Читать книгу Nur ein Traum - Semira Sayer - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеDie dunklen, grauen Wolken zogen schnell dahin, wie für die Ewigkeit gemacht indem sie sich zu einem schwarzen Orkan zusammenballten. Gerade war ich an einer Traminsel angekommen und sah hoch zum Himmel.
Nachdenklich verzog ich mein Gesicht. Das scheußliche Wetter beeinflusste mein Wohlgefühl. Die glücklichen Gedanken des Morgens flossen dahin und gingen über in die Überlegungen zu meinem festen Entschluss, ob ich endlich nach langem Hin und Her heiraten sollte oder nicht.
Es war seltsam. Da lieben sich zwei Menschen und werden sich einig, das Leben zu teilen. Bei mir war das anders. Ein Zweifel lag noch schwer auf meinem Herzen. Zwar mochte ich Thomas sehr, aber die Spuren der Vergangenheit waren noch zu lebendig in mir, ich trauerte vielem noch nach.
Während des Wartens auf die Trambahn war ich abgelenkt von den vielen Einladungsbriefen zu unserer Hochzeit, die ich bei mir trug.
Meine Augen glitten über die nahe gelegenen grauschwarzen, eisernen Tramschienen. Gedankenlos beobachtete ich sie einige Zeit. Dann fielen mir die rechts entlang der Straße stehenden Betonhäuser auf, die eine graue Mauer bildeten.
Fast schmerzhaft seufzte ich, während ich die kalten Wassertropfen des Regens im Gesicht spürte. „Das hat mir heute gerade noch gefehlt in dem grauen Alltag“, klagte ich laut vor mich hin.
Am Morgen war die Sonne lediglich von einzelnen grauen Wolken verdeckt gewesen und jetzt, im März, war das Wetter so schnell, wie man das sonst nur dem launischen April nachsagte, umgeschlagen. Und so schnell und immer heftiger fielen die Tropfen auf die Erde herab. Das ganze Grau, das allem um mich herum einen metallischen Glanz verlieh, versetzte mich in Missmut.
Ich stand im Nu überschüttet vom Regen, ohne Schutz und ohne Schirm. Heute Morgen hatte ich taube Ohren gehabt, als mir Thomas beim Verlassen der Wohnung zugerufen hatte: „Vergiss deinen Regenschirm nicht, Schatz, es könnte heute regnen!“
Für gewöhnlich brachte mich Thomas zur Arbeit und holte mich mit seinem Auto wieder von der Arbeitsstelle ab. Aber heute war es anders. Thomas fehlten Arbeitskräfte, er musste früher als ich anfangen und später aufhören, daher war er sehr früh losgefahren.
Doch auch ich stand ziemlich unter Zeitdruck. Heute mussten die Einladungsbriefe für unsere Hochzeit auf der Post abgegeben werden.
„Gleich nach der Arbeit gehe ich zur Post und erledige das“, hatte ich am Frühstückstisch zu Thomas gesagt und hinzugefügt: „Deshalb brauchst du mich heute nicht abzuholen. Ich weiß nicht genau, wie lange ich brauche. Es ist besser, ich komme selbst heim.“
„Gut“, hatte Thomas geantwortet und meine Worte mit einem Kopfnicken bestätigt. Er nahm einen letzten großen Schluck Kaffee, stand auf, griff nach seiner Jacke und war schon unterwegs. Wir konnten uns kein zweites Auto leisten, also war ich auf die Tram angewiesen.
Ich schlug meinen blau karierten Jackenkragen an beiden Seiten hoch und schützte mich bis zur Augenhöhe, doch das machte wenig Sinn. Es war doch keine gute Idee von mir gewesen, zuerst nach Hause zu fahren, um die restlichen auf dem Tisch liegen gebliebenen Briefe, die ich vergessen hatte abzuholen und dann damit auf die Post zu gehen.
Hätte ich direkt, ohne Zeit zu verlieren, nach Arbeitsschluss die Briefe, die ich bei mir trug, zur Post gebrachte, stünde ich jetzt im Trockenen!
Aber es sollte nicht so sein, wie ich es wünschte. Als ich am Nachmittag in unserer kurzen Pause mit Hilfe meiner Kollegin Erika die Briefe anhand der Namen kontrollierte, hatte ich mit Staunen festgestellt, dass einige fehlten. So war mir die Idee gekommen, zuerst mit der Tram heimzufahren.
Die Regentropfen peitschten meinen ganzen Leib. Das blaue Kleid haftete am Körper und jede Rundung zeichnete sich ab. Mein Gesicht lag wie unter einem Wasserfall, und das erschwerte es mir ziemlich, die Augenlider weiter zu öffnen.
Um mir in dieser Not einen Schutzwinkel zu suchen, setzte ich mühsam meine Wimpern in Bewegung, dadurch bislang hatte ich nur ein Viertel dieses traurigen Tages gesehen. Die sonnigen Frühlingstage schienen weit entfernt, an sie dachte ich sehnsüchtig während ich zu der überdachten Haltestelle lief.
Verflixt!
Da war schon wieder dieses schwarze Auto von vorhin, noch ehe ich die Haltestelle erreicht hatte. Wie ein schwarzer Schatten fuhr es ganz nah rechts an mir vorbei. Meine dunkelblauen Wildlederschuhe wurden durch das hoch aufspritzende Regenwasser mit einem wahren Wasserschwall übergossen.
Mit einem ärgerlichen Seufzer wanderten meine Blicke von den Schuhen zu dem schwarzen Auto. Ich sah es nun bereits zum dritten Mal. Die dunklen Scheiben waren mir schon beim ersten Mal aufgefallen, weil man durch sie von den Insassen gar nichts erkennen konnte. Es war auf einmal zu spät, um die Autonummer zu entziffern.
