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DREI: MAUNA LOA

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Der Paladin hielt inne, um sich auf seinen zittrigen Beinen auszuruhen. Er schnappte nach Luft und hasste den Gestank, den er mit der Atemluft aufsog. Er stand inmitten des Bluts und der Innereien zahlloser Dämonen, die versucht hatten, ihn davon abzuhalten, die feuchte, dunkle Höhle zu erreichen, in der er jetzt stand. Er konnte spüren, wie die Kraft in seine Glieder zurückkehrte, aber noch zögerte er voranzuschreiten. Direkt vor ihm klaffte wie eine Wunde ein enger Spalt in der Wand, aus dem ein blasses, grünes Licht hervorquoll. Dahinter, soviel wusste er, befand sich das leibhaftige Böse, ein Monster von gewaltiger Größe und widerlichem Aussehen, das ihn mit Leichtigkeit in Stücke reißen konnte. Dies wusste er sehr gut, denn es war das dritte Mal, dass er der verfluchten Bestie gegenübertreten musste.

Er erinnerte sich lebhaft an den Schmerz und das Grauen seiner beiden vorausgegangenen Tode, als das Monster seinen Körper in sinnloser Raserei auseinandergerissen hatte. Nur die Macht eines barmherzigen Gottes hatte ihn ins Leben zurückgeholt, damit er sein fürchterliches Ziel erreichen konnte. Wie ein Wurm, der sich in sein Gehirn fraß, tauchten plötzlich Zweifel auf: War Gott wirklich so barmherzig? Immerhin zwang er ihn, immer wieder in dieses elende Loch des Leidens zurückzukehren. Der Paladin schüttelte seinen Kopf und warf den Wurm hinaus. Er wurde nicht gezwungen. Er hatte geschworen, das Böse zu bekämpfen, wann immer und wo immer es sich zeigen würde. Dies war seine Pflicht, der Sinn seines Lebens. Mit einer Bewegung seines Körpers verlagerte er das Gewicht der schweren Rüstung, richtete sich auf, verstärkte die Umklammerung seines Schilds und seines Schwertes und schritt erneut durch den Spalt in der Wand.

Und da stand es, wie ein riesiges, aufgedunsenes, eitertriefendes Insekt. Der Gestank war so ekelerregend, dass er beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Das Monster wirkte etwas geschwächt, aber er hatte keine Zeit für irgendwelche Gedanken. Das Monster erhob seine Klauen, der Paladin erhob sein Schwert ...

Das Telefon klingelte und zerschmetterte so die Fantasiewelt des Computerspiels. Ein junger Mann Mitte zwanzig drückte auf die Escapetaste seiner Tastatur, um das Spiel zu unterbrechen, lehnte sich in seinem abgewetzten Bürostuhl zurück und griff nach dem schnurlosen Telefon, das auf einem Stapel Papier neben seinem Schreibtisch lag. Er sah auf eine eher unspektakuläre Art und Weise gut aus. Sein braunes Haar, das er von seiner hawaiianischen Mutter geerbt hatte, war relativ kurz geschnitten, fiel aber vorne immer wieder in seine Stirn. Seine nussbraunen Augen, von seinem Vater, einem Haole, also einem Weißen, gaben seinem Gesicht eine interessante Note. Er besaß den sehnigen Körper eines Surfers, den er mit leichten Übungen in Form hielt, denn er kam nicht mehr so häufig dazu, zum Surfen zu gehen. Seine Haut hatte einen leicht braunen Grundton, so dass er unter den Haole wie ein Haole wirkte, in Gesellschaft von Hawaiianern aber wie ein Hawaiianer.

„Keoki?“, fragte die Stimme aus dem Telefon.

„Ja, Mom. Ich bin’s.“ Seine Mutter rief ihn aus Kona auf Big Island an, wo die meisten Mitglieder seiner Familie lebten.

„Es ist so schön, deine Stimme zu hören, Keoki. Du solltest uns öfter besuchen.“

„Ja, Mom.“ Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre er nie zuhause ausgezogen.

„Und bring doch mal deine neue Freundin mit. Wir wollen sie gerne kennenlernen.“

„Ja, Mom.“ Irgendwann einmal.

Und dann erzählte ihm seine Mutter alle Neuigkeiten, die es in der Familie gab: wie es seiner Schwester Keani mit ihrer Hula-Gruppe ging; dass sich Onkel Willy von seinen Rückenproblemen erholte; über die Entwicklung der Blumen und Pflanzen im Garten von Tante Betty; von dem Geld, das Onkel Hank bei seiner letzten Reise nach Las Vegas gewonnen hatte …. Und noch viel mehr. Keoki war wie immer nur mit einem halben Ohr dabei und ließ seinen Blick geistesabwesend durch seine kleine Wohnung schweifen, die in Kapahulu, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum von Honolulu entfernt, gelegen war.

In dem kleinen Wohnzimmer standen ein Sofa, ein Stuhl und ein Couchtisch aus dem Laden der Heilsarmee. An der Decke hingen zwei Lampen, die er im Sonderangebot bei Home Depot gekauft hatte. Sein Blick glitt über einige Drucke von Herb Kane an der Wand hinweg und heftete sich dann an die kleine, haarige Figur mit Wikingerhelm, die auf dem übervollen Regal mit Büchern über Computerprogramme und die Geschichte des Mittelalters stand. Diese Figur war ein Souvenir von seinem Besuch in Kopenhagen vor zwei Jahren. Sie zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht und entführte ihn einige Augenblicke lang aus dem Einzugsbereich der Stimme seiner Mutter. Am Ende der Litanei der Mutter über die großen Leistungen der Familienmitglieder fügte sie noch an: „Ach ja, und dein Großvater fährt zur Hütte auf dem Mauna Loa. Er hat dir ein Rückflugticket geschickt. Und Onkel Willy lässt seinen SUV für dich am Flughafen stehen. E malama pono, Keoki. Pass auf dich auf und besuch mich bald einmal, ja?“

Nach dem Telefonat versuchte er, weiter an der Entwicklung seines neuen Spiels zu arbeiten, aber der Gedanke an seinen Großvater lenkte ihn ab. Er blickte aus dem Fenster auf die kleinen samoanischen Kokospalmen, eine Hibiskushecke in voller Blüte, duftende Laua’e-Farne und Ti-Pflanzen. Der leichte Wind brachte etwas Bewegung in die Pflanzen und dieser Anblick entspannte ihn. Er wünschte, er hätte Meerblick, aber das würde er sich wohl erst in einigen Jahren leisten können.

