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Kapitel II – Misstrauen

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Als die letzten Sonnenstrahlen allmählich der kalten klaren Nacht wichen, fuhr Rebecca den Wagen auf einen Rastplatz, nur ein kleiner Flecken Asphalt mitten im Nirgendwo. Nur leise waren noch die Motorengeräusche der anderen Autos auf der Schnellstraße zu vernehmen.

„Ich denke, die erste Nacht sollten wir hier verbringen“, sagte sie und zog die Handbremse an. „Ein Motel wäre natürlich etwas bequemer, aber ich fürchte, wir werden ganz schön sparen müssen …“

„Dafür die Zeltplane?“, fragte Ayato und lächelte. Er öffnete die Autotür und sah in den Himmel. Er musste ihn immer wieder betrachten, diesen unnachahmlich tiefblauen, sternenübersäten Himmel, den er so lange nicht mehr hatte betrachten dürfen … er vermittelte ihm ein Gefühl von Freiheit.

„Sicher“, erwiderte Rebecca und seufzte.

„Was ist?“, fragte Ayato sofort.

„Nichts … es ist nur … ich dachte nur grade, wie teuer das Benzin sein wird. Ich frage mich, wie weit wir mit meinen Ersparnissen kommen.“ Obwohl ihre Worte getränkt waren von Sorgen, lächelte sie ihn an.

Ayato schwieg, wusste nicht, was er sagen sollte.

Noch immer hatte er ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend, es war immerzu präsent, es war da gewesen, als Rebecca ihre Sachen gepackt hatte, es war da gewesen, als sie auf der Bank ihre gesamten Ersparnisse abgehoben hatte, es war da gewesen, als sie die Waffen gekauft hatte. Es ließ ihn nicht los.

„Also dann, los geht’s“, meinte Rebecca da und öffnete ebenfalls die Tür, stieg schwungvoll aus. „Ich hoffe nur, es gibt hier niemanden, der sich daran stört, wenn wir hier auf der Wiese ein Zelt aufstellen.“ Sie lachte, öffnete den Kofferraum, holte das Zelt hervor, gelber und blauer Kunststoff.

Ayato stieg nun auch aus, nahm ihr das Paket ab.

„Jetzt kommen wir zu dem Teil, an dem man dem Klischee nach immer verzweifelt“, meinte Rebecca und schloss den Kofferraum wieder. „Mal sehen, wie wir beide uns damit schlagen.“

„Tja, also ich hab’ noch nie ein Zelt aufgebaut“, meinte Ayato, nachdem er die Bauteile auf der Wiese abgelegt hatte. „Aber so kompliziert kann es ja eigentlich nicht sein“, fügte er dann hinzu.

„Mit solchen Worten fangen Probleme an“, scherzte Rebecca, dann kniete sie sich neben ihn. „Tja, also … Irgendwo muss hier ein Plan sein oder so“, sagte sie und fand schließlich ein weißes Heftchen.

„Ohne Licht sind wir so oder so aufgeschmissen“, stellte Ayato fest und stand auf, holte eine Taschenlampe von der Rückbank, wo sie alle möglichen kleinen Gerätschaften deponiert hatten.

„Okay, also“, sagte Rebecca und begann dann aufzuzählen, was sie brauchte um ein Grundgerüst aufzustellen.

Ayato reichte ihr ohne Widerrede alles, was sie haben wollte und zu zweit brachten sie es schließlich fertig, auch die Zeltplane über das Gerüst zu ziehen. Schließlich stand das gelbblaue Zelt.

„Fein“, sagte Rebecca, stand auf und klopfte sich die Erde von den Knien. „Tja …“, meinte sie dann. „Tut mir leid, das hier wird auch nicht unbedingt bequem sein, aber immer noch besser als im Auto zu übernachten.“

„Ich persönlich würde sogar lieber auf dem Asphalt schlafen als noch eine Nacht in meiner Zelle“, meinte Ayato nur und holte die Schlafsäcke aus dem Kofferraum. „Glaub’ mir, meine Ansprüche sind sehr niedrig.“

Rebecca lächelte und als Ayato die Schlafsäcke abgelegt hatte, blieben sie für einige Augenblicke voreinander stehen, sahen sich einfach nur an, vielleicht warteten sie auch darauf, dass der andere etwas sagte oder tat.

