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II

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Ich hatte angenommen, dass die Reise die feine alte Dame erschöpft und ausgezehrt hätte, wo sie doch so oft erschöpft und ausgezehrt, ja, eben immerzu müde war, zu Hause, in ihrem Altersheim, von dem sie gerne erzählte, es wäre nun die Endstation, das Altersheim, das Ende ihrer Reise, das Ende im Irgendwo – zumindest nicht zu Hause, aber von Müdigkeit konnte jetzt keine Rede sein, ja, nicht einmal von Mattigkeit konnte man sprechen, als sie mit Frau Dresenkamp, die ihrerseits dunkle Ringe unter den Augen hatte, im Frühstücksraum erschien, wo sie von Frau Dresenkamp, freudig erregt und lächelnd, auf den Frühstückstisch zugerollt wurde und, dort angekommen, meine Hand ergriff und sich erkundigte, wie ich die Nacht verbracht habe, und dann, ohne eine Gegenfrage meinerseits abzuwarten, fortfuhr und mir über den Mund fuhr und sagte, wie wunderbar sie geschlafen habe, diese herrliche Meerluft!, wie gut ihr das tun würde, und, ja, vielleicht sogar ihrem Knie (dabei zwinkerte sie mir zu), und dann wies sie Frau Dresenkamp an, sie möge sie doch nun bitte zum Buffet bringen, und ich solle ihr doch bitte, so der Kellner komme, einen Cappuccino bestellen, wobei sie hinzufügte, dass dieser (der Cappuccino) ehedem jeden Morgen um 7.30 Uhr, pünktlich, immer zur selben Zeit, schon an dem reservierten Frühstückstisch für sie bereitgestanden hatte. »Man kennt mich hier«, sagte sie und zwinkerte wieder vertraulich. Ich versprach, diese kleine Annehmlichkeit, diese ihr wohltuende Selbstverständlichkeit für sie zu arrangieren, um auch hier das für die feine alte Dame ehedem Gewohnte wiederherzustellen, wozu sie mir einige Scheine in die Hand drückte, Geld, das ich naturgemäß nicht zählte, das aber sicherlich seine Wirkung, den gewünschten Effekt hervorrufen würde. Und dann drückte sie mir noch mehr Geld in die Hand, mit der Bitte, dieses doch später an der Rezeption in Kuna zu wechseln, damit man für weitere Eventualitäten auch etwas Handgeld zur Verfügung habe.

Zurück am Frühstückstisch aß die feine alte Dame mit für ihre Verhältnisse großem Appetit (Ciabatta, Butter, Schinken, Ei, Palatschinken mit Puderzucker und Marillenkompott – während Frau Dresenkamp sich mit einem Pfefferminztee, etwas Gurke, Tomate und Schafskäse zufrieden gab) und erzählte dabei mit vollem Mund vom Wetter und vom Land und von Dubrovnik überhaupt und wie sie hier das erste Mal hergekommen war. Sie variierte die Geschichte, schmückte sie ein wenig aus, unterließ dafür andere Details und gab alles in allem eine schwungvolle und heitere Erzählung des Gewesenen.

»Maria! Da bist du ja!«, rief sie plötzlich, ihre Geschichte unterbrechend. »Die treue Maria. Ach!«, sagte sie etwas leiser und fast stolz, und Maria begrüßte uns herzlich, schob einen Stuhl nahe an den Tisch und setzte sich zu uns, mehr als aufrecht:

»Passen Sie auf!«, sagte sie, »Er kann zwar heute nicht kommen, aber morgen. Versprochen.«

»Der Mann für das Knie?«, fragte die Großmutter.

»Ja«, nickte Maria und lachte.

Die feine alte Dame riss triumphierend die Arme hoch.

»Ha! Wollen doch mal sehen, was du und deine Schulmedizin dazu sagt!«

Ich hatte keine Ahnung. Nicht mal, um was es ging.

»Er ist ein Spezialist. Seine Familie praktiziert hier seit drei Jahrhunderten. Immer im selben Dorf. Normalerweise macht er keine Hausbesuche. Die Leute kommen zu ihm. Das übernimmt keine Krankenkasse. Aber für Sie macht er eine Ausnahme. Und einen Freundschaftspreis.«

Eine ambulante Knieoperation?

