Читать книгу Ein schamanisches Abenteuer in der Mongolei - Serge Kahili King - Страница 10
VIER: SPRECHENDE STEINE
Оглавление„Das verstehe ich“, bekräftigte Keoki nach einer kurzen Pause, „aber was soll es heißen, dass die Antworten immer etwas über die Gegenwart aussagen? Die Erfahrung mit dem Baum war so, ja, aber alle mir bekannten Menschen, die Tarotkarten verwenden, nutzen sie, um etwas über die Zukunft zu erfahren. Auch die Astrologie wird so genutzt.“ Karen, die junge Dänin, hatte die Tarotkarten etwas umfassender eingesetzt, das wusste er, aber trotzdem war der Zweck meist in die Zukunft gerichtet gewesen. Und Melia, eine frühere Freundin von Keoki, hatte es sehr mit der Astrologie gehabt. Zu sehr. Sie versuchte immer vorherzusagen, was Keoki tun würde, und sie lag immer daneben. Aber sie war immer sehr gut darin gewesen, im Rückblick das zu erklären, was er dann tatsächlich getan hatte.
„Ja“, antwortete Lani, „das ist eine der großen Tragödien der Moderne. So viele Menschen glauben, dass es da draußen eine Zukunft gibt, die bereits gut oder schlecht ist. Und sie tun alles, was in ihrer Macht steht, um sich darauf vorzubereiten oder sie zu vermeiden, je nachdem.“ Der ältere Mann trank etwas Wasser aus seiner Flasche, die er neben sich stehen hatte.
Keoki nickte. „Okay, ich sehe, worauf du hinauswillst. Du hast früher schon gesagt, dass die Zukunft nicht festgelegt ist und dass es immer eine Möglichkeit gibt, sie zu ändern. Und dass die einzige Möglichkeit einer solchen Änderung darin liegt, jetzt in der Gegenwart etwas zu tun. Aber trotzdem gibt es doch eine Zukunft, nicht wahr? Wie die Wolken hinter dem Horizont?“ Der junge Mann verlagerte sein Gewicht, um etwas gegen die zunehmende Taubheit in seinen Beinen zu tun.
Auch Lani nickte. „Das ist ziemlich gut. Aber woher weißt du, dass es Wolken hinter dem Horizont gibt?“ Das Gesicht des Großvaters verzog sich zu einem schelmischen Grinsen.
Keoki war angesichts der Frage überrascht. „Nun, ich weiß es nicht, aber ich könnte es anhand der Wettervorhersage und der Satellitenbilder feststellen.“
„Gut, und was zeigt dir das Satellitenbild?“ Der ältere Mann warf wieder den Stein hoch.
„Es zeigt mir, wie das Wetter morgen sein wird.“
Lani fing den Stein aus der Luft. „Wie kannst du das behaupten? Es zeigt nur ein Bild der Wolken an einem bestimmten Ort zum gegenwärtigen Zeitpunkt.“
„Aber die Wettervorhersage kann mir mitteilen, was geschehen wird.“
Großvater schmunzelte. „Lass uns einmal die Frage ausklammern, wie oft der Wetterbericht falsch liegt. Ich möchte dir stattdessen folgende Frage stellen: Wie werden Wettervorhersagen gemacht?“
„Sie sammeln alle verfügbaren Daten über die Wind- und Wolkenbedingungen und erstellen die Vorhersage.“ Wo soll das bloß hinführen?, fragte sich Keoki.
„Genau richtig!“ Sein Großvater sah sehr zufrieden aus.
Keoki machte einen etwas verwirrten Eindruck, aber plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. „Ach, ich verstehe. Sie sammeln die Daten, die in der Gegenwart zur Verfügung stehen, und prognostizieren, wie das Wetter wahrscheinlich werden wird. Aber da sich das Wettergeschehen so rasch ändern kann, sind die Vorhersagen nicht immer richtig. Doch es gibt bestimmte Dinge, die wir sicher über die Zukunft wissen. Zum Beispiel die Tatsache, dass die Sonne morgen früh aufgehen wird.“
„Ach wirklich?“, grinste Lani. „Sag mir, wo ist die Sonne von morgen?“
„Was?“
„Wo ist die Sonne von morgen gerade jetzt?“
„Nun, ich kann dir sagen, wo die Sonne morgen sein wird. Morgen zur gleichen Zeit wird sie genau dort sein, wo sie jetzt ist.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, räumte Lani ein. „Ich gebe zu, dass auf der Grundlage der Erfahrungen aus der Vergangenheit in der Tat eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem das Morgen zur Gegenwart wird, die Sonne an fast der gleichen Position stehen wird, an der sie jetzt steht. Aber wo ist die Sonne von morgen jetzt gerade?“
Keoki schnitt eine Grimasse. „Nirgends. In unserer Erfahrung gibt es sie noch nicht.“
„Bravo! Nächste Frage: Wann werden Vorhersagen gemacht?“ Und wieder warf Großvater den Stein nach oben.