Im Augenblick jedoch dachte er über seine merkwürdige und merkwürdig wunderbare Beziehung zu seinem Großvater nach. Sein Großvater hatte ihn als Kind in eine Welt des Abenteuers, der Aufregung und der Magie eingeführt, aber er hatte sich mit den Jahren von dieser Welt entfernt, während er sich in der viel weniger faszinierenden Welt der High School, der Universität und des Geldverdienens bewegt hatte.

In dieser Welt, der „richtigen Welt“, wie jeder sie nannte, waren Abenteuer, Aufregung und Magie auf Bücher, Filme, TV-Serien und Computerspiele beschränkt. Während der vergangenen Jahre war er über diese Medien mit der Welt des Großvaters verbunden geblieben. Derzeit entwickelte er gerade seine eigenen Fantasy-Spiele für Computer, aber seine Haupteinkommensquelle war Grafikdesign. Das war zwar interessant und kreativ, machte ihm Spaß, brachte Geld ein und hatte sogar so etwas wie eine eigene Magie an sich, war aber weit entfernt von den Dingen, die sein Großvater lehrte.

Die merkwürdige Welt seines Großvaters machte manchmal richtig Spaß, war aber oft sehr furchterregend und war so weit entfernt von der „richtigen Welt“, dass sie die meiste Zeit keinen Sinn ergab. Sie war einfach nicht für praktische Dinge geeignet, war eben nicht hilfreich beim Einkaufen, bei der Steuererklärung oder für all die normalen Dinge, die normale Leute so taten. Der junge Mann war froh, dass er einen ordentlichen Beruf hatte, der ihm Freude bereitete und ein Einkommen einbrachte, das zwar langsam, aber konstant stieg.

Dank eines Darlehens von Onkel Willy und eines Zusatzeinkommens von Interpol war er jetzt freiberuflich tätig, aber trotzdem war es eine Herausforderung, genug Arbeit an Land zu ziehen, um überleben und wirtschaftlich vorankommen zu können. Zum Glück war er in dem, was er tat, sehr gut. Jetzt gerade aber konnte er sich nicht richtig konzentrieren und brauchte eine Pause, um den Kopf frei zu bekommen. Er versetzte den Computer in den Bereitschaftsmodus, ging die paar Schritte auf seinen Lanai, seinen Balkon, um seine Slippahs, seine Sandalen, zu holen und spazierte dann die Kapahulu Avenue entlang in Richtung Kuhio Beach.

Der Spaziergang von George ‘Okamea‘ekanoa McCoy, den meisten seiner Freunde als Keoki bekannt, was eine hawaiianische Form für George war, endete vor einem eingezäunten Bereich, in dem vier große Steinbrocken im Sand standen. Das helle Licht der Morgensonne tanzte um ihn herum, von den ruhelosen Palmenwedeln über ihm ständig zu neuen Mustern komponiert.

Rechts von Keoki brauste der Verkehr auf der Kalakaua Avenue vorbei. Links von ihm führten leicht geschwungene Fußwege an Gestellen mit Surfboards und Belly Boards vorbei weiter zum Kuhio Beach. Die Fußwege waren an diesem traumhaften, tropischen Tag in Waikiki voll mit Malihini, Besuchern. Jenseits der Umzäunung vor ihm glänzte eine nagelneue Polizeiwache und hinter Keoki auf der Strandseite stand die neu errichtete Statue von Duke Kahanamoku, einem früheren Olympiasieger im Schwimmen und dem Mann, der das Surfen nach Kalifornien gebracht hatte.

Innerhalb der Umzäunung, etwas abgesetzt von den großen Steinen, befand sich ein schmales Podest mit einem kleinen Stein darauf: ein neueres Geschenk von Besuchern aus Tahiti. Auf einem Schild wurde in hawaiianischer und englischer Sprache die Geschichte von vier Heilern aus Kahiki erzählt, was für Tahiti oder jeden anderen Ort jenseits des Horizonts stehen konnte, die in uralten Zeiten gekommen waren, um die Inseln Hawaiis vor irgendeiner großen Katastrophe zu retten. Dort wurde auch beschrieben, dass die Heiler vor ihrer Abfahrt in diesen Steinen etwas von ihrem Mana, ihrer heiligen Kraft, zurückgelassen hatten. Auch die Namen der Heiler wurden genannt, aber Keoki wusste ihre Namen auswendig.

Aloha kakou, e Kapaemahu, Kahaloa, Kapuni, me Kinohi. E ho’opomaika’i i na ‘ohana holo’oko’a. Ich sende euch meine Grüße, ‘Friedliches Niveau’, ‘Weitreichender’, ‘Steuernder’ und ‘Ursprung’. Eure Familien seien gesegnet.“ Keoki sprach ganz leise mit diesen Stellvertretern der alten Heiler. Vor zwei Jahren hatte er eine Art innere Reise gemacht, um deren Geistwesen zu treffen und sie um Hilfe zu bitten. Vor zwei Jahren.