Ayato zuckte unmerklich zusammen, als plötzlich ein Ruck durch ihren Körper ging, als hätte sie eben noch mit sich gerungen. Dann spürte er, wie sie sich an ihn lehnte, so wie sie es schon einmal getan hatte und das Gewicht ihres Kopfes an seiner Brust fühlte sich gut an, allein diese Berührung schien ihn zu wärmen.

Er bemerkte, dass sie die Augen geschlossen hatte. Sie musste erschöpft sein von der Autofahrt.

„Willst du schlafen gehen?“, fragte er sie leise und sah auf ihren Haarschopf hinunter.

„Gleich“, wisperte Rebecca und er spürte, wie sie sich kurz von ihm lösen wollte, doch dann entschied sie sich dagegen und lehnte sich erneut an ihn und Ayato dachte daran, dass sie sich vor wenigen Tagen noch vor ihm gefürchtet hatte, weil er recht groß war und vor allem, weil er als unberechenbar galt.

Ayato lächelte und drückte sie mit dem linken Arm, der noch immer in einem Gips steckte, sanft an sich, während seine rechte Hand vorsichtig nach ihrer tastete, es geschah beinahe, ohne dass er sich bewusst dafür entschieden hatte, er umspielte sanft ihre Fingerkuppen und hielt ihre Hand schließlich in seiner.

Rebecca erwiderte das Spiel und verschränkte ihre Finger kurz mit seinen, dann umfasste sie seine Hand ihrerseits und hielt sie fest, strich mit dem Daumen darüber. Schließlich stutzte sie und sah auf.

„Was ist das?“, fragte sie verwundert und löste sich von ihm, betrachtete seine Hand.

Ayato sah auf seine Hand, die in ihrer lag, und schwieg. Er wusste, sie hatte die Bissspuren vom heutigen Nachmittag ertastet. Sie waren nicht tief, eigentlich kein Vergleich zu denen, die bereits geheilt waren oder von denen möglicherweise sogar Narben bleiben würden, aber sie hatte sie gefühlt.

Als Rebecca trotz der kaum zureichenden Beleuchtung begriff, was sie da unter ihren Fingerkuppen gespürt hatte, sah sie auf und Ayato ins Gesicht. „Die sind neu, oder?“, fragte sie leise.

„Ja“, antwortete Ayato ihr, ohne einen Versuch zu unternehmen, der Frage auszuweichen.

„Wann?“, wollte Rebecca leise wissen und ihre Finger strichen erneut über die kleinen Vertiefungen, die seine Zähne in der Haut hinterlassen hatten, es kitzelte ihn und es kribbelte angenehm.

„Heute, als du mich alleingelassen hast“, erklärte Ayato ihr offen.

„Ist das auch der Grund?“, fragte sie weiter und sein Blick lag auf ihren rosafarbenen Lippen, weil er den sorgenvollen Ausdruck in ihren Augen nicht mehr ertragen konnte.

„Ja“, bestätigte Ayato nach einem kurzen Zögern und fragte sich, was sie nun tun würde.

Würde sie ihm Vorwürfe machen? Oder ihm sagen, dass er sich keine Sorgen machen sollte? Dass er das lassen sollte, auch wenn er sich Sorgen machte? Dass das keine Lösung war?

„Es tut mir leid“, sagte Rebecca da leise und Ayatos Augen wurden groß, als sie langsam ihre weichen Lippen auf die frischen Wunden legte. „Ich habe nicht gewusst, dass ich dir damit wehtue.“

„A-aber …“, stotterte er und wollte seine Hand wegziehen und zugleich auch nicht. Die Stelle, wo Rebecca ihn federleicht berührt hatte, kribbelte erneut und es fühlte sich auf unerklärliche Weise so wunderbar an, dass er sich wünschte, sie würde es noch einmal tun, nur ein einziges Mal noch …

„Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, sagte Rebecca nun doch. „Wenn ich dich allein lasse, dann doch nur, weil es vielleicht zu gefährlich für dich ist“, erklärte sie ihm flüsternd.