„In der Gegenwart“, antwortete Keoki in einem Ton, als ob er seine Niederlage eingestand.
„Und woher stammen die Informationen, aufgrund derer die Vorhersagen gemacht werden?“
„Ich weiß, dass ich jetzt ‚aus der Gegenwart’ sagen soll, aber …“
„Kein ‚Aber’“, unterbrach Lani ihn, während er den Stein festhielt. „Wenn du mit Tarotkarten arbeitest, nimmst du die Informationen aus deiner Interpretation der Karten, die vor dir liegen. Wenn du mit Astrologie arbeitest, kommen sie aus der Interpretation der Planetenkonstellationen auf einem Diagramm, das vor dir liegt. Wenn du mit den Steinen arbeitest, nimmst du die Informationen aus deiner Interpretation der Steinmuster, die vor dir liegen. ‚Mai ka po mai ka mana’ und ‚Noho ka mana i ka manawa’. ‚Alle Kraft kommt von innen’ und ‚Die Kraft liegt in der Gegenwart’. Deine Macht oder Kraft liegt nicht in der Zukunft, weil die Zukunft - in Bezug auf die Gegenwart - nicht existiert.“
„Ist ja gut“, lachte Keoki, „aber wo stehen wir damit? Wenn alles in der Gegenwart ist, was hat es dann für einen Sinn, etwas über die Zukunft erfahren zu wollen?“
„Das Wissen über die Zukunft ist nicht so entscheidend wie das Wissen über die Gegenwart“, betonte Großvater. „Wenn du die Muster der Gegenwart kennst, kannst du etwas unternehmen, um eine mögliche oder wahrscheinliche Zukunft zu beeinflussen. Der Einfluss besteht darin, dein Verhalten zu verändern, nicht in einem direkten Einwirken auf eine nicht existente Zukunft. Wenn die Wale in Alaska bestimmte Muster in den gegenwärtigen Umweltbedingungen wahrnehmen, machen sie sich auf den Weg nach Hawaii. Sie machen sich keine Sorgen über eine nicht existente Zukunft. Sie zeigen Verhalten, das für die bestehenden Bedingungen angemessen ist. Wenn wir die Steine mit dem Ziel einer Prognose auswerfen und das Muster lesen, sammeln wir Informationen über die Gegenwart, interpretieren diese Informationen und passen unser Verhalten entsprechend an - oder nicht. Wenn dann eine nicht existente Zukunft zu einer existenten Gegenwart wird, sind die Muster hoffentlich so ausgerichtet, dass eine angemessene Reaktion eintritt.“
Keoki verdrehte die Augen. Es brachte ihn immer aus der Fassung, wenn Großvater wie ein Professor sprach. „Uff! Das muss ich erst einmal verdauen. Würdest du mir inzwischen erklären, wie du mit den Steinen arbeitest?“
Lani stand auf und streckte sich, während er Keoki aufforderte, ebenfalls aufzustehen und sich zu strecken. Dann setzten sich beide wieder hin. Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, dass Lani Keoki eine neue Art und Weise zeigte, die Welt zu betrachten.
Zuerst erzählte er Keoki von der alten hawaiianischen Kunst Kilo, oder Kilokilo. Dieser Begriff wurde oft fälschlicherweise als Zauber oder Wahrsagerei übersetzt. Die Grundbedeutung beider Begriffe, so erklärte Lani, lautete „aufmerksam beobachten, untersuchen“. Das, was der Ausübende, der ebenfalls als Kilo bezeichnet wurde, beobachtete und untersuchte, waren Muster.
„Alles, wirklich alles, weist Verhaltensmuster auf“, berichtete Lani. „Die Muster können sichtbar oder unsichtbar sein, physischer, emotionaler, mentaler oder energetischer Natur, was auch immer. Manche Muster sind sehr dauerhaft, zumindest aus unserer Sicht, andere Muster sind einem ständigen Wandel unterworfen. Wenn wir etwas über die Muster von Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen und Ereignissen lernen, können wir nützliche Vorhersagen über wahrscheinliche Entwicklungen treffen.“
„Das ist genau das, was Meteorologen machen“, merkte Keoki an und veränderte erneut seine Sitzhaltung.