»Der Preis spielt keine Rolle. Gott sei Dank, der Vater hat ja vorgesorgt!«, lachte mir die Großmutter ins Gesicht.

Niemand sägt irgendjemandem in einem Hotelbett ein Knie raus und ersetzt es durch ein künstliches. Nicht einmal ein Scharlatan … Ich sagte nichts.

»Wo ist denn dein Mann, Maria?«

»Er hat heute überraschend einen Termin in der deutschen Botschaft bekommen. Wegen seines Import-Export-Geschäfts. Er muss nach Zagreb. Imre fährt ihn hin. Eine Ochsentour. Sie wechseln sich beim Fahren ab.«

»Auf den Mercedes ist sicher Verlass!«

Frau Dresenkamp hustete, sie hatte sich an einer Olive verschluckt.

»Und deine Töchter, Maria? Alexander, du musst Marias Töchter näher kennenlernen. Ich hab ihnen so viel von dir erzählt. Sie sind entzückend!«

Und Maria sagte, dass Franceska, ihre jüngere Tochter, heute ohnehin zu ihr ins Hotel komme, und dass wir uns doch dann einfach mal treffen sollten. Franceska würde sich ja so für Deutschland interessieren. Sie liebe die deutsche Sprache, die deutsche Kultur, und spreche Deutsch nahezu perfekt, auf jeden Fall besser als sie selbst, so Maria. Und die feine alte Dame sagte, das wäre doch schön, ich solle doch die junge Dame dann etwas ausführen, vielleicht auf ein Eis oder einen Kuchen oder worauf sie eben Lust hätte, einladen, das kleine sprachbegabte Wunderkind, denn ein Wunderkind sei sie auf jeden Fall, so, wie sie jetzt schon Deutsch beherrsche, fast wie ihre Muttersprache. Das sei aber auch kein Wunder, bei der Mutter, und dann fragte die Großmutter, was mit Anne sei, und Maria sagte, dass Anne eben heute und morgen für die kroatische Jugendtennisauswahl auflaufe. Gegen England übrigens, und dass ich gerne am Tag darauf, wenn sie also wieder da sei, dass ich doch dann gerne einmal gegen sie Tennis spielen könne, ja solle, nein, müsse, auf dem Hoteltennisplatz. Die feine alte Dame hätte ihr doch immer erzählt, dass das Tennisspielen ihrer Familie im Blut liege und ja auch ich früher so gut und erfolgreich Tennis gespielt habe. Ich wusste nicht, wie ihr was sagen und sagte daher:

»Ja, gerne!«

Und verschwieg, dass es unser Heimattennisverein nur bis zur Kreisklasse gebracht hatte, und ich bei den auf diesem Niveau stattfindenden Turnieren ohnehin nur im Doppel eingesetzt worden war, und auch das nur, weil mein Großvater den Tennisclub mitgegründet und finanziert hatte und man das mit dem Doppel für mich und mit mir daher wohl für eine gute Idee gehalten hatte.

»Ich hab schon länger nicht mehr gespielt. Aber das würde mir sicher Spaß machen!« Ich nahm einen Apfel aus dem Früchtekorb und biss herzhaft hinein, denn: Was heißt schon »Auswahl der kroatischen Jugendnationalmannschaft«?

Während ich mir vorstellte, wie die Massen um das Tennisgrün zunächst den Atem anhielten und nach meinem fulminanten sowie finalen und damit Sieg bringenden Ass erlöst mit einem Schrei aus tausend Kehlen ausatmeten, kam der Ivo.

»Hallo.«

»Guten Tag.« Und »Guten Tag.«

Und die feine alte Dame:

»Hallo!« Plötzlich saß auch sie aufrecht, kerzengrade, mit einem strahlenden Lächeln und einer Träne im Auge, die sie sich mit der Stoffserviette wegwischte, als habe sie eben herzlich gelacht.