Zu jener Zeit waren diese Steine halbvergessene Felsbrocken gewesen, die am Strand unter irgendwelchen Eisenholzbäumen gelegen hatten. Damals hatte es keine geschwungenen Fußwege, keine Statue vom Duke und nur eine winzige, verschlissene Polizeiwache gegeben. All diese Veränderungen waren ein Zeichen des Erstarkens und Wiedererwachens der hawaiianischen Kultur, der kulturellen Erneuerung der Kanaka Maoli, der einheimischen Hawaiianer. Obwohl Keoki mit Stolz ein Teil dieser Bewegung war, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Umzäunung dieser Steine den Menschen den Zugang zu ihrer Kraft nahm. Nun gut, huli i ka mea, huli i ka mea, Wandel bedingt Veränderung, würde Großvater sagen.

Vor zwei Jahren waren sein Großvater und er in ein, na ja, Abenteuer verwickelt gewesen. Sie waren beide nach Europa geflogen, um eine Organisation zu unterstützen, die mit Interpol zusammenarbeitete, um eine Attentäterin aus der ehemaligen Sowjetunion aufzuspüren. Großvater war hingeflogen, weil er nicht nur in einigen Kreisen als Ethnobotaniker, sondern in einigen anderen Kreisen auch als Kupua, als hawaiianischer Schamane, bekannt war. Keoki hatte ihn auf Wunsch der Familie begleitet, „damit er sich um den alten Mann kümmere“. Im Verlauf der Ereignisse hatte Großvater ihn als Haumana Kupua, als Lehrling im Schamanismus, angenommen.

Eine junge Frau, in die er geglaubt hatte, verliebt zu sein, war fast gestorben und hatte ihn dann zurückgewiesen. Großvater war selbst beinahe getötet worden. Und er, Keoki, hatte mit viel Hilfe und Unterstützung durch andere seine Familie vor der Vergeltung der Attentäterin gerettet. Nebenbei waren Großvater und er von Interpol als Sonderermittler eingestellt worden. Offensichtlich unbefristet als Reservisten, denn seit damals hatte es, abgesehen von dem Scheck alle drei Monate, keinen weiteren Kontakt gegeben. Zwischenzeitlich hatte er Großvater einmal im Monat pflichtbewusst einen Besuch abgestattet, um seine Kenntnisse in Obake zu erweitern. Obake war ein japanisches Wort, das von den Einheimischen in Hawaii verwendet wurde, um geisterhafte und übersinnliche Dinge zu beschreiben.

Es gab keinen Zweifel, dass diese Dinge faszinierend waren. Aber sie waren manchmal auch unglaublich furchteinflößend. Und seine Erfahrungen in Europa hatten nicht dazu beigetragen, seine Ängste zu vermindern. Er wollte weiterhin mehr darüber lernen, schon weil er ein natürliches Interesse dafür hatte, aber auch weil er sich verpflichtet fühlte. Aber er hatte die feste Absicht, dass dies keine Auswirkungen auf sein normales Leben haben würde. Ganz besonders durfte es keine Auswirkungen auf seine Beziehung zu Ari haben, seiner neuesten Freundin. Was für ein herrliches ... Keoki schüttelte den Kopf, als wollte er die Gedanken an seine Freundin vertreiben. Genug der Tagträume. Die Pause war lang genug gewesen. Wenn er auf seinem Gebiet erfolgreich sein wollte, musste er zurück an die Arbeit gehen.

An der Tür zu seiner Wohnung streifte sich Keoki mit seinen Zehen die Sandalen ab und spazierte dann barfuß in sein Büro. Er setzte sich und starrte einen Augenblick lang auf seinen Computer, ließ ihn hochfahren, beendete das Programm mit dem Spiel und öffnete eine Photoshop-Datei. Die Spieleentwicklung war eine potenziell lukrative Beschäftigung, aber das Geld für die Miete kam immer noch von seinen Aufträgen im Grafikdesign. Das Problem war, dass er für sein aktuelles Projekt für ComTek einen Teil eines Schwarzweiß-Fotos für einen Bucheinband kolorieren musste und dass seine technischen Fähigkeiten dafür nicht ausreichend waren. Mit einem tiefen Seufzer stand Keoki von seinem Schreibtisch mit dem übergroßen LCD-Monitor seines veralteten, aber zuverlässigen Power Mac auf und ging die paar Schritte zu seinem Telefon.

Seine Freundin hielt ihn für etwas verrückt, weil er sein Telefon gerne weit weg von seinem Schreibtisch deponierte, aber er stand zu seinen Gründen. Das verschaffte ihm ein wenig Bewegung und eine Pause von der einseitigen Belastung durch das ewige Sitzen vor dem Bildschirm. Nun würde er jedoch seine Anspannung erst einmal verstärken müssen: Er musste den ortsansässigen Computer-Guru anrufen.

„Hi, Da Man, hier ist Keoki. Ich brauche einmal deine Hilfe.“ Leonard Fujima sprach nur mit einem, wenn man ihn „Da Man“ nannte.

„Hey Kumpel, wie geht’s? Es gibt kein Problem, bei dem ich dir nicht helfen könnte.“ Das war vermutlich richtig, aber Keoki zuckte angesichts der Überheblichkeit von Leonard trotzdem zusammen.

„Ich versuche gerade, einen Teil eines Schwarzweiß-Fotos zu kolorieren und ...“

„Das ist leicht! Du machst einfach Folgendes.“ Und in ein paar kurzen Sätzen erklärte Da Man Keoki nicht nur die Lösung für sein Problem, sondern zeigte ihm auch eine bessere Möglichkeit, den Schwarzweiß-Anteil des Fotos vorteilhafter aussehen zu lassen. Dann verabschiedete sich der Guru unerwartet und legte auf, ganz so, als habe er weit wichtigere Dinge zu tun, was wahrscheinlich sogar richtig war.