„Genau“, antwortete Lani. „Und politische Beobachter, Verhaltensforscher, Biologen, Deuter von Tarotkarten, Börsenanalysten und jeder sonst, der sich mit Prognosen und Vorhersagen beschäftigt. Computer nutzen dieses Prinzip ebenso.“
„Warum kann ich dann nicht einfach einen Computer verwenden?“
Lani kicherte. „Du könntest, aber Computer sind durch die Datenmengen eingeschränkt, die sie verarbeiten können. Du hast etwas viel, viel Besseres.“
„Steine sind besser als ein Computer?“ Keoki schüttelte den Kopf.
„Nicht die Steine, Keoki. Sie sind nur die Anzeige, wie die Daten, die auf einem Bildschirm zu sehen sind. Der Monitor ist nicht der Computer, oder?“
Keoki stimmte dem zu.
„Der Computer selbst ist nicht zu sehen, richtig?“
Keoki nickte.
„Du hast etwas, das wir als einen ‚Super-Computer’ bezeichnen könnten, und auch der ist nicht sichtbar. Manche Menschen würden vermuten, es ist dein Verstand, aber auch das beschreibt nur den körperlichen Teil davon. Andere würden behaupten, dass es dein Geist ist, aber das ist eine vage und verwirrende Begrifflichkeit. In Hawaii wird es von verschiedenen Lehrern Unihipili oder Ku genannt, aber ich habe meine eigenen Vorstellungen, deshalb werde ich es dein Iho nennen. Dieses Wort bedeutet im Grunde 'Kern', es kann aber auch 'Selbst' bedeuten. In diesem Zusammenhang können wir es uns als dein 'Inneres Selbst' vorstellen. Beiß dich jedoch nicht allzu sehr an Bezeichnungen fest. Bezeichnungen verwenden wir nur aus praktischen Gründen.“
Lani war eine Weile still. Keoki nutzte die Zeit, um nachzudenken. Etwas später meinte er: „Also, du sagst, ich habe dieses Iho, das besser ist als ein Computer. Und lass uns annehmen, ich habe ein paar Steine, die als Monitor dienen. Was mir fehlt, ist etwas, das als Tastatur dient, damit das Iho den Steinen übermitteln kann, was es weiß.“ Keoki konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, weil das alles so absurd klang.
„Du hast es erfasst.“ Lani lächelte. „Die Entsprechung zur Tastatur sind deine Hände. Schau mir zu.“
Lani öffnete seinen Rucksack und nahm einen kleinen schwarzen Lederbeutel heraus. Keoki erkannte, dass es der gleiche Beutel war, den Großvater auf dem Flug nach Europa vor zwei Jahren bei der Sicherheitskontrolle vorzeigen musste. Lani ließ sieben Steine aus dem Beutel in seine Handfläche gleiten. Jeder Stein sah anders aus, aber sie waren alle kleiner als zwei oder drei Zentimeter im Durchmesser, mehr oder weniger rund, aber nicht glatt. Keoki erkannte einen Granat, einen fast durchsichtigen Bergkristall und einen Türkis, aber nicht die anderen Steine.
„Grundsätzlich kann jeder Stein verwendet werden“, erläuterte Lani, „aber diese Steine hier sind so etwas wie meine guten Freunde. Den Bergkristall habe ich von einer Freundin geschenkt bekommen, als ich in München studierte. Wir waren beim Skifahren in den Alpen. Der dunkelrote Stein ist aus einem Fluss in Japan. Ich weiß nicht, was für ein Material das ist. Der orangene Stein ist ein Karneol, den ich in Brasilien gefunden habe. Den gelben Stein habe ich an einem Strand in Estland eingesammelt, und der fast ganz grüne - da ist viel Olivin drin - stammt aus einem Fluss auf Kauai. Der Türkis war ein Geschenk eines Freundes aus Mexiko und den Granat habe ich in einem Geschäft in New York gekauft.“
Wow! Großvater ist mehr in der Welt herumgekommen, als ich gedacht hatte. „Und ich nehme an, dass jeder Stein eine eigene Geschichte zu erzählen hat?“, fragte Keoki nach.
