Eimer, die ihm ein wenig den Rücken krümmen, sondern andere, geheimnisvolle und unsichtbare Gewichte. Als Frau, die selbst einen Buckel hat, möchte ich die Kinder, die ein solcher Mann zeugt, lieber nicht sehen, so wenig wie ich das Risiko eingegangen bin, selbst Kinder zu bekommen, obwohl die Sehnsucht danach gewiss groß war. Gut möglich, dass er einer Frau nur krumm gewachsene Kinder machen würde.

Aber wie dem auch sei, Sarah begrüßt ihn freundlich, bittet ihn an den geschrubbten Tisch und bringt ihm wieder einmal Tee. Vielleicht spürt er, dass ich entspannter bin, denn heute zieht er mich nicht auf oder lässt mich links liegen, sondern schaut zu mir herüber und schenkt mir ein brüderliches Lächeln. Vielleicht meint er ja, dass er mich jetzt am Nasenring hat, dass ich ihm nicht mehr so gefährlich werden kann.

»Intensivster Sonnenschein bis hinauf auf die Hänge des Keadeen«, sagt er, »und wohl die ganze Woche kein Regen mehr. Erst Regen und jetzt Sonne, da werden alle, die Kartoffeln gesetzt haben, zufrieden sein. Die Dunnes in Feddin haben einen halben Morgen bepflanzt. Heute haben sie mit ihren gekochten Eiern beim Frühstück gesessen und sich gefreut wie die Schneekönige.«

»Warum auch nicht?«, sagt Sarah. »Es ist harte Arbeit. Hast du ihre Saatkartoffeln gesetzt, Billy Kerr?«

»Hab ich. Wir vier haben Seite an Seite gearbeitet. Haben die Knollen ausgelegt und Erde angehäufelt und dabei gesungen. War gute Arbeit.«

»Nun«, sagt Sarah und schiebt die blau-weiß gestreifte Tasse näher zu ihm hin, weil er seinen Tee bislang noch nicht angerührt hat, »es ist gut, wenn man Saatkartoffeln hat und einen Acker und Leute, die die Arbeit machen. Annie und ich werden unseren eigenen Vorrat sicher auch bald in die Erde bringen.«

»Werden wir bestimmt«, sage ich. »Ganz bestimmt.«

Die Kinder sitzen im Alkoven neben dem Kamin und lassen die Erwachsenen während des Gesprächs nicht aus den Augen. Nur ihre angelaufenen Löffel wandern von Schüssel zu Mund, von Schüssel zu Mund.

»Das sind wirklich ganz prächtige Kinder«, sagt Billy Kerr. »Kriegen bestimmt gut zu essen in der großen Stadt. Wie geht’s dir heute, mein Junge, mmh?«

Der Junge starrt den Mann, der am Tag zuvor mit ihm auf dem Feldweg gespielt hat, unverwandt an. Aber keine Reaktion, kein ungezwungenes Geplauder, kein Lächeln.

»Da sieht man’s wieder«, sagt Billy Kerr, »kaum haben sie eine Nacht geschlafen, ist man schon vergessen.«

»Er ist nur ein kleiner Junge«, sage ich als Erklärung, vielleicht auch als Entschuldigung. Denn der Junge kann merkwürdig schweigsam sein, selbst mir gegenüber. Man muss ihn aus sich herauskitzeln, so wie man eine Spinne hervorlockt, indem man ihr Netz mit einem Stöckchen kitzelt. Das Mädchen ist ein Geheimnis für sich, wie die sieben Elstern. Fünf für Silber, sechs für Gold. Und sieben ein Geheimnis, das ihr nicht wissen sollt.

Er ist nur ein kleiner Knirps. Ein kleiner Knirps mit einem bemerkenswerten Gedächtnis. Er scheint zu vergessen, doch bei einer anderen Gelegenheit kann er ein Ereignis in allen Einzelheiten wiedergeben. Er wählt aus, woran er sich erinnern will, lässt sich Zeit damit, und wenn etwas in ihm nicht will, kann er sich auch nicht erinnern. Sich nicht erinnern wollen ist für den Jungen dasselbe wie vergessen. Vielleicht geht es beim Vergessen genau darum, und ich würde gut daran tun, mich in dieser Kunst zu üben. Das Ungezwungene, Tänzerische im Gemüt dieses Jungen, ganz so wie es sein sollte. Aber ich muss auch daran denken, wie leicht es wäre, dieses Tänzerische, Ungezwungene zu zerstören. Dann muss ich wohl auch gut von seinem rotbärtigen Vater denken, der als Junge das Naturell eines Wolfes hatte – kein Laut, nicht der kleinste Laut, dann ein Knurren und ein Zuschnappen, ein räuberisches Naturell, mit dem er manchmal über seinen jüngeren Bruder herfiel. Sein älterer Bruder war anders, der wandte ausgefeiltere Foltermethoden an. Die drei befanden sich in einem ständigen, unnötigen Kriegszustand. Und ich mittendrin, nicht als Mutter, denn das wäre Mauds Aufgabe gewesen, doch Maud überschüttete sie entweder mit Liebe oder ignorierte sie gänzlich, und schließlich kümmerte sie sich gar nicht mehr um die Kinder und die sonstigen Alltagspflichten, begab sich eines Herbstmorgens ins Bett und stand nie wieder auf, jedenfalls nicht, um etwas Sinnvolles zu tun. Für die Jungs bedeutete das Angst und Schrecken, vor allem für den Vater des kleinen Krümels hier, der den Boden anbetete, auf dem seine Mutter wandelte. Das Problem war nur, dass sie keine Anstalten machte zu wandeln!