Die Großmutter, der Ivo und ich gingen spazieren. Die Großmutter war etwas aufgekratzt, kicherte und erzählte unentwegt irgendwelche Geschichten, von denen der Ivo nichts verstand, von denen er nur ab und an einige Satzfetzen aufschnappte, die er dann kommentierte, um so den unentwegten Fluss der Worte, diesen fröhlichen Wortstrom am Laufen, am Fließen, am Rauschen und am Leben zu halten, eben das am Leben zu halten, was die alte Dame ihrerseits am Leben zu halten schien, damit ihre Worte nicht versiegten, denn »Man hat sich ja so viel zu erzählen!«, bevor man sich vertraut, wieder vertraut, sich vertraut wie ehedem (und eben hierfür, wenn man sich lange nicht gesehen hat, muss die Lücke geschlossen und der Graben, den die Zeit zwischen einen gerissen hat, zugeschüttet werden, muss Spracharbeit verrichtet werden), und vielleicht wusste der treue Ivo darum, vielleicht wusste er es auch nicht, vielleicht war er auch einfach nur höflich, weil er nicht verstand, was da alles auf ihn einströmte, nicht wusste, weil er natürlich nichts wusste (und wissen konnte) über oder von den ganzen Personen, die Großmutters Geschichten und Erzählungen bevölkerten (teils lebendig, teils tot, aber für ihn, den Ivo, allesamt Geister, flüchtige Geister, Schatten, die vorbeihuschten, bestenfalls), und was blieb dem treuen Ivo da anderes übrig, als freundlich zu lächeln, gerade und besonders dann, wenn die feine alte Dame, sobald sie einen für sie wichtigen Punkt in ihrer Erzählung erreicht hatte, an einem Punkt besonders verstanden sein oder ihm Nachdruck verleihen wollte, sich zum Ivo umzudrehen versuchte (was ihr nicht gelingen konnte, im Rollstuhl sitzend) und der Ivo, der den Rollstuhl schob, die Fahrt verlangsamte und sich charmant zur Großmutter vorbeugte, wobei sein Gesicht in die Nähe des Gesichts der feinen alten Dame kam – und wie gerne roch sie den Duft des Ivo, sein Aftershave, Moschus.

Ich machte ein Foto von den beiden: lächelnd. Ivos Hand auf der rechten Schulter der feinen alten Dame, ihre Hand auf der seinen, drum herum halbverdorrte Büsche, frisch gemähter Rasen und das weite Blau des Himmels, irgendwo sicher die eine oder andere Möwe (später auf dem Foto nicht zu sehen), und der Himmel so blau, dass er beinahe weiß wurde, weiß vor Neid in Anbetracht des Glücks unter sich. Ein sommerliches Schauspiel auf den staubigen Wegen durch die Hotelanlage, die Grillen zirpten, ich verabschiedete mich höflich, schließlich hätte ich noch für mein Studium zu lernen, und außerdem hätten sich die beiden, nach all der Zeit – und jetzt, da sie Zeit hätten – doch sicher viel zu erzählen …

Ich erkundete die Hotelaußenanlage (Palmen, Büsche, Rasensprenger, Tennisplatz (roter Sand), Minigolf und Fahrradverleih) und setzte mich schließlich an den hellen Kiesstrand, blickte aufs Meer hinaus und ließ Kieselsteine durch meine Hände rieseln und summte einen Song von John Paul Young vor mich hin:

Love is in the air in the whisper of the trees

Love is in the air in the thunder of the sea

And I don’t know if I’m just dreaming

Don’t know if I feel sane

Und musste lachen – zwar habe ich von Popmusik, oder gar von der Popmusikgeschichte, nicht viel Ahnung, erzählte aber auf Studentenpartys (vorzugsweise in der WG-Küche, wo immer die wichtigen Dinge und Personen und somit die eigentliche Party stattfindet) gerne diesen Treppenwitz der Musikgeschichte: John Paul Young schaffte mit diesem Lied 1977 einen Welthit. Geschrieben und produziert wurde er von Harry Vanda und George Young. George Young wiederum ist der Bruder von John Paul – und George hatte früher selbst eine Band, die »Easybeats«, und die hatten selbst einen Charterfolg mit »Friday on My Mind«, den später dann zum Beispiel auch Garry Moore gecovert hat. Aber George produzierte noch eine andere Band, und zwar eine Band, in der ein gewisser Angus und ein Malcolm Young mitspielen, und, na, wie heißt die Band? Ich zähle bis drei: eins, zwei … AC/DC. Genau! Aber damit nicht genug: George selbst hatte, nachdem sich die »Easybeats« aufgelöst hatten (Alkohol, Drogen usw.), dann noch ein Bandprojekt mit dem Namen »Flash and the Pan«, mit dem er auch wieder mehrere Hits hatte: »Waiting for a Train« und vor allem »Walking in the Rain«, was dann von Grace Jones gecovert wurde. (Spätestens jetzt hielten mich alle auf der Party für einen Volltrottel oder einen Musikprofi – was vielleicht dasselbe ist, letzteres bei den Mädchen aber besser bis gut ankommt, wie ich herausgefunden zu haben glaubte (aber vielleicht lag das auch nur am Mitleid ob meines Inselwissens)). Einmal ist es mir sogar passiert, dass dieser popmusikalische Pistenwitz dann tatsächlich auf einer Party wie ein Bumerang zu mir zurückkam. Ein durchaus hübsches Mädchen sagte: »Kennste Love is in the Air?«, »Glaub’ schon.«, »Aber was du sicher nicht weißt, ist: …«, »Nein!«, »Doch! Is’ so!«, »Darf ich dich küssen?«, »Ja, klar.«

Ich ging auf mein Zimmer, schlug die Studienunterlagen auf und zeichnete das AC/DC-Logo, kleine Herzchen und Kreise aufs Papier.

Das Klopfen von Frau Dresenkamp an meiner Hotelzimmertüre unterbrach meine konzentrierten Kritzeleien. Ich sei auf die Hotelterrasse bestellt, wo ich dann bei Kaffee und Kuchen herzlich von der Großmutter und freundlich von Ivo empfangen wurde, während Frau Dresenkamp (nachdem sie der alten Dame, die etwas nervös an ihrem silbernen Hampelmann spielte und zupfte, möglichst unauffällig, aber unübersehbar ein sorgfältig verpacktes Päckchen zugesteckt hatte) in angespannter Muße am Geländer der Terrasse zum Meer hin sich jederzeit für eine weitere Hilfestellung im Hintergrund bereithielt oder (denn sie hatte den Kopf in ihren Nacken geschoben) schlicht versuchte, die Geräusche der Tischgespräche zu ignorieren, welche die unter ihr, unter der Terrasse an den Strand klatschenden, monoton heranrollenden Wellen schrill übertönten. Nach der Überreichung des säuberlich verpackten Päckchens durch die feine alte Dame an Ivo, der, als er meiner ansichtig geworden war, das Päckchen einem Zaubertrick gleich verschwinden ließ, es in die Jacketttasche, die über seiner Stuhllehne hing, gleiten ließ, es also nicht auspackte, entweder weil er mich sah oder weil es die Höflichkeit gebot, denn ein kleines Küsschen drückte er der Großmutter auf die Wange, und diese errötete dabei, vielleicht, weil sie sich ertappt fühlte, ertappt im Versuch, Ivos Küsschen für das Päckchen zu erwidern, wobei ihre Kusserwiderung nicht seine Wange, sondern nur die Luft traf, ihre Küsschen an Ivos rechtem Ohr vorbeiflogen und sich im Nichts des blauen Himmels verloren – erst danach wurde ich von den beiden herzlich bei Kaffee und Kuchen willkommen geheißen und gefragt, ob ich in der Zwischenzeit gut habe lernen können. Ich solle mich doch bitte dazusetzen, es gebe so viel zu besprechen. Schließlich müsse der morgige Tag geplant werden. Denn wir seien ja nur meinetwegen hier – da müsse mir schon etwas geboten werden. Ob ich selbst Wünsche habe? Daraufhin begannen Ivo und die feine alte Dame freudig durcheinanderredend Pläne zu entwickeln, wie der morgige Tage zu gestalten sei, welche kleinen Abenteuer (das Wort fiel natürlich nicht, nicht einmal im Singular, aber das schien mir die Bedeutung ihrer Worte zu sein) wir (oder vielmehr ich) denn erleben und bestehen wollten. Am morgigen Tag. Ich hörte mir die Vorschläge für den morgigen Tag an, nickte zustimmend und fügte hinzu, dass ich es mir nicht besser hätte vorstellen können, womit die Zusammenkunft für beendet erklärt wurde, Ivo sich höflichst und vertraut lachend verabschiedete (selbstverständlich nicht, ohne noch zu erwähnen, wie leid es ihm tue, heute leider nicht länger … Die Geschäfte, Termine, die nicht abgesagt werden könnten … usw. (auch er erwähnte, wie beiläufig, etwas von einem Import-Export-Geschäft)): ein Küsschen für die feine alte Dame, ein Händeschütteln für mich (wobei mir seine Armbanduhr auffiel: Eine schwarze Swatch-Uhr, Kunststoffarmband, das Gehäuse zum Innenarm gedreht, sportlich, aber wie im Widerspruch zu seiner Gesamterscheinung, zum penibel erfüllten Dresscode eines gebräunten Lebemanns, ein Segler vielleicht, vielleicht ein Kapitän, ein Gentleman aber sicherlich) und ein Nicken zu Frau Dresenkamp, dann ging der Ivo, und die Großmutter sah ihm hinterher, bis er hinter der Hoteltüre verschwunden war, und dann seufzte sie, denn der Abschied würde ja nur kurz sein, und so tat es ihrem Glück nun eben gerade keinen Abbruch, sondern hielt die Spannung aufrecht, so schien es mir, weswegen sie zufrieden, aber nun auch etwas erschöpft seufzte und Frau Dresenkamp bat, sie doch auf ihr Zimmer zu bringen und auch das Mittagessen auf ihr Zimmer bringen zu lassen. Sie wolle sich etwas erholen. Später komme ja, wie ich wisse, Maria, wegen dieser Kniegeschichte (von der sie immer nur als »die Kniegeschichte« sprach, als wäre es nicht Teil von ihr und durchaus lästig, wie ein Verwandter, der immer ungefragt zum Sonntagsbraten erscheint) und wegen zwei, drei anderer Dinge, und vorher wolle sie sich eben verständlicherweise etwas erholen.