Keoki legte das Telefon beiseite, atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen. Er fühlte sich gestresst, weil er die überhebliche Art von Leonard nicht mochte und wegen der Lösung, die er bekommen hatte. Sie erschien ihm einfach zu kurios, als dass sie funktionieren könnte. Er hatte den Teil mit der Kolorierung verstanden, aber das Bild in den Lab-Farbraum konvertieren, die Unschärfe für Schwarzweiß nachjustieren und dann nach RGB zurückkonvertieren? Wie sollte das denn funktionieren?

Er war auch durch seine eigenen Reaktionen gestresst. Sein Großvater würde zweifelsohne darüber lachen, dass er das alles so ernst nahm. Ein Teil dieser Anspannung legte sich, als sich herausstellte, dass die Lösung von Da Man sowohl elegant als auch erfolgreich war. Etwas Verspannung blieb aber, denn Großvater wollte ihn oben auf einem Berg treffen.

Keoki hatte von seinem Großvater über die Kupua-Tradition gelernt, seit sie aus Europa zurückgekehrt waren. Dieses Lernen war allerdings überhaupt nicht mit dem Lernen an einer Schule zu vergleichen. In der Regel rief Großvater selbst oder einer der anderen Verwandten auf Big Island einmal im Monat an, um ihm zu sagen, wo er seinen Großvater treffen solle.

In den vergangenen zwei Jahren hatten die meisten dieser Treffen auf Big Island stattgefunden, manchmal auf der Inselseite von Hilo, manchmal in Puna im Südosten, im Distrikt Ka’u im Südwesten, in Kona, an der Kohala-Küste oder an der Hamakua-Küste. Außer dem einen Mal in Waimea in der Nähe der Parker Ranch und dem einen Mal in den Hügeln von Kohala oberhalb des Ortes Hawi hatten alle Treffen in der Nähe der Küste stattgefunden. Dieses Mal wollte Großvater ihn also auf dem Gipfel des Mauna Loa treffen, an einem Ort, an dem er noch nie gewesen war.

Keoki wusste nie, was bei diesen Treffen auf ihn zukommen würde. Na ja, es gab schon so eine Art Grundformat. Auf die eine oder andere Weise sprachen sie immer über die elementaren Konzepte, auf denen das Kupua-System beruhte. Da waren Mana, die persönliche spirituelle Kraft, Manawa, was Großvater als die Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt verstand, die Bedeutung von Bewusstheit und Fokus - und natürlich Aloha, das typisch hawaiianische Konzept der Liebe. Aber Keoki wusste vorher nie, wie Großvater diese Grundkonzepte bei dem jeweiligen Treffen in den Mittelpunkt stellen würde. Manchmal sprachen sie nur darüber, manchmal führten sie praktische mentale und/oder körperliche Übungen durch. In letzter Zeit hatte er einiges über das Thema Heilung im Kupua-System gelernt. Dies war etwas vollkommen anderes als das, was er in der Schule über Heilung gelernt hatte, aber Keoki erinnerte sich daran, wie Großvater seine Hände über dem verletzten Körper der jungen Dänin, Karen, hin- und her bewegt hatte. Ihr Schmerz war dadurch vollkommen verflogen und einige der Prellungen und Schrammen waren direkt vor seinen Augen verschwunden.

Er wusste nicht, wie das funktionierte, aber er hatte bei Karen gesehen, dass es funktionierte. Er hatte sogar einige der Techniken mit Erfolg bei einer seiner eigenen Verletzungen angewandt. Er bezweifelte also nicht die Wirksamkeit dieser Herangehensweise. Er konnte nur vermuten, was diesmal auf dem Programm stehen würde. Es hätte ihn nicht einmal überrascht, wenn Großvater das Thema selbst noch nicht gewusst hätte.

Drei Tage später bestieg Keoki in Honolulu das Flugzeug nach Kailua-Kona auf Big Island. Nach einem kurzen Flug, auf dem kaum Zeit war, den Plastikbecher mit dem kostenlos ausgeteilten Guave-Saft auszutrinken, landete das Flugzeug auf dem Kona International Airport nördlich der Stadt. Obwohl das Flugzeug bis auf den letzten Platz mit Besuchern (anderswo auf der Welt Touristen genannt) besetzt war, dauerte es nicht lange, bis sein überdimensionierter Rucksack auf dem Förderband der Gepäckausgabe auftauchte. Er nahm den Rucksack und trat in das sengende Sonnenlicht des späten Vormittags dieses Augusttages hinaus.

Die tropische Sonne schickte ihre Hitze auf die schwarzen Lavaflächen der Halbinsel Keahole, die ein Überbleibsel des Lavastroms von 1801 aus dem Vulkan Hualalai war, 2521 Meter hoch über der Küste. Die Lava strahlte die Hitze intensiv zurück. Keoki war froh, dass er seinen Baumwollhut trug, und wünschte sich fast, er hätte seine Schuhe angezogen statt der Slippahs, der Sandalen.

Nach kurzer Suche fand er auf dem Parkplatz den alten Isuzu SUV mit Vierradantrieb von Onkel Willy. Der Schlüssel lag unter der Fußmatte. Noch bevor er einstieg, kurbelte er alle Fenster herunter, aber das brachte kaum Abkühlung. Er war froh, dass der Wagen vollgetankt war. Schade nur, dass Onkel Willy nichts von Klimaanlagen hielt.

Keoki verließ den Flughafen und bog auf dem Highway 19, auch Queen Ka’ahumanu Highway genannt, nach Süden ab. Nach kurzer Fahrt nahm er links die Hina Lani Street und fuhr mauka, landeinwärts, zum Gewerbegebiet, wo er kurz anhielt, um bei Costco Wasser einzukaufen. Dann setzte er die Fahrt auf dem Highway fort, bis er an die Kreuzung zum Highway 190 kam, dem Mamalahoa Highway.