Lani lachte. „Viele Geschichten. Viel mehr Geschichten, als du dir vorstellen kannst. Aber lass uns mit dieser Sache hier weitermachen.“ Er legte den Beutel hin und hielt die Steine in der Handfläche der einen Hand, während er diese mit der anderen Hand abdeckte, als ob er etwas in den Händen verbergen würde. „Während ich die Steine so halte, denke ich mir eine Frage aus. Ich kann die Frage zu allem Möglichen stellen. Mein Iho wird sein Bestes tun, mittels des Steinmusters, das ich werfe, eine Antwort zu geben. Egal was ich frage, die Antwort wird immer etwas über mich aussagen oder über meine Beziehung zu dem, wonach ich frage.“
„Warte mal!“, unterbrach ihn Keoki. „Das bedeutet, dass die Antwort immer subjektiv ist. Was ist, wenn du eine objektive Antwort suchst?“
„Du hast hier wichtige Punkte angesprochen. Erstens hast du Recht. Nach dem, was ich eben vorgetragen habe, ist die Antwort immer subjektiv. Und zweitens: Es gibt nicht so etwas wie eine objektive Antwort.“
„Aber …“
Lani nahm die obere Hand von den Steinen, um Keoki ein Zeichen zu geben, innezuhalten. „Hör zu. Es gab da ein ganz nettes Spielzeug, das ich deinem Cousin Kalani zum zwölften Geburtstag geschenkt habe. Es war ein kleiner Computer, der sich 'Zwanzig Fragen' nannte. Du konntest dir praktisch alles ausdenken, ein Tier, eine Gemüsesorte, ein Mineral oder irgendetwas anderes, und mit maximal zwanzig Fragen konnte er fast immer erraten, an was du gedacht hast. Also wollte ich das Gerät testen und habe an Gott gedacht. Und nach fünfundzwanzig Fragen - der Computer hatte um fünf Extrafragen gebeten - war seine Antwort 'ein großer, starker Engel'. Ich war überrascht, dass er der Antwort so nahe gekommen war. Aber worauf ich hinaus will, ist, dass er nur im Rahmen seiner vorhandenen Datenbank Antworten finden konnte. Das Gleiche gilt für Menschen. Ich kann meine Fragen zu allen Themen stellen, aber je weniger ich darüber weiß, umso vager oder fehlerhafter wird die Antwort sein. Je mehr ich aber weiß, umso besser wird die Antwort ausfallen. Die Informationen sind unendlich, aber unsere Fähigkeit, sie mit unseren physischen Körpern aufzunehmen und zu verarbeiten, ist begrenzt.“
„Trotzdem kann ich nicht verstehen, warum wir Informationen, die jenseits unserer persönlichen Erfahrung liegen, nicht aufnehmen können.“
Lani verzog sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln. „Na dann geh einmal in die Bibliothek und versuche, ein Buch über Botanik auf Lateinisch zu lesen.“
Keoki blieb einen Moment still, seufzte dann und nickte. „In Ordnung. Ich habe verstanden. Die Informationen sind vorhanden, aber wenn ich in meiner Datenbank keinen Bezugsrahmen habe, der mir hilft, die Informationen zu verarbeiten, in diesem Fall Kenntnisse über Botanik und Latein, kommt nur Müll heraus. Das klingt, als hättest du das gleiche Problem gehabt, als du deinen Abschluss gemacht hast.“
Lani erlaubte sich eine kurze Erinnerung an die vielen durchgearbeiteten Nächte an der Universität in München in Gesellschaft des lateinischen Grammatikbuches, kam aber rasch wieder in die Gegenwart zurück. „Du siehst also jetzt, was ich meine?“
„Ja. Das hier ist so ähnlich wie das, was mir vor ein paar Tagen passiert ist. Ich habe jemandem eine Frage zu meiner Photoshop-Software gestellt. Zuerst hat seine Antwort für mich keinen Sinn ergeben, aber als ich es dann ausprobiert habe, habe ich festgestellt, dass es funktionierte. Hätte ich Photoshop nicht so gut beherrscht, hätte es für mich wohl nie einen Sinn ergeben. Das mit den Steinen muss vermutlich so ähnlich sein. Man muss die richtigen Fragen stellen.“
„Maika'i! Gut!“, rief Lani. Er lächelte seinen Enkel voller Zuneigung an. Er hatte so viel Potenzial! Aber er hatte auch noch einen sehr weiten Weg vor sich. Nun ja. Weiter, Schritt für Schritt. „Also, lass uns eine Frage stellen und sehen, wie es funktioniert. Zunächst werde ich eine Frage über mich stellen. Der Wurf, den ich dann mache, wird ein Symbol ergeben. Ich muss schon vorher diese Erwartungshaltung haben, damit mein Iho weiß, welche Sprache es benutzen soll. Später“, wendete er ein, als Keoki seinen Mund öffnete. „Wir werden anschließend darüber sprechen. Jetzt bitte ich um ein Symbol für den Ort, an den ich als Nächstes reisen werde.“ Lani schüttelte die Steine in seinen Händen sieben- oder achtmal und ließ sie dann auf den Boden vor sich fallen.
Keoki konnte in dem Muster, das die Steine bildeten, nichts erkennen, aber Lani war überrascht. „Nun, das ist wohl möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Trotzdem …“
„Was denn?“
Lani blieb so lange still, dass Keoki schon vermutete, er habe ihn nicht gehört. Als er gerade noch einmal fragen wollte, deutete sein Großvater auf die Steine und teilte ihm leise mit: „Mich erinnert das hier an das Gehörn einer Antilopenart, die in Westafrika vorkommt. Für jemand anderes würde es wahrscheinlich nicht so aussehen, aber … Ich habe Erinnerungen an ein solches Gehörn von einer botanischen Exkursion in Togo und…“
Du meine Güte! Noch eine Überraschung aus der Vergangenheit meines Großvaters, dachte Keoki.
