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fünf

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»Lasst uns danksagen«, sagte der Reverend.

Tapioca und der Gringo hielten mit vollbeladenen Gabeln auf halbem Weg zwischen Mund und Teller inne.

»Wenn Sie erlauben«, sagte der Reverend.

Der Gringo sah ihn an und versenkte seine Gabel im Reis.

»Dann mal los.«

Der Reverend faltete die Hände und legte sie auf die Tischkante. Leni tat es ihm gleich und senkte den Blick. Tapioca sah nacheinander den Gringo und die Gäste an und faltete ebenfalls die Hände. Brauer ließ die seinen neben dem Teller liegen.

»Herr, segne diese Speisen und diesen Tisch. Danke, lieber Jesus, dass du diese Freunde in unseren Weg geführt hast. Gelobt seiest du in Ewigkeit, Amen.«

Der Reverend lächelte.

»Jetzt schon«, sagte er.

Die vier machten sich über das Essen her: reichlich Reis und ein paar Stücke kaltes Fleisch, die vom Vorabend übrig geblieben waren. Alle hatten Hunger, weshalb man eine Weile nur das Kratzen des Bestecks auf den emaillierten Tellern hörte. Tapioca und Brauer aßen schnell, als lieferten sie sich einen Wettkampf, wer früher fertig war. Der Reverend und Leni nahmen sich mehr Zeit. Er hatte Leni beigebracht, das Essen gut zu kauen, bevor sie es herunterschluckte: Gutes Kauen fördert eine gute Verdauung.


»Leben Sie schon lange hier?«, fragte Pearson.

»Ziemlich«, sagte der Gringo, während er runterschluckte und sich mit dem Handrücken den Mund wischte, bevor er einen Schluck Wein mit Eis trank. »Dieses Gelände gehörte meinem Vater. Viele Jahre habe ich mich herumgetrieben, habe in den Baumwollfabriken gearbeitet, bei der Ernte, wie es sich gerade ergab. Bin von einem Ort zum anderen gezogen. Vor rund zehn Jahren habe ich mich fest hier niedergelassen.«

»Eine einsame Gegend.«

»Ich mag das Alleinsein. Außerdem habe ich ja jetzt Tapioca, stimmt’s, Junge?«

»Arbeitest du schon lange bei Señor Brauer?«

Tapioca zuckte mit den Schultern und wischte den Teller mit Brot aus, bis er strahlend sauber war.

»Mein Mitarbeiter ist ein bisschen menschenscheu«, sagte der Gringo.

Der Mechaniker war mit Essen fertig, kreuzte das Besteck und ließ sich, Hände auf dem vollen Bauch, im Stuhl nach hinten sinken.

»Und was habt ihr zu berichten? Vermute mal, ihr seid auf dem Weg nach Castelli.«

»Ja, wir besuchen Pastor Zack. Kennen Sie ihn?«

»Zack. Glaube nicht.« Brauer zündete sich eine Zigarette an. »Als ich jung war und in Pampa del Infierno schuftete, kannte ich einen Zack. Aber der hatte nichts von einem Diener Gottes. Das war ein russischer Halbstarker. Ein Raufbold. Ein Unruhestifter vor dem Herrn. Aber Evangelien gibt es hier ja viele.«

»Ja, es gibt viele protestantische Kirchen in der Gegend. Unsere ist in den letzten Jahren, Gott sei Dank, ziemlich gewachsen. Pastor Zack hat in dieser Hinsicht ganze Arbeit geleistet.«


Alle schwiegen. Brauer trank seinen Wein aus, schlenkerte mit dem Glas und ließ die restlichen Eisstücke klickern.

»Vielleicht glauben Sie es nicht. Der Freund, von dem Sie eben sprachen, auch er kann ins Himmelreich gelangen. Wir alle können«, sagte der Reverend.

»Und wie ist es?«, fragte Tapioca mit scheuem Blick.

»Das Himmelreich?«

»Komm, ich zeig dir die Braut des Lamms«, kam Leni ihrem Vater zuvor. Sie hatte kein Wort gesagt, seit sie aus dem Wagen gestiegen war, darum schauten alle sie an. »Er hat meine Seele auf einen gewaltigen Berg geführt und mir die heilige Stadt Jerusalem gezeigt, die vom Himmel herabgekommen ist, von Gott gesandt. Gottes Herrlichkeit war in ihr und schimmerte wie die schönste Perle, wie kristallklare Jade. Sie war von einer hohen Mauer umgürtet. Die Mauer war ganz aus Jade, die Stadt aus purem Gold. Die Fundamente der Mauer trugen Schmuck und Edelsteine aller Art. Der Marktplatz der Stadt war aus getriebenem Gold, aber durchsichtig wie Glas. Dann zeigte mir der Engel einen Fluss mit dem Wasser des Lebens, der mitten auf dem Platz aus dem Thron Gottes und des Lamms hervorbrach. Zu beiden Seiten des Flusses standen Lebensbäume, die zwölfmal im Jahr Früchte trugen, und ihre Blätter machten die Völker gesund.« Sie lächelte. »War es nicht so, Vater?«

»Ist das alles wahr?«, fragte Tapioca, von der Erzählung verzaubert.