Zum zweiten Kaffee traf ich mich dann wie verabredet mit Franceska. Wieder auf der Hotelterrasse, die etwas aufs Meer hinausragte und unter sich die Wellen rhythmisch und unbeteiligt an den Klippen zerplatzen ließ. Franceska war das feiste Ebenbild ihrer Mutter, nur eben noch etwas kleiner. Ich schätzte sie auf zwölf oder dreizehn. Sie sagte, sie sei eben vierzehn geworden – und man konnte es sehen: Die Pubertät drückte sich durch, war offensichtlich ein durchschlagender Erfolg: Mit unreiner Haut, vielleicht auch durch das stark deckende Makeup hervorgerufen, stand sie in voller Kraft und Erwartung, das Leben vor sich, die erste Liebe greifbar vor Augen, aber sicher las sie keine Pony-Heftchen mehr, ihr Blick war bestimmt, ein junges Mädchen, das wusste, was sie wollte – und solche Mädchen hatten mir früher immer Angst gemacht. Kein Wunder, dass sich gleichaltrige Mädchen in dieser Phase in ältere Jungs verlieben. In ihrem Fall war es wohl sicherlich kein Tennistrainer – den könnte sie nur anhimmeln, wo sie doch aussah wie der fleischgewordene Bücherwurm. Und wie sieht der aus? Unreine Haut, dicke Brille, rundes (oder ganz hageres) Gesicht, etwas pummelig, aber kein Babyspeck, nichts, das sich noch verliert, sondern erst kürzlich erworben worden ist, eine eigene – beinahe vergeistigte – willentliche Leistung oder zumindest der Ausfluss dessen: eben ein Bücherwurm. Vielleicht verwächst sich das ja doch noch. (Es ist erbärmlich, dass man, wenn man auf seine eigene Angst zu sprechen kommt, doch immer noch genug Ausflüchte und Argumente bereithält, um sich aus der Angelegenheit fein rauszureden: Ja, früher hatte ich Angst vor solchen Mädchen – aber nicht, weil sie aussahen wie ein Bücherwurm, sondern weil sie selbstbewusst waren, weil sie wussten, was sie wollten, weil sie eine Idee zu haben schienen, wie die Dinge sein sollten, wie die Welt für sie funktioniert und funktionieren sollte – und eben das machte mir Angst. Der Masterplan. Ihr Masterplan. Weil ich eben keinen Plan von irgendwas hatte. Aber bitte: Sie waren alle bebrillt, dick und hässlich. Physisch oder psychisch. Vielleicht freute ich mich ja tatsächlich auf das Tennismatch mit ihrer großen Schwester, wer weiß … Ach, man ist mitunter ungerecht, weil man selbst ein Würstchen ist …)