„ … das Iho greift auf assoziative Erinnerungen zurück, um den Symbolen eine Bedeutung zu verleihen. Wie merkwürdig.“
„Bedeutet dies, dass du nach Afrika reisen wirst?“
Lani sammelte die Steine auf und legte sie in den Beutel zurück. „Das ist nicht besonders wahrscheinlich. Das war in einem anderen Leben, früher. Vielleicht bedeutet es, dass ich die Afrikaabteilung des Naturhistorischen Museums in Los Angeles besuchen werde. Ich hatte schon erwogen, einen alten Freund in Long Beach zu besuchen. Egal. Du bist dran.“
„Welche Steine soll ich benutzen?“, fragte Keoki.
Lani griff erneut in seinen Rucksack und zog einen weiteren Beutel heraus, einen braunen Lederbeutel. Er überreichte ihn Keoki mit einem breiten Grinsen. „Nimm es als ‚außergeburtstagliches’ Geschenk.“
Keoki ließ sieben Steine aus dem Beutel auf die Handfläche seiner linken Hand purzeln. In der Größe waren sie ähnlich wie die Steine von Großvater, aber alle sahen anders aus als diese und waren runder. Der junge Mann sah seinen Großvater an und wartete auf eine Erklärung.
„Wie ich gesagt habe, kannst du jegliche Art von Steinen verwenden. Aber als Einstieg habe ich diese hier für dich ausgesucht. Der weiße Stein ist Koralle aus Kona hier auf Big Island. Der rote Stein stammt von einem Aschekegel im Krater des Haleakala auf Maui, der orangene von einem alten Lavastrom auf Ni'ihau. Der gelbe Stein ist Kalzit von Mahaulepu auf Kauai. Der grüne ist eine Art Peridot. Er stammt von der Nordküste auf O'ahu. Der blaue Stein kommt aus einer Grube mit dichtem Basalt auf Molokai. Der Stein schließlich, der fast violett ist und so schillert, ist ein Stück Lava hier vom Mauna Loa.“
Keoki betrachtete sie eine Zeit lang. „Sie sind wunderschön, Großvater. Mahalo a nui loa. Vielen, vielen Dank. Da sie die gleichen Farben haben wie deine Steine, haben diese Farben wohl eine Bedeutung?“
„Das stimmt“, antwortete Lani, „aber diese Einzelheiten können wir zu einem anderen Zeitpunkt besprechen. Jetzt stell dir einfach vor, dass die Farben für den hawaiianischen Regenbogen stehen. Weiß beinhaltet alle anderen Farben.“
„Äh, da gibt es noch etwas, das ich dich fragen muss“, zögerte Keoki.
„Klar“, bestärkte Lani ihn. „Was ist?“
„Ich habe viele Geschichten darüber gehört, dass es Unglück bringt, Steine an einen anderen Ort zu bringen und insbesondere, sie mitzunehmen, wenn man die Inseln verlässt. Ich denke nicht, dass ich wirklich daran glaube, aber viele Menschen glauben tatsächlich fest daran. Manche werden richtig wütend, wenn man einen Stein auch nur aufhebt. Ich möchte gerne hören, was du darüber denkst.“
„Ja.“ Lani klang genervt. Dann atmete er tief ein, sein Ausdruck änderte sich und wurde freundlicher. „Das ist etwas kompliziert, weil hier eine Verquickung mehrerer Umstände vorliegt, von denen einige mit Aberglaube zu tun haben, noch nicht einmal hawaiianischer Aberglaube, einige mit kulturellen Bräuchen und andere Gründe liegen in politischen Überlegungen. Ich werde dir einen kurzen Überblick geben.“ Er suchte den Boden ab und hob dann zwei Steine auf, einen Stein mit poröser Oberfläche, der andere war glatt. Er zeigte die beiden Steine Keoki. „Haben diese Steine eine Bedeutung für dich?“
„Nun ja“, antwortete Keoki. „Wir haben in Heimatkunde gelernt, dass traditionell der poröse Stein als weiblich galt, der nicht-poröse als männlich.“
„Richtig. Auf dieser Insel gibt es im Distrikt Ka'u, südöstlich von hier, einen Strand namens Punalu'u. Traditionelle Erzählungen sprechen davon, dass sich dort die glatten männlichen Steine und die porösen weiblichen Steine gepaart haben und kleine Baby-Steine geboren wurden.“ Keoki verdrehte die Augen, Lani ignorierte ihn. „Diese traditionellen Erzählungen besagen weiter, dass, wenn man einen Stein vom Strand entfernt, der Stein des anderen Geschlechts keine Kinder haben kann. Da genau dieser Strand aber auch als die beste Quelle für 'ili'ili-Steine galt, die Steine, die bei bestimmten Hula-Tänzen wie Kastagnetten verwendet werden, mussten manche Menschen wohl doch Steine von diesem Strand genommen haben. Vielleicht wurde diese Geschichte also erfunden, um den Strand als Quelle zu schützen.
