Читать книгу Freedom - Selina Milde - Страница 3
Kapitel I – Flucht
ОглавлениеEs war heiß in dem schwarzen Wagen, in dem Ayato saß. Er wartete auf Rebecca, die den Wagen vor etwa drei Minuten in dieser Straße geparkt hatte. Mit den Worten „bin gleich wieder da“ war sie ausgestiegen und hatte ihn zurückgelassen, war um eine Ecke verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht.
Drei Minuten genügten bereits, um ihn allmählich unruhig werden zu lassen, auch wenn er wusste, dass die Angst, die sich in ihm wieder zu Wort meldete, von jeglichem rationalen Denken schnell hätte eliminiert werden können. Rationales Denken, das ihm doch eigentlich so leicht hätte fallen müssen.
Ich bin einfach nur schrecklich paranoid geworden, sagte er sich im Stillen. Ich sollte lieber einen kühlen Kopf bewahren, anstatt mir wie ein naives Kind die schlimmsten Szenarien auszumalen …
Aber nichtsdestotrotz war es schwer, wieder Vertrauen zu fassen. Seitdem er seine Eltern in Tokio hatte zurücklassen müssen, hatte er niemandem mehr wirklich vertraut. Den Forschern nicht, den Ärzten nicht, den Mitarbeitern der Nervenheilanstalt nicht, seinen bisherigen Psychologen nicht, eigentlich keinem so wirklich. Er hatte gelernt, dass Argwohn vor großen Enttäuschungen schützte, vor Schmerz und in gewisser Weise auch vor Wünschen, deren Erfüllung in weiter Ferne lag. Sich nicht zu öffnen, erleichterte einem vieles.
Doch das mit Rebecca … das war etwas anderes. Sie hatte ihn von Anfang an als Menschen betrachtet und auch wie einen solchen behandelt. Und selbst nachdem er ihr alles anvertraut hatte, selbst seine düstersten Gedanken, hatte sie nicht von seiner Seite weichen wollen. Nicht, dass sie keine Angst vor ihm gehabt hätte, nein, die hatte sie sehr wohl gehabt, spätestens nachdem sie zum ersten Mal miterlebt hatte, wie er in dieser Weichzelle den Verstand verlor, doch der springende Punkt war doch, dass sie auch danach noch seine Nähe gesucht hatte, anstatt sich ihm zu entziehen, zurückzuweichen und die Flucht zu ergreifen.
Sie hatte ihn als Mensch behandelt, sie hatte ihn im Krankenhaus besucht, sie hatte ihm die Freiheit ermöglicht, die für andere selbstverständlich war, sie hatte ihm sogar zur Flucht verholfen und dafür ihr eigenes, sicheres und vergleichsweise komfortables Leben aufgegeben, für immer.
Und Ayato wollte ihr vertrauen. Er wollte es wirklich.
Doch es fiel ihm so unglaublich schwer.
Und nun war sie fort.
Seit drei Minuten.
Und er wurde zunehmend panischer.
Er konnte nichts dagegen tun, es lag in der Natur der Panik, sich nicht kontrollieren zu lassen.
Rebecca würde ihn doch nicht ausliefern, oder? Nein, welche Gründe hätte sie? Warum sollte sie ihn so sehr quälen? Nein … nein, das ergab keinen Sinn, in keiner Weise. Sie hatte ihn schließlich selbst entgegen aller Vorschriften aus dem Krankenhaus geholt, hatte ihm einen Einblick in das gegeben, was die Welt ihm zu bieten hatte. Nein, nein, es sah ihr auch gar nicht ähnlich, so etwas zu tun …
Nein, nein, nein!, schrie er sich selbst in Gedanken an. Hör’ auf, so etwas auch nur zu denken! Rebecca ist nicht so eine … ich muss ihr vertrauen … es gibt keinen Grund für mich, an ihr zu zweifeln!
Wütend schlug er mit einer Faust an die Fensterscheibe, sein Atem ging schnell, zu schnell.