Ich glaube, der Kleine ist seiner Großmutter Maud nie begegnet, allenfalls als Baby, als sie schon im Sterben lag. Matt wiederum betet seinen kleinen Enkel ganz offensichtlich an, sagt, er wird dafür sorgen, dass aus ihm ein Maler wird wie sein Großvater, und sonnt sich schon jetzt in seinem Erfolg. Gelegentlich bekennt Matt, dass sein ältester Sohn eine einzige Enttäuschung für ihn ist. Er nennt ihn Bohemien und meint Tagedieb, obwohl ebendieser Sohn an der Kunstakademie in Dublin Bildhauerei studiert hat. Doch für den Vater des Jungen hier und für den Jungen selbst findet er nur gute Worte.

Der Junge wiederum betet Matt an, weil dieser, als sie noch in seiner Nähe in Donnybrook wohnten, jeden Sonntag mit seinem Fahrrad vorbeikam und ihm Bonbons mitbrachte – so etwas merkt sich ein Kind.

Schon bald, wenn der Sommer Einzug gehalten hat, wird Matt mit seinen Farben und seiner Staffelei nach Wicklow kommen, und um des Jungen willen hoffe ich, dass er sich von Lathaleer, der Farm meines Cousins, wo er wohnt, oft zu uns herausbemühen wird. Ich für mein Teil wäre nicht traurig, wenn ich ihn nie wieder zu Gesicht bekäme, so herzlos hat er sich verhalten. Er will zum Beispiel nicht hier bei uns in Kelsha übernachten, tatsächlich haben wir auch gar keinen Platz für ihn, aber wenn er es wünschte, würden wir ihm das Bett der Hexe herrichten, wo er in der Behaglichkeit des vor sich hin glimmenden Feuers den Schlaf des Gerechten schlafen könnte. Außerdem wäre es überhaupt keine Mühe für uns, seine Hemden und Unterhosen mitzuwaschen, Dinge, die mir so vertraut sind seit jenen entschwundenen Tagen, als ich für alle diese Männer, ihn und seine drei Söhne, die Wäsche besorgte. Als sie in meiner Obhut waren.

Aber der Kleine ist ein Junge, wie er sein sollte; kein Gebrüll, keine Schläge haben den leuchtenden Kristall aus der Krone seiner Zufriedenheit gebrochen. Also muss ich wohl auch seiner Mutter etwas zugutehalten, die mich – das weiß ich, weil’s ihr ins Gesicht geschrieben steht – nicht leiden kann. Auch wenn es ihr gut in den Kram passt, die Kinder bei uns zu lassen, während sie in London ihre Zelte aufschlagen, spüre ich, dass sie von unseren Fähigkeiten nicht allzu viel hält. Aus jeder Zeile des Briefs, den sie mir zur Vorbereitung und zum Dank schrieb, sprach der Zweifel. Glücklicherweise ist sie als Mutter ziemlich gleichgültig – die Kleidung der Kinder ungebügelt, die Strümpfe mit Löchern in den Fersen und Risse in den Hosen, mit denen der Wind so leichtes Spiel hat wie mit einem verlassenen Haus –, sonst hätte ich den Jungen und das Mädchen nie in die Finger bekommen. Während Billy Kerr es sich in unserer friedlichen Küche gut gehen lässt, erschüttert, ja peinigt mich aufs Neue die Zuneigung, die ich für die beiden empfinde. Es ist wie beim Rübensirup, wenn man ihn über den Biskuitteig gießt: Langsam rührt man die zähe Masse mit dem Löffel, bis der Unterarm völlig ermüdet. Dann endlich lässt sich der Sirup untermischen, er kapituliert und verleiht dem Treacle Sponge Pudding jenen verrückten Zuckergeschmack, der im Munde schäumt und Luftsprünge macht. Nicht, dass es den hier in Kelsha oft gäbe – so etwas hat meine Mutter zu unseren besten Zeiten in der alten Küche des Dublin Castle zubereitet, also ist der kraftlose Arm, an den ich mich erinnere, mein eigener: der Arm eines kleinen Mädchens, das seiner Mutter hilft, in der ewigen Geborgenheit der frühen Kinderjahre.

Annie Dunne

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