Eine neuzeitliche Geschichte berichtet, dass entweder ein Reiseführer oder ein Park Ranger aus dem Hawaii Volcanoes National Park - es gibt da unterschiedliche Versionen der Geschichte - es satt hatte, dass alle Besucher Steine aufgehoben und als Souvenir mit nach Hause genommen haben. Der Reiseführer wollte angeblich nicht mehr die ganzen Steine im Bus ausputzen, der Park Ranger war angeblich sauer, weil es nämlich verboten ist, irgendetwas aus einem Nationalpark mitzunehmen. Also dachte sich einer von ihnen gestützt durch die Erzählung über Punalu'u eine Legende aus, dass Pele jeden Menschen verfluchen würde, der einen Stein von ihrer Insel mitnimmt. In der hawaiianischen Tradition gibt es keine solche Legende, aber Furcht ist ansteckend.“ Lani hielt inne, um etwas Wasser zu trinken.
„Das Witzige daran ist“, fuhr er fort, „dass die Menschen nicht damit aufgehört haben, Steine mitzunehmen, aber sobald sie zuhause eine Pechsträhne hatten, haben sie die Steine nach Hawaii zurückgeschickt. Ich erinnere mich, dass ich einmal im Besucherzentrum des Parks einen großen Tisch voll mit Steinen gesehen habe, die von schuldbewussten Besuchern zurückgesendet worden waren. Es kamen noch mehr Steine zurück und sie brachten sie dann in einem Lagerhaus unter. Schließlich war aber auch das zu klein. Ich weiß nicht, wie sie das heute handhaben, aber es kommen noch immer Steine an. Manchmal werden sogar Souvenirpackungen mit grünem Sand zurückgegeben. Man hat mir erzählt, dass die Post in Honolulu einmal ein Paket mit Steinen erhalten hat, das an ‘The Kahuna of Hawaii, Honolulu’ adressiert war. Das haben sie dann an einen Mann auf Kauai weitergeleitet.“
„Aber warum glauben so viele Hawaiianer daran?“, fragte Keoki.
„Auch das hat mehrere Gründe“, antwortete Lani. „Wie ich sagte, ist Furcht ansteckend. Einige Hawaiianer haben die Geschichte einfach geglaubt. Andere spielen den Besuchern damit gerne einen Streich. Und für weitere Hawaiianer ist es politisch. Für sie ist die Mitnahme von Steinen von den Inseln ein Symbol für die Enteignung der Inseln, die dem hawaiianischen Volk widerfahren ist. Also stärken sie die Legende und werden sogar wütend, wenn Steine mitgenommen werden.“ Lani verstummte. Beide saßen einige Zeit still und waren in ihre jeweils eigenen Gedanken versunken.
Schließlich zuckte Keoki mit den Schultern und hielt seine Steine in die Höhe. „Nun gut, wie mache ich das also?“
Lani stieß einen tiefen Seufzer aus und widmete sich wieder ganz seinem Enkel. „Zunächst sollst du wissen, dass ich selbst mit jedem dieser Steine gesprochen habe. Alle haben zugestimmt, dass ich sie mitnehme und sie dann bei dir bleiben. Und jetzt musst du an eine Frage denken.“
Keoki lächelte. Manchmal nahm Großvater die merkwürdigsten Dinge so ernst. „Mir hat deine Frage gut gefallen, die Frage, wohin die nächste Reise geht.“
„Das ist so gut wie jede andere Frage auch. Nun decke deine Steine mit der anderen Hand ab, atme tief ein und aus, entspanne dich. Dann denke intensiv an deine Frage, schüttle die Steine ein wenig durch und wirf sie auf die Fläche vor dir.“
Keoki tat, was ihm gesagt worden war. Anschließend betrachtete er die Steine, die verstreut auf dem Lavaboden lagen, und fragte: „Und jetzt?“
„Jetzt versuchst du, in dem Muster der Steine ein Bild oder ein Symbol zu erkennen, so wie bei dem Kinderspiel, bei dem man die Punkte mit Strichen verbinden muss. Lass dir Zeit.“
Keoki betrachtete eine Zeit lang schweigend die Steine. Zuerst konnte er gar nichts erkennen. Aber er hatte bereits genug gelernt, um zu wissen, dass er sich einfach noch mehr entspannen und sein logisches Denken auf Pause stellen musste. Plötzlich, so plötzlich, dass er zusammenzuckte, sah er etwas.