Als er diese Strecke entlang fuhr, dachte er darüber nach, dass die Küste von Kona immer mehr zugebaut wurde. Es schien ihm, als gäbe es jedes Jahr mehr Geschäfte und mehr Hotelanlagen. Das zog natürlich mehr und mehr Besucher an, die wiederum mehr und mehr Geschäfte und Hotelanlagen wünschten. Er hatte eine zwiespältige Haltung dazu, besonders zu Einrichtungen wie Costco. Einerseits wusste er, dass der weitere Ausbau Arbeitsplätze schaffte und meistens auch günstigere Preise und eine bessere Bezahlung für die Einheimischen. Andererseits verschwand dadurch dieses angenehme Lebensgefühl einer Kleinstadt. Er dachte wieder daran, was Großvater immer über Veränderungen sagte. Er musste Großvater vorschlagen, den Spruch zu erweitern. Wie war das? Ach ja. Hiki ‘ole ke ‘alo a’e, nicht zu vermeiden: Wandel bedingt Veränderung und an Veränderung führt kein Weg vorbei.

Am Mamalahoa Highway bog Keoki nach Norden ab. Nun war er im Hinterland angekommen, um ihn herum nur Lavafelder und offenes Buschland. Das meiste davon gehörte zur riesigen Parker Ranch. Der merkwürdige und einsam gelegene Aschekegel des Pu’u Wa’awa’a, was verlassener Hügel bedeutete, lag rechter Hand. Er wirkte wie ein Monster, das sich in der Wildnis verlaufen hatte.

Nach etwa fünfzig Kilometern traf er auf die berüchtigte Saddle Road, eine in gefährlich schlechtem Zustand befindliche, praktisch einspurige, schlechte Imitation einer Straße, auf der die Fahrt ganz schön nervenaufreibend war. Die Saddle Road führte durch das Hochland zwischen dem 4205 Meter hohen Vulkan Mauna Kea im Norden und dem etwas niedrigeren Vulkan Mauna Loa im Süden hindurch. Kein Wunder, dass die Autovermietungen den Besuchern nicht erlauben, diese Straße zu benutzen, dachte Keoki, als er eine Anhöhe mit schlechter Sicht auf den entgegenkommenden Verkehr hinauffuhr und rechts an der Straße Unfallmarkierungen entdeckte.

Das ist ein ziemlich eigenartiger Aspekt der einheimischen Kultur, sinnierte er. Als er mit Großvater und den Leuten von Interpol in Europa unterwegs gewesen war, hatten sie gelegentlich kleine religiöse Schreine gesehen, die mit Kreuzen oder Steintafeln gekennzeichnet waren. Hier in Hawaii bedeuteten Kreuze am Straßenrand, an denen üblicherweise frische Blumen abgelegt waren, dass an dieser Stelle ein geliebter Mensch bei einem Autounfall umgekommen war. Dummerweise dachte er nun über den Tod nach, was ihn auf Karen brachte, die junge Dänin, die er geliebt hatte und die fast von der Attentäterin Nazra getötet worden wäre, die er ebenfalls hätte lieben können, die sich aber selbst getötet hatte, indem sie in einen Strom geschmolzener Lava gesprungen war, um nicht den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen zu müssen. Mit einem entschlossenen Schütteln seines ganzen Körpers zwang er seine Aufmerksamkeit zurück aus der Vergangenheit und in das Hier und Jetzt auf der Straße.

Nachdem Keoki ein weiteres Stück der riskanten Strecke gefahren war, auf dem er zweimal beinahe frontal von entgegenkommenden Fahrzeugen gerammt worden wäre (einmal von einem viel zu schnellen Verrückten in einem alten, braunen Toyota und einmal von einem sehr großen Kiestransporter, der voll in der Mitte der Straße fuhr), kam er zu dem Abschnitt der Saddle Road, auf dem sich die Zufahrtsstraße zum Mauna-Kea-Observatorium knapp versetzt mit der Zufahrtsstraße zum Mauna-Loa-Observatorium traf.

Keoki bog nach Süden ab, in Richtung Mauna Loa, und befuhr die steile, einspurige Straße zum Gipfel. Er überquerte dabei mehrere Lavafelder aus verschiedenen Epochen, einschließlich eines Lavafelds von 1935. Er bemühte sich sehr, die zahlreichen Schlaglöcher zu umfahren. Zwischendurch aß er das Sandwich und den Apfel, die Ari vor seiner Abreise aus Honolulu vorbereitet hatte. Das Auto von Onkel Willy hatte zwar keine Klimaanlage, aber es verfügte zumindest über eine Heizung, wofür Keoki sehr dankbar war, denn es wurde rasch immer kälter.

An der Stelle, an der die sogenannte „Hilo-Kona Road“ geradewegs ins Nirgendwo führte, musste Keoki scharf links abbiegen. Schließlich kam er am Observatorium zum Startpunkt des Wanderwegs und parkte dort. Es war bereits später Nachmittag und der kurvenreiche, holprige Wanderweg zur Hütte, bei der Großvater auf ihn warten wollte, verlief zwölf Kilometer bergauf. Es war also nicht nur ein kurvenreicher und holpriger Wanderweg, dieser war auch noch sehr hoch gelegen.

Der Startpunkt selbst lag auf 3350 Metern, und Großvater hatte empfohlen, er solle nicht nach zehn Uhr vormittags losgehen, weil man in dieser Höhe so um die sechs Stunden für den Weg brauchen würde, je nachdem, wie gut man an das Klima gewöhnt war. Am Spätnachmittag war es häufig wolkig und nebelig, daher konnte man sich leicht verlaufen.