»Natürlich nicht. Das ist bildlich gemeint«, sagte Leni spöttisch.

»Elena«, mahnte der Reverend. »Das Himmelreich ist der schönste Ort, den du dir vorstellen kannst, Junge. In Gottes Gnade geborgen. Alle Schätze der Welt zusammen sind nichts im Vergleich. Sind Sie gläubig, Señor Brauer?«


Der Gringo goss sich Wein nach und zündete sich noch eine Zigarette an.

»Für sowas habe ich keine Zeit.«

Der Reverend lächelte und sah ihn scharf an.

»Tja. Und ich habe für andere Dinge keine Zeit.«

»Jeder wie er kann«, sagte Brauer und stand auf. »Räum den Tisch ab, Junge«, befahl er Tapioca, der nachdenklich dasaß, Brotkügelchen drehte und sie vor sich aufreihte.

Den Kleinen hatte eines Abends seine Mutter gebracht. Er mochte damals etwa acht Jahre alt gewesen sein. Sie kamen in einem Laster, der sie in Sáenz Peña aufgegabelt hatte. Der Lastwagenfahrer, der nach Rosario fuhr, hatte Brennstoff geladen, prüfte den Reifendruck und bestellte ein Bier. Während der Fahrer im Schatten des Vordachs trank und der Junge mit den Hunden spielte, kam die Frau zu Brauer herüber, der die Zündkerzen eines Wagens reinigte, den man zur Reparatur gebracht hatte. Als er sah, dass sie auf ihn zukam, dachte er, sie würde die Toilette suchen; er hatte sie kaum beachtet.

Aber sie suchte keine Toilette, sie wollte mit ihm reden, wie sie sagte.

»Ich möchte mit dir reden.«

Brauer sah sie an, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Sie rückte aber nicht gleich mit der Sprache heraus, weshalb er sie für eine Prostituierte hielt. Es kam ziemlich oft vor, dass Fernfahrer solche Frauen von A nach B mitnahmen und auf sie warteten, solange sie ihrer Arbeit nachgingen. Vielleicht teilten sie auch danach das Geld.

Als er sah, dass sie noch immer zögerte, sagte er:


»Schieß los.«

»Erinnerst du dich nicht an mich?«

Brauer sah sie genauer an. Nein, er erinnerte sich nicht.

»Egal. Es ist lange her, und wir haben uns nur kurze Zeit gekannt. Jedenfalls, das da ist dein Sohn.«

Der Gringo legte die Zündkerzen in eine Schale und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Er schaute in die Richtung, in die ihr Finger wies.

Der Junge hatte einen Ast gepackt. Das eine Ende befand sich in der Schnauze eines der Hunde, das andere Ende in seiner Faust; die übrigen Hunde sprangen um den Jungen herum, während sie darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen, mit ihm zu spielen.

»Sie beißen nicht, oder?«, fragte sie besorgt.

»Nein, sie beißen nicht«, erwiderte Brauer.

»Jedenfalls, ich kann nicht länger für ihn sorgen. Ich gehe nach Rosario, um Arbeit zu finden; mit dem Jungen ist das zu kompliziert. Ich weiß noch nicht, wo ich bleibe. Es gibt niemanden, wo ich ihn lassen könnte.«

Der Gringo war mit dem Reinigen seiner Hände fertig und stopfte den Lappen unter den Gürtel. Er steckte sich eine Zigarette an und bot auch der Frau eine an.

»Ich bin die Schwester von Perico. Ihr habt zusammen in der Baumwollfabrik von Dobronich in Machagai gearbeitet, wenn du dich erinnerst.«

»Perico. Was treibt er so?«

»Seit Jahren lässt er nichts von sich hören. Er ist nach Santiago, arbeiten, und ist nie wiedergekommen.«

Der Junge hatte sich auf den Boden geworfen, und die Hunde bohrten ihm ihre Schnauzen in die Seiten, um an den Stock zu kommen, den er unter sich begraben hatte. Er lachte wie verrückt.

»Er ist ein guter Junge«, sagte die Frau.


»Wie alt?«

»Bald neun. Er gehorcht und ist gesund. Ist gut erzogen.«

»Hat er Klamotten dabei?«

»Im Lastwagen habe ich eine Tasche.«

»Geht klar. Lass ihn hier«, sagte er und schnippte die Kippe zur Seite.

Die Frau nickte.

»Er heißt José Emilio, aber wir nennen ihn Tapioca.«

Als der Lastwagen anfuhr und langsam hoch zur Straße kroch, begann Tapioca zu weinen. Er saß still da, öffnete den Mund, aus dem ein Schluchzen kam, und die Tränen zogen feuchte Spuren ins lehmverschmierte Gesicht. Brauer beugte sich zu ihm herunter.