Lani bemerkte das und fragte: „Was siehst du?“
„Mmh, das mag komisch klingen, aber es sieht für mich aus wie ein Pferdekopf. Zuerst konnte ich gar kein Bild erkennen, aber plötzlich tauchte das Pferd auf. Bedeutet das nun, dass ich irgendwohin fahre, wo es Pferde gibt?“
„Vielleicht“, meinte Lani. „Hast du kürzlich über eine Reise an einen Ort nachgedacht, an dem Pferde eine wichtige Rolle spielen?“
„Nein“, antwortete der junge Mann. „Da ist die Ranch von meinem Cousin Liko bei Waimea, aber ich war lange nicht dort und habe auch nicht vor, hinzufahren. Das mit den Steinen funktioniert wohl nicht.“
Lani schüttelte den Kopf. „Doch, es funktioniert durchaus. Wir wissen nur noch nicht, was es bedeutet. Auf jeden Fall sind die Steine ein großartiges Werkzeug, nicht nur, wenn du dich in Muster einstimmen willst, sondern auch, wenn du deine inneren Fähigkeiten entwickeln willst.“ Er begann, seinen Rucksack einzupacken.
Lani wollte offenbar aufhören, aber Keoki war noch nicht soweit. „Können wir noch einmal auf etwas zurückkommen, das du vorhin erklärt hast?“
Lani nickte und blickte seinen Enkel an.
„Du hast gesagt, dass das Iho wissen muss, welche Sprache es benutzen soll. Was soll das bedeuten?“
Der Großvater lehnte sich auf seine Ellenbogen zurück und streckte seine Beine lang aus: eine seiner bevorzugten Positionen beim Lehren. „Lass uns einen Augenblick über Sprachen im Allgemeinen sprechen.“ Er blickte kurz zu Keoki, der erwartungsvoll wirkte. „Alle Sprachen haben drei Grundelemente: ein Alphabet, einen Wortschatz und eine Grammatik, also eine irgendwie geartete Struktur, in die sich der Wortschatz einfügt, um einen Sinn auszudrücken. Stimmst du mir bis hierhin zu?“
Der junge Mann dachte kurz nach, konnte daran keinen Fehler erkennen und bestätigte: „Ja.“
„Gut. Nun verfügen verschiedene Sprachen, etwa Hawaiianisch, Deutsch oder Englisch, über unterschiedliche Alphabete, einen sprachspezifischen Wortschatz und auch eine jeweils andere Grammatik, richtig?“
Keoki nickte.
Lani fuhr fort. „Es gibt auch verschiedene musikalische Sprachen, also unterschiedliche Möglichkeiten, Musik zu komponieren, z. B. westliche Musik, chinesische Musik oder arabische Musik. Jede davon hat ihr eigenes Format eines Alphabets, des Wortschatzes und der Grammatik. Stimmst du auch dem zu?“
Keoki musste darüber etwas nachdenken, nickte dann schließlich erneut, während er sich fragte, wohin das wohl wieder führen mochte.
„Gut“, stellte Lani fest. „Und nur, um den Punkt noch anders zu beleuchten: es gibt auch verschiedene mathematische Sprachen, mit ihrem eigenen Alphabet, eigenem Wortschatz und eigener Grammatik. Beispielsweise Arithmetik, Algebra und Integralrechnung.“ Er blickte Keoki erwartungsvoll an.
Keoki zwang sich, nicht seine Augen zu verdrehen, und fragte: „Ja gut, Großvater, aber was hat das …?“
Der Großvater des jungen Mannes hob die Hand. „Tarot, das I Ging und die Steine sind eher mit unterschiedlichen Sprachgruppen zu vergleichen, als dass es verschiedene Sprachen sind, weil du die gleichen Elemente verändern kannst, um ein neues oder anderes Verständnis zu schaffen. Denke daran, wie das lateinische Alphabet für verschiedene Sprachen verwendet wird. Oder denke daran, wie die musikalische Notation verwendet werden kann, um die ‘Sprachen’ des Blues, des Rock oder der klassischen Musik zu erschaffen. Du kennst zwischenzeitlich die verschiedenen Legesysteme im Tarot, wo die gleichen Karten unterschiedliche Bedeutungen haben können, weil die ‘Grammatik’ eine andere ist, stimmt‘s?“
„Ja“, meinte Keoki. Nach dem Abenteuer in Europa hatte er sich ein wenig über Tarot informiert, um zu verstehen, worum es eigentlich dabei ging.