Das Gelände draußen in dieser kargen, alpinen Wüste sah nicht sehr einladend aus. Also beschloss Keoki, die Nacht im SUV zu verbringen und früh am nächsten Morgen loszumarschieren. Den restlichen Nachmittag hörte er die Musik-CDs, die er mitgebracht hatte, las in seinem Fantasy-Buch, Exile’s Return von Gayle Greeno, und trank viel Wasser. Vor Einbruch der Dunkelheit genoss er einen farbenprächtigen Sonnenuntergang, der seine Strahlen auf die Kuppeln des Observatoriums auf dem Mauna Kea im Norden warf. Als dieses Schauspiel vorüber war, erleichterte er sich draußen, kam so schnell wie möglich zurück ins Auto, aß ein paar Energieriegel und bereitete dann seinen warmen Schlafsack für die Nacht unter dem Dach des Autos vor, das unter einem wunderbaren Sternenzelt parkte.

Natürlich träumte er. Seit seinem Abenteuer mit der russischen Attentäterin Nazra, bei dem Träume eine so große Rolle gespielt hatten, befolgte er den Rat von Großvater, so viele seiner Träume wie möglich aufzuschreiben, weil er damit seine Kreativität stimulieren würde, zusätzliche Anregungen für seine Spiele bekommen und lernen könne, in seinen Träumen so wach zu sein wie im richtigen Leben. Großvater hatte allerdings nicht „richtiges Leben“ gesagt. Er hatte es „dieser Traum“ genannt.

Eine weitere Eigenartigkeit seines sehr weisen Großvaters war seine Methode des Lehrens. Obwohl Keoki der Lehrling seines Großvaters in der schamanischen Kupua-Tradition der Familie war, eine Bezeichnung, die Keoki nach viel Widerstand schließlich akzeptiert hatte, schrieb Großvater ihm nie wirklich vor, was er tun solle. Großvater machte Vorschläge, gab Hinweise oder sprach eine Empfehlung aus und ließ Keoki dann tun - oder lassen - was er wollte. Also machte Keoki manche Sachen, andere nicht. Aber in letzter Zeit war in ihm die Vermutung erwacht, dass er viel verpasste, weil er einige dieser vorgeschlagenen Dinge nicht tat.

Keoki träumte also. Er träumte viel. Und das regelmäßige Aufschreiben half ihm, sich morgens besser an viele Träume zu erinnern. In dieser Nacht hatte er einen für ihn eher seltenen Traum vom Fliegen. In diesem Traum war er umgeben von Seen und Strömen aus fließender, geschmolzener Lava. Die Eindrücke waren so real, dass er die Hitze fühlen und Brocken dunkleren Gesteins sehen konnte, die von der rotgolden glühenden Flüssigkeit mitgerissen wurden.

Das Stück Erde, auf dem er stand, wurde beständig kleiner und fing schließlich an, zu schwanken wie eine Eisscholle. Zuerst versuchte er, von einer steinigen Scholle zur nächsten zu springen, aber sie wurden immer kleiner und wackeliger. Als er gerade in einen Strom aus Lava zu fallen drohte, erhob sich eine weibliche Gestalt aus dieser Lava. Ihr Körper bestand aus reiner Lava, glitzernder, glühender, sich ständig bewegender Lava. Es schien ihm, als breite sie ihre Arme einladend aus und als erschien ein Lächeln an der Stelle, an der ein Gesicht zu erwarten gewesen wäre. Trotzdem spürte Keoki im Traum die Gefahr, die gleichzeitig von ihr ausging.

Dann bildete sich eine weitere weibliche Gestalt aus dem Dampf, der sich aus der Lava erhob. Auch sie schien einladende Arme und die Andeutung eines Lächelns zu besitzen. Auch sie strahlte Gefahr aus. Gerade als Keoki im Traum dieser Gefahr entrinnen wollte, indem er sich zum Aufwachen entschloss, erinnerte er sich an etwas, das er schon zuvor in einem anderen Traum getan hatte. Gleichzeitig war er sich bewusst, dass es sehr merkwürdig war, sich an einen anderen Traum zu erinnern, während man träumte.

Bei der Erinnerung ging es darum, wie man frei schweben konnte, indem man sich mit der eigenen Willenskraft nach oben zog. Dann konnte man so tun, als fliege man, indem man sich mit seiner Willenskraft nach vorne bewegte. Also benutzte er seine Willenskraft, um sich nach oben und nach vorne zu bewegen. Er spürte das Hochgefühl des Erfolgs.

Als er so schwebte, stellte er fest, dass er in seiner Willenskraft nicht nachlassen durfte, weil er sonst absinken und in die Lava fallen würde, die unter ihm kochte und zischend nach oben sprühte, als ob sie ihn fassen wollte. Mit Hilfe seiner Willenskraft stieg er schneller höher und landete schließlich auf einem grünen Hügel. Er war sehr zufrieden mit sich. Dann hatte er noch ein paar ganz normale Traumsequenzen, bis er aufwachte. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz nach halb acht Uhr war. Keoki notierte sich eine Kurzversion seines Traums in einem kleinen Notizbuch, stand auf und bereitete sich auf die Wanderung vor.

Über ihm erstrahlte der klare Himmel. Es war gar nicht so kalt, also zog Keoki leichte Kleidung in mehreren übereinanderliegenden Schichten an. Er zog die Sandalen aus und Sportsocken sowie robuste Wanderschuhe an. Schließlich setzte er noch seinen Hut auf. Nachdem er den SUV seines Onkels abgeschlossen hatte, packte sich Keoki den Rucksack auf den Rücken, zog seinen ultraleichten Wanderstock, ein Modell der Schweizer Firma „LekiSport“, den er von Ari zum Geburtstag bekommen hatte, auf eine bequeme Länge aus und ging los. Er musste zunächst einen knappen Kilometer einer Straße folgen, deren Oberfläche mit zermahlenem Lavagestein befestigt war. Dann erst erreichte er den eigentlichen Wanderweg. Und damit wurde es schwierig.

Der Weg war auf der relativ glatten Pahoehoe-Lava, zwischen der groben Asche und den verwitterten Wellen und Hügelchen, wo sich die Gase teilweise ihren Weg nach oben gebahnt und die Oberfläche durchbrochen hatten, kaum zu erkennen. Die Landschaft bezauberte durch eine ganz eigene Schönheit.