Sonderbare Gefühle stiegen in mir hoch. Warum hielt sich ausgerechnet dieses Auto in meiner Nähe auf? Wurde ich etwa verfolgt oder bildete ich mir alles nur ein, mitten in diesem grauen Alltag? Heute in dem es sich bestätigte; schienen die durch das Regenwasser übersättigten Straßen, Bahnschienen, Häuser und sogar die Schatten sich anders zu gestalten, als in Wirklichkeit. Und meine Beklommenheit.
Kein Grund zur Aufregung, tröstete ich mich selbst schnell. Was könnte am helllichten Tag schon passieren? Es war zwar nicht wirklich hell, denn das Grau hatte sich über die ganze Stadt gelegt, wodurch alles dunkel wirkte. Es waren bestimmt nur Fremde in unserer Stadt, auf der Suche nach einem bestimmten Ort oder einer Adresse, die sie nicht so schnell ausfindig machen konnten. Und ohne es zu wissen, hatten sie vielleicht die gleiche Straße schon einige Male passiert.
Da ich nun schon nass genug war, beschloss ich, nicht erst nach Hause zu fahren um die vergessenen Einladungsbriefe abzuholen, sondern zur Poststelle zu laufen, um wenigstens schon einmal die abzugeben, die ich bei mir trug.
Fest entschlossen faltete ich die Tragtasche, steckte sie unter meinen Arm, um sie vor dem Nasswerden zu beschützen, wandte mich von der Traminsel ab und schickte mich an, in Richtung der engen, langen Gasse, die zur Post führte, zu gehen.
Noch bevor ich mich einige Schritte in Bewegung gesetzt hatte, kam mir eine Menschenmenge aus dem Bahnhof um Punkt fünf Uhr Nachmittag entgegen und bewegte sich in gleicher Richtung. So hatte ich Mühe, meinen Weg beizubehalten und gegen den Strom zu laufen.
Es waren viele Menschen, meistens mit blonden, kurzen oder langen Haaren oder gar kahlen Köpfen, weibliche und männliche Passenten, die in gleichem Takt und Tempo vorwärts kamen. Auf den ersten Blick entdeckte ich ausdruckslose Gesichter und rar werdenden Gesprächsstoff sogar unter den aufgespannten Regenschirmen, Spuren eines stressigen Tages? War es das Unwohlsein nach Beendigung des Arbeitstages ohne einen befriedigenden Tagesinhalt? Die angespannten, enttäuschten, traurigen, nicht lachenden Gesichter, die von erhofften, aber nicht gefundenen Glücksträhnen zeugten, waren keine Seltenheit. Besonders heute fiel mir das deutlich auf.
Nachdem sich die Menschenmenge aufgelöst hatte, konnte ich ungestört meinen Weg über die breite Straße fortsetzen, dann bog ich schon in die Gasse zur Post ein.
Ich kann mich sehr gut erinnern, rief ich mir ins Gedächtnis zurück, wie Thomas und ich uns auf Mallorca kennen gelernt hatten.
Meine Freundin Sarah und ich hatten im letzten Moment Urlaub auf Mallorca ausgesucht und uns ganz spontan entschieden, unsere Ferien dort zu verbringen.
Als ich alleine, ohne meine rothaarige Freundin Sarah, die wegen der starken Sonnenstrahlen ihren hellen Teint am Anfang besonders schützen musste und sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, genoss ich diesen heißen Tag im Schatten eines großen Pinienbaumes.
Nach drei schönen Urlaubstagen kam Sarah früh am Morgen in mein Zimmer gestürmt und rief in jämmerlichem Tonfall: „Wie kannst du so ruhig da liegen und schlafen, während ich leiden muss?“ Mit ausgreifenden Handbewegungen über ihren Schultern fuhr sie fort: „Sieh mich nur an, wie ich aussehe! Wie eine rote Krabbe, von Schlafen kann gar keine Rede sein“, beklagte sie sich mit einem Seufzer. Obwohl ich noch halb geschlafen hatte, sah ich sie an und musste mich schwer zurückhalten, um keinen Lachanfall zu bekommen. Wie sie so hilflos dastand und tatsächlich so rot aussah, dass sogar ein Kontrast zu ihrer ärmellosen roten Bluse zu sehen war! „Ach, es geht mit der Zeit schon vorbei, du musst dich richtig eincremen mit dem richtigen Sonnenschutzfaktor, dann kannst du dich wieder in die Sonne trauen“, tröstete ich sie während ich aufstand. Sarah setzte sich mit ärgerlichem Gesicht auf einen Stuhl rechts neben dem Bett. „Du hast gut reden, denn du hast ja nicht so einen entsetzlich schmerzhaften Sonnenbrand! Dabei habe ich mich so auf diese Ferien gefreut!“ Sie seufzte viele Male nachdenklich hintereinander.
„So schlimm kann das auch wieder nicht sein! Gib mir ein paar Minuten, dann gehen wir zwei zuerst frühstücken“, sagte ich ruhig und ging in meinem weißen Morgenrock ins Badezimmer. Ich hatte sie fast zum Frühstück mitschleppen müssen, so lustlos war sie allem gegenüber. Nach dem Frühstück versuchte ich in der Halle, sie mit allen möglichen Mitteln zu überreden, dass sie mit mir mitkommen sollte. „Du kannst doch im Schatten liegen, bis du ein wenig Farbe angenommen hast!“, schlug ich ihr vor.
„Nein, ich bleibe liebe hier drinnen in meinem Zimmer. „Sarah war hartnäckig geblieben, ich hatte sie nicht umstimmen können.