Lani öffnete seinen Rucksack, nahm seinen Beutel wieder heraus und schüttete ihn über dem Boden aus, so dass die Steine verstreut lagen. „Sieh her, ich kann den einzelnen Steinen, den Gruppen und dem gesamten Muster, das sie bilden, jede beliebige Bedeutung geben. Ich kann mich auf das Bild konzentrieren, das sie in meinen Augen ergeben, ich kann mich auf die Farbkombinationen konzentrieren, auf die Beziehung zwischen den Steinen oder auf jede andere Bedeutung, die ich darin sehen will.
Wenn ich allerdings möchte, dass der Wurf irgendeinen Sinn ergibt, wenn er für meinen Zweck effektiv sein soll, muss ich mich vorher entscheiden, worauf ich die Bedeutung lege, welche ‘Sprache’ ich wähle. Sonst ist das Ergebnis nicht zu gebrauchen.“ Lani machte eine Pause und suchte in seinem Gedächtnis nach einer passenden Erinnerung.
Sein Blick wirkte abwesend, als er weitersprach. „Auf einer Feier damals in München hatte ich schon ein paar Schnaps über den Durst getrunken. Ich hatte mich mit ein paar deutschen Freunden unterhalten, als ich eine Gruppe neuer amerikanischer Austauschstudenten erblickte, die auch eingeladen waren. Ich ging also zu meinen Landsleuten hinüber, um mich etwas mit ihnen zu unterhalten. Nach einiger Zeit, in der ich gedacht hatte, dass ich Englisch gesprochen hatte, fielen mir schließlich deren vollkommen ausdruckslosen Gesichter auf. Erst da erkannte ich, dass ich sie auf Deutsch angesprochen hatte. Mein Deutsch war in Ordnung, aber für sie kam nur unverständliches Zeug `rüber.“
Keoki konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Lani lachte herzlich mit.
„Auf jeden Fall“, sagte der ältere Hawaiianer, „habe ich dich jetzt nur eine ‘Steinsprache’ gelehrt. Ich halte sie für die nützlichste, aber du kannst dir entweder andere ausdenken oder, wenn ich gut gelaunt bin, bringe ich dir noch ein paar Variationen bei, die ich kenne.“
„Danke, Großvater“, lächelte Keoki.
Lani sah sich um und schlotterte. „Es wird sehr schnell kalt. Lass uns zusammenpacken und zurück zur Hütte gehen, damit wir uns aufwärmen können.“
Keoki war überrascht, dass die Sonne schon so tief stand und dass es so durchdringend kalt geworden war. Durch die langen Schatten machte die Landschaft einen noch bizarreren Eindruck als vorher schon. Er nahm seine Wasserflasche und schnallte sich, wie sein Großvater auch, den Rucksack um. Beide stellten sich noch einige Augenblicke an den Kraterrand.
Das Blau des Himmels war noch dunkler, aber nicht mehr so klar. Im Westen zeigten sich die ersten Wolken. Im Nordosten stand der etwas höhere Gipfel des Mauna Kea dominant am Horizont, das schwächer werdende Sonnenlicht wurde von den Kuppeln der Observatorien auf dem Gipfel dort drüben zurückgespiegelt. Der Krater Moku’aweoweo direkt vor ihnen war eine dunkelschwarze Grube, in der man sich alles Mögliche vorstellen konnte und aus der alles Mögliche entsteigen konnte.
Keoki dehnte sein La’a Kea, seine aktive Aura, in die Tiefen des Kraters hinein aus. Es fühlte sich für ihn an, als könne er die Feuer der Schöpfung spüren, die unter der Oberfläche brodelten. Lani tat das Gleiche. Er spürte deutlich, dass sie beide vor großen Veränderungen standen. Er richtete seinen friedvollen Segen an das Magma und die gesamte Insel Hawaii. Und er hüllte seinen Enkel in ein Feld zuversichtlicher Energie ein, von der der junge Mann in Zeiten der Not zehren konnte. Dann gingen sie in die Hütte zurück.
Nachdem Lani in der Hütte einige Geschichten über seine Abenteuer in Togo erzählt hatte und sie eine heiße Mahlzeit zu sich genommen hatten, gingen sie beide wieder nach draußen, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Keoki hatte noch nie so einen Sonnenuntergang gesehen. Er war ein Meisterwerk aus Rot und Gold, aber das spielte sich alles hoch am Himmel ab, in einer riesigen Wolkenbank, die die Sonne wie ein flammendes Juwel in einer gigantischen, reflektierenden Schale zu halten schien. Und in der Schale, gleich neben der Sonne, war etwas, von dem Keoki Großvater irgendwie nicht erzählen mochte: eine Wolke, die wie ein prächtiger, paradierender Hengst geformt war.