„Verdammt“, murmelte er und nahm die Hand wieder herunter, schluckte. Mit einem Mal war ihm furchtbar heiß. Eine Panikattacke?, fragte er sich selbst. Himmel, wie tief bin ich in den letzten drei Jahren gesunken, dass ich es nicht einmal fünf Minuten lang alleine aushalte …
Er hob den Blick und hoffte, Rebecca zu sehen, doch da war niemand. Niemand. Er war ganz allein.
Ich bin immer allein gewesen, versuchte er, sich selbst zu beruhigen. Ich war immer allein, obwohl hunderte Leute um mich herum waren … Er schluckte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Ohne es wirklich wahrzunehmen, führte er seine rechte Hand zu seinem Mund und klemmte sich die dünne Haut, die sich über seinen Handrücken spannte, zwischen die Schneidezähne. Er biss nicht fest zu, aber der leicht ziehende Schmerz beruhigte ihn in gewisser Weise und er lenkte ihn auch von seiner Angst ab.
Er schreckte auf, als plötzlich die Autotüren entriegelt wurden. Rebecca hatte den Wagen der Gewohnheit halber abgeschlossen, als sie ausgestiegen war. Nun kam sie um das schwarze Auto herum und öffnete die Fahrertür, ließ sich neben Ayato auf den Sitz fallen, stieß einen Seufzer aus.
Noch während sie die Füße ins Auto schwang, ihre Handtasche auf den Schoß nahm und dann die Tür schloss, atmete Ayato erleichtert auf und hoffte inständig, dass man ihm seinen Angstausbruch nicht ansah.
„So“, sagte Rebecca gedehnt und legte den Sicherheitsgurt an. Dann griff sie in ihre Handtasche und holte zwei schwarze Pistolen hervor, von denen sie eine an Ayato weiterreichte.
Es war nicht der Anblick einer Waffe, der Ayato erschreckte oder verstörte, nein, es war eher die Tatsache, dass seine freundliche und ruhige Psychologin es war, die ihm eine Handfeuerwaffe zusteckte. „Du … hast du eben …?“ Er kam sich vor wie ein dummes Kleinkind und doch wollte er die Frage gestellt haben.
„Klar“, sagte sie nur und ihre Stimme klang ungewöhnlich kühl und tough. „Von jetzt an sind wir ja quasi vogelfrei und anarchistisch unterwegs. Von jetzt an beschützen wir nur noch unser nacktes Leben.“ Entgegen ihrer kalten Stimmlage jedoch lächelte sie so warm wie immer. „Von nun an sind wir frei.“
Auch Ayato musste unwillkürlich lächeln. „Nichts bereuen, alles auf Risiko, ein Leben ohne Regeln“, wiederholte er leise, was sie sich einen Tag zuvor auf der Dachterrasse dieses noblen Cafés geschworen hatten, nur mit sich selbst und dem berauschenden Abgrund hinter sich als Zeugen.
„Exakt“, meinte Rebecca fröhlich und drehte den Zündschlüssel herum, woraufhin der Motor ansprang.
Ayato lächelte und hielt die Pistole fest in der Hand. Dann schließlich, als sie auf eine belebtere Straße fuhren, sah er Rebecca von der Seite an. „Ich hätte nicht gedacht, dass du einen Waffenschein hast.“
Rebecca schmunzelte. „Das hier sind die Vereinigten Staaten“, sagte sie und fuhr auf den Highway. „Mit so etwas wie Waffenscheinen hält man sich hier praktischerweise nicht besonders lange auf.“
Ayato stutzte, zögerte. „Davon habe ich schon gehört, aber gewusst habe ich das nicht.“
„Es genügt, einundzwanzig Jahre alt zu sein. Ach ja, und einen amerikanischen Pass braucht man auch. Mehr nicht“, erklärte sie ihm vergnügt und trat aufs Gaspedal, sodass die Landschaft immer schneller vorüberzog.