Ich weiß heute nicht, ob sie wegen meiner Sonnenhungrigkeit auf mich neidisch war.
Aber ich genoss die Hitze unter den Pinien vor dem bewaldeten Hintergrund mit den Großen Bäumen am Sandstrand. Genüsslich lag ich nach dem Baden im Meer auf einem Liegestuhl und las mein auf die Reise mitgenommenes Buch.
Als ich einen Schatten von der Meerseite entdeckte, hob ich meinen Kopf mechanisch hoch. Zwei blaue Augen trafen sich mit meinen. So ein Blau hatte ich noch nie zuvor gesehen. Die Farbe drang durch seine Sonnenbrille und ließ sich als hellblau erkennen. „Hallo, ist der Platz neben dir frei?“, fragte mich eine Stimme freundlich.
Mit gleichmäßigen Schritten lief ich durch die Gasse. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, doch der Regen hatte feuchte Spuren in der Luft und der Erde hinterlassen. Vorsichtshalber versicherte ich mich, dass ich nun nicht mehr länger verfolgt wurde. Ich drehte mich zurück und blickte mich um. Mit spöttischem Lächeln, daran ich selber nicht glaubte. Außer mir war keine Menschenseele auf dieser Straße, auch kein schwarzes Auto war zu sehen. Alle meine Besorgnisse waren umsonst gewesen, und ich war sichtlich erleichtert, ich hatte mir die Ereignisse vorher wohl nur eingebildet. Meine Fantasie geht wieder mit mir durch, dachte ich und lächelte weiter vor mich hin.
Eine alte Frau in einem hellbeigen Mantel tauchte plötzlich neben mir auf. Sie lief in die gleiche Richtung wie ich und ging erheblich schneller voran. Ihre müde, abgespannte Erscheinung sagte mir vieles über sie, während ich sie unbemerkt betrachtete, als sie neben mir vorbeiging. Ich machte mir über ihr Alter und ihren Familienstand Gedanken, doch sie war alleine unterwegs. Frauengelächter schreckte mich auf. Auf einmal waren wieder Menschen da. Ich sah ein junges Paar, das links von mir auf dem Trottoir marschierte. Sie war eine schwarzhaarige, junge Frau, die versuchte, ihren Partner aus seiner Sturheit herauszulocken und ihn mit ihrer Fröhlichkeit anzustecken. Das gelang ihr aber nicht.
Dann warf ich einen misstrauischen Blick auf dem immer noch mit grauen Wolken verhangenen Himmel, mit meinen Gedanken durchsichtig hindurch.
Es sind jetzt schon fast zwei Jahre vergangen, überlegte ich so bei mir, als Thomas eines schönen Tages, bald nach unserem zweiwöchigen Urlaub, bei mir anrief und mich zum Kaffeetrinken einlud. Von diesem Tag an hatte sich unsere Freundschaft entwickelt.
Etwas wie eine Vorahnung auf kommendes Unheil ließ mich plötzlich in meinem ganzen Körper frösteln, doch ich setzte meinen Weg fort, ohne darauf zu achten, und dachte weiter über Thomas und mich nach.
Nach langem Zusammenleben waren wir uns endlich einig geworden zu heiraten. Bewusst machte ich mir Gedanken über die in letzter Zeit aufgetauchten Meinungsverschiedenheiten wegen unwichtiger Kleinigkeiten, die unsere gute Partnerschaft schwer belasteten, doch Thomas war der Meinung, durch unsere Ehe und später Kinder würden wir viel fester als zwei erfahrene Menschen miteinander verknüpft sein. „Kinder sind die Früchte einer Ehe“, hatte er erst kürzlich betont. Und ich dachte im Inneren, dass ich noch nicht bereit dazu sei, jetzt schon Kinder zu haben. Dadurch erschien mir die Zeit schon jetzt monoton auf die immer gleiche Art und Weise davonzueilen. Die Tage, Monate, Jahre würden dann doppelt so schnell dahinziehen und wir dabei schneller altern, ohne den gewünschten und erträumten Höhepunkt erreicht zu haben in meinem Leben, dachte ich, und auch daran, dass ich es vieles schon im Kindesalter verpasst hatte. Und ich erinnerte mich an meine vergebliche Suche nach vielen Dingen, schon mein ganzes Leben lang.
Als ich Thomas meine Gedanken eröffnete, sah er mir direkt ins Gesicht. „Du lebst in einer Scheinwelt, meine Liebe“, meinte er unvermittelt. Meine innersten sehnlichen Wünsche kümmerten ihn gar nicht. Für ihn war es immer so gewesen, daraus schloss er also, dass es bei mir auch nicht anders sein müsste.
Wenn ich die Initiative ergriffen und mich gegen seine Zukunftspläne wehren würde, würde wahrscheinlich unsere Liebe dahinschmelzen. Das empfand ich nicht als richtig. denn Thomas und ich hatten sonst viel Gemeinsames.
Dadurch würde es uns nicht schwer fallen, das Leben miteinander zu teilen. Aber da waren sie eben, die kleinen Uneinigkeiten! Angeblich brachte das Leben diese mit sich. Damit stellte es mich auf die harte Probe. Oder, wie Thomas meinte, durch die Jahre und die damit verbundenen Erfahrungen könnten wir diese Ungereimtheiten aus der Welt schaffen.
So wie in der letzten Nacht wiederholten sich die Fragen in meinem Kopf wie ein Kreisel, ich dachte an das Glücklichsein, an Schönheit in einem glanzvollen Leben, an Reichtum und Machtbesitz.
„Du bist doch schön“, sagte Thomas immer zu mir.
Ach ja! Thomas!
Nachdem er damals neben mir Platz genommen hatte, musterte ich ihn bewusst.