Ayato senkte beschämt den Blick. „Das weiß ich doch.“

„Allerdings … hätte ich dir sagen sollen, was ich vorhabe“, setzte Rebecca nun hinzu. „Dich im Unklaren zu lassen, war nicht richtig von mir. Es tut mir leid.“ Sie lächelte ihn traurig an. „Kannst du mir verzeihen?“

„V-verzeihen?“ Ayato blinzelte. „Es gibt nichts zu verzeihen. Ich … ich bin einfach nur paranoid geworden.“

„Das verstehe ich.“ Rebecca ließ seine Hand langsam wieder los. „Ich sollte eigentlich wissen, was für tiefe Wunden deine Seele trägt. Und ich sollte auch wissen, wie ich damit umzugehen habe. Darum tut es mir leid.“

„Du … du bist der erste Mensch, der sich überhaupt Gedanken um mein Gemüt macht“, sagte Ayato leise. „Dafür bin ich dir dankbar, so unendlich dankbar, Rebecca.“

Rebecca lächelte. „Ich will, dass wir einander vertrauen können. Ich will …“

„Das will ich auch“, fiel Ayato ihr eilig ins Wort und zog seine Hand aus ihrer, was er sogleich bereute, als er spürte, wie die Wärme der kalten Nachtluft wich. „Nichts bereuen, alles auf Risiko, ein Leben ohne Regeln“, wiederholte er eindringlich. „Ohne die Regeln, die andere für uns gemacht haben. Für mich gibt es nur noch eine Regel – dass meine neugewonnene Freiheit ohne dich nichts wert ist.“

Rebecca sah zu ihm auf und beinahe traten ihr Tränen in die Augen. Seine Worte rührten sie, das sah Ayato und er sah auch, dass sie sie zugleich bedrückten und Ayato wusste, dass es die Verantwortung war, die sie schlucken ließ, die Verantwortung, für ihn da zu sein, weil sie ihm so viel bedeutete.

Warum nur war so viel Vertrauen zwischen zwei Menschen nur gleichzeitig mit einer solchen Last verbunden?

Er stolperte überrascht einen Schritt zurück, als Rebecca ihn erneut umarmte, dieses Mal richtig, sie warf sich geradezu in seine Arme. Wieder vergrub sie ihr Gesicht in dem hellblauen Hemd, das er trug und Ayato spürte ein warmes Gefühl der Zuneigung, als er ihre Arme auf seinem Rücken wahrnahm und er erwiderte die Umarmung vorsichtig. „Danke, Ayato“, sagte sie leise. „Das bedeutet mir sehr viel.“

Ayato lächelte glücklich und atmete nun auch ihren Duft ein, schloss ebenfalls die Augen. „Irgendwann … irgendwann werde ich mein Misstrauen abgelegt haben. Ich verspreche es.“

„Und ich verspreche, dich niemals zu enttäuschen“, sagte Rebecca und sah auf. „Und nun lass’ uns schlafen gehen.“ Langsam löste sie sich erneut von ihm, das letzte Mal für diesen Tag und auch Ayato spürte, wie müde er war. Es war beinahe, als vergaß er in ihrer Gegenwart sogar, wie man die Augen offenhielt. Doch es fühlte sich gut an. So friedlich und so zeitlos, als ob diese Momente ewig währen könnten.

Sie verschwand im Zelt und Ayato wartete davor, bis sie sich die unbequemsten Kleidungsstücke – vorrangig ihre Schuhe und die Jeans – ausgezogen und sich in ihrem Schlafsack verkrochen hatte.

Dass sie sich ein Zelt teilen mussten, störte sie beide nicht im Geringsten, wenngleich sie beide unverkennbar rot geworden waren, als Rebecca das Thema am Tag zuvor etwas ungelenk zur Sprache gebracht hatte. Doch schließlich waren sie zu dem Schluss gekommen, dass ihr neues Leben ihrer beider Privatsphären in dieser Hinsicht unausweichlich einschränken würde und dass sie beide damit leben konnten.

Schließlich lagen sie beide in den Schlafsäcken, von weichem Stoff geschützt vor der nächtlichen Kälte, die auch vor dem Zeltstoff keinen Halt machte, und sahen an die Decke.

„Wir haben die Pistolen vergessen“, fiel Ayato schließlich auf und setzte sich noch einmal aufrecht hin.

Rebecca drehte sich zu ihm. „Stimmt“, sagte sie und seufzte. „Ich bin es nicht gewohnt, bewaffnet zu sein.“

„Ich auch nicht“, erwiderte Ayato mit einem schwachen Grinsen, griff nach Rebeccas Autoschlüssel und schälte sich noch einmal aus dem Schlafsack, um, nur mit Boxershorts bekleidet, nach draußen zu gehen und die Waffenaus dem Auto zu holen. Als er zurückkehrte, richtete Rebecca sich auf, den Stoff des Schlafsacks dabei an ihre Brust gepresst, auch wenn sie noch immer ihr T-Shirt trug, und nahm ihre Pistole entgegen, prüfte die Sicherung und legte die Waffe dann neben sich, ehe sie sich wieder zurücksinken ließ.