Glücklicherweise war der Weg mit Ahu, also mit Steinhaufen, markiert, die in Abständen rechts und links des unsichtbaren Weges aufgehäuft worden waren.

Nach einigem Ausprobieren fand Keoki heraus, dass er am besten vorankam, wenn er immer nach vierzig Minuten eine Pause von zehn Minuten einlegte. Vielleicht deshalb, vielleicht aber auch, weil er viel Wasser in kleinen Schlucken trank, bekam er keine Anzeichen der Höhenkrankheit. Der Himmel zeigte nach wie vor ein klares, dunkles Blau und es herrschte weitgehend Windstille, abgesehen von der einen oder anderen leichten Brise, die einen Hauch ihm unbekannter Pflanzendüfte mit sich führte.

Die Landschaft war wirklich nicht besonders abwechslungsreich. Eine Zeit lang spielte er mit einer Technik, die ihm sein Großvater beigebracht hatte. Er dehnte sein La’a Kea, seinen aktiven Hoaka, also seine Aura, in die Landschaft um sich herum aus und verband sich mit den Steinen und struppigen Pflanzen. Er versuchte, deren eigene spirituelle Kraft, deren Mana, zu spüren. Als ihn das schließlich langweilte, dehnte er sein La’a Kea noch weiter aus, auf den ganzen Berg. Er versuchte nun, das Mana des großartigen Vulkans zu fühlen. Nach einer Weile geriet er in ein Hochgefühl, das sich wie ein Hoch nach zu viel Koffeingenuss anfühlte. Dieses Hochgefühl wurde immer stärker und damit auch unangenehm, also beendete er das Experiment rasch und versuchte einfach zu raten, wie die Landschaft wohl hinter der nächsten Erhebung aussehen würde. Manchmal erzielte er damit erstaunlich zutreffende Ergebnisse, manchmal nicht, was ihn dann veranlasste, seine Gefühle und Empfindungen zu analysieren, um seine Technik zu verbessern.

Nach fünf Stunden, nachdem er an einer Abzweigung nach Osten und einem kleineren Krater mit der Bezeichnung „North Pit“ vorbeigekommen war, erhaschte Keoki einen ersten Blick auf die Hütte. Hier bestand der Weg aus einer Mischung aus Pahoehoe und A’a, der spröden Sorte Lava, unter die große und kleine Gesteinsbrocken gemischt waren, wohl aus früheren Eruptionen. Auf dem ganzen Weg nach oben war ihm nur ein junges Paar aus Idaho begegnet, das auf dem Weg nach unten war.

Keokis Großvater wartete in der Tür der Hütte auf ihn. Sein Name war Anton Ke’alapuniaokahiwalani Müller. Er hatte die hellbraune Haut und würdevolle Erscheinung von seiner hawaiianischen Mutter, die grauen Haare und die blaugrauen Augen von seinem deutschen Vater geerbt. Die meisten Menschen nannten ihn Lani, aber jüngere Leute bezeichneten ihn gewöhnlich als Onkel oder Tutu, Großvater, wenn sie ihm Respekt erweisen wollten oder ihn nicht richtig kannten. Außer Keoki, der ihn Gramps oder auch Großvater nannte.

Aloha e ka hale. Hallo, Haus.“, grüßte Keoki und praktizierte somit eine alte hawaiianische Tradition. „Nani keia hale. Dies ist ein schönes Haus.“ Als er näher kam, sagte er: „Aloha e tutukane, pehea 'oe? Ich begrüße dich, Großvater. Wie geht es dir?“

Maika'i. Gut.“, antwortete Lani und sprach anschließend eine traditionelle Begrüßung: „E ku a hele mai i ka 'aina, he hale, he 'ai, he i'a nou, nou ka 'aina. Wenn du möchtest, betritt dieses Land. Es werden ein Haus, Poi, Fisch für dich da sein, das Land steht dir zur Verfügung.“

Als Keoki zur Tür trat, begrüßten sie sich mit einem Honi und einer Umarmung. Honi wird üblicherweise als Kuss übersetzt, aber das ist die moderne Auffassung. Traditionell, und so wie Lani es praktizierte, werden beim Honi die Nasen seitlich aneinandergepresst, dabei wird eingeatmet. Einige Hawaiianer hatten die Form der Maori übernommen, bei der Stirn und Nase aufeinandergedrückt wurden.

Es existierte die Erklärung, dass bei dieser Begrüßung die Energie des jeweils anderen inhaliert werden sollte. Aber Honi bedeutet auch „riechen“. Lani hatte berichtet, dass die Menschen diese Geste ursprünglich benutzt hätten, um den jeweils anderen Geruch kennenzulernen und herauszufinden, welcher Gesundheitszustand und welche Beziehungen und Absichten vorlagen.

A 'o 'oe? Und wie geht es dir?“, fragte Lani, als er seinen Enkel in die Hütte führte.

„Mir geht es gut“, antwortete Keoki, „aber ich bin hungrig. Hast du wirklich Fisch und Poi hier oben?“

Der ältere Mann lachte. „Nein, tut mir leid. Ich habe nur Sandwiches mit Mortadella und Senf, die sind für dich.“

Die Hütte war einfach gehalten. Es gab vier Stockbetten mit jeweils drei Betten übereinander, inklusive Matratzen. Lani hatte sich in einem der mittleren Betten eingerichtet, Keoki nahm sich auch ein mittleres Bett. Außerdem war ein Wasserspeicher vorhanden, wie eine Zisterne, aber Lani wies darauf hin, dass sie ihr Wasser selbst aufbereiten mussten.