Von seinen blonden Haaren glitt mein Blick auf seine gleichmäßigen Augenbrauen, unter denen sich zwei hellblauen Augen ausruhten, bis zu seinem behaarten Oberkörper, diesen netten jungen Mann.
Ein wenig verlegen war ich schon innerlich, meine Lider sanken beschämt zu Boden. Aber dann dachte ich, dass das jede andere Frau auch tun würde, so verteidigte ich mich vor mir selbst. Obwohl er blonde Haare hatte, wies seine schöne, gleichmäßig durchgebräunte Haut, keine Spur von Blässe.
„Ich heiße Thomas und komme aus einer Kleinstadt am Rhein“, sagte er und öffnete seine Lippen zu einem Lächeln. Daraufhin brachte ich meinen Blick wieder zu seinem Gesicht zurück und antwortete auf sein Lächeln mit meinem.
„Mein Name ist Susan und ich denke, ich wohne nicht weit entfernt von dir!“
Während ich sprach, starrte Thomas unentwegt in mein Gesicht, immer noch mit einem Lächeln um seinen Mund. „Du bist mir schon im Flugzeug aufgefallen. So eine schöne, junge Frau und doch allein, dachte ich“, sagte er ohne Scheu. Seine Offenheit gefiel mir, er sprach mit mir wie mit einer alten Bekannten, als ob er mich seit einer Ewigkeit kannte, und seine gute Laune richtete mich auf.
„Die junge Frau neben mir im Flugzeug, die du vielleicht bemerkt hast, ist meine Freundin. Also bin ich nicht alleine, wie du denkst“, antwortete ich, damit er nicht dächte, ich wäre völlig allein. Gleich darauf gab er zurück: „Ich meinte es anders“, und schenkte mir ein weiteres Lächeln, ehe er fortfuhr: „Jedenfalls bin ich froh, dass ich dich hier getroffen habe!“, ohne den Blick von mir abzuwenden. Thomas zeigte mir mit diesem Satz schon beim ersten Treffen, völlig ungezwungen seine Zuneigung. Und ganz ohne jedes Nachdenken ließ ich meine Gedanken über uns beide frei umherschweifen, ohne zu wissen, wie gut unsere Bekanntschaft sich in Zukunft entwickeln würde. Ob Thomas wohl der Mann meine Träume wäre, den ich lieben und vielleicht später heiraten wollte? Von dem ich Kinder bekäme?
Mit Kindern sollten wir noch warten, dachte ich. Ich will noch die Liebe, das Leben entdecken, die Welt kennen lernen und den Höhepunkt meines Lebens erreichen, von dem ich ständig träumte. Solche Gedanken waren mir damals durch den Kopf geschossen. Ich erinnerte mich nur zu gut daran.
Gab es ihn, den Mann der Träume, mit dem ich dann doch, nach vielen schönen glücklichen Jahren, mit Kindern das große Familienglück erleben würde? Dieses Glück hatte ich als Kind sehr vermisst. Wir wie die anderen Paaren auch ihre Familie gründeten ohne solche schmerzlichen Spuren? Ja, ob wir nach so vielen Jahren dann wohl immer noch glücklich zusammen wären? „Ich nehme an, du freust dich auch, dass wir uns kennen gelernt haben. Du siehst mich an mit einem ... na, wie soll ich es ausdrücken: geheimnisvoll! Ja, einem geheimnisvollen Lächeln auf deinem Mund!“ Wie hätte ich ihm erklären können, dass das die Nachwirkung meiner Gedanken war!
„Ja, ich freue mich“, antwortete ich ihm aufrichtig.
Plötzlich spürte ich die durch die Nadelbäume gleitenden heißen spanischen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Sie bewegten sich nach Westen und ließen erahnen, dass es schon später am Nachmittag war. Ich dachte, dass das für heute genügte, mich mit einem völlig fremden Menschen so zwanglos und unbefangen unterhalten zu haben. Ich fragte mich, ob das gut sei und wohin das führen sollte, die Gedanken, die ich mir über ihn und mich machte.
Mit einer Bewegung nach vorne auf dem Liegestuhl schaffte ich es aufzustehen und faltete das große Handtuch zusammen. Als ich mich ihm zuwandte, sah er mich fragend an.
„Sehen wir uns heute Abend?“
Ich lächelte leicht. „Vielleicht“, sagte ich kurz.
„Bis dann“, ließ er nicht locker und ich hörte ihn hinter mir herrufen.
Wir sahen uns schon vor dem Abendessen in der Hotelhalle, also bewohnte er das gleiche Hotel wie wir. Sarah und ich waren ganz in Gedanken, da wir nach dem Essen ausgehen würden, nach dem ihr auch wieder besser ging. Also gab ich wie jeden Abend den Schlüssel bei der Rezeption ab. Noch bevor ich mich von der Rezeptionstheke abwandte, hörte ich die Stimme von Thomas. „Susan ... Susan!“
Frisch rasiert, ganz in Weiß gekleidet sah er mit seiner sonnengebräunten Haut gut aus. Seine hellblauen Augen kontrastierten mit seiner braunen Haut, sie leuchteten förmlich heraus. Meine Freundin Sarah, die neben mir stand, war begeistert von seinem Aussehen, als ich ihn ihr vorstellte.
„Thomas, das ist meine Freundin Sarah!“ Er reichte ihr seine Hand, die Sarah erfreut ergriff.
„Ich ... ich ... freue mich!“, stammelte sie vor Freude. Man konnte ihr sofort ansehen, wie verliebt sie in ihn vom ersten Augenblick an war, ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. Später schilderte sie ihn mir viele Male und wurde gar nicht fertig damit, dass er blendend aussähe.