Ayato sah auf die Waffe und bemerkte, dass er selbst zwar in der Theorie amerikanischer Staatsbürger war, jedoch keinen Pass besaß, keinen Beweis dafür, dass er existierte. Abgesehen davon, dass er noch nicht einmal das Mindestalter für den Besitz einer Waffe erreicht hatte. Er schüttelte den Kopf. „Kannst du denn mit einer Pistole umgehen?“, wollte er dann von Rebecca wissen.
„Mein Vater ist ein echter Waffennarr“, erwiderte Rebecca lächelnd. „Er sammelt alle möglichen Feuerwaffen. Und ich bin im Prinzip auf dem Schießstand aufgewachsen. Ich treffe, wenn ich muss“, erklärte sie.
Ayato sah auf die Waffe in seinem Schoß, stellte sich vor, wie es wäre, sie zu entsichern und damit zu schießen, um sich selbst im Ernstfall zu verteidigen. Es verursachte ihm ein unheimliches Kribbeln in den Fingerspitzen, von dem er nicht wusste, ob es gut war oder nicht.
„Was ist mit dir?“, wollte Rebecca da wissen.
Ayato zuckte die Schultern. „Ich hab’ auch schon die eine oder andere Waffe in der Hand gehalten, für den Fall, dass ich mal als menschliche Superwaffe fungieren muss“, erzählte er ihr.
Rebecca lachte. „Na dann kann mir in deiner Begleitung ja gar nichts mehr passieren“, sagte sie. „Ich könnte mir vorstellen, dass du nicht einmal bei diesen richtig großen Waffen ein Zielfernrohr bräuchtest.“
Ayato lächelte schwach, betrachtete das Profil seiner neugewonnenen Verbündeten, sagte nichts.
„Warum?“, hatte er sie vergangene Nacht gefragt, als sie ihn vom Café direkt in ihr Apartment gebracht hatte, gleich nachdem sie beschlossen hatten, auszubrechen aus allen Normen, allen Fesseln der Gesellschaft, die ihnen von klein auf angelegt worden waren. „Warum wirfst du dein Leben weg?“, hatte er wissen wollen.
Natürlich hatte er gezweifelt, er hatte nicht glauben können, dass eine junge Frau von nur vierundzwanzig Jahren, wie sie es war, einfach so alles, was sie sich aufgebaut hatte, aufgeben wollte, und das nur, weil er, ein einfacher Mann, ein so unglückliches Los gezogen hatte, ganz im Gegensatz zu ihr, die sie eine gute Kindheit gehabt, einen vorbildlichen Schulabschluss und studiert hatte, auf dem Weg dazu war, eine aufstrebende Psychologin zu werden. Er verstand nicht, dass sie wirklich mit ihm fliehen wollte.
„Ich werfe mein Leben nicht weg“, hatte sie ihm geantwortet und ihm lange in die Augen gesehen. „Ich gestalte es nur um. So, dass ich bei dir sein kann.“ Kaum hatte sie das gesagt, war sie still geworden und auch ein wenig rot, und sie hatte sich abgewandt und eine Reisetasche gepackt.
Ayato hatte ebenfalls geschwiegen, hatte geschwankt zwischen ungläubiger Glücksseligkeit und dem alten Argwohn, er hatte ihr zugesehen, wie sie einfach so aus dem Stegreif heraus entschied, welche Dinge sie wirklich am dringendsten brauchte und welche sie weggeben konnte.
Ayato hatte sie für diesen plötzlichen Willen zur Veränderung bewundert.
Und doch war ihm das alles merkwürdig vorgekommen.