Ayato unterdessen schlüpfte wieder in den Schlafsack, blieb jedoch aufrecht sitzen. „Ist es denn gar nicht schlimm für dich, mit mir und den Waffen in einem Zelt zu schlafen?“ Immerhin galt er doch als potenziell gewaltbereit und war nicht umsonst in einer Gummizelle eingesperrt gewesen.

„Das einzige, was mich stört, sind die Waffen“, erwiderte Rebecca jedoch leise. „Einfach nur, weil sie da sind. Das erinnert mich daran, dass wir sie eines Tages brauchen könnten.“

Ayato musterte sie, dann legte er sich ebenfalls wieder hin. „Verstehe“, sagte er leise. Es störte sie also wirklich nicht, dass andere behaupteten, er könne ihr ohne Zögern etwas antun.

Rebecca seufzte leise und starrte wieder an die gelbblaue Decke.

Er sah sie an, musterte sie, zögerte. Er hatte ihr Seufzen gehört und er hatte auch bemerkt, dass seine Frage sie nicht glücklich gemacht hatte, ganz im Gegenteil. Es störte sie, das sah er ihr an, er sah, wie sie den Mund öffnete und dann ihre Hände über ihr Gesicht legte und dann doch stumm blieb.

Sie wollte nicht, dass er zweifelte, das verstand Ayato, sie wollte nicht, dass er ihr Handeln in Frage stellte, doch es war ihm unverständlich, dass sie sich mit ihm abgab, sich nicht einmal mehr vor ihm fürchtete, so wie an den ersten Tagen, die sie mit ihm verbracht hatte, als sie sich nur mit einer Elektroschockpistole bewaffnet in seine Nähe gewagt hatte. Das hatte er verstanden, das war ihm logisch erschienen.

Doch das Vertrauen, das sie ihm nun entgegenbrachte … es verunsicherte ihn. Ja, das war es.

Seitdem er sein Zimmer in der Forschungsanstalt im Wahn vollkommen zerlegt hatte, hatte sich keiner mehr an ihn herangetraut, nur die Ärzte, die für ihn zuständig gewesen waren und das auch nur, weil es ihr Job war. Nachdem er sich mithilfe der Spiegelscherben im Krankenzimmer die Pulsadern aufgeschnitten hatte, hatte sich überhaupt keiner mehr ernsthaft mit ihm befassen wollen. Man hatte ihn links liegenlassen.

Und dann war sie aufgetaucht, Rebecca Green, seine neue Psychologin, die sich, entgegen aller Vernunft und allem, was sie in ihrer Ausbildung gelernt haben musste, auf ihn eingelassen hatte, ihn wirklich hatte kennenlernen wollen und ihm schließlich sogar zur Flucht aus dem grellen Weiß verholfen hatte.

Nun ließ auch Ayato sich schwer zurücksinken und wandte das Gesicht zur Seite.

Musste er Rebecca verstehen, um an ihrer Seite zu sein?

Natürlich, das wäre wünschenswert gewesen, doch zählte denn letztendlich nicht einzig und allein ihr Vertrauen ineinander, ganz gleich, wie irrational es war, dass sie in ihm keine Gefahr sah und nur einen Menschen?

Nun seufzte auch er.

Zeit. Alles, was er brauchte, war doch letztendlich nur Zeit. Die Zeit konnte Wunden heilen und neue Wunder hervorbringen. Ja. Er sollte einfach schlafen, den nächsten Tag leben, Zeit mit Rebecca verbringen.

Zeit. Alles, was er brauchte, war Zeit.

„Ayato?“, fragte Rebecca da schließlich leise.

Ayato sah zu ihr. „Ja?“, fragte er zurück.

Was würde sie ihm sagen? Phrasen, wie er sie schon hundertmal gehört hatte? Würde sie ihm erneut versichern, wie sehr sie ihm vertraute und wie wenig sie sich vor ihm fürchtete, wieder und wieder, bis all diese leeren Floskeln immer mehr ihre Glaubwürdigkeit verloren?

„Gute Nacht“, sagte Rebecca und lächelte.

Für einen Moment wusste Ayato nicht, was er darauf am besten antworten sollte, zu sehr verblüfften ihn ihre Worte, die er nicht erwartet hatte. Doch schließlich lächelte auch er. „Ja … gute Nacht.“

Freedom

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