Ich hatte nicht vor, zwischen den beiden zu stehen, und gab in den nächsten Tagen meistens eine Entschuldigung von mir, dass ich mit ihnen nichts unternehmen wolle. Stattdessen ging ich alleine aus, sowohl am Tag als auch am Abend.
Trotz meiner Bemühungen stellte sich nach zwei Wochen Ferien heraus, dass sich Thomas nicht für meine Freundin interessierte, sondern für mich.
Bei der Rückreise im Flugzeug saß Thomas hinter mir. Ich konnte die Kälte zwischen ihm und meiner Freundin deutlich spüren, aber eine solche Kälte kannte ich schon von meinen Eltern nach einem Streit, also dachte ich darüber nicht lange nach.
Als wir daheim ankamen, fragte mich Thomas bei der Gepäckausgabe scheu, ob es ein Wiedersehen mit mir gäbe. Da ich in der Annahme lebte, er sei der Freund meiner besten Freundin, sagte ich: „Nein, ich denke nicht“, und verabschiedete mich sofort von ihm. Damit errichtete ich eine Sperre zwischen ihm und mir.
Es vergingen einige Tage nach unseren Ferien. Ich war in Eile und wollte nach der Arbeit für das Wochenende einen Großeinkauf tätigen, als das Telefon klingelte.
Ich rannte mit umgehängter Handtasche ans Wandtelefon und nahm den Hörer ab in der Absicht, Sarah zu erklären, dass ich jetzt keine Zeit hatte und sie später zurückrufen würde. „Hallo, Susan!“, hörte ich aber die Stimme von Thomas.
„Thomas, du?“ Ich wusste im Moment nicht, was ich noch sagen sollte. Ich hatte ihm keinerlei Informationen über mich gegeben, nachdem ich ein Wiedersehen mit ihm abgelehnt hatte.
„Es tut mir Leid, störe ich?“, hörte ich ihn fragen, nachdem er meine Überraschung bemerkt hatte.
„Nein, ich bin nur überrumpelt“, sagte ich aus meinem Staunen heraus.
„Ich weiß!“
„Woher ... woher weißt du meine Telefonnummer?“, wollte ich wissen.
„Von Sarah“, gestand er.
„Ich dachte ...“ Er unterbrach mich mit einem Satz: „Nein, warte einen Augenblick“, dann wollte er wissen, ob ich Einwände hätte und woran ich dachte.
Schließlich traute er sich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich ihm aufmerksam zuhörte: „Nein. Ich weiß, was du denkst, aber ich wollte immer nur mit dir zusammen sein. Ich bedauere, dass du nie mit uns mitgekommen bist, und möchte, dass du mir vertraust!“
Geduldig hörte ich ihm zu. „Sarah wird enttäuscht sein“, teilte ich ihm meine Meinung mit.
„Ich habe ihr schon von Anfang an klar gemacht, dass ich mich nicht für sie interessiere!“, erzählte mir Thomas.
Arme Sarah! Wie sie sich in eine hoffnungslose Liebe verloren hatte und geduldig dagegen ankämpfte, nachdem sie aufgehört hatte, auf seine Liebe zu hoffen! Jetzt konnte ich mir auch die Kälte zwischen Thomas und Sarah bei der Rückreise erklären. Das machte es mir auch einfacher zu verstehen, warum Sarah sich seither bei mir nicht mehr hören und blicken ließ.
„Weißt du, ich möchte dich so gern wiedersehen!“, vernahm ich Thomas’ Stimme aus dem Hörer. Langsam kehrte ich aus meinen Gedanken an Sarah zurück und wandte meine Aufmerksamkeit wieder Thomas zu.
„Bist du sicher?“, fragte ich ihn, weil ich ahnte, dass das der Anfang einer Freundschaft sein könnte, wenn wir uns wiedersehen würden. Ich wusste, dass er das, was er sagte, auch aufrichtig meinte. Denn schon am ersten Tag, an dem wir uns getroffen hatten, hatte er mir seine Zuneigung gestanden. Aber das wollte ich von ihm selbst noch einmal hören und bestätigt haben, weil ich Wert darauf legte und keine sich so dahinziehende Freundschaft wollte. Ich hörte durch meine Überlegungen seine feste Stimme: „Absolut, und was denkst du?“, erklang es in sicherem Ton „Wann gedenkst du ...?“
„Heute noch“, schlug er vor.
„Heute?“, wiederholte ich seine Frage erstaunt.
„Ja, heute, falls du nichts vorhast, andernfalls morgen, wenn es dir recht ist!“
Der Großeinkauf könnte warten, dachte ich. Ich hatte sowieso einige Pfunde in den Ferien zugelegt. Auf diese Weise überzeugte ich mich, dass ein Wiedersehen mit ihm wichtiger sei. „Gut“, hörte ich mich antworten.
„In einer Stunde in Café Romantico!“ So sicher wie sein Ton war auch seine Entschlossenheit.
„Also gut, in einer Stunde!“
Als ich den Hörer auflegte, worauf noch meine Hand lag, überlegte ich, ob mir eine Stunde reichen würde. Dann dachte ich: „Wozu brauche ich eine Stunde?“, und ärgerte mich über mich selbst. Das Café Romantico war in nur zehn Minuten von hier mit der Tram erreichbar, hielt ich mir selbst vor. Wenn mir einer sagen würde, ich benähme mich wie ein verliebtes, kopfloses Mädchen, hätte ich darüber gelacht. Aber so war es!
Nach den bitteren Enttäuschungen, die ich in meiner Familie erlebt hatte, wollte ich mir meinen künftigen Mann besonders sorgfältig aussuchen. Ich strebte eine Art Entschädigung und einen Ausgleich meiner verlorenen Kindheit an und wollte endlich auch einmal Glück und Liebe erleben, einen Höhepunkt meines Lebens.