„Rebecca“, hatte er schließlich gesagt und sie am Arm festgehalten. Sie hatte ihn verwundert aus rehbraunen Augen angesehen, fragend. „Ich will das nicht“, hatte er gesagt. „Ich will nicht, dass du einfach so alles stehen-und liegenlässt. Ist dir denn überhaupt bewusst, was das alles bedeutet?“
Sie hatte sich unerwartet energisch von ihm losgemacht und sich abgewandt. „Natürlich weiß ich, was das bedeutet!“, hatte sie dann gerufen und ihre Stimme hatte gezittert. „Und was soll das heißen, ,du willst das nicht‘? Wir haben uns doch etwas versprochen!“ Und dann hatte sie zu weinen begonnen.
Ayato hatte nicht gewusst, was er tun sollte. Schließlich hatte er noch etwas mehr Abstand zwischen sich und Rebecca gebracht. „Ich will doch nur nicht, dass du es später bereust“, hatte er versucht, ihr zu erklären.
Da hatte Rebecca sich auf die Unterlippe gebissen und die Arme vor der Brust verschränkt, als wollte sie sich selbst ein wenig wärmen. „Und ich will nicht, dass du an mir zweifelst“, hatte sie leise gesagt. Dann war sie nähergekommen und hatte ihre Arme um seinen Oberkörper geschlungen, wie sie es auf der Dachterrasse auch schon getan hatte. „Ich will bei dir bleiben. Kannst du das nicht verstehen?“
Ayato hatte diese fast verzweifelte Umarmung zögerlich erwidert, sein Kinn auf ihrem Kopf aufgestützt. „Es tut mir leid“, hatte er dann gesagt. „Ich zweifle nicht an dir oder an unserem Versprechen. Versteh’ doch nur, das Leben, das du ohne mich führen könntest, ist ein gutes Leben. Ich will nicht, dass du das für mich aufgibst.“
Rebecca hatte schwer geseufzt. „Sieh’ mal, ich bin erst vierundzwanzig und habe mein Leben bisher mit Schule und der Universität zugebracht. Ein echtes Leben … ein echtes Leben, nur für mich, habe ich doch noch gar nicht gehabt. Das mit dem Psychologiestudium war die Idee meiner Mutter. Sie ist selbst Therapeutin und hat es mir vorgeschlagen. Ich habe es durchgezogen, weil ich keine andere Perspektive hatte, keine anderen Wünsche und weil ich Menschen helfen wollte. Aber …“ Sie hatte zu ihm aufgesehen und dann gelächelt. „Du bist jetzt der einzige Mensch, dem ich beistehen will. Verstehst du?“
„Ich denke, ich fange an, zu verstehen“, hatte Ayato leise erwidert und Rebecca dann etwas fester an sich gedrückt, als ob er sie nie wieder loslassen wollte. Und er wusste, das war mehr als nur ein Eindruck.
Sie hatten Rebeccas Reisetasche in ihr Auto gebracht, dann hatten sie in einem Laden nach Kleidung für Ayato gesucht, einfache Hemden und zwei Jeanshosen, zusammen mit einem Paar Turnschuhe. Und dann hatten sie New York verlassen, waren in die Kleinstadt gefahren, in der Rebecca eben die Pistolen besorgt hatte.
Und nun zog die Landschaft an ihnen vorbei, immer schneller, alles verwischte und mit der Zeit wurde es immer dunkler, der Mond warf einen silbrigen Schein auf die nordamerikanische Landschaft.
Ayato sah zu Rebecca, die vollkommen ruhig das Lenkrad in der Hand hielt.
Noch immer konnte er nicht glauben, dass er sich mit einem so wunderbaren Menschen wie ihr auf der Flucht befand, auf der Flucht vor all den Menschen, die behaupteten, er müsste nach ihren Regeln spielen.
Rebecca hatte sich in große Gefahr gebracht, eigentlich schon, seitdem sie für sich selbst entschieden hatte, ihn anders zu behandeln als alle anderen, zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden.
Ja, es bedrückte Ayato, dass sie all das für ihn tat, und zugleich erfreute es ihn.
Es wartete ein unvorhersehbares Abenteuer auf sie – ein Abenteuer, das sich Leben nannte.