Franceska bestellte sich ein gemischtes Eis mit einer Extraportion Sahne und bunten Streuseln. Ich fragte nach der Schule und sie erzählte von der Schule: dass sie bereits zwei Klassen übersprungen habe, dass sie auf eine Hochbegabtenschule gehe, aber erst seit diesem Jahr. Das sie auch dort in einer besonderen Fördergruppe zwei Mal die Woche Sprachunterricht bekommen würde. Dass sie sich vornehmlich für Deutsch interessiere, was sie, wie ich ihr bestätigte, fließend sprach. Sie sagte, dass das auch ihr Ehrgeiz sei: eine Fremdsprache wie die Muttersprache zu beherrschen. Im Moment habe es ihr insbesondere die klassische deutsche Literatur angetan. Die Sprache Schillers sei ganz wunderbar, Lessing etwas hölzern und damit langweilig (wobei man natürlich seine zeitspezifische Leistung und Wirkung nicht unterschlagen dürfe) und Goethe beginne sie gerade zu entdecken. Faust II sei ihr etwas zu mutwillig komponiert, überall scheine die Absicht deutlich hervor, negiere das Sinnliche, alles nur Modelle, überhaupt, das ganze Modellhafte des Faust II … sie habe jetzt aber eben »Die Leiden des jungen Werther« gelesen, und der habe sie dann doch wieder tief berührt, das müsse sie schon zugeben. Aber auch, was die Lotte doch für eine dumme Pute sei, sich mit dem herzzerreißenden Werther, dem jungen gefühlvollen Intellektuellen, nicht auf ewig zu binden! Was für eine vertane Lebenschance! Das würde ihr, Franceska, sicherlich nicht passieren. Und dabei schaute sie mich fest und entschlossen an. Ich hatte vom Werther nun wirklich keine Ahnung. Wir hatten den zwar in der Schule gelesen – und ich sogar zwei Mal, da ich eben diese Klasse hatte wiederholen müssen –, aber die Erinnerung daran war noch schwächer als an das fade Gesäusel der Lehrerin über den jungen Mozart damals im Musikunterricht. Ich sagte: »Vielleicht ist der Werther auch selbst schuld. Der verfolgt die arme Lotte doch ständig. Dauernd taucht er bei ihr zu Hause auf, und das, obwohl sie dem Albert versprochen ist. Der Werther, der erinnert mich an einen Stalker. Letztlich treibt er doch durch seine Penetranz Lotte erst in Alberts Arme. Die heiraten dann und er bringt sich um. Na, ich weiß nicht.«

Franceska verzog ihr Gesicht. Sie sah ihrer Mutter tatsächlich sehr ähnlich. Wie es mir mit meinem Studium gehe und wo ich überhaupt studiere, fragte sie mich. Ich antwortete, dass ich an der Universität in Greifswald studiere und erzählte ihr von Greifswald und der Universität und dass es an dieser, so klein sie auch sei, doch eine sehr renommierte Fakultät für Zahnmedizin und Kieferchirurgie gebe.

»Aber du studierst Medizin, nicht Zahnmedizin, oder?«

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