Nach langem Suchen zog ich mir ein hübsches Kleid an. Mit Hilfe meines Föns drehte ich meine schulterlangen Haare nach hinten, sodass mein hübsches Gesicht, wie Thomas es schon am Anfang formuliert hatte, noch besser zum Vorschein kam, nur um ihm zu gefallen.
Unterwegs versuchte ich mir einzuschärfen, ihn nicht wieder direkt anzustarren und unüberlegt in Gedanken einzutauchen wie beim ersten Treffen. Ich sah ihn vor mir. Er tastete jeden Winkel auf meinem Gesicht mit seinen hellblauen Augen ab, weil ihm schon im Flugzeug aufgefallen war, wie hübsch ich bin, und seine Neugier entbrannt war, als ich ihn mit meinem geheimnisvollen Lächeln ansah.
Unwillkürlich glitten meine Gedanken zu Sarah. Meine Begegnungen mit Thomas wurden in den Ferien ihretwegen rar, ich hatte mir die größte Mühe gegeben, den beiden nicht zu begegnen. Wenn sie am Strand lagen, suchte ich mir einen anderen Platz, und wenn sie ausgingen, fand ich irgendeinen Grund, um mit ihnen nicht mitgehen zu müssen. Ich hatte so eine Ahnung, dass es Sarah sehr gefiel, dass sie allein mit Thomas ausgehen konnte.
Schon zwei Tage, nachdem sie ihn kennen gelernt hatte, rief sie mich an, als ich im Begriff war, ins Bett zu gehen. „Kannst du bitte zu mir kommen?“
Was ich vorfand, als ich bei ihr war, kann ich bis heute nicht vergessen. Sie hob langsam ihren Kopf, als ich durch die Tür hereinkam. Ihre rötlichen Haare hingen noch vor dem hübschen Gesicht. Sie lag auf dem Bauch, bekleidet mit einem rückenfreien Badeanzug, quer über dem Bett und wagte kaum, sich zu bewegen.
„Was ist passiert, was hast du denn?“, fragte ich sie mit angstgeweiteten Augen.
„Siehst du denn das nicht?“ Sie reagierte ärgerlich auf meine Frage. Ihre Stimme war schrill vor Schmerz. Ihr Rücken sah entsetzlich aus, vollkommen verbrannt und feuerrot. Bevor ich ihr ein „Wie siehst du denn aus, och mein Gott, das sieht ja schrecklich aus“ zurief, hielt ich mich zurück und redete ihr Mut zu.
„Das kriegen wir schon hin!“
„Wie willst du das anstellen?“, fragte sie mich verzweifelt.
„Keine Sorge, überlass das nur mir!“ Als Antwort hörte ich ein schmerzliches Stöhnen. Beim Zimmerservice bestellte ich Eisstückchen und Naturjoghurt. Die Bedienung kam prompt, schnell war alles da. Mit den Eisstückchen beruhigte ich Sarahs verbrannte Haut, auf die abgekühlte Haut strich ich vorsichtig After-Sun-Creme und darauf gab ich noch das kühle Naturjoghurt. Es war erstaunlich, wie schnell sie sich erholte und die schrecklichen Schmerzen wenigstens ein bisschen nachließen.
„Wie findest du Thomas?“, fragte sie mich auf einmal. Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, fuhr sie fort, in der Stimme noch immer einen schmerzlichen Tonfall.
„Ach, ich finde ihn hübsch, er sieht gut aus, nicht wahr?“ Dann wurde ihre Stimme trauriger. „Ich hasse meine Sommersprossen und meinen weißen Teint!“ Sie drehte ihren Kopf in meine Richtung. „Siehst du, wie ich aussehe, siehst du das! Wie halte ich das morgen in der Sonne mit ihm aus? Er mag die Sonne doch so sehr“, fügte sie hinzu. Genau wie ich, dachte ich im Inneren. Ich mochte die Sonne auch sehr.
Sarahs nachdenkliches Seufzen hörte ich auf dem Weg zum Badezimmer. Nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, sah sie mich anders als vorher. In ihrem Gesicht war deutlich ein großes Fragezeichen zu erkennen.
„Komm, Sarah, versuche ein wenig zu schlafen, damit du morgen mit Thomas etwas unternehmen kannst!“, schlug ich vor.
„Was denn?“, fragte sie.
„Was immer du willst.“ Ich half ihr, sich gerade ins Bett zu legen, und vernahm mit Schrecken ihr schmerzerfülltes „Ach!“ und „Och!“
„Meinst du, es heilt bis morgen? Geht das so schnell?“, fragte sie mich verzweifelt.
„Du wirst es sehen!“, gab ich zur Antwort. „Vielleicht musst du dich in den nächsten Tagen ein wenig besser vor der Sonne schützen und im Schatten sitzen, dann geht es wieder!“
„Danke, du bist eine echte Freundin.“ Sie seufzte.
„Ich habe es gern getan für dich, gute Nacht!“ Meine Gedanken über Thomas behielt ich lieber für mich und ging rasch aus Sarahs Zimmer.
Ich mochte meine langjährige rothaarige Freundin seit meiner Kindheit sehr und wollte auf keinen Fall vor ihrem Glück stehen. Wenn sie Thomas mochte, dann sollte sie ihn haben.