Nachdem Keoki seine Sachen verstaut hatte, spazierten Lani und er den kurzen Weg zum eigentlichen Gipfel mit Blick auf den Moku’aweoweo-Krater, den Hauptkrater. Dort aßen sie zusammen Großvaters Mortadella-Sandwiches. Während sie schweigend aßen, sah Keoki zu seinem Großvater hinüber. Dieser war nun in seinen späten sechziger Jahren und hatte sich seit dem Aufbruch zu ihrem Abenteuer in Europa nicht wesentlich verändert.

In Europa war Lani von der Attentäterin Nazra lebensgefährlich verletzt worden und war schließlich mit der Prognose entlassen worden, dass er den Rest seines Lebens hinken würde. Aber davon war keine Spur mehr zu erkennen. Wenn er sich überhaupt verändert hatte, sah er noch besser aus als damals. Keoki wusste, dass dies mindestens zum Teil auf seine Kupua-Heilmethoden zurückzuführen war, von denen er Keoki einige beigebracht hatte.

Als die Essensreste wieder verstaut waren, ergriff Lani einen kleinen, etwa drei Zentimeter messenden Stein und warf ihn einige Male hoch. „Wusstest du, dass uns Steine viel erzählen können?“, sagte er vollkommen ohne Vorrede.

Keoki lächelte über die ihm gut bekannte Art seines Großvaters, ein neues Thema anzusprechen. „Das würde mich nicht überraschen, Großvater. Nicht mehr.“

Lani grinste kurz und sprach dann weiter. „Natürlich haben Steine ihre eigenen Geschichten, die sehr interessant sein können, aber sie können uns auch andere Geschichten erzählen.“ Er schwieg und warf immer wieder den Stein hoch.

Das Schweigen hielt lange an, so dass Keoki schließlich den Hinweis verstand. „Welche Arten von Geschichten können sie denn erzählen?“

Lani schloss die Faust um den Stein. „Nun, sie können dir etwas über dich selbst erzählen, sie können dir etwas über andere Menschen erzählen, sie können dir von Ereignissen erzählen, die geschehen sind, und von Dingen, die nicht geschehen sind…“

„Das klingt nach Astrologie und Tarotkarten.“

„In gewisser Weise gibt es da auch Ähnlichkeiten. Allerdings muss man keine Lesung vornehmen und nichts auswendig lernen. Und wenn du weißt, wie diese Dinge funktionieren, erhältst du genauere Informationen.“

Keoki wusste, dass dies in eine ganz bestimmte Richtung führte, denn er hatte in den vergangenen zwei Jahren viele ähnliche Situationen mit Großvater erlebt. Als guter Lehrling fragte er also: „Kannst du mich das lehren?“

Die Sonne strahlte hell, der Himmel war vollkommen klar und fast lilablau, die Luft kalt und windstill. Um sie herum schien die karge Landschaft den Atem anzuhalten.

Lani saß im Schneidersitz nahe am Kraterrand und warf den Stein von einer Hand in die andere. Er lachte. „Klar werde ich dich das lehren. Deshalb bist du hier.“

Keoki saß ebenfalls im Schneidersitz und lachte auch. „Musste ich den ganzen Weg hier nach oben kommen, um das zu lernen?“

Lani wurde ernst und behielt den Stein fest in einer Hand. „Ich weiß nicht, aber du musstest hierher kommen, hier auf den Berg. Ich vermute, dass wir den Grund erfahren werden, bevor du zurückfährst. Lass mich dir etwas über Weissagung und Prophezeiung erzählen. Erinnerst du dich an irgendwelche der Sprichwörter, die ich dich über Mana gelehrt habe?“

Keoki dachte kurz nach. „Ja, es waren zwei. Mai ka po mai ka mana. Alle Kraft kommt von innen. Und das andere war Noho ka mana i ka manawa. Die Kraft liegt in der Gegenwart.“

„Genau. Jedes Mal, wenn du eines dieser Werkzeuge verwendest, wie Tarotkarten oder die Münzen des I Ging oder Schafknöchel oder auch die Steine von einem Vulkan, kommen die Antworten aus deinem Inneren und sie sagen immer etwas über die Gegenwart aus.“

„Wozu sind sie dann gut?“ Keoki runzelte verwirrt die Stirn, während er den Reißverschluss einer Isoliertasche öffnete, eine Plastikflasche mit Menehune-Wasser herauszog und sich einen Schluck gönnte.

Lani grinste wieder. „Sie sind zu nichts nutze, außer, du willst dich selbst besser verstehen und mehr über die Gegenwart erfahren.“

Der junge Mann trank noch einen Schluck Wasser und beschloss dann, auf die Fortsetzung der Ausführungen von Großvater zu warten.

„Es ist so“, nahm der ältere Mann mit einer ausladenden, schwungvollen Geste seines Armes den Faden wieder auf. „Nimm an, dass du mit der gesamten Welt in Verbindung stehst. Erinnerst du dich, wie du dich mit der Hilfe des Baumes mit Nazra verbunden hast?“

Keoki atmete tief ein. Er erinnerte sich lebhaft daran. Er hatte sich so intensiv mit ihr verbunden, dass Nazra wusste, was er tat. Er nickte.

„Die Karten, Steine und anderen Werkzeuge sind wie jener Baum. Sie helfen dir, dich bewusster mit etwas zu verbinden, mit dem du bereits in Verbindung stehst. Es ist, als ob du mit dem Auto zum Einkaufen fährst. Klar könntest du auch zu Fuß gehen, aber mit dem Auto ist es schneller und einfacher. Natürlich kannst du dich mit jeder Person und jeder Sache verbinden, mit der du möchtest, aber mit Bäumen, Karten und Steinen geht es meist schneller und einfacher.“ Keoki wusste, dass das Lächeln, das sich jetzt auf dem Gesicht des Großvaters zeigte, bedeutete, dass er eine Antwort erwartete.

Ein schamanisches Abenteuer in der Mongolei

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