»Komm, Junge, komm, wir trinken eine Cola und geben den Hunden was zu essen.«

Tapioca nickte, ohne den Lastwagen aus den Augen zu lassen, der schon mit seiner Mutter an Bord auf die Straße einbog, um für immer zu verschwinden.

Brauer packte die Tasche und setzte sich in Richtung Tankstelle in Bewegung. Die Hunde, die hinter dem Lastwagen her gejagt waren und die Böschung erklommen hatten, kamen mit hängenden Zungen langsam wieder herunter. Der Junge zog die Nase hoch, drehte sich um und lief hinter dem Gringo her.

Tapioca begann den Tisch abzuräumen, und Leni stand auf, ihm zu helfen.

»Lass mich das machen«, sagte sie und nahm ihm das Besteck aus der Hand. Rasch stapelte sie Teller und Gläser. »Sag mir, wo ich das abwaschen kann.«

»Da drüben.«

Leni folgte ihm auf die Rückseite der Behausung zu einem Becken aus Beton mit Wasserhahn. Was sie abspülte, reichte sie Stück für Stück Tapioca. Das nasse Geschirr türmte sich in seinen Armen.


»Hast du ein Trockentuch?«

»Drinnen.«

Sie betraten den einzigen Raum. Es brannte kein Licht, und Leni brauchte eine Weile, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Nach und nach nahmen die unförmigen Schatten Gestalt an: ein Herd mit Gasflasche, ein Eisschrank, ein Tischchen, ein paar an die Wand geschraubte Regale, zwei Pritschen und ein Kleiderschrank. Der Boden aus nacktem Beton war sauber.

Tapioca stellte die Sachen auf den Tisch und griff sich ein Tuch. Leni nahm es ihm ab und begann abzutrocknen.

»Räum du weg, du weißt, wo alles hingehört«, sagte sie.

Schweigend erledigten sie die Arbeit. Hier drinnen war es sehr heiß. Als die letzte Gabel abgetrocknet war, schüttelte Leni das Tuch aus und hängte es an die Tischkante.

»Fertig«, sagte sie lächelnd.

Tapioca strich sich nervös mit den Händen über die Hosenbeine.

Leni verrichtete fast nie Hausarbeiten, weil sie und ihr Vater keinen Haushalt hatten. Ihre Wäsche wurde in die Wäscherei gegeben, im Essraum deckten andere den Tisch ab und erledigten den Abwasch, im Hotel machten andere ihr Bett. Weshalb diese Dinge, die einem anderen Mädchen lästig waren, ihr ein gewisses Vergnügen bereiteten. Es war wie Hausfrau spielen.

»Und jetzt?«, fragte sie.

Tapioca zuckte mit den Schultern.

»Gehen wir nach draußen«, sagte sie.

Beim Hinausgehen mussten sich Lenis Augen erst wieder an das rabiate Sonnenlicht des frühen Nachmittags gewöhnen.

Der Reverend schlief in seinem Stuhl, und Leni legte den Finger auf die Lippen, damit Tapioca ihn nicht aufweckte. Sie verließ die Veranda und machte ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Der Junge kam.


»Gehen wir unter den Baum dort«, sagte sie.

Tapioca ging hinter ihr her. Außer in seiner Kindheit, als er bei seiner Mutter lebte, war er nie in weiblicher Gesellschaft gewesen. Ein anderer Junge wäre misstrauisch geworden, hätte geglaubt, das Mädchen wolle sich einen Spaß mit ihm erlauben.

Sie setzten sich unter den belaubtesten Baum, den sie finden konnten. Trotzdem hüllte der heiße Wind alles in eine infernalische Schläfrigkeit.

»Magst du Musik?«, fragte Leni.

Tapioca zuckte mit den Schultern. Nicht dass er sie gar nicht mochte. Aber richtig mögen, keine Ahnung. Das Radio lief ständig, und manchmal drehte der Gringo es lauter, wenn eine dieser etwas schwerfälligen correntinischen Polkas lief, die beim Hören gute Laune machen. Der Gringo begleitete sie immer mit den typischen Anfeuerungsrufen, manchmal sogar mit ein paar Tanzschritten. Tapioca fand das lustig. Jetzt, wo er darüber nachdachte, gefielen ihm eher die traurigen Lieder, die von Landstreichern und tragischer Liebe handelten. Diese Musik fand er schon schön, bei ihr krampfte sich einem das Herz in der Brust zusammen. Sie machte keine Lust zu tanzen, sondern still zu werden und zur Straße zu schauen.

»Steck dir das mal rein«, sagte Leni und schob ihm einen Hörstöpsel ins Ohr. Den anderen nahm sie für sich. Tapioca sah sie an. Das Mädchen lächelte und drückte auf Start. Die Musik ließ ihn erst zusammenzucken: Nie hatte er sie so nah gehört, es war, als spielte sie im Gehirn. Sie schloss die Augen, und er machte es ihr nach. Sofort gewöhnte er sich an die Melodie, sie wirkte nicht mehr wie etwas von außen. Es schien, als käme die Musik direkt aus den Eingeweiden.

Sengender Wind

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