Nach der Schule wechselten wir die Wohnung, aus zwei Zimmern zogen wir in drei Zimmer um. Meine Mutter meinte damals: „Du musst ein eigenes Zimmer haben, Kleines!“ Sie arbeitete den ganzen Tag, uns ging es finanziell langsam wieder besser. Dadurch verloren Sarah und ich uns jedoch aus den Augen, bis ich sie eines Tages zufällig im Tram wieder traf. Wie jetzt habe ich darin gesessen und fuhr in die Stadt. Als ich nach zwanzig Minuten Fahrt von meinem Platz aufstand und aussteigen wollte, entdeckte ich sie neben einer Frau, auf einem Zweiersitz am Fenster.
„Entschuldigung! Bist du nicht Sarah Tanner?“, redete ich sie mit unsicherer Stimme an. Sie hatte sich nicht so viel verändert, nur einige Sommersprossen mehr waren in ihrem Gesicht zu sehen. Ihre roten Haare waren unverkennbar geblieben. Sie betrachtete mich einige Sekunden lang überrascht. Dann stieß sie unverhofft hervor: „Susan! Bist du es wirklich?“
Wir umarmten uns unbekümmert nach der langen Trennung. Die anderen Fahrgäste sahen gerührt zu, wie wir beiden Freundinnen uns darüber freuten. Sie stieg mit mir aus. Bei einer Tasse Kaffee hatten wir uns einiges zu erzählen.
„Ich hätte dich fast nicht wieder erkannt, du hast dich zu einer jungen Frau entwickelt in den ganzen Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben! Was machst du so?“, fragte mich Sarah aufgeregt.
Ich hatte noch ihre kindliche Stimme in den Ohren. Der Klang hatte sich verändert, war fester geworden, das fiel mir sofort auf.
„Ich habe die kaufmännische Schule besucht, nachdem wir uns trennten. Jetzt bin ich gut versorgt in einem Büro bei einer Speditionsfirma und lebe nicht schlecht!“, kam aus mir spontan heraus, die kurze Fassung meiner Lebensgeschichte. Sie sah tiefer in meine Augen, als ob sie nach den Spuren suche aus der Zeit, in der wir noch klein gewesen waren.
„Sind deine ... ich meine, sind deine Eltern ...“, sie verstummte, ihre Lider sanken nach unten. Dann hob sie den Blick wieder zu mir hoch. „Es tut mir Leid, Susan, wenn ...“
„Schon gut, du musst dich deshalb nicht entschuldigen!“, sagte ich. „Ja, sie sind geschieden.“ Mit tiefem Seufzen erzählte ich ihr davon.
„Das tut mir wirklich aufrichtig Leid!“, meinte Sarah mitfühlend.
„Ach! Ich denke, das ist auch besser so.“ Noch tiefer wollte ich nicht stürzen mit meinen Gedanken.
„Komm, erzähle mir lieber etwas von dir!“ Mit meiner Gegenfrage versuchte ich mich abzulenken. „Aber du! Du hast dich nicht viel verändert! Wie lebst du?“, fragte ich sie neugierig. Nach einem Schluck Kaffee wartete ich gespannt darauf, was sie mir berichten würde.
Sie erzählte, dass sie in einem Juwelierladen arbeitete und mit ihrem Leben zufrieden war, aber ohne Freund, drückte sie nachdenklich aus.
Wenn ich heute daran zurückdenke, dieser von ihr schmerzlich vermisste Freund, der ihr fehlte, so dachte ich jedenfalls, könnte nun Thomas sein, vielleicht träumte sie sogar von ihm! Ebenso wie ich von meinem Freund träumte, dieser Traum sich aber nicht erfüllte. Groß sollte er sein, stark und gut gebaut, mit schwarzen Haaren, und unter schwarzen Augenbrauen leuchteten zwei smaragdgrüne Augen.
Ja! Das war mein Wunschpartner, mein Traum von einem Mann.
Aber an jenem Abend, als ich Sarahs Zimmer war, wollte ich nicht erörtern, warum ich den verbrannten Rücken von ihr massieren sollte und nicht Thomas.
Immerhin waren sie zwei Tage und zwei Abende tête-à-tête gewesen, da müsste sich doch irgendein Gefühl zwischen den beiden entwickelt haben. Sonst hätte Sarah schließlich keine Gedanken daran verschwendet, sich morgen wieder mit Thomas in der Sonne treffen zu können, dachte ich, ohne zu ahnen, was vor sich ging.
So vergingen mir diese Fragen und die offenen Hoffnungen bei Sarah, bis nach den nächsten zehn Tagen die Ferien zu Ende gingen. Den Koffer hatte ich bereits in der Hand am letzten Urlaubsabend, als Sarah aufgeregt in mein Zimmer stürmte. „Seit zwölf Tagen treffen wir uns täglich“, sagte sie und rang nach Luft, kaum dass sie angekommen war, dann fügte sie hinzu: „Er hat mich kein einiges Mal geküsst!“ Noch im Gehen fragte sie: „Verstehst du das?“ Dabei sah sie mich nachdenklich an.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, so sagte ich: „Du musst ihn besser kennen als ich ... „ Sie ließ mich nicht mehr weiterreden.
„Es kommt mir vor, dass er mir keine Chance geben will, ihn besser kennen zu lernen. Er ... er ist so distanziert“, rief sie laut aus.
Kein bisschen Ruhe gönnte sie sich, sie lief im Zimmer hin und her. Sie war enttäuscht von ihm und mitgenommen, weil sich diese Beziehung ganz anders entwickelte, als sie es sich mit ihm vorgestellt hatte. „Heute Abend“, sagte sie aufgeregt und warf sich in den Sessel gegenüber von meinem Bett, damit sie mich besser beobachten konnte, während ich meine Kleider vom Schrank in den Koffer packte. Dann setzte sie ihren Satz fort: „Heute Abend will ich mit ihm reden und wissen, wie wir zueinander stehen!“
Sarah stand plötzlich auf. „Ja“, fand ich und faltete meine weiße Hose zusammen, ehe ich meinen Kopf ein wenig über den Kofferdeckel zu ihr hinhob.
„Ja, es wird wohl das Beste sein, mit ihm selbst zu reden und nicht lange darüber zu grübeln“, bestätigte ich ihre Absicht.
Sarah sah mich ein letztes Mal an. „Heute Abend“, wiederholte sie leise vor sich hin, bevor sie aus meinem Zimmer ging. Dann eilte sie mit hektischen Schritten zur Tür.
Im Flugzeug bei unserer Abreise kämpfte sie mit ihren unterdrückten Gefühlen, während sie neben mir saß. Dies war über die beiden sehr vielsagend. Dennoch wechselte sie kein Wort mit mir während unserer ganzen Rückreise.
Ich las ruhig mein Buch, und als ich genug davon bekam, sah ich mir die Gegend, die Wolkenlandschaft in der Höhe aus dem Fenster an. Mit Sarah war nichts mehr zu machen, aber ich wartete geduldig ab. Wenn ihr Zorn vorüber war, käme sie bestimmt von selbst zu mir und schüttete mir ihr Herz aus wie damals, als wir noch Kinder waren.
Es kam nicht so, wie ich dachte. Als wir daheim ankamen und Thomas fragte, ob wir uns wiedersehen könnten, sah ich zum letzten Mal in die graublauen Augen von Sarah, bis heute. Nachdem sie mir einen kalten Blick zugeworfen und sich mit ihrem Gepäck davongemacht hatte, ohne auf mich zu warten, trennten sich unter traurigen Umständen unsere Wege ein zweites Mal.
Meine Telefonanrufe und die Freundschaftsnachrichten auf dem Anrufbeantworter blieben unerwidert. Sarah meldete sich nicht mehr bei mir, und ich hatte keine Ahnung, warum. Bis Thomas angerufen und alles erzählt hatte.
Sarah war enttäuscht von Thomas, doch was hatte ich damit zu tun?
Auch jetzt hatte ich eine Einladung für sie in meiner Tasche. „Sarah Tanner“ stand darauf und ich hoffte, dass sie mir, was immer sie von mir dachte, verzeihen könnte und zu meiner Hochzeit käme. Oder mich wenigstens besuchen würde, damit wir uns richtig aussprechen konnten! Ich vermisste sie sehr.
Ich zog die mittelgroße Tasche noch mehr an mich heran. Obwohl meine Kleider nass waren, dachte ich, dass die Nylontasche sicher wasserdicht war, und hoffte, heute noch die Einladungen trocken abschicken zu können.
Als ich mich an dem Tag nach Thomas` Telefonanruf mit langsamen Schritten dem Café Romantico näherte, malte ich mir wieder so viele Bilder im Kopf aus, wie es wäre, wenn Thomas und ich verheiratet sein könnten. Viele glückliche Gesichter voller Lächeln sah ich, meines, das von Thomas und den Kindern, ein Familienglück wie im Bilderbuch. Vielleicht käme es gar nicht dazu, möglicherweise entstünde nur eine gute Freundschaft zwischen ihm und mir!
Mit diesen Überlegungen stand ich ihm schon gegenüber. Er stand auf, als er mich erblickte, und ich sah ihn mir zum ersten Mal ganz genau an. Er sah wirklich gut aus. Wenn ich ehrlich sein sollte, war er nicht mein Traumtyp, der mir mein erwünschtes Traumleben bieten konnte. Aber dann diese Gedanken verwarf ich schnell, dass diese nicht die Realität waren. Es wäre vernünftiger und sinnvoller, ein normales gesundes Leben in der Mittelklasse mit Thomas zu erleben, als Träumen nachzuhängen, die sich möglicherweise nie erfüllen würden.
„Du hast wieder dieses geheimnisvolle Lächeln wie bei unserem ersten Treffen“, erinnerte mich Thomas` Stimme an die Realität. Dadurch wachte ich aus meinen inneren Auseinandersetzungen auf. „Bitte entschuldige, nicht dass ich geheimnisvoll bin, aber es kam mir etwas in den Sinn!“
In den nächsten Stunden folgte ich seinen Worten, nicht seinen stummen Lippen, weil ich aufgehört hatte, in meine Gedanken- und Thomaswelt einzutauchen.
Ich wollte mir klar werden über meine Gefühle für Thomas, deshalb dachte ich erst in meiner kleinen Dachwohnung über ihn nach. Er war kein Gelegenheitskünstler, der sofort mit mir ins Bett steigen wollte.
Dann tauchten seine blonden Haare und die auffallenden hellblauen Augen vor mir auf. Ich wusste, dass es töricht von mir war. Es käme nicht auf die blonden Haare, sondern auf den Charakter an, dachte ich bei mir.
Bestimmt konnte ich mir doch ein angenehmes Leben mit Thomas vorstellen, weil ich an ihm nur gute Eigenschaften hatte feststellen können, anstatt ein Leben lang vom Wohlstand, von einem Von-Ball-zu-Ball-Hüpfen zu träumen, weil ich immer der Meinung gewesen war, dass mir das Leben selbiges schuldete.
Wenn ich zurückblickte, tauchten viele Namen auf von Menschen, an die ich mich nicht gern zurückerinnern mochte, es waren Beziehungen für eine einzige Nacht gewesen, Männer, die sich nur amüsieren wollten und mit mir und mit meinen Gefühlen lediglich gespielt hatten. Wie schrecklich!
Thomas bot mir seine wahre Freundschaft an, zu der ich gern bereit war. Und das Treffen im Café Romantico war hierfür der Anfang unserer